Alle kriminell

  • 27.11.2014, 14:17

Habt ihr euch beim Lesen der täglichen Gratiszeitungen auch schon einmal gefragt: „Ja sind denn alle Jugendlichen in Wien kriminell und gewalttätig?“

Habt ihr euch beim Lesen der täglichen Gratiszeitungen auch schon einmal gefragt: „Ja sind denn alle Jugendlichen in Wien kriminell und gewalttätig?“

Man kann von kostenlosen Boulevardblättern vieles halten, Fakt ist: Sie werden gelesen und sie bilden Meinungen. Ob die lokale High Society, Parteiskandale oder Tierbabys, im Häppchenformat servieren Zeitungen wie heute und Österreich jeden Morgen den müden U-Bahn-Fahrenden alle relevanten Neuigkeiten. Ohne großartige Hintergrundinformationen oder kritische Würdigungen wird Meldung an Meldung gereiht – oft reißerisch, manchmal komisch, immer jedoch mit einem Ziel: Impact. Und nicht selten sind diese Blätter die einzigen Informationsquellen vieler LeserInnen. Es ist also davon auszugehen, dass – neben dem persönlichen Bild, das Menschen sich anhand ihrer Beobachtungen der Welt machen – hier Meinungen und auch Wirklichkeiten gebildet werden.

Hobbys: Rauben und Raufen?

Studien, wie etwa die Diplomarbeit „Öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung über Kinder und Jugendliche. Am Beispiel Salzburger Tageszeitungen“ von Edwin Feichter (2002) widersprechen dem Eindruck, dass Zeitungen in Jugendlichen ein neues Feindbild fänden. Die Fachkräfte der Wiener Jugendarbeit nehmen dies allerdings anders wahr, wie sich in einem internen Fachgespräch im Mai 2014 zeigte. Zwischen September 2013 und Mai 2014 habe ich die Berichterstattung am Beispiel des Wien-Ressorts der Tageszeitung heute über Jugendliche beobachtet. Ich habe 119 Artikel, in denen es um Jugendliche oder Teenies ging, gelesen und  ausgewertet.

Jugendliche in Wien sind – wenn es nach dem Boulevard geht – Serientäter, Räuber, Spielsüchtige, Gauner, Dealer, brutale Schlägertypen, Taschendiebe, feige DiebInnen, Täter, Angreifer, haben keine Hemmschwellen und so weiter und so fort. Dies ist keine Übertreibung, die hier aufgezählten Begriffe wurden 1:1 aus den analysierten Artikeln übernommen. Mehr als drei Viertel aller im angegebenen Zeitraum erschienenen Artikel berichten von jugendlicher Straffälligkeit. Diese bezieht sich zu über 90 Prozent auf Eigentumsdelikte, körperliche Gewalt und die Androhung ebendieser. In 35 der 119 Artikel wiederum werden zudem Jugendliche als Opfer von Raub und Gewalt durch Gleichaltrige oder junge Erwachsene dargestellt. Illustriert werden die Artikel häufig mit Symbolbildern von Messern und Schusswaffen. Die vermeintliche Bedrohlichkeit jugendlicher StraftäterInnen wird somit auch grafisch verankert. Nur ein Viertel aller Artikel bespricht lebensweltliche Aspekte, politische Entwicklungen und Anliegen sowie arbeitsmarkt- und ausbildungsbezogene Themen.

Für die Wahl dessen, was hier als „jugendlich“ verstanden wird, wurde keine soziologische Definition herangezogen, sondern einerseits alle Erwähnungen von „Jugend“, „Teenager“ und dergleichen verwendet, andererseits als Obergrenze das 21. Lebensjahr gewählt, da junge Erwachsene bis zu dessen Vollendung einige Vorteile im Strafrecht genießen. Soziologische oder juristische Hintergründe sind der Medienberichterstattung jedoch herzlich egal. Da werden im Zusammenhang sexueller Gewalt gegen Jugendliche erwachsene Männer als „Burschen“ bezeichnet – über eine Strategie der verbalen Verharmlosung solcher Übergriffe könnte man sicher einiges sagen. Strafunmündige Minderjährige werden als „Jugendliche“ und somit als strafmündig eingestuft. Der Altersgrenzbereich von 19 bis 21 wird nur sehr selten als „jugendlich“ oder „junge Erwachsene“ bezeichnet.

Überflüssige Justiz

Mit der Berichterstattung von heute wird die Justiz überflüssig: Die Wortwahl „Täter“, „Räuber“ etc. vorverurteilt junge Menschen massiv und lange bevor ein Schuld- oder Freispruch gefallen ist. Die deutsche Studie „Gewalttätigkeit bei deutschen und nicht deutschen Jugendlichen – Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention“ weist nach, dass die Etikettierung „Verbrecher“ Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche des zukünftigen Lebensweges, wie z.B. die Eingliederung in den Arbeitsmarkt hat und dazu führen kann, erneut in kriminalisierbare Situationen zu geraten. Prävention ist jedoch nicht Auftrag und Anliegen der medialen Öffentlichkeit.

Besonders pikant wird es mit der Veröffentlichung von Fahndungsfotos. Gesetzlich verbriefte Persönlichkeitsrechte wie Ehre, Ruf, Unschuldsvermutung, Privatsphäre, Identitätsschutz von StraftäterInnen, Opfern und Verdächtigen, Resozialisierung, Schutz vor verbotenen Veröffentlichungen und Recht am eigenen Bild werden obsolet, wenn Fahndungsmeldungen vorliegen. Identifizierende Berichterstattung muss übrigens amtlich veranlasst und mit dem Einverständnis der Betroffenen geschehen. Zwar nennt das Gesetz die Notwendigkeit der  einzelfallbezogenen Abwägung der schutzwürdigen Interessen (Persönlichkeitsrechte) von TäterInnen gegen die Interessen der Öffentlichkeit, die im Falle der Fahndung nach Minderjährigen und jungen Erwachsenen sich aus so genannten „anderen Gründen“ ergeben. Dem Blog des Österreichischen Zeitschriften und Fachmedien-Verbands zufolge sind diese in etwa aufgrund des Umstandes, dass Medien ihre  Funktion als „public watchdog“ nur durch die Preisgabe der Identität einer Person erfüllen können, gegeben.

Während medial also ein Anstieg jugendlicher Delinquenz nahe gelegt wird, spricht die gerichtliche Kriminalstatistik vom Gegenteil, denn die tatsächlichen gerichtlichen Verurteilungen jugendlicher Angeklagter sind rückläufig. Dies inkludiert im Übrigen auch so genannte Schuldsprüche ohne bzw. unter Vorbehalt der Strafe. Das bedeutet, man wird schuldig gesprochen, es wird aber keine Strafe verhängt bzw. eine Probezeit auferlegt.

Wer ist schuldig?

Die analysierten Artikel zur Delinquenz sind stereotyp organisiert: Die Tat wird zur Person, sprich nicht ein Mädchen stahl etwas, sondern eine Diebin wurde ertappt. Nicht ein Bursche brach in ein Geschäft ein, sondern ein Einbrecher wütete in Hernals. Dazu werden oft das Alter sowie der Vorname angeben. Kriminalität jedoch ist keine Be- sondern eine Zuschreibung. Menschen sind nicht kriminell, sondern werden durch die Gesellschaft dazu gemacht und handeln kriminell.

Während die heute sich überraschenderweise mit Herkunftsbezeichnungen und daran hängenden  Stereotypen in den meisten Fällen zurückhaltend zeigt, ist es an dieser Stelle interessant, die Kommentare der Onlineausgabe anzuschauen: die LeserInnen finden immer einen Anlass zu rassistischen Beschimpfungen. Während die „TäterInnen“ oftmals weder verurteilt noch amtsbekannt sind, hat die Öffentlichkeit hier bereits ihr Urteil gefällt: Die AusländerInnen sind an allem schuld. So üben die LeserInnen auch Kritik an der Zurückhaltung des Zeitungsmediums ihrer Wahl: „Wenn hier in diesem Bericht auch die Nationalität der Täter stünde, dann wäre es klar!!!!“ kommentiert etwa wuffi55 am 05.05.2014 einen Artikel über einen Raub. Auch Abschiebe-Fantasien sind an der Tagesordnung.

Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eine „erfundene“ Gruppe, anhand welcher Bilder von Verwahrlosung und Gewalt inszeniert werden. Kollektive Vorstellungen über MigrantInnen werden mit Fantasien über Kriminalität vermengt –Jugendliche bilden eine ideale Projektionsfläche. Kriminalstatistisch lässt sich recht leicht nachweisen, dass Menschen mit Migrationshintergrund  nicht tatsächlich öfter abweichend handeln. Die Abweichung von MigrantInnen wird von der autochtonen Bevölkerung und den Strafverfolgungsorganen jedoch anders wahrgenommen und es wird auf sie besonders sensibel reagiert.

Die herrschende Meinung über straffällige Jugendliche ist freilich nicht allein Sache der Medien. Diese selektieren jedoch Themen und bestimmen mit, wann und wie über etwas gesprochen wird. Damit machen Medien Politik. PolitikerInnen beziehen auch Wissen aus Medien und setzen es im politischen Diskurs ein. Die daraus resultierenden Debatten werden wieder in den Medien gespiegelt – man nennt dies den politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf.

Kriminalstatistisch lässt sich recht leicht nachweisen, dass Menschen mit Migrationshintergrund  nicht tatsächlich öfter abweichend handeln. Die Abweichung von MigrantInnen wird von der autochtonen Bevölkerung und den Strafverfolgungsorganen jedoch anders wahrgenommen und es wird auf sie besonders sensibel reagiert.

Was tun?

Öffentlichkeit ist ein genuin demokratisches Element, abgesichert von Grundrechten wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Journalismus ist dabei die leistungsfähigste Art und Weise, Öffentlichkeit durch Informationsvermittlung und Meinungsbildung zu schaffen und zu formen. Wie alle Berufe ist Journalismus Wettbewerbsbedingungen unterworfen, guten Nachrichtenwert besitzen reißerische Artikel.

Die Stadt Wien inszeniert sich selbst gerne als „Jugendhauptstadt“. Hier betreuen 26 Vereine mit rund 1.000 MitarbeiterInnen an 79 Standorten junge Menschen. Es gilt also auch für die Jugendarbeit als Interessenvertretung hier aktiv zu werden. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) schlägt vor, binnen 24 bis 48 Stunden mit einer Presseaussendung auf tendenziöse Berichterstattung und Veröffentlichung von Bildern, die dem Recht der Wahrung des eigenen Bildnisses widersprechen, zu reagieren. Dieses Schreiben sollte zumindest an die APA (Austria Presse Agentur) geschickt werden und gegebenen Falls auch an weitere Zeitungen.

Und auch jenseits des professionellen Auftrags sich für junge Menschen einzusetzen, gilt die Aufforderung der kritischen Öffentlichkeit für alle LeserInnen des täglichen Wahnsinns: Niemand ist verpflichtet zu glauben, was in den Zeitungen geschrieben steht.

 

Eva Grigori studiert Soziale Arbeit an der FH St. Pölten und lebt in Wien.

AutorInnen: Eva Grigori