Soziales

Studienbeihilfe – mehr für dich!

  • 11.10.2017, 17:37
Im Juni 2017 wurde im Nationalrat das Gesetz zur Studienförderung, dass z.B. die Studienbeihilfe regelt, novelliert. Was hat sich da genau geändert und was bedeutet das konkret für Dich?

Nach österreichischem Recht sind die Eltern von Studierenden verpflichtet, für den finanziellen Bedarf ihrer Kinder bis zur Erreichung der Selbsterhaltungsfähigkeit aufzukommen. Dazu zählt auch der Abschluss eines zielstrebig betriebenen Studiums. Nur wenn die Eltern oder die_der Studierende selbst nicht in der Lage sind, aus eigenen Mitteln die mit einem Studium verbundenen Kosten zu tragen, soll die Studienförderung eingreifen.

So zumindest in der Theorie. In der Praxis wurde die Studienbeihilfe seit 1999 nicht mehr inflationsangepasst, viel zu wenige Studierende, die bedürftig wären, können sie nicht beziehen, da zu wenig Geld da ist und und und. Es stehen schlicht zu wenig finanzielle Mittel zur Verfügung, um allen Studierenden, die es brauchen würden, finanziell unter die Arme greifen zu können. Und dass der Bedarf besteht, ist unbestreitbar: Unzählige Studien, wie z.B. die Studierendensozialerhebung des Institut für Höhere Studien (IHS), beweisen immer wieder, dass der Großteil der Studierenden nebenher arbeiten muss, um sich eine Wohnung, Essen, studienrelevante Dinge (wie Bücher, Materialien, etc.) oder öffentliche Verkehrsmittel leisten zu können.

Nun wurde im Frühjahr 2017 nach jahrelangem Stillstand in diesem Bereich im Nationalrat endlich eine Erhöhung der Studienbeihilfe und eine Ausweitung des Bezieher_innenkreises beschlossen. Grundsätzlich gibt es vier große Änderungen, die den Studierenden zugutekommen sollen.
(1) Die Höchststudienbeihilfe wurde angehoben! Das bedeutet, jeden Monat (zumindest ein bisschen) mehr Geld pro Person.

(2) Die sogenannte Auswärtigkeit wird nun neu geregelt. Grundsätzlich geht es hier darum, dass Studierende, die weit weg von ihrem Heimatort/ihren Eltern studieren, mehr Geld bekommen, da sie sich eine eigene Wohnung finanzieren müssen. Die Stipendienstelle berechnet hier anhand der Verkehrsdaten, deinem Heimatort, deiner Wohnadresse etc. die möglichen Verkehrswege. Belaufen sich die auf über eine Stunde Wegzeit, giltst du als auswärtig.

(3) Bist du über 24 Jahre alt, erhältst du von nun an auch die höhere Höchststudienbeihilfe von 715€ statt wie bisher die niedrigere von 479€

(4) Die Änderung, die viel mehr Studierenden erlauben wird, überhaupt Studienbeihilfe beziehen zu können, betrifft die zumutbare Unterhaltsleistung der Eltern. Hier wird die Bemessungsgrundlage geändert. Bisher war es z.B. so, dass die zumutbare Unterhaltsleistung der Eltern ab einem Jahreseinkommen von 4.725€ bereits 10% betragen hat. Mit der Änderung gilt dies z.B. erst ab einem Jahreseinkommen von 11.273€, was gerade Studierende, deren Eltern im Niedriglohnsektor arbeiten, stark entlasten kann. (Mehr Infos zur Berechnung findest du in der Sozialbroschüre der ÖH Bundesvertretung auf www.oeh.ac.at/downloads)

Grundsätzlich bedeutet das also, dass nun nicht nur jene, die ohnehin schon Studienbeihilfe beziehen können, mehr bekommen werden, sondern, dass auch viel mehr Studierende überhaupt den Anspruch besitzen. Deswegen solltest du unbedingt einen Antrag auf Studienbeihilfe stellen - auch mit 70€ pro Monat ließe sich schließlich was anfangen!

Unter www.stipendienrechner.at, einem Service der AK OÖ und der ÖH, kannst du dir ausrechnen, wieviel Studienbeihilfe du bekommen würdest. Du solltest jedoch unabhängig vom dortigen Resultat unbedingt einen Antrag stellen. Das Ergebnis des Rechners kann nämlich vom tatsächlichen Betrag abweichen.

Dora Jandl, Bildungswissenschaften, Uni Wien (Sozialreferentin BV)

Unversichertes Amerika

  • 22.01.2014, 16:37

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

 

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

Seit Oktober 2011 ist Tobias Salinger nicht mehr krankenversichert. Über zwei Jahre sind seit seinem letzten Arztbesuch vergangen – keine Zahnärztin, keine Vorsorgeuntersuchung. Wenn seine Allergien unerträglich werden, holt er sich Medikamente aus der Apotheke. „Ich weiß, es ist nicht gut, solange nicht zum Arzt zu gehen“, sagt der Amerikaner, der Journalismus studiert und in Brooklyn wohnt.

Doch nun soll sich das ändern. Seit 1. Oktober ist das Kernstück des Affordable Care Act – auch Obamacare genannt – in Kraft: Alle 48 Millionen unversicherten Amerikaner_innen sollen bald eine Krankenversicherung haben. Das Gesetz schreibt den privaten Versicherungsanbietern Mindeststandards vor und verpflichtet Amerikaner_innen bis 31. März 2014 eine Krankenversicherung beim Anbieter ihrer Wahl abzuschließen. Ansonsten ist eine Strafgebühr von ein Prozent des Einkommens fällig. Ganz im Sinn der Marktlogik soll der Wettbewerb zwischen den priva- ten Versicherungsanbietern Krankenversicherungen günstiger machen.

Obamacare räumt mit den schlimmsten Ungerechtig- keiten im amerikanischen Gesundheitssystem auf. Mehr Menschen mit geringem Einkommen haben
in Zukunft Anspruch auf die staatliche Gratiskran- kenversicherung Medicaid. Eine gesetzlich geregelte Mutterschaftskarenz oder Krankenstand treten zwar auch mit der Reform noch immer nicht in Kraft, aber die Versicherungen dürfen Patient_innen nicht mehr wegen früherer Erkrankungen ablehnen, höhere Prämien für Frauen verlangen oder eine Obergrenze für bezahlte Leistungen einziehen. Bisher blieben Patient_innen trotz bestehender Krankenversicherung oft auf sechsstelligen Krankenhausrechnungen sitzen, weil ihre Versicherungspolizze nur Behandlungskosten bis maximal 150.000 Dollar pro Jahr deckte. Dementsprechend waren horrende Behandlungskosten für 62 Prozent der Privatkonkurse in den USA verantwortlich.

Tobias hat seine Krankenversicherung verloren, als er seine Stelle im Büro der Kongressabgeordneten Claire McCaskill aufgab. Als der Kongress im März 2010 mit einer knappen Mehrheit für den Affordable Care Act stimmte, arbeitete er gerade für die Demokratin aus Missouri. An den Tag erinnert sich der Student noch gut: „Für mich war es ein Grund zu feiern“, sagt Salinger: „Doch niemand organisierte eine Party.“ Den 900 Seiten langen Gesetzestext, den damals alle Kongressmitarbeiter_innen ausgehändigt bekamen, hat sich Salinger aufgehoben. Über drei Jahre später kann sich der Student nun endlich für Obamacare anmelden.

Craig Giammona hingegen ist sauer. Für ihn und viele andere bedeutet der Affordable Care Act in erster Linie höhere Kosten. Anders als der Name vermuten lässt, wird eine Krankenversicherung für viele durch das Gesetz weniger „affordable“. Der Student hatte bisher eine sogenannte Katastrophenkrankenversicherung („catastrophic health insurance“). Das bedeutet: Alles unter 10.000 Dollar muss Giammona selbst bezahlen, erst bei höheren Kosten setzt seine Versicherung ein. „Das ist mein Plan: Ich versuche gesund zu bleiben“, sagt er. Doch eine solche Minimalversicherung ist unter dem neuen Gesetz nicht mehr zulässig und Giammonas Versicherung musste ihn kündigen. Statt 185 Dollar im Monat wird er nun 307 Dollar monatlich zahlen müssen. „Es ist ein schlechtes Gesetz. Eine umfassendere Reform würde ich jedoch unterstützen“, sagt Giammona. Gerade junge, gesunde Menschen wie Craig sind jedoch für den Erfolg der Versicherungsreform entscheidend. Jede Versicherung funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Je größer die Masse der Versicherten, desto stärker verteilt sich das Risiko und umso niedriger ist die Versicherungsprämie. Nur wenn sich genug gesunde Menschen anmelden, kann das System auch für Kranke kostendeckend sein.

Kritik von allen Seiten. Obamas Gesundheitsreform wurde von Anfang an von lautstarker Kritik von rechts begleitet. 47 Mal hat die republikanische Mehrheit im Repräsentant_innenhaus für eine Aufhebung des Gesetzes gestimmt. Und 47 Mal hat Präsident Obama dagegen sein Veto eingelegt. Schon jetzt ist klar, dass die republikanische Partei versuchen wird, Obamacare zum Hauptthema bei den Parlamentswahlen im November 2014 zu machen. Endgültig entschieden wird die Debatte aber wohl erst 2016, wenn ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt wird.

Die konservative Vereinigung der Kleinunternehmer_innen National Federation of Independent Business (NFIB) ist eine jener Gruppen, die in Washington massiv für eine Gesetzesänderung lobbyiert. Sie befürchtet beträchtliche Mehrkosten für ihre Mitglieder. Traditionell beziehen die meisten Amerikaner_innen ihre Krankenversicherung über ihre Arbeitgeber_innen. Wichtiges Kriterium für die Jobwahl sind neben dem Gehalt immer auch die sogenannten „benefits“. Dabei verhandeln Arbeitgeber_innen mit Versicherungen über die Bedingungen für ihre Arbeitnehmer_innen. Waren erstere bisher nicht dazu verpflichtet, ihre Angestellten zu versi- chern, ändert Obamacare diesen Umstand ab 2015. Firmen mit mehr als 49 Vollzeitangestellten müssen von nun an eine Krankenversicherung für jede_n vollbeschäftigte_n Mitarbeiter_in abschließen oder 2.000 Dollar Strafe pro Angestelltem_r zahlen. „Viele Arbeitgeber kürzen deshalb die Arbeitsstunden von Angestellten, um so Vollzeit- in Teilzeitstellen umzuwandeln“, sagt der Sprecher von NFIB Jack Mozloom. So können sie die Strafgebühren und die Kosten für Krankenversicherungen umgehen. An die komplette Rücknahme des Gesetzes glauben jedoch selbst die Gegner_innen nicht mehr wirklich. „Wir erkennen an, dass eine volle Aufhebung vorerst unwahrscheinlich ist“, schätzt Cynthia Magnuson von NFIB die Situation ein.

Die Diskussion um Obamacare spiegelt die tiefen ideologischen Spaltungen in den USA wider. Vor allem in den republikanisch dominierten Bundesstaaten im Süden und im Mittleren Westen ist ein Großteil der Bevölkerung skeptisch gegenüber allen staatlichen Regelungen und denkt, dass der oder die Einzelne für sein Schicksal selbst verantwortlich sei, nicht der Staat. Das bedeutet, niemand solle verpflichtet werden, eine Krankenversicherung abzuschließen. Kostensenkungen im Gesundheitssektor wären demnach am besten durch einen entfesselten Markt erreichbar.

Seit dem Anlauf von Obamacare im Oktober, reißt aber auch die Kritik von linker Seite nicht mehr ab: Das Gesetz gehe nicht weit genug. Wie in vielen anderen Ländern solle der Staat die Krankenversicherung übernehmen. Dadurch würde sich das Kostenrisiko tatsächlich auf viele verteilen und die Kosten für Behandlungen und Medikamente könnten gesenkt werden. Der eigentliche Hintergrund der Reform sind nämlich die horrenden Kosten der medizinischen Versorgung in den USA. Während in Österreich im Jahr 2011 pro Kopf umgerechnet 4.546 Dollar für Gesundheitsleistungen aufgewendet wurden, waren es in den USA laut OECD 8.508 Dollar. Dabei gehen die Österreicher_innen im Schnitt 6,9 mal im Jahr zum Arzt, während Amerikaner_innen nur auf 4,1 Arztbesuche kommen.

Teurere, bittere Pillen. Richtig zufrieden mit dem Gesetz ist eigentlich nur die Versicherungsbranche. Viele der 48 Millionen Amerikaner_innen ohne Krankenversicherung (bei einer Gesamtbevölkerung von 311 Millionen) werden demnächst zu ihren Kund_innen. Die günstigste und gleichzeitig populärste Versicherungsvariante, der sogenannte „Bronze Plan“, kostet laut marketwatch.com im Schnitt 249 Dollar pro Monat. Doch bisher ist der Andrang auf Obamacare „bescheiden“, wie Susan Millerick vom Versicherungsriesen Aetna sagt. Obamacare ist für viele schlichtweg zu teuer. Die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit haben die Mittelklasse schwer getroffen – die Reallöhne stagnieren seit Jahren.

Tatsächlich tut das Gesetz auch wenig, um die hohen Kosten für Gesundheitsleistungen einzudämmen. Wie das Time-Magazin mit der Titelgeschichte „Bitter Pill“ im März gezeigt hat, verrechnen Krankenhäuser ihren hilflosen Patient_innen Fantasiesummen. Als Teil einer 84.000 Dollar schweren Rechnung für eine Chemotherapie verlangte die Krebsklinik MD Anderson sieben Dollar pro Alkoholtupfer. Online kann man 200 Stück davon um 1,91 Dollar bestellen.

Anders als in Österreich agieren Krankenhäuser in den USA gewinnorientiert. Die Kliniken erwirtschaften riesige Überschüsse und zahlen Millionengehälter an ihre Leiter_innen. In dünn besiedelten Gegenden besitzen die Krankenhäuser oft Monopolstatus und können den Versicherungen und Patient_innen die Preise diktieren. Die Gesundheitsbranche ist in den USA inzwischen bei weitem der größte Wirtschaftssektor.

Überraschend an der großen Krankenversicherungsreform ist vor allem auch die holprige Umsetzung. Die staatliche Website healthcare.gov zur Anmeldung für die Krankenversicherung war so fehlerhaft, dass sie bald wieder offline ging. Im ersten Monat haben gerade einmal 106.000 Amerikaner_innen die Obamacare-Versicherung abgeschlossen.

Auch Tobias Salinger kann sich heute nicht anmelden. Die Homepage des Bundesstaats New York sagt, dass seine Identität nicht festgestellt werden kann. Am Telefon erfährt er, dass er auf einen Brief mit weiteren Instruktionen warten solle. Erst dann wird er erfahren, ob er sich eine Krankenversicherung überhaupt leisten kann. Mehr als 100 Dollar pro Monat könne er nicht zahlen. Immerhin lebt der Student derzeit von Studienkrediten. Als letzte Hoffnung bleibt ihm noch ein Antrag auf Medicaid, die Kran- kenversicherung für Arme.

 

Dominik Wurnig studiert Journalismus an der CUNY Graduate School of Journalism in New York.

 

 

Zeit oder Geld

  • 31.03.2013, 23:08

Substandardwohnungen, Aushilfsjobs und trotzdem kein Geld. Vor allem für Studierende aus sozial schwachen Familien tun sich Lücken in Österreichs Sozialnetz auf.

Substandardwohnungen, Aushilfsjobs und trotzdem kein Geld. Vor allem für Studierende aus sozial schwachen Familien tun sich Lücken in Österreichs Sozialnetz auf.

Eine 30-Quadratmeter-Substandardwohnung in Wien Margareten, nur wenn man ein Brett über die Dusche legt, kann man gemütlich aufs Klo gehen. Geheizt wird mit einem Gaskonvektor, im Winter klettert die Temperatur oft nicht über 18 Grad. So wohnt Sina derzeit, sie lebt von 600 Euro im Monat. 290 Euro kostet die Miete für ihr Zimmer mit kleiner Küche im Vorzimmergang, 100 Euro Energiekosten kommen dazu. Die 26jährige Studentin zündet sich eine Zigarette an – auf dieses Laster möchte sie nicht verzichten.   Etwa 100 Euro im Monat hat sie für Zigaretten veranschlagt, mehr als für Essen. In manchen Monaten kommt sie mit 80 Euro für Lebensmittel aus. „Jede neue Jeans ist eine Investition, auf die ich sparen muss. Shoppen gehe ich gar nicht“, erzählt die Romanistikstudentin. Sie arbeitet vier Abende die Woche in einem großen österreichischen Möbelhaus, für achtzehn Stunden  verdient sie etwa 450 Euro. Von ihren Eltern kommen weitere 150 dazu, sie übernehmen auch die Studiengebühren.

Anspruch auf Studienbeihilfe hatte sie nie, die Eltern verdienen zu viel. Und das, obwohl Sinas Mutter schon seit Jahren nicht mehr arbeitet, der Vater ist Alleinverdiener. Er kann die Studentin nur mit kleinen Beiträgen unterstützen. „Einfach mal nur studieren wäre schon toll“, meint die gebürtige Deutsche.

Stipendium, nicht für alle. Damit sich Studierende aus sozial schwächeren Familien, in denen die Eltern keinen oder nur einen sehr kleinen Beitrag leisten können, auf ihr Studium konzentrieren können, hat der Staat Österreich die Studienbeihilfe vorgesehen. Bis zu 679 Euro werden pro Monat überwiesen. Laut Studierenden-Sozialerhebung im Jahr 2011 erhalten 22 Prozent der  österreichischen Studierenden Unterstützung vom Staat – in Form von konventioneller Studienbeihilfe, Selbsterhalterstipendium oder Studienabschluss-Stipendium. Doch die Kriterien sind streng, arbeiten beide Eltern Vollzeit, ist eine Zuerkennung  unwahrscheinlich. Berücksichtigt wird dabei nicht, ob die Eltern ihr Kind tatsächlich unterstützen, sondern nur das Einkommen.  BezieherInnen dürfen nicht mehr als 8000 Euro im Jahr dazuverdienen, das Studium darf nicht öfter als zweimal gewechselt werden  und muss in der vorgesehenen Zeit absolviert werden, ein Toleranzsemester inbegriffen. Wer erschwerende Umstände, wie eine  besonders aufwändige Diplomarbeit oder ein Auslandssemester, vorweisen kann, bekommt ein weiteres Semester Aufschub.

Doch was passiert, wenn sich das Studium länger hinzieht? Ab dem 25. Lebensjahr fällt die Familienbeihilfe weg, die Studienbeihilfe  ebenso, sobald die reguläre Studienzeit um ein Jahr überschritten wurde. „Da begann für mich der ewige Behördenweg“, erinnert sich  Maja. Plötzlich wollte niemand für die 25Jährige zuständig sein, die ein sieben Quadratmeter großes Zimmer im  Studierendenwohnheim Gasometer hatte. „Luxus war sowieso nie“, sagt Maja. Sie kommt aus einer finanziell schlechtergestellten  Familie, die Eltern in der Steiermark konnten sie nicht unterstützen. Studienbeihilfe und Familienbeihilfe garantierten der Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie ein halbwegs sicheres Auskommen, jetzt blieb das Konto plötzlich leer. Die bedarfsorientierte  Mindestsicherung schien ein Ausweg, aber das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hält fest: „Ein Studium, selbst wenn es vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen wurde, ist nicht als Erwerbs- oder Schulausbildung zu werten. Es stellt daher keine  Ausnahme für den Einsatz der Arbeitskraft dar. BezieherInnen der bedarfsorientierten Mindestsicherung müssen bereit sein, ihre  Arbeitskraft einzusetzen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dies kann im Falle eines Studiums in der Regel nicht angenommen werden.“

Ein Verweis auf Studienbeihilfe und Selbsterhalterstipendium folgen. Eine Lücke im sozialen Netz  Österreichs? Für Maja begann ein wochenlanger Amtsweg – vom Arbeitsmarktservice (AMS), wo man für sie als Studentin nicht zuständig sein wollte, zum Sozialamt  Magistratsabteilung 40 und wieder zurück. „Niemand wusste genau, wie mein Fall zu beurteilen ist“, erzählt sie. Schließlich doch  eine Auskunft: Kann die Antragstellerin versichern, dass das Studium innerhalb eines Jahres abgeschlossen wird und meldet sich gleichzeitig  beim AMS als arbeitssuchend, kann der Bezug der Mindestsicherung für ein Jahr gestattet werden. Maja war glücklich –  somit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war der bürokratische Aufwand. Neben den regelmäßigen Terminen beim AMS musste sie  auch Bewerbungen nachweisen und Schulungen – etwa für richtiges Bewerben oder Computerbasiskenntnisse – besuchen.

Zwischendurch arbeitete sie immer wieder, denn Jobangebote durfte sie nicht ablehnen, auch wenn es eigentlich mehr Stunden  waren als vereinbart. Für die Diplomarbeit blieb dabei wenig Zeit, ein Jahr verging schneller als gedacht. Und plötzlich stand sie wieder da: ohne Job, ohne Versicherung und ohne Geld.

Sicherheitsnetz Eltern. Inzwischen hat Maja ihre Diplomarbeit abgeschlossen und steht kurz vor der Diplomprüfung. Um über die  Runden zu kommen, arbeitet sie derzeit 20 Stunden bei der Post, das AMS hat ihr diese Stelle vermittelt. Auch bei der Studierenden- Sozialerhebung erklärten viele der Befragten, finanzielle Schwierigkeiten zu haben. „Die Hauptgründe dafür sind, dass die Eltern  nicht mehr zahlen können und unerwartete Ausgaben“, schildert Angelika Grabher vom Institut für höhere Studien (IHS), das die  Studierenden-Sozialerhebung erstellt. Finanzielle Schwierigkeiten sind neben sozialer Herkunft und Migrationshintergrund auch  stark vom Alter abhängig: 42 Prozent der 29Jährigen klagen über Probleme. Inwiefern sich die Kürzung der Familienbeihilfe auf die finanziellen Schwierigkeiten auswirkt, ist statistisch noch nicht erfasst. „Allerdings führen ein Viertel der Studierenden mit Schwierigkeiten diesen Wegfall als Mitgrund für ihre Probleme an“, führt Grabher aus. Mariela hingegen kann sich auf ihre Eltern  verlassen, die 23Jährige Jusstudentin arbeitet nur in den Ferien.

Im vergangenen Sommer hat sie ein Praktikum bei einer Anwaltskanzlei absolviert. Ihr Zimmer in einer Wohngemeinschaft plus  monatliches Taschengeld für Essen, Shoppen und Freizeit übernehmen die Eltern, die beide selbst AkademikerInnen sind. „Da bin ich echt dankbar“, sagt sie. Der größte Vorteil: Sie kann sich völlig ungestört auf ihr Studium konzentrieren. Das zeigt auch der  Studienfortschritt, Mariela liegt gut in der Zeit, macht neben den großen Jusprüfungen auch ab und zu Kurse auf der Hauptuni.  „Meine Eltern wollen das aber auch sehen, ich dürfte sicher keine zehn Jahre brauchen“, erzählt die Wienerin. Wer keine oder zu wenig Unterstützung vom Staat und von der Familie erhält, muss sich selbst versorgen. Die meisten suchen sich wie Sina einen Job,  oft ist dieser nicht einmal studienrelevant. Auch für Praktika, die den Lebenslauf aufbessern und erste Berufserfahrung bringen,  hatte Sina nie Zeit. „Das ist sicher ein Nachteil bei der Arbeitssuche später“, sagt sie. Die Studierenden- Sozialerhebung 2011 zeigt,  dass 63 Prozent aller Studierenden im Sommersemester 2011 erwerbstätig waren. 47 Prozent sogar das ganze Semester durchgehend. „Eine Zunahme gibt es vor allem bei der durchgehenden Erwerbstätigkeit“, erklärt Grabher.

Dabei bleibt häufig das Studium auf der Strecke. Denn zehn Prozent der Befragten gaben an, 20 bis 35 Stunden in der Woche zu  arbeiten, bei elf Prozent waren es sogar über 35 Stunden. „Die Hälfte der erwerbstätigen Studierenden hat Probleme mit der  Vereinbarkeit von Studium und Erwerbstätigkeit“, so Grabher. Ein Drittel wolle die Arbeitsstunden reduzieren, um mehr Zeit fürs  Studium zu haben.

Studium vs. Arbeit. Acht Prozent der Befragten der Studierenden-Sozialerhebung können nur wenig (unter zehn Stunden pro Woche)  oder gar keine Zeit für ihr Studium aufwenden. Das liegt vor allem an ihrer umfassenden Erwerbstätigkeit. Viel Arbeit hat natürlich  auch Auswirkungen auf die Studiendauer: Für drei Viertel der Studierenden mit geringer Studienintensität  wird sich die Studiendauer über die Regelstudiendauer ausdehnen, rund ein Drittel wird wahrscheinlich doppelt so lang studieren wie in der Regelvorgesehen. Fallen aufgrund dieser Überschreitungen Beihilfen weg, muss noch mehr gearbeitet werden. Ein Teufelskreis zu Lasten des Studiums beginnt. Christoph hat den Vergleich: Sein Bachelorstudium in Volkswirtschaftslehre hat er noch ohne  Nebenjob absolviert, Studienbeihilfe und eine Substandardwohnung, die er zusammen mit seinem Freund bewohnte, haben ihm durch die ersten Semester geholfen. Seine Eltern konnten ihn nie unterstützen. Der Erfolg der reinen Studienzeit ist klar zu sehen:   Der 23Jährige ist inzwischen im Master und immer noch in Mindeststudienzeit.

„Eigentlich wollte ich nie arbeiten, das Studium war mir immer viel wichtiger“, erzählt er. Alser sich allerdings eine eigene Wohnung  suchen musste und die Mutter wieder zu arbeiten begann, sank die Studienbeihilfe, während die Fixkosten stiegen. „Bei der  Berechnung der Beihilfe wird nur das nominale Einkommen berechnet, Kredite der Eltern oder ob sie mir den Betrag tatsächlich  überweisen, spielt keine Rolle“, schildert er. Auf diese spezielle Situation könne keine Rücksicht genommen werden, lautete die  Antwort der zuständigen Stelle. Ohne Job ging es nicht mehr. 18 Stunden die Woche arbeitet Christoph bei einem  Wirtschaftsforschungsinstitut – zusammen mit der Studien- und Familienbeihilfe ergibt das ein solides Einkommen. „Aber natürlich  hat man viel weniger Zeit fürs Studium. Zuerst habe ich versucht, mein übliches Pensum an Lehrveranstaltungen zu  machen. Das war kein angenehmes Semester“, erzählt Christoph.

Die Entscheidung zwischen Arbeit und Studium hat auch weitere Nachteile: Ein Auslandssemester konnte Christoph nicht  absolvieren, obwohl er seine Zukunft nicht in Österreich sieht. Zuerst hatte er kein Geld, nun keine Zeit.

Kritisch sozial arbeiten

  • 25.02.2013, 17:12

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der Zahnarztpraxis im neunerhaus im fünften Wiener Gemeindebezirk sitzen heute drei Personen im Wartezimmer. Aus dem Raum nebenan hört man das leise Rascheln eines Saugers, der wohl einem der beiden die Zahnbehandlung ausharrenden Patienten aus dem Mundwinkel hängt. Auch als die Tür aufgeht und sich eine grüngewandete Assistentin Unterlagen vom Empfang holt, unterscheidet sich weder der etwas angespannte Gesichtsausdruck des Patienten, an dem auf dem Stuhl gerade gewerkt wird, noch der leichte und doch eindringliche Geruch nach Desinfektionsmittel, der aus dem Behandlungsraum strömt, vom typischen, erwartbaren Szenario. Und doch ist es hier anders. Heute im Speziellen: „Es ist ein ganz ruhiger Tag“, sagt die Frau am Empfang, Susanne Schremser. Meistens sei das Wartezimmer voll, manchmal sogar überfüllt.

Aber auch generell: In der Praxis werden obdachund wohnungslose Menschen kostenlos versorgt – und zwar von ehrenamtlich tätigen ZahnärztInnen. Auch Schremsers Arbeit unterscheidet sich von jener am Empfangstresen in anderen Praxen. Hier geht es nicht nur um Terminvereinbarungen, e-Card oder Sozialversicherungsdaten. Letztere spielen überhaupt keine so große Rolle, weil hier Menschen mit, aber auch Menschen ohne Versicherung behandelt werden. Die 43jährige Susanne Schremser ist hier als Sozialarbeiterin tätig, bis zum kommenden Juni noch in berufsbegleitender Ausbildung – mit einem kritischen Ansatz. Das bedeutet hier in der Praxis: Sie ist nicht nur erste Ansprechpartnerin und versucht, den Leuten die Angst vor der Behandlung zu nehmen. Sie nimmt sich – falls gewünscht – Zeit für längere Gespräche: „Viele haben sehr schlechte Erfahrungen mit dem regulären Gesundheitswesen gemacht“, sagtSchremser. Oft geht es deshalb darum, dass KlientInnen überhaupt erst wieder Vertrauen zu ÄrztInnen und ins System gewinnen, um solche Leistungen wieder in Anspruch nehmen zu wollen. Bei der kritischen Sozialarbeit wird den KlientInnen nichts aufgedrängt. Man ist nicht verlängerter Arm des Staates. Die Entscheidung, wobei, inwieweit undwann Unterstützung benötigt wird, liegt bei den wohnungs- und obdachlosen Menschen selbst.

Niederschwellige Angebote. Schremser und ihre KollegInnen gehen während der Wartezeit direkt auf die PatientInnen zu. Sie klärt über rechtliche oder finanzielle Ansprüche auf, die jeder habe, aber von denen nicht jeder wisse – sofern das Gegenüber daran Interesse hat. Sie unterhält sich zum Beispiel mit Christian, der wegen eines ausgebrochenen Zahns in die Praxis gekommen ist. Angst hat er heute keine mehr, man hat ihm bereits angekündigt, dass bei der Behandlung an diesem Tag nichts Schmerzhaftes mehr ansteht. Bei Christian gehe es außerhalb der Zahnarztpraxis nun um die „aktive Jobsuche“, sagt er. Eine Gemeindewohnung hat er seit Kurzem. Die Zeit, als er im Männerwohnheim, später bei Freunden gewohnt hat, ist nun vorbei. Die PatientInnen können solche Gespräche aber auch ablehnen: „Ich sage eben, was ich kann, und wenn du willst, kann ich was für dich tun. Es geht auch ums Zuhören“, meint Schremser – wenn jemand aus der Vergangenheit erzählt, Ungewöhnliches, Normales, Lustiges oder auch von Depressionen. Wenn jemand will, vermittelt Schremser auch PsychologInnen. Das Du wird hier immer angeboten – und man kann auch das ablehnen. Es ist ein niederschwelliger Zugang: Kritische SozialarbeiterInnen bevormunden oder erziehen nicht. Im Gegenteil, sie versuchen Schwellen kleinzuhalten und Barrieren abzubauen – also den Zugang zu Leistungen zu erleichtern. Sie zeigen Möglichkeiten auf und unterstützen – falls notwendig.

Das sei bei allen Angeboten des neunerhauses so, erklärt Elisabeth Hammer, die fachliche Leiterin der sozialen Arbeit: in den drei Häusern mit Wohneinheiten für 250 Menschen, in den zehn betreuten Startwohnungen, bei der tiermedizinischen Versorgung genauso wie in der Zahnarzt- und der Arztpraxis. Insgesamt arbeiten rund 60 Personen im neunerhaus. Sie werden von etwa 70 Ehrenamtlichen und mehreren Zivildienern unterstützt. Die Grundsätze einer kritischen sozialen Arbeit fließen überall mit ein. „Es geht dabei um die Grundhaltung gegenüber den Klienten und Klientinnen“, erklärt Hammer, die sich neben ihrer Arbeit im neunerhaus auch beim Verein Kritische Soziale Arbeit, kurz kriSo, engagiert: „Wir sehen unsere Gegenüber nicht als EmpfängerInnen von mildtätigen Leistungen, sondern als Menschen, die über ihre Lebensgestaltung autonom entscheiden.“ Ein Ziel oder ein allgemeingültiger Weg wird von kritischen SozialarbeiterInnen dabei bewusst nicht vorgegeben.

Normen durchbrechen. Die Entscheidungen der Menschen müssen nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Solche Normen seien schließlich nicht naturwüchsig gegeben, sondern von Menschen gemacht. Die kritische Sozialarbeit und ihre KlientInnen dürfen, können und wollen sie verändern: „Wir erarbeiten mit den Wohnungslosen gemeinsam Perspektiven, damit sie ihre Kompetenzen dazu nutzen können, sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Darüber hinaus seien die MitarbeiterInnen auch anwaltschaftlich tätig, damit die KlientInnen zu ihren Rechten kommen.

In der praktischen Arbeit gibt es dabei aber Grenzen. Diese werden durch den rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Rahmen gesetzt. Beispielsweise erhalten nicht alle vom Staat die sozialen Leistungen, die sie brauchen würden. Neue EUBürgerInnen haben zum Beispiel keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Teil der Arbeit besteht deshalb auch darin, diesen Rahmen, wo es möglich ist, zu erweitern und auf politische wie gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Auch die zeitlich und finanziell beschränkten Ressourcen setzen der kritischen Sozialarbeit Grenzen. „Gerade dann ist es wichtig, darauf zu achten, dass man ein Creaming the poor vermeidet“, meint Hammer. In der kritischen Sozialarbeit geht es nicht darum, den „Rahm“ mit einfacher zu betreuenden KlientInnen abzuschöpfen, um so rasche Erfolge oder eine sogenannte Resozialisierung möglichst Vieler feiern zu können. Die Mittel und die Arbeit der SozialarbeiterInnen sollen allen, die sich an das neunerhaus wenden, zugutekommen, auch Personen, die mehr und länger Unterstützung brauchen als andere.

Kritik beim Studieren. Von solchen Grundsätzen, aber auch von begrenzten Möglichkeiten in der Praxis hört man auch in der Ausbildung an den Fachhochschulen. Rica Ehrhardt und Franz Widhalm studieren Soziale Arbeit am Fachhochschul-Campus Wien im zehnten Bezirk. Sie sind zwei von insgesamt 120 in Vollzeit und 40 berufsbegleitend Studierenden, die erst im letzten Herbst begonnen haben. Ihr erstes Semester geht nun bald zu Ende, die letzte Prüfung haben sie bereits absolviert. Im Wintersemester steht nur noch das erste zweiwöchige Praktikum an. Ein Modul, das sie noch im Zuge ihres Studiums absolvieren werden, setzt sich explizit mit der Sozialen Arbeit in Zwangs- und Normierungskontexten auseinander. Ein kritischer Zugang zur Sozialarbeit spielt aber auch in vielen anderen Lehrveranstaltungen eine Rolle. Bis zum Abschluss mit einem Bachelor sind jedenfalls sechs Semester Studium und 20 Wochen Lernen in der Praxis vorgesehen. Am Campus, auf dem es in der Mittagszeit von Studierenden, auch aus anderen Fachbereichen, nur so wuselt, erzählen Ehrhardt und Widhalm nun, wie der kritische Ansatz von Beginn an in die Ausbildung miteinfließt: „Die Vortragenden haben uns gleich in der Einführungswoche dazu aufgefordert, kritisch mit den Studieninhalten umzugehen und diese zu hinterfragen“, erklärt die 22jährige Ehrhardt.

Es ginge nicht nur um das Erlernen der Inhalte, unterstreicht auch Franz Widhalm und vergleicht das Studieren hier mit seiner Arbeit vor dem Studium, wo er die Produktion neuer Entwicklungen vorbereitet hat: „In der Industrie gibt es Hierarchien, die hin und wieder mit dem Gefälle zwischen Knecht und Herrscher vergleichbar sind.“ Er wurde wegrationalisiert, als ein Teil des Unternehmens in die Slowakei ausgelagert wurde. Er wollte beruflich aber ohnehin wechseln, „was Sinnvolleres machen“, sagt er. Beim Studium wird nun auf ein Miteinander-Arbeiten großen Wert gelegt. Die Vortragenden sind ein Teil des Teams, leiten an, erklären. Widhalm möchte das auch später in der Arbeit mit den KlientInnen ähnlich halten.

Selbstbestimmt statt kontrolliert. Bislang habe man sich vor allem mit den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt. Dabei sei zum Beispiel auch das doppelte Mandat Thema gewesen. In vielen Bereichen wird von SozialarbeiterInnen verlangt, zugleich im Sinne des Staates und der KlientInnen zu handeln. Die SozialarbeiterInnen unterstützen dabei zwar, können und sollen zugleich aber auch Sanktionen setzen, wenn die betreuten Personen  entweder gar nicht oder nicht in der Geschwindigkeit jenen Weg beschreiten, der ihnen vorgegeben wird. Auf die Arbeit mit Wohnungslosen umgemünzt könnte das zum Beispiel bedeuten, Druck auf die Menschen auszuüben, damit sie möglichst rasch wieder ohne Unterstützung auskommen und sich selbst eine Wohnung finanzieren. Ein doppeltes Mandat haben auch MitarbeiterInnen beim Jugendamt. Ähnlich wird oft mit Arbeitslosen in Beschäftigungsmaßnahmen verfahren. Unterstützung, Kontrolle und Sanktionen gehen dabei miteinander Hand in Hand.

Ehrhardt weiß bereits jetzt, dass sie nicht mit doppeltem Mandat arbeiten möchte: „Ich werde mir einen Bereich suchen, wo die Vorgaben nicht so strikt sind, oder wo man sie im Sinne der Klienten zumindest im eigenen Arbeitsfeld beeinflussen kann“, meint sie. Nach dem Wochenende geht es bei ihr zum Praktikum in ein Frauenhaus in Eisenstadt. Da heißt es bereits auf der Homepage: „Wir fördern die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit der Frauen in der inhaltlichen sowie alltäglichen Arbeit mit den Bewohnerinnen.“ Ein Ansatz, der den Grundsätzen der kritischen Sozialarbeit entspricht: Es wird mit und nicht über den Kopf der Klientinnen hinweg gearbeitet. Wohin der Weg geht, entscheiden diese selbst. Die Mitarbeiterinnen unterstützen sie beim Erlangen ihrer Rechte nur da, wo diese auch tatsächlich Hilfe wollen und benötigen. Ehrhardt hat nun zwei Wochen Zeit herauszufinden, ob dieses Umfeld für ihren  künftigen Berufsalltag möglicherweise das passende ist.

Durchgekämpft

  • 16.02.2013, 09:17

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Auf der unteren Mariahilferstraße, zwischen Supermarkt und Stiftskirche ist das Reich des Christian Meischl. Jeden Vormittag kommt der 44Jährige hierher, mit mehreren Augustin-Ausgaben unter dem Arm, und verkauft die Straßenzeitung. Meischl kennt fast alle, die hier vorbei kommen. Ihm fällt auf, wenn ein Mistkübler auf dem vorbeifahrenden orangen Müllwagen der Magistratsabteilung 48 fehlt, fragt die Kollegen, wie es ihm geht und wünscht gute Besserung. Er kennt die Urlaubspläne jener Leute, die in den Büros über ihm arbeiten und freut sich, wenn ihn der Hund der Stammkundin wie einen alten Freund begrüßt.

Meischl hat sich durchgekämpft. Von der Straße zur Notschlafstelle, weiter zur betreuten Wohnung und zum Augustin-Verkäufer. Derzeit ist er sogar auf der Suche nach einem fixen Job als Angestellter. „Die nächsten 20 Jahre den Augustin verkaufen, das ist keine Perspektive für mich“, sagt er. Bis hierher war es aber ein langer Weg. „Als ich obdachlos wurde, wusste ich gar nicht, wohin  ich sollte. Ich habe nicht einmal die Gruft gekannt“, erinnert er sich. Geholfen haben ihm damals andere obdachlose Menschen – sie haben die Notschlafstellen durchtelefoniert und nach einem Bett für Meischl gesucht. „Ich habe weder gewusst, wo eine Essensausgabe ist, wo ich Kleidung bekomme, noch wo ich mich duschen kann“, sagt er. „Obdachlosigkeit war davor einfach kein Thema für mich – da muss ich mich auch selbst am Rüssel nehmen: Auch ich bin früher an den obdachlosen Menschen blind vorbeigegangen.“

Foto: Johanna Rauch

Rund 8000 Personen in Wien sind obdachlos – genaue Zahlen aber gibt es nicht. Die Dunkelziffer kann erheblich höher sein. 2011 haben über 6000 von ihnen die Möglichkeit genutzt, in einer Notschlafstelle unterzukommen. Wer in Wien ein Bett in einem  Notquartier benötigt, geht zu einer Einrichtung namens „P7“ im zweiten Wiener Gemeindebezirk und wird einem freien Bett  zugewiesen. Weitere Hilfe erhält man dann im „bzWO“, wo Plätze für die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe vermittelt werden: für das Übergangswohnen, das betreute Wohnen oder das betreute Dauerwohnen. Je nach körperlichem Zustand und Zukunftsplänen – und auch Glück – erhält man dann einen betreuten Wohnplatz mit langfristiger Perspektive. 

Therapeutisches  Taschengeld. Perspektive geben aber auch Projekte wie der Augustin. Als KolporteurIn der Straßenzeitung kann man sich zusätzlich  zur bedarfsorientierten Mindestsicherung, auf die die meisten wohnungslosen ÖsterreicherInnen Anspruch haben, etwas dazu  verdienen. Für AsylwerberInnen, die finanziell erheblich schlechter gestellt sind, ist der Augustin häufig Teil der Existenzgrundlage – genauso für viele Roma, die aufgrund von struktureller Diskriminierung und den minimalen Sozialhilfen in Rumänien, Tschechien und der  Slowakei in Wien den Augustin vertreiben. „Wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den Personengruppen zu halten“, sagt Mehmet Emir, Sozialarbeiter beim Augustin. „Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, viele aber auch aus Wien – das ist ganz unterschiedlich. So haben wir auch sehr hoch qualifizierte KolporteurInnen, oftmals AsylwerberInnen aus Georgien. Sie dürfen während des Asylverfahrens nicht arbeiten – außer Zeitungen kolportieren“, erklärt er: „Viele sagen in so einem Fall zu dem Geld, das sie beim Augustin verdienen können, auch therapeutisches Taschengeld.“

420 aktive Augustin-KolporteurInnen gibt es derzeit – und 80 weitere werden dieser Tage aufgenommen. Alle zwei Wochen vertreiben sie die 22.000 bis 25.000 Exemplare des Augustins an den verschiedensten Ecken Wiens zu je 2,50 Euro – wovon eine Hälfte an die Kolporteurin geht, die andere an das Zeitungsprojekt. Zu Weihnachten beträgt die Auflage gar 46.000 Stück – hinzu kommen Goodies wie der Augustin-Kalender.  „Wir wären gerne das Blatt, das statt der Heute gelesen wird“, sagt Augustin- Redakteurin Lisa Bolyos. Sie fügt schmunzelnd hinzu: „Das von der Verbreitung her zu schaffen, ist quantitativ schwierig, aber qualitativ vielleicht möglich. Wir bekommen sehr viele LeserInnenbriefe, die zeigen, wie vielfältig unser Publikum ist.“ Ziel ist jedenfalls, meinungsbildend für Wien zu sein und Diskussionsstoff für die Stadt zu liefern. Ob die KolporteurInnen selbst auch den Augustin lesen? „Zumindest teilweise. Manche diskutieren ihn auch mit ihren StammkundInnen“, sagt Bolyos. Trotzdem sei man sich bewusst, dass für viele KolporteurInnen Sprachbarrieren bestünden, da sie Deutsch erst lernen müssen. Aber: „Der Background der wohnungslosen Menschen ist sehr unterschiedlich. Außerdem sind die KolporteurInnen des Augustins nicht grundsätzlich alle obdachlos, sondern Leute, die aus irgendeinem Grund verarmt sind oder aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“    

Wohnungslos. Auch Meischl ist von der Definition her nicht obdachlos – denn er lebt in einer betreuten Einrichtung der Wiener  Wohnungslosenhilfe. Genauer gesagt ist er daher „wohnungslos“: Er hat derzeit keine eigene Wohnung, aber ein Dach über dem  Kopf, einen eigenen Wohnungsschlüssel und damit eigene vier Wände. Das Ziel ist, nach einem Job wieder eine auf ihn selbst  angemeldete Gemeindewohnung zu erhalten. „Vor wenigen Jahren noch wäre das undenkbar gewesen: Drei Jahre lang hatte ich gar kein Geld, keine Mindestsicherung, nichts. Ich bin komplett durch den Rost gefallen und habe gebettelt“, erzählt Meischl. Als er   aber Unterstützung bekam, einen Wohnplatz und Sozialhilfe ging es bergauf. „Beim Augustin war aber leider Aufnahmesperre.  Trotzdem bin ich einfach hingegangen, und so schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte ich schon Zeitungen in der Hand und verkauft“, sagt er. Ein wenig Stolz liegt in seiner Stimme. „Ich hab wirklich jede Chance genützt.“

Keine Grenzen. Gebildet zu sein, die lokale Sprache ohne Akzent zu sprechen, Durchsetzungsvermögen, die richtige StaatsbürgerInnenschaft zu haben – und auch das richtige Geschlecht: Obwohl Obdachlosigkeit die gravierendste Form von Armut in modernen westlichen Gesellschaften darstellt, zeigen sich selbst auf dieser Spitze des Eisbergs noch immer gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen. So haben etwa Nicht-ÖsterreicherInnen gar keinen Anspruch auf das Angebot der Wohnungslosenhilfe – ausnahmsweise wurde diesen Winter ein Notpaket geschnürt, das ein Notquartier unabhängig von der StaatsbürgerInnenschaft für „Nicht Anspruchsberechtigte“ ermöglichte. EU-BürgerInnen stehen zumindest seit der Audimax-Besetzung durchgängig Notquartiere zur Verfügung. Laut dem Bericht des Verbands der Wiener Wohnungslosenhilfe 2011 wurden diese Einrichtungen „entsprechend gestürmt“. Im damaligen Jahr nutzten 719 Männer und 88 Frauen die Nächtigungsmöglichkeiten  in der sogenannten „Zweiten Gruft“. Hieran zeigt sich auch: Obdachlosigkeit kennt zwar keine Grenzen – aber ein Geschlecht. Denn Frauen sind wesentlich seltener obdachlos, aber versteckt wohnungslos. Sie kommen häufig bei Bekannten unter oder gehen  „Zweckbeziehungen“ ein – in denen sie nicht selten sexueller Ausbeutung ausgeliefert sind.

Wie verändert es das Weltbild und die politische Einstellung, wenn man selbst den Augustin verkauft oder einmal obdachlos war? „Für die meisten ist es selbstverständlich, dass sie ein Bett und ein Dach über dem Kopf haben. Aber das ändert sich dann sehr wohl. Man wird bescheidener“, sagt Meischl. Derzeit bemüht er sich, auf der Mariahilferstraße die Vorurteile gegenüber  wohnungslosen Menschen zu bekämpfen. Er spricht mit vielen seiner KundInnen über deren klischeehafte Vorstellung von Obdachlosigkeit. „Mich haben schon viele Leute blöd angeschaut, wenn ich beispielsweise Touristen auf Englisch den Weg erklärt habe“, sagt er. Und mit einem sehr ernsten Lachen: „Aber entschuldige, ich bin doch nicht als Augustin-Verkäufer auf die Weltgekommen.“

Das Reich der Mitte

  • 13.07.2012, 18:18

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Wer ist in unserer Gesellschaft reich? Sind es die MillionärInnen mit der Villa im noblen Vorort? Oder sind es bereits die ArbeitnehmerInnen, die im Monat mehr als € 2.000 verdienen? Für manche beginnt Reichtum ab € 2.000 Nettoeinkommen, bei anderen liegt diese Grenze bei € 20.000. Wenn es um das Vermögen geht, dann gehen die Schätzungen noch weiter auseinander, so eine Statistik aus Deutschland. € 50.000 erachten manche als „reich“, bei anderen müssen schon mindestens zwei Millionen am Konto sein. Reichtum ist nicht objektiv, Fakt ist aber: Tendenziell setzen die BürgerInnen die Reichtumsgrenze immer etwas oberhalb von dem an, wo sie selbst stehen. Sie sind nicht reich, aber – und das ist der Trost – fast reich.
Somit empfindet sich eigentlich die gesamte Bevölkerung der Mittelschicht zugehörig. Von leitenden Angestellten bis hin zu Arbeitslosen sind alle nicht arm, nicht reich, sondern irgendwo dazwischen. In einer Studie wurden Deutsche gebeten, sich auf einer Skala von eins bis zehn einzutragen, wobei eins unten und zehn oben ist. Kurioserweise geben westdeutsche ManagerInnen durchschnittlich die Zahl 6,6 und ungelernte ArbeiterInnen die Zahl 4,6 auf der Skala an. Laut Selbstwahrnehmung gibt es die wirklich Armen und die wirklich Reichen nicht.
Das stimmt aber nicht. Auch wenn alle in die Mitte streben, hat diese reale Grenzen. Wer etwa mehr als 160 Prozent des Durchschnittsgehalts verdient, zählt zur Oberschicht, zur „Elite“. Wer nur 60 Prozent davon verdient, der gehört zur Unterschicht und ist somit armutsgefährdet. In Österreich liegt das Durchschnittsgehalt im Singlehaushalt momentan bei € 1.584 pro Monat. In Deutschland befinden sich 20 Prozent der Bevölkerung oberhalb und 25 Prozent unterhalb dieser Mittelschichtsgrenze. In den Köpfen der Bevölkerung allerdings leben wir in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die Klassengesellschaft ist passé.

Schön wär’s. Wenn die Vermögens- und Besitzstrukturen betrachtet werden, zeigt sich ein anderes Bild: In Österreich vereinen sich in den zehn reichsten Prozent der Bevölkerung 54 Prozent des Geldvermögens. Und jene zehn Prozent besitzen auch 71 Prozent aller Immobilien.
Wirklich problematisch ist diese Tatsache, weil sich die eigentliche Mittelschicht gerne den Eliten nahe fühlt, erklärt Ulrike Herrmann in ihrem Buch Hurra, wir dürfen zahlen. Dass die Mittelschicht sich als „fast reich“ empfindet, ist für die wirklich Reichen sehr praktisch. Denn es ist die große Masse der Mittelschicht, die bei Wahlen maßgeblich dafür verantwortlich ist, wer Politik machen darf. Wenn sie sich selbst als „Elite“ sieht, kann die Elite ihre Forderungen durchbringen – und das geschieht meist auf dem Rücken der Mittelschicht. „Die Elite muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren“, schreibt Herrmann. So lassen sich die WählerInnen der Mittelschicht einreden, dass Vermögens- oder auch Grundsteuern niedrig zu halten sind. GewinnerInnen sind vor allem die Angehörigen der Eliten.
Aber wenn jemand „fast reich“ ist, wie viel kann einen dann schon noch trennen von den oberen Zehntausend? Die Mittelschicht investiert Unsummen in die Bildung ihrer Kinder und schickt sie auf Privatschulen, während sie darauf vergisst, zu fordern, dass das öffentliche Schulsystem verbessert wird. Die Oberschicht suggeriert dem Volke tatsächlich, offen und zugänglich zu sein. Jemand müsse nur die gewisse Leistung, das gewisse Talent erbringen, um dort oben dazuzugehören. Tatsächlich sind diese Kreise aber nach unten quasi abgeschlossen, schreibt Herrmann. Die Eliten hätten es so wie der Adel perfektioniert, sich hermetisch abzuschließen und dabei ganz offen zu wirken.

Die geblendete Mitte. Realistischerweise bleiben die Schichten unter sich. Das ist schon aus soziologischen Gründen verständlich. Jedoch hält die Mittelschicht vehement an der Vorstellung fest, dass ihre Kinder mit der richtigen Leistung aufsteigen werden.
So lässt sich die Mittelschicht von der Oberschicht etwas vorgaukeln. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis etwa tönte vor einigen Jahren in der Zeit: „Wir sind bei Gott nicht reich, wir sind absoluter Mittelstand“, während das Vermögen ihres Sohnes auf € 500 Millionen geschätzt wird. Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz wiederum offenbarte in der Bild, dass sie sich kaum mehr leisten könne, mit ihrem Mann zum Italiener ums Eck essen zu gehen, obwohl sie in einem Schloss mit Kunstsammlung wohnt. Weitere Recherchen ergaben, dass sie wohl noch einige Millionen Euro besitzt.
Vielleicht nicht immer ganz so drastisch, aber die Reichen rechnen sich gerne arm. Oder zeigen sich als „einer von euch“, vor allem in der Politik. Vor zwei Monaten wurde in Österreich die Mittelstandsvereinigung Österreich gegründet. Es soll ein Forum sein, das sich für die Anliegen des Mittelstandes einsetzt. Was genau die sind, ist momentan noch nicht näher erörtert. Jedenfalls ist der Präsident der ehemalige ORF-Journalist Walter Sonnleitner.
Zum Vorstand gehören Menschen wie Ex-Billa-Chef Veit Schalle, der Banker Matthäus von Thun-Hohenstein, der Anwalt Alexander Scheer und Prinz Albert von Liechtenstein. Abgesehen davon, dass der Verein eine eindeutige BZÖ-Schlagseite hat, sind das alles nicht Herrschaften, die per Definition dem Mittelstand angehören.

Sozialschmarotzer. Während sich die Reichen also arm rechnen, werden die Armen wiederum gerne reich gerechnet. Sie werden gerne als Schmarotzer hingestellt, die ein nichtsnutziges Leben führen und die wahren LeistungsträgerInnen aussaugen. Es kommt somit zu einer totalen Verdrehung der Realitäten, die den Reichtum der Reichen fördert und die Armen ärmer macht und weiter an den Rand drängt.
Natürlich will sich die Mittelschicht von dieser verachteten Gruppe abgrenzen. Vor allem weil die Gefahr, tatsächlich abzusteigen, in den letzten Jahren gestiegen ist. Im Jahr 2000 zählten 49 Millionen der Deutschen zum Mittelstand, 2006 waren es nur noch 44 Millionen. Laut einem Rechnungshofbericht haben 2008 die ArbeitnehmerInnen der untersten zehn Prozent der Gesellschaft nur 88 Prozent von dem verdient, was sie 1998 bekamen. Dagegen haben die oberen zehn Prozent um 24 Prozent mehr verdient. 12,4 Prozent sind in Österreich armutsgefährdet, das sind ca. eine Million Menschen. „Die Angst kriecht langsam die Bürotürme hoch“, wird der Soziologe Stefan Hradil im Buch von Herrmann zitiert. Paradoxerweise fördert die große Masse genau deshalb die Wünsche der Eliten, denn: Die AbsteigerInnen, das sind die anderen.