Literatur

Dreißig Jahre zu spät

  • 29.09.2012, 01:52

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Als die Schwedische Akademie ihre Entscheidung über den Literaturnobelpreis 2007 verkündete, war die 87-jährige Doris Lessing gerade einkaufen und daher selbst für die honorigen SchwedInnen nicht erreichbar. Zwei Stunden später fuhr sie mit dem Taxi vor ihrem Haus in London vor und wurde bereits von einer ReporterInnenschar erwartet. Ihre erste Reaktion fiel in der ihr eigenen nonchalanten Begeisterung aus: „Das geht jetzt schon 30 Jahre lang so. Ich habe alle Auszeichnungen in Europa gewonnen, jeden verdammten Preis! Also bin ich entzückt, sie jetzt alle zu haben. Es ist ein „Royal Flush. […] Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben, bevor ich abkratze.“ Nun ist Frau Lessing nicht nur um eine Ehrung, sondern auch um 1,1 Millionen Euro reicher.

Ihr Leben – eine Geschichte. Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Kolonialbeamten und einer Krankenschwester im Iran geboren. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Südrhodesien (Simbabwe) um. Bald wurde sie mit der Trostlosigkeit des kolonialen Alltags konfrontiert. Lessing erlebte sowohl das Platzen des Traumes vom Reichtum Afrikas in der eigenen Familie, als auch das Elend der einheimischen Bevölkerung. Diese Problematik sollte prägend für ihre frühen Texte werden. Lessing brach ihre rigide Schulerziehung mit vierzehn Jahren ab und machte sich intellektuell wie ökonomisch selbstständig. Kurz nachdem sie 1937 nach England zurückgekehrt war, heiratete sie. Doch das Gefühl gefangen zu sein, ließ sie nicht los, sie verließ ihren Mann. Kurz darauf kam sie in Kontakt mit dem „Left Book Club“, einer kommunistischen Buchklub- und Diskussionsbewegung, wo sie ihren zweiten Mann Gottfried Lessing kennen lernte. Nach und nach jedoch wurde sie von der kommunistischen Partei enttäuscht und verließ diese 1954 wieder. Es folgte Anfang der 1970er und 1980er eine sehr produktive Zeit für Lessing, in der sie sich auf die Suche nach anderen Perspektiven zur Überwindung von Ungerechtigkeiten und Dichotomien machte. Dabei bleibt sie der Linken und der Frauenbewegung jedoch ihr Leben lang verbunden. In den 1990-er Jahren fand ihr Werk zunehmend Anerkennung und sie erhielt zahlreiche Preise. Bis heute lebt, schreibt und publiziert Doris Lessing in London.

Das Werk als Spiegel der Zeit. Die frühen Texte wie „The Grass Is Singing“ beschäftigen sich, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, mit Kolonialismus in Afrika. Sie prangern die Enteignung der AfrikanerInnen, die rassistische Ungerechtigkeit und die Sterilität der importierten europäischen Kultur an. Die Texte machten Lessing lange Zeit zur persona non grata in Südrhodesien und Südafrika. Lessings politische Erfahrungen Anfang der 1940er kulminieren in ihrem großen Roman „The Golden Notebook“ von 1962. Das höchst komplex auf fünf Erzählebenen aufgebaute Buch versucht ein Panorama über politische und soziale Entwürfe weiblicher Subjektivität dieser Zeit zu geben. Ihre Ambition dabei ist es, wie die Realisten des 19. Jahrhunderts, das Portrait einer ganzen Gesellschaft und ihres Klimas zu zeichnen. In den 1970er und 80er Jahren wendet sich Lessing einer von islamischer Mystik inspirierten Science Fiction zu. Es entsteht der fünfbändige Zyklus „Canopus in Argos: Archives“. Ihr neuester Roman „The Cleft“ erschien 2007 und sucht eine mythische Gesellschaft am Anfang der Menschheit auf, die nur aus Frauen besteht.

Umstrittene Entscheidung. Nicht alle sind mit der Entscheidung für Doris Lessing zufrieden. Marcel Reich-Ranicki spricht von einer „bedauerlichen Entscheidung“. Er kenne „viele, jedenfalls mehrere bedeutendere, wichtigere Schriftsteller“ aus dem angelsächsischen Sprachraum. Von Lessing habe er „vielleicht drei“ Bücher gelesen und „nichts hat mich wirklich beeindruckt.“ Ganz anders reagierte Elfriede Jellinek, die 2004 selbst den Nobelpreis erhalten hat: „Ich hatte sogar gedacht, sie hätte ihn schon längst. Das ‚Goldene Notizbuch‘ [ist] sicher eines der wichtigsten feministischen Werke der Literatur überhaupt.“ In der Tat schlägt sie damit in eine Kerbe, die auch andere KritikerInnen anführen: Der Preis sei wichtig und verdient, komme aber „um 30 Jahre zu spät“, so Sigfried Löffler.

Die obskure Entscheidungsfindung der Schwedischen Akademie wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Überspitzt gesagt machen honorige ProfessorInnen einer (bis vor einigen Jahren ausschließlich männlichen) Kommission Vorschläge. In geheimen Beratungen wird dann der/die PreisträgerIn bestimmt: die Black Box spuckt einen Namen und eine zweizeilige Begründung aus und schiebt 1,1 Millionen Euro über den Tisch. Die Entscheidungen sind oft eher ein politisches als ein ästhetisches Statement – und dementsprechend auch umstritten. So wurden etwa mit Harold Pinter (2005) oder Dario Fo (1997) keine großen Stilisten ausgezeichnet – jedoch vehemente Kritiker neoliberaler Politik.

Frauen als Nobelpreisträgerinnen waren lange Zeit eine Seltenheit: Seit 1901 wurde der Nobelpreis 104 mal vergeben, davon nur 11 mal an Frauen. In den letzten 20 Jahren scheint sich jedoch ein deutlicheres Bewusstsein für solche Ungleichheiten gebildet zu haben: Zwischen 1901 und 1990 betrug der Frauenanteil ganze 7 %, während er seit 1991 auf 30 % angestiegen ist. Ähnlich sieht es mit dem Anteil von SchriftstellerInnen aus postkolonialen Kontexten aus. In der Begründung für die Verleihung an Doris Lessing heißt es, sie sei eine „Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat“. Darin zeigt sich der schmale Grat zwischen Essentialismus und Differenzkonzepten. AutorInnen, die an der Dekonstruktion von Dichotomien arbeiten, mit Begriffen wie „weibliches Schreiben“ zu etikettieren, ist gefährlich. Die Herausforderung besteht darin, „daß wir die Dinge nicht auseinanderdividieren dürfen, nicht in Fächer aufteilen dürfen“, wie Doris Lessing im Vorwort zu „The Golden Notebook“ schreibt. Dieses Ringen nach einer totalen Perspektive ist es wohl, was Doris Lessings Werk so wertvoll macht.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien.

www.dorislessing.org
www.nobel.se

Der Winter tut den Fischen gut

  • 28.09.2012, 10:45

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab...

Der Winter tut den Fischen gut

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab – seien es nun Geschichten über Otto, eine der Kaulquappen die Maria in ihrer Wohnung züchtet, Erinnerungen an den ersten Kuss mit ihrem verstorbenen Mann Walter im Wiener Prater oder der Einkauf am Fischmarkt im Winter. Wachsam und liebevoll beschreibt Anna Weidenholzer den Alltag in der Arbeitslosigkeit, ohne dabei auch nur ein Detail zu übersehen. Sie erzählt die Geschichte einer wartenden Frau, die auf den ersten Blick in der Langsamkeit und Einsamkeit der  Arbeitslosigkeit gefangen ist, bei näherem Hinsehen jedoch voller  Sehnsüchte und Lebenshunger ist. Ein schönes, ruhiges Buch.

Der Winter tut den Fischen gut.
Residenzverlag 2012

Wo der Scheinwerfer nicht hingelangt

  • 28.09.2012, 10:24

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.

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