Arbeitslosigkeit

ABC des Kommunismus

  • 21.06.2017, 18:21
Nach 150 Jahren ist Das Kapital von Karl Marx in aller Munde, seine Theorie und kommunistische Kritik sind aber weitgehend vergessen. Was die zu bieten haben, soll dieses ABC skizzieren.

Nach 150 Jahren ist Das Kapital von Karl Marx in aller Munde, seine Theorie und kommunistische Kritik sind aber weitgehend vergessen. Was die zu bieten haben, soll dieses ABC skizzieren.

Abstrakte Arbeit
ist nicht zu verwechseln mit einer bestimmten Tätigkeit, die einen bestimmten Nutzen erzeugt, sondern bezeichnet die Eigenschaft der Arbeit, den Wert der Waren zu produzieren – in einem proportionalen Verhältnis zur Arbeitsdauer. Dieser Begriff stellt klar, dass das Lob der Arbeit sich mit Marxismus nicht verträgt. Arbeit ist als Lebensnotwendigkeit jenseits von Lob oder Verdammung, immer mehr Arbeit für immer mehr Wert ist der Zweck der kapitalistischen Produktionsweise. Marx hat es behauptet, die VWL hat es bezweifelt – aber KapitalistInnen praktizieren das Wertgesetz, wenn sie in ihren Maßnahmen ihr Kapital zu seiner Vermehrung einsetzen, also darum konkurrieren, möglichst viel abstrakte Arbeit bei sich zu versammeln und gleichzeitig das Maß dieser Konkurrenz immer höher zu schrauben, also Arbeit bei sich zu reduzieren, die die Konkurrenz noch aufbringen muss (vgl. ➡️ Arbeitswertlehre ➡️ Produktivkräfte).

Arbeitskraft
Während die Arbeitskraft allgemein in der physischen Fähigkeit des Individuums besteht, die Natur zu seinem Zweck zu verändern, besteht die kapitalistische Variante dieses Umstands darin, dass die Arbeitskraft Ware sein darf. Als solche wird sie veräußert, auf dass ihre KäuferInnen sie für diese Periode – die Arbeitszeit – frei zu ihrem Zweck einsetzen können. Insofern ist der Satz unwahr, dass Arbeit bezahlt wird. Bezahlt wird dder Wert der Ware Arbeitskraft, nicht der der Arbeit, denn ihr Produkt gehört dem Kapital. Weil ArbeiterInnen nicht versklavt sind, gewinnen sie jeden Abend die Verfügung über ihre Arbeitskraft zurück, um sich erholen zu können (für den nächsten Tag).

Arbeitswertlehre
Keine „Lehre“, sondern die Kritik der politischen Ökonomie, die sich nicht mit der Banalität erledigt, dass sich der Preis der Waren nicht durch die Arbeit „berechnen“ lässt. 1. weil Marx im Kapital erklärt, dass der Wert der Ware keinen Rechtsanspruch der ProduzentInnen bezeichnet, sondern das Ergebnis eines Konkurrenzkampfes, der sich hinter dem Rücken der ProduzentInnen abspielt. 2. weil man schon kapieren muss, warum Arbeit Wert schafft, aber Maschinen – selbst Arbeitsprodukte – ihn nur übertragen, man die Wissenschaft von der Ökonomie auf die vulgärökonomische Flachheit reduziert, das Phänomen, dass jeder für seine Ware verlangt, was er kriegen kann, für den Begriff der Sache zu halten. 3. Näheres bei Marx!

Ausbeutung
hat mit einem moralischen Vorwurf nichts zu tun. Ausbeutung wird durch ➡️ KapitalistInnen dadurch erreicht, dass sie ➡️ LohnarbeiterInnen unbezahlte Mehrarbeit verrichten lassen, indem deren Arbeit ein wertvolleres Produkt produziert, als ihre Bezahlung kostet. Ausbeutung bezeichnet die trostlose Rolle der produktiven ArbeiterInnen, für diesen Zweck in Haftung genommen zu werden und ist insofern kritisch gemeint. Die Forderung eines gerechten Lohns, der den ArbeiterInnen die Arbeit wirklich entgilt, ist mit der Kritik der Ausbeutung nicht verbunden. Diese Forderung übersieht nicht nur, dass nicht die Arbeit, sondern Ware ➡️ Arbeitskraft bezahlt wird – sie geht auch von der Trennung aus, die das ➡️ Privateigentum zwischen Reichtum und ArbeiterInnen zieht.

Dialektik
Eine Wunderwaffe, mit der man Widersprüche rechtfertigt, ohne sie zu erklären, weshalb sie sich besonders in Uni-Seminaren bestens bewährt.

Gebrauchswert & Tauschwert
Was an Arbeitsmitteln und an Genussmitteln, also sachlichem Reichtum, zur Verfügung steht, macht zunächst den Reichtum jeder Gesellschaft aus. Im Kapitalismus gewinnt dieser Gebrauchswert-Reichtum zusätzlich die Qualität des Tauschwerts: Die nützlichen Dinge haben Wert, weil sie tauschbar sind. Diese zweite Qualität der Ware drückt sich in ➡️ Geld aus.

Geld
ist materialisierte, quantifizierte und ausschließende Kommandomacht über Produkte und Arbeit. Die irrationale Gestalt des ➡️ Privateigentums als Ding, auf dem die politische Ökonomie des Kapitalismus beruht.

LohnarbeiterInnen, doppelt freie
Die/Der LohnarbeiterIn bezeichnet eine recht kümmerliche Gestalt, die über die Mittel ihres eigenen Lebens nicht verfügt, aber dabei tun und lassen kann, was sie will. Durch den ➡️ privateigentümlichen Ausschluss von den ➡️ Produktionsmitteln sind die LohnarbeiterInnen auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen, was ihre Freiheit recht bescheiden ausfallen lässt.

Entfremdung
Entgegen modernen Gerüchten bezeichnete Marx mit der Entfremdung nicht Kapitalismuskritik als Sinnfrage, sondern den Umschlag des Eigentumsgesetzes (MEW 23, S. 609–611), wonach nicht mehr eigene Arbeit das ➡️ Eigentum am Produkt begründet, sondern die ➡️ kapitalistische Meisterleistung, alle Elemente des Produktionsprozesses zu bezahlen. Für die ArbeiterInnen bedeutet dies auch, dass ihre Arbeit in der Unterordnung unter den vom Kapital organisierten Produktionsprozess besteht. Die – reale – Absurdität besteht darin, dass die Arbeit nicht das Mittel derer ist, die arbeiten.

Freiheit & Gleichheit
Keine Werte, die im Kapitalismus vor die Hunde gehen, sondern die realen, juristischen Bedingungen, unter denen ➡️ Lohnarbeit und ➡️ Kapital sich begegnen. Diese Bedingungen bestehen in der realen Abstraktion davon, was die gegensätzlichen Interessen ausmacht und worüber sie verfügen. Kapital und Arbeit begegnen sich als Personen auf dem Markt, wo sie einen höchst ungleichen Tausch machen, der die Verfügung über die Ware Arbeitskraft gegen Lohn entgilt. Dass Freiheit und Gleichheit eine ungemütliche Sache sind, lässt sich auch daran studieren, dass die ArbeiterInnen anders in den Produktionsprozess eintreten (MEW 23, S. 189–191), als sie aus ihm herausgehen (MEW 23, S. 319f.).

Krisen
kommen und gehen, machen jedenfalls dem Kapitalismus leider nicht den Garaus.

Hegel
muss man nicht gelesen haben, um Marx zu verstehen (dafür müsste man Marx lesen).

historisch erkämpft
ist die Gleichberechtigung der ProletarierInnen mit ihren ArbeitgeberInnen, ebenso wie alles Soziale an der Marktwirtschaft, was für keinen der beiden Erfolge spricht. Während zu ersterem mit ➡️ Freiheit und Gleichheit das Nötige gesagt ist, besteht die Errungenschaft des Sozialstaats einfach darin, von den Schädigungen der ➡️ Lohnarbeit auszugehen, um diese zu kompensieren und die Lebenslüge des Lohns wahrzumachen, von ihm „leben“ zu können. Der Sozialstaat erhält die Gesellschaft, die ihn nötig macht, weil er sie affirmiert. Und ProletInnen leben als „einfache Leute“ vor sich hin, weil und solange sie sich ein Leben außerhalb der Organisationsformen moderner Armut nicht vorstellen mögen.

Industrielle Reservearmee
Arbeitslose; ein Produkt des kapitalistischen Einsatzes der ➡️ Produktivkräfte, wobei die Industrielle Reservearmee nicht entsteht, weil die ArbeitgeberInnen keine Arbeit „geben“, sondern weil das Kapital die Lohnarbeit so anwendet, wie es für seine Verwertung zuträglich ist. Mit ihrer Konkurrenz entfalten die Arbeitslosen segensreiche Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, wo das Kapital durch Lohndrückerei seinen ➡️ Profit steigern kann.

KapitalistIn
Der Eigentümer von Kapital, der die ➡️ doppelt freien Lohnarbeiter für seinen Profit ➡️ ausbeutet. Als solcher hat er keinen schlechten Charakter, sondern betätigt sich als Charaktermaske, womit gemeint ist, dass er als bloße Personifikation einer ökonomischen Kategorie handelt. Gibt es nicht nur in männlich, wie schon früh eine „Dame mit dem gemütlichen Namen Elise“ bewies (MEW 23, S. 269).

Kommunismus
Kein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.

MEW
Marx-Engels-Werke. MEW Band 23 = Das Kapital Bd. 1. Lesen!

Müllhaufen der Geschichte
Bestimmungsort aller theoretischen Schriften der Agenda Austria.

Privateigentum
Im Unterschied zum Besitz einer Sache bezeichnet Privateigentum nicht den schlichten Umstand, über eine Sache (zwecks ihrer Konsumtion) zu verfügen, sondern die Willkür, sie anderen vorzuenthalten. Seine bestechende Durchschlagskraft erhält dieses Recht, wo es das Produktionsverhältnis des Kapitals kodifiziert, also dem Kapital sein Monopol auf den Reichtum der Gesellschaft sichert, während es den LohnarbeiterInnen die Unsicherheit ihrer Existenz garantiert. Deswegen muss es beseitigt werden.

Produktionsmittel
(auch: Rohstoffe, Maschinen, Gebäude) gehören dem Kapital, was dieses zur herrschenden Klasse qualifiziert. An den Produktionsmitteln hantieren diejenigen, die sie nicht haben, zum Wohle derjenigen, die damit „Arbeitsplätze schaffen“. Dieser verantwortungsvolle Beruf besteht in der eigentümlich eigennützigen Handlung, andere für sich arbeiten zu lassen – auf der schlichten Grundlage des ➡️ Privateigentums an den Produktionsmitteln.

Produktivkräfte
werden gesteigert, damit am Preis der Arbeit gedreht wird. Das Kapital verändert das Verhältnis von Vor- und Überschuss, indem es den Wirkungsgrad der Arbeit erhöht, mittels neuer Technologie und Arbeitsmethoden, was keine Wohltat für die arbeitende Menschheit ist, weil sie gleich doppelt auf ihre Kosten geht: 1. wird ihre Arbeit nicht weniger, sondern überflüssig, was zur Bildung einer ➡️ Industriellen Reservearmee führt. 2. wird die bezahlte Arbeit der nicht entlassenen Mannschaft reduziert, was schlecht ist für Leute, die ausgerechnet davon leben, möglichst viel von ihrer Arbeit zu verkaufen. Die Verringerung der bezahlten Arbeit ist die Senkung der Lohnstückkosten, wodurch das Kapital den Ausschluss der ArbeiterInnen von ihrem Produkt steigert, also seinen ➡️ Profit.

Profit (auch Gewinn)
besteht im Geld-Überschuss, den KapitalistInnen realisieren, wenn Waren verkauft werden und dabei mehr einstreichen, als sie in ihrem Vorschuss (Arbeitskräfte, Produktionsmittel usw.) investiert haben. Da der Profit für mehr Profit reinvestiert wird, also maßlos ist, steht er im Ruch, dem Gemeinwohl zu widersprechen, was nicht gerecht ist, weil er als Bedingung allen andern Einkommens (Zinsen, Renten, Gehälter) genau das Gemeinwohl stiftet, das der Kapitalismus zustande bringt: Wirtschaftswachstum!

Utopien
gehen nicht, weshalb realitätsbewusste ZeitgenossInnen gerne den ➡️ Kommunismus als eine solche bezeichnen. „Phantastische Gemütsschwärmerei“ (MEW 4, S. 3) war allerdings Marx und Engels eher peinlich, weshalb sie neben ihrem Programm der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ auch polemisch Stellung bezogen haben. GegnerInnenschaft gegen die kapitalistische Produktionsweise verlangt nämlich Kenntnisse und nicht bloß Absichten.

verkürzte Kritik
ist ein antikritisches Modewort, das falsche Einwände gegen den Kapitalismus als guten Ansatz, der leider nicht weit genug getrieben wurde, würdigt. Gehört auf den ➡️ Müllhaufen der Geschichte.

Fragen & Einwände aufschreiben und an abcdesmarxismus@hotmail.com schicken!
Dragana Komunizam hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Von fehlendem Halt zu Hass

  • 27.10.2014, 14:49

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz kämpfen mit einer unsicheren Zukunft. Vom Alltag frustriert, sind sie besonders empfänglich für Vorurteile.

Jugendliche provozieren mitunter gerne. Wenn es sich dabei um menschenfeindliche Äußerungen und Taten handelt, etwa im Kontext von rechtem oder islamistischem Gedankengut, stellt sich die Frage, wo die Wurzeln dafür liegen, und wie damit umgegangen werden kann. Das Phänomen lässt sich keineswegs nur auf Jugendliche beschränken. Trotzdem lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Herausforderungen zu werfen, denen sich jene Menschen stellen müssen, die politische Bildungsarbeit und Sozialarbeit mit Jugendlichen leisten.

Nicht erfüllte Bedürfnisse. In den Räumlichkeiten des Vereins Backbone, der mobile Jugendarbeit im 20. Wiener Bezirk leistet, wird regelmäßig gemeinsam gekocht. In gemütlicher Atmosphäre reden die Jugendlichen mit den SozialarbeiterInnen darüber, was ihnen gerade durch den Kopf geht und was sie bewegt. Viele der jungen Menschen hier kommen aus ökonomisch und sozial benachteiligten Verhältnissen, manche befinden sich weder in Ausbildung noch in einem Arbeitsverhältnis. Bei Backbone wird ihnen nicht nur Unterstützung bei der Suche nach einer Lehrstelle oder beim Bewerbungsgespräch geboten, sie können auch in ihrer Freizeit die Räumlichkeiten nutzen. Die Jugendlichen können bei der Gestaltung des Freizeitangebots von Backbone mitreden, Regeln gibt es kaum. Dieser offene Zugang ermöglicht es den SozialarbeiterInnen, die Jugendlichen in all ihren Facetten kennen zu lernen.

Nicht selten übertragen die Jugendlichen den Frust, der sich aus ihrem Alltag ergibt, auf andere und greifen dabei auf Vorurteile, die sie entweder aus dem Elternhaus, den Medien oder von FreundInnen kennen, zurück. „Wir sind mit menschenfeindlichen Parolen, Ressentiments gegen verschiedene Minderheiten, Nationalismen in unterschiedlichster Ausformung und mit religiös-extremistischem Gedankengut konfrontiert“, erzählt Fabian Reicher, einer der Sozialarbeite rInnen bei Backbone. Die Gründe für solche Äußerungen und die Neigung mancher Jugendlicher zu diesen Weltbildern sind aus seiner Sicht vielfältig. Man dürfe nicht vergessen, dass die Jugend auch ohne zusätzlich erschwerte Umstände eine Phase des Experimentierens mit schnell wechselnden Einstellungen und Vorlieben ist. Die Zeit zwischen 12 und 15 Jahren sei oft wechselhaft, wie er am Beispiel eines Mädchens, das er schon länger kennt, illustriert: Bis vor einigen Monaten hatte sie oft ein T-Shirt der Band Frei.Wild, die dem Rechtsrock zuzuordnen ist, getragen und deren Musik gehört. Dann wiederum sah er sie vergangenes Frühjahr auf einer Demonstration gegen die rechte Gruppierung Die Identitären.

Foto: Mafalda Rakoš

Im Klassenraum. Der Rechtsextremismus und Islamismus-Experte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, pflichtet dieser Einschätzung bei: „Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das zur Projektion etwa auf Juden, Muslime oder andere Gruppen führen. Je mehr man über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse weiß, desto geringer wird auch der Drang zur Projektion. Wenn Jugendliche in einem Milieu aufwachsen, das von physischer oder psychischer Gewalt geprägt ist oder in dem es kaum Anerken nung und Wertschätzung gibt, dann werden sie auch ein vergiftetes Selbstbild entwickeln.“ Peham ist seit 20 Jahren an österreichischen Schulen unterwegs, um Workshops zu Vorurteilen und Ressentiments zu halten. Diese Workshops sind Teil der politischen Bildung und sollen mitunter ein Beitrag zur Prävention sein. Für Peham liegt ein Problem darin, dass rechte Äußerungen oder Vorurteile oft nicht erkannt werden, etwa weil sie sehr indirekt oder undeutlich artikuliert werden. Aus seiner Erfahrung macht sich das vor allem unter jenen bemerkbar, die sich weiter oben in einer Bildungslauf bahn befinden und mit Rassismus oder Antisemitismus kokettieren. Dass LehrerInnen hier zu Sanktionen tendieren, liegt für Peham daran, dass ihnen schlicht die Zeit fehlt, um Vorurteile ausgiebig zu diskutieren. Die politische Bildungsarbeit kann hierfür Raum schaffen.

In seinen Workshops wird Peham mit unterschiedlichsten Vorurteilen konfrontiert. Aus seiner Erfahrung ist eines der häufigsten, dass alle AusländerInnen in der sozialen Hängematte liegen würden. Da solche Meinungen eben auch mit Emotionen verbunden sind, reicht es oft nicht, das nur faktisch zu widerlegen. Deshalb konfrontiert er die SchülerInnen auch mal mit unerwarteten Aussagen, wie: „Ich habe eigentlich selbst ein starkes Bedürfnis danach, versorgt zu werden.“ Das funktioniert zwar nicht immer, bringt manche aber dazu, sich dem Thema aus einer anderen Richtung zu nähern und so über die eigenen sozialen Verhältnisse anders nachzudenken. Dass in ein paar Stunden sämtliche Ressentiments, die mitunter bestehen, aufgelöst werden könnten, darüber macht sich Peham keine Illusionen. Er ist schon mit kleinen Erfolgen zufrieden. Besorgt zeigt er sich aber über eine Entwicklung, die er seit gut ei nem Jahr beobachtet: „Ein offensichtlicher Antisemitismus ist wieder bemerkbar, bis hin zu Mord und Vernichtungsphantasien.“

Begegnungen in Israel. Auch im Verein Backbone sehen sich die SozialarbeiterInnen immer wieder mit antisemitistischen Äußerungen jeglicher Art konfrontiert. Neben der alltäglichen Arbeit im Verein gibt es auch immer wieder Projekte, die es den Jugendlichen ermöglichen sollen, einen anderen Zugang zu sich und ihren eigenen Weltbildern zu bekommen. Im Herbst 2013 organisierte der Verein deshalb eine Reise nach Israel. Zwei Jugendliche sind mitgeflogen, deren Familien sich im Umfeld der Grauen Wölfe bewegen. Das ist eine rechtsradikale Gruppierung aus der Türkei, die auch antisemitische Positionen vertritt. Um sich auf die Reise nach Israel vorzubereiten, haben sich die beiden Jugendlichen einen Bart wachsen lassen, um sich abzugrenzen.

In Israel angekommen, haben sich die Erwartungen der beiden allerdings nicht bestätigt. „Zunächst waren sie überrascht über die Minarette, die sie dort gesehen haben. Auf der Straße sind sie außerdem laufend von Menschen gefragt worden, ob sie nicht mit ihnen gemeinsam beten wollen“, erzählt Reicher, der die Reise nicht nur mitorganisierte, sondern die Jugendlichen auch in Israel begleitete. So begannen die Jugendlichen bald festgefahrene Bilder neu zu überdenken. Es entwickelten sich auch Freundschaf ten. Dass sich durch die Reise bei den Jugendlichen etwas veränderte, steht für Reicher fest. Sie würden nun differenzierter mit vorgefertigten Ideen umgehen, die sie zuvor einfach übernommen hatten.

Foto: Mafalda Rakoš

Jugendlichen unterschiedliche Blickwinkel aufzuzeigen, ist für den Sozialarbeiter eine weitreichende Aufgabe: „Von Jugendlichen wird erwartet, dass sie sich von menschenfeindlichem Gedankengut abgrenzen. In Wirklichkeit fehlt es den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, aber an den Voraussetzungen dafür, nämlich an Bildung. Sie können sehr schwer differenzieren.“ Deshalb ist es für ihn auch nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen die häufig ebenso undifferenzierten Medienberichte sofort auf sich beziehen. Manchmal kommen Jugendliche wütend zu Backbone und ärgern sich über die Berichterstattung in einer der U-Bahn-Zeitungen, die sie zuvor gelesen haben, erzählt Reicher. Ein Jugendlicher sagte etwa zu ihm: „Wenn alle meinen, ich sei ein Terrorist, werde ich irgendwann wie ein Terrorist.“

Selbstwirksamkeit. Um diesem Ohnmachtsgefühl etwas entgegenzusetzen, haben Reicher und seine KollegInnen vergangen Sommer gemeinsam mit den Jugendlichen ein neues Projekt organisiert. Als im Frühjahr und Sommer 2014 die Konflikte im Nahen Osten wieder ein Thema wurden, bemerkten die SozialarbeiterInnen bei Backbone, wie sehr sich die Jugendlichen damit beschäftigten und dass daraus ein Gefühl der Lähmung erwuchs. Daraufhin entstand die Idee, ein Spendenprojekt zu organisieren und den Jugendlichen damit eine Möglichkeit zu geben, aktiv zu handeln. Gemeinsam mit den SozialarbeiterInnen produzierten die Jugendlichen Marmelade und Chili-Öl und verkauften diese. Ein Teil des Erlöses ging an das Internationale Rote Kreuz. Der andere Teil ging an das Projekt „Oase des Friedens“, ein Dorf nahe Tel Aviv, das gemeinsam von Muslimas und Muslimen sowie Juden und Jüdinnen aufgebaut wurde und sich als Teil der Friedensbewegung begreift. Für Fabian Reicher war diese Aktion ein voller Erfolg: „Die Jugendlichen konnten so Wertschätzung, Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren. Das hat es wiederum ermöglicht, emotionalisierte Themen zu versachlichen.“

 

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung und Lehramt Geschichte und Englisch an der Uni Wien.

Das Ende der EUphorie?

  • 24.05.2014, 16:58

Die Jugend fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven nehmen ihnen zusehends das Vertrauen in Europa. Immer mehr junge Menschen sehen sich nach politischen Alternativen um.

Wer als junger Mensch in der EU mitreden möchte, muss viel Zeit und Geduld investieren, weiß Emma Hovi aus eigener Erfahrung. Die 24-jährige Wahl-Berlinerin war nach ihrer Schulzeit ein Jahr im Vorstand der Europäischen SchülerInnenvertretung OBESSU aktiv. Freundschaften konnte Hovi während dieser Zeit viele knüpfen. Aber die Arbeit in der Interessenvertretung hat sie zynisch werden lassen. „Wie wichtig die Jugend sei, wird in den Institutionen der EU überall betont. Wenn junge Menschen aber tatsächlich mitreden möchten, stehen sie schnell vor verschlossenen Türen“, meint Hovi. Ein ranghoher Kommissionsbeamter als Gast bei einer der vielen Veranstaltungen der Jugendorganisation sei eine Ehre gewesen, aber keine Selbstverständlichkeit.

Seit Ausbruch der Finanzkrise sinkt der Zuspruch, den die Europäische Union bei ihren BürgerInnen findet, stetig, das zeigen viele Statistiken. Laut Eurobarometer gab im Herbst 2013 nur noch ein Drittel der EU-BürgerInnen an, Vertrauen in die Europäische Union und ihre Politik zu haben. Dass sie damit noch besser abschnitt als die nationalen Regierungen, ist ein schwacher Trost. Den höchsten Zuspruch bekam die EU von den unter 24-Jährigen. Befürchtet wird aber, dass selbst diese Zahlen kippen könnten. Die Sparpolitik in Griechenland hat nicht nur drastische Folgen für das Land, sie hat auch Ratlosigkeit bei der Bevölkerung der anderen EU-Länder hinterlassen. Die Bilder aus Griechenland liegen vielen jungen EuropäerInnen schwer im Magen. Viele suchen bei nationalistischen Parteien einfache politische Antworten auf die Krise. Das sinkende Interesse der Jugend für die EU zeigte sich aber schon an der niedrigen Beteiligung bei der letzten EU-Wahl: 2009 nahmen weniger als ein Drittel der Jugendlichen ihr Wahlrecht in Anspruch, so eine Studie des Europäischen Jugendforums. Ein Ergebnis, dem die EU mit mehr jugendpolitischen Maßnahmen entgegenwirken möchte. Mit dem sogenannten „Strukturierten Dialog“ sollen Jugendorganisationen bei der Ausarbeitung politischer Zielsetz­ungen schrittweise eingebunden werden. Auch im Entwicklungsplan „Europa 2020“, der den Rahmen für die Politik der nächsten Jahre vorgibt, hat die Jugend einen hohen Stellenwert und in der gegenwärtigen Krise entstanden gleich drei Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist die europäische Jugendpolitik mit dem Problem konfrontiert, dass die Kompetenzen in dieser Hinsicht meist auf nationaler Ebene liegen. Was auf europäischer Ebene diskutiert wird, findet daher oft keine direkte Umsetzung. Jugendorganisationen können sich auf europäischer Ebene noch so engagieren, Resultate ihrer Bemühungen sind in den meisten Fällen nicht mehr als Empfehlungen und vage Absichtserklärungen.

E wie EU-Wahl: am 25. Mai wird das EU-Parlament gewählt. Foto: Alexander Gotter U wie Union: 28 Mitgliedsstaaten zählt die EU. Foto: Alexander Gotter R wie Rechte: Viele befürchten einen Wahlsieg von rechten Parteien. Foto: Alexander Gotter

Krisenerscheinungen. So klein die politische Macht der EU in manchen Bereichen auch scheint, umso stärker spürbar sind die Auswirkungen ihrer Krisenpolitik. Unter dem Banner der Austeritätspolitik erklärte die EU die Konsolidierung desgriechischen Staatshaushaltes durch rigide Sparmaßnahmen zum primären Ziel und entschied damit, Kapitalinteressen absoluten Vorrang zu geben. Die Aufzählung der Einsparungen in Griechenland liest sich wie eine Checkliste zur Demontage des sozialen Wohlfahrtstaats: Kürzungen wurden vor allem im öffentlichen Dienst, bei Gehältern und Pensionen sowie bei sozialen Subventionen und im Gesundheitswesen vorgenommen, das Arbeitsrecht wurde flexibilisiert und Schutzbestimmungen abgebaut. Mit buchhalterischem Erfolg: 2013 bilanzierte Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte positiv. Der Preis dafür war jedoch immens hoch. So zeigten sich selbst der Internationale Währungsfond und die EU-Kommission im Vorjahr erstaunt angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Sparziele. Zu diesem Zeitpunkt lehnten in einer Gallup-Umfrage 94 Prozent der Menschen in Griechenland und 51 Prozent innerhalb der anderen EU-Länder die Maßnahmen ab und verlangten nach Alternativen. Eine Jugendarbeitslosenquote jenseits der 60 Prozent, prekäre Arbeitsbedingungen und unterfinanzierte Universitäten haben der jungen Generation die Zukunft verbaut. Selbst AbsolventInnen von etablierten Studienfächern wie Medizin, Architektur oder Rechtswissenschaften müssen heute um jedes unterbezahlte Praktikum kämpfen. Während sich die Miete für eine kleine Bleibe in Athen auf 300 Euro beläuft, liegt der Mindestlohn für junge ArbeitnehmerInnen knapp über 500 Euro. Viele junge Erwachsene mussten wieder zurück ins Elternhaus ziehen. Nicht wenige flüchten sich vor den deprimierenden Zukunftsaussichten in Rauschwelten oder Suizid. In Griechenland wurde in den letzten Jahren das Gegenteil der zuvor geplanten europäischen Jugendmaßnahmen umgesetzt, was für eine Hochkonjunktur der Kritik sorgte. 

Katerina Anastasiou will über die Zustände in Griechenland informieren. Die 30-jährige Griechin lebt seit zehn Jahren in Wien und engagiert sich bei der Organisation solidarity4all. Sie sei oft erschrocken, wie wenig und wie einseitig hierzulande die Medien von ihrer Heimat berichten, erzählt die junge Linke, die an der jetzigen EU nur wenig Gutes sieht. Die Krise habe die negative Seite vieler politischer Maßnahmen der letzten Zeit deutlicher in Erscheinung treten lassen. Mit Hilfe der Reise- und Niederlassungsfreiheit haben viele GriechInnen versucht der Misere zu entkommen, nur um andernorts feststellen zu müssen, dass aus ihrer Notlage erneut Profit geschlagen wird. Einiger ihrer Bekannten seien hochqualifiziert nach Wien gekommen und sahen sich hier damit konfrontiert, dass ihnen zwar adäquate Jobs angeboten wurden, aber mit einer unüblich niedrigen Bezahlung, schildert Anastasiou. Für sie fehlt es hier an einem solidarischen europäischen Bewusstsein: „Damit wird die Chance vergeben, gemeinsam gegen etwas aufzutreten!“

Mit vielen anderen ist Anastasiou auf der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen System. Vereinzelt und mancherorts seien solche durchaus greifbar: „Als 2011 die Proteste vom Syntagma-Platz in Athen verschwanden, lag das nicht nur an der repressiven Polizeigewalt“, erzählt Katerina Anastasiou, „nach dem ersten Schock begannen die Menschen ihr Schicksal schlichtweg selbst in die Hand zu nehmen.“ Mittlerweile finden sich vielerorts kommunale Strukturen, die medizinische Versorgung bieten, Lebensmittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellen und Bildungsangebote geschaffen haben, ohne viel Gegenleistung zu erwarten. Diese kommunalen Solidaritätsbewegungen setzen dort an, wo staatliche Strukturen fehlen. Deshalb beabsichtigt Anastasiou auch in naher Zukunft wieder zurück nach Griechenland zu gehen. Um „dabei sein zu können, wenn etwas Neues entsteht“. Das Vorgehen der EU im Fall Griechenland und der Vorrang von finanziellen vor sozialen Interessen bestätigt all jene, die die EU seit jeher als neoliberales Konstrukt sahen. In der Krise offenbart sie nun auch dem Rest von Europa ihre politischen Prioritäten. 

Davon profitieren aber auch rechte EU-KritikerInnen. Im April gründete die FPÖ-Jugend zusammen mit den Jugendorganisationen vom Front National, von Vlaams Belang und den Schwedendemokraten die Initiative Young Europeans Alliance for Hope (YEAH). In ihrem Manifest befürworten sie die Nation als „überlegene Form der Gemeinschaft“. Wenn es darum geht, die europäische Integration zu kritisieren, können selbst rechtspopulistische Parteien transnational kooperieren. Mit absehbarem Erfolg: In Österreich liegt die FPÖ bei den Jungen wie gewohnt auch in den Umfragen zur Europawahl weit vorne. Europaweit wird ein starker Zuwachs für jene Parteien, die regelmäßig gegen die EU wettern, erwartet.

Reine Rhetorik? Sind die Bemühungen der EU um verstärkte jugendpolitische Maßnahmen, BürgerInnenrechte, soziale Inklusion, europäische Integration und die Genese einer europäischen Identität nur Rhetorik? Will die EU weg vom neoliberalen Status Quo, muss sie diese Ziele ernsthaft verfolgen. Der Politikwissenschafter Stefan Seidendorf beschäftigt sich mit der Frage, was es braucht, damit die EU zu einer solidarischen Gemeinschaft wird. Er nennt drei wesentliche Faktoren: Erstens, die Ausformung europäischer Institutionen, durch die eine legitime rechtliche Grundlage für ihre Politik entsteht. Zweitens, ein klar abgegrenztes Gruppenbewusstsein, das zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheiden lässt. Und drittens, einen gemeinsamen Sinnhorizont, der sich aus einer geteilten Vergangenheit und Symboliken der Gemeinschaft eröffnet. Gibt es dieses Gruppenbewusstsein und diesen Sinnhorizont bei jungen EuropäerInnen bereits?

O wie Organisation: immer mehr junge Menschen organisieren sich selbst, um der Krise zu entkommen. Foto: Alexander Gotter P wie Parlament: 751 Abgeordnete werden gewählt. Foto: Alexander Gotter A wie Aufbruchsstimmung: Trotz der Krise sind viele junge Menschen hoffnungsvoll. Foto: Alexander Gotter

Die Studierenden von heute sind die erste Generation, die in die Europäische Union hineingeboren wurde. Der Vertrag von Maastricht wurde Ende 1993 ratifiziert. Jene, die damals gerade erst zur Welt gekommen sind, sind heute Anfang zwanzig. Sie sind mit der EU groß geworden und haben ihre Entwicklung miterlebt. Sie haben die Einführung des Euros miterlebt, Krieg und Gewalt kennen sie zum Großteil nur aus der Zeitung. Von der Reisefreiheit des Schengener Abkommens profitieren sie seit ihrem ersten Urlaub und seit 25 Jahren lernen sie über Programme wie Erasmus andere europäische Länder kennen. 250.000 Studierende nehmen mittlerweile jährlich am Austauschprogramm teil. Es zählt zu den erfolgreichsten Projekten der EU. Heuer wurde es erneuert: ERASMUS+ vereint nun weitere Austauschprogramme in den Bereichen Bildung, Jugend und Sport unter einen Namen. In den nächsten sieben Jahren stehen dafür knapp 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Vier Millionen Jugendliche sollen davon profitieren. Dieses Engagement seitens der EU hat seine Effekte: Der Eurobarometer vom Herbst 2013 wies SchülerInnen und Studierende als einzige demografische Gruppe aus, die der EU mehrheitlich vertraute. Das liegt vermutlich auch daran, dass Jugendliche im Bildungsbereich am Ehesten noch mit ihren Programmen in Kontakt kommen. Immerhin fünf Prozent der Jugendlichen nahmen laut der Youth on the Move-Studie von 2011 schon an einem Austauschprogramm teil. Die restlichen 95 Prozent kommen mit EU-Projekten, wenn überhaupt, nur selten in Kontakt.

Sie begeben sich entweder selbst auf Recherche, oder müssen sich mit den wenigen Medienberichten begnügen. Die geringe Rolle, die die EU zuweilen in den Nachrichten hat, haben die Medien der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verantworten, die der EU oft nur wenig Beachtung schenken: Dazu gesellt sich auch oft eine antieuropäische Rhetorik. Wenn Zeitungen über „PleitegriechInnen“ oder „RumänInnenbanden“ schreiben und PolitikerInnen Blame-Shifting in Richtung EU betreiben, hindern sie damit die EU daran, eine Gemeinschaft zu werden. Derzeit sieht sich eine knappe Mehrheit der EU-BürgerInnen noch als EuropäLeague of Young VoterserInnen, aber gleichzeitig zeigen Studien, dass die Heimatverbundenheit wieder am Steigen ist, zwei Drittel der EuropäerInnen glauben außerdem nicht mehr, dass ihre Stimme in Europa Einfluss hat.

Diese Einstellung versuchen viele Initiativen im Vorfeld der EU-Wahl zu ändern. Johanna Nyman betreut eine davon. Die Biologie-Studentin sitzt im Vorstand des Europäischen Jugendforums und koordiniert das Projekt League of Young Voters, das Jugendlichen und Jugendorganisationen als Austausch-Plattform dienen soll. Die Initiative sei eine Reaktion auf die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen bei der Europawahl 2009, so Nyman. Die Erfahrung, dass Anliegen vielerorts gleich sind und die JungwählerInnen in der EU eine größere Gruppe sind als erwartet, soll diese zurück an die Wahlurnen bringen. Die Plattform selbst findet noch geringen Anklang, aber aus der Idee entstanden weitere Projekte: Auf MyVote2014.eu können UserInnen mittels 15 Fragen herausfinden, welche Partei am besten zu ihren eigenen Vorstellungen passt.

Dazu bekommen sie Informationen über die Abgeordneten und ihre Parteien. Das Prinzip kommt dem Nutzungsverhalten von Jugendlichen in Bezug auf Online-Medien: Schnell, interaktiv und optisch ansprechend wird der Einstieg in die Meinungsbildung erleichtert.

Welche Krise? Ist es ein Irrglaube, wenn wir als Studierende in Zentraleuropa, die mitunter auch von der EU profitieren, annehmen, ohne EU ginge es nicht? Einige Sozialwissenschafter wie etwa Alex Demirović weisen immer wieder darauf hin, dass nicht die Demokratie selbst, sondern ihre alten Institutionen in der Krise stecken. Systeme wie Staaten oder die EU befinden sich in einer Situation, in der die Parlamente nur noch reine Mitbestimmungsgremien sind. Wichtige Entscheidungen werden intransparent anderswo getroffen. Solange der Staat aber seinen Aufgaben nachkommt, dominiert ein Verständnis von Demokratie, das ohne Staat nicht denkbar ist. Die Soziologin Donnatella della Porta vom European University Institute sieht in der Vertrauenskrise durchaus auch positive Seiten. Durch sie öffnen sich Räume für neue Formen des demokratischen Zusammenlebens. Selbst wenn kommunale Bewegungen wie in Griechenland noch keinen alternativen Modellcharakter für die EU haben, zeigen sie doch auf, was politische Partizipation jenseits des Wahlgangs heißen kann.

In welche Richtung sich Europa bewegen wird, werden die nächsten Jahre entscheiden. Das hängt nicht allein davon ab, ob die Europäische Union die Folgen ihrer Krisenpolitik eindämmen kann. Um aus der Identifikationskrise herauskommen, braucht es passende demokratische Rahmenbedingungen und eine gemeinsame Öffentlichkeit. Erste zaghafte Schritte wurden dahingehend schon unternommen. Beispielsweise wurde die österreichische „Ausbildungsgarantie“ für Jugendliche 2014 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten übernommen und in den nächsten beiden Jahren stehen sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung. Bei den Europawahlen im Mai besteht erstmals die Möglichkeit direkt mitzuentscheiden, wie die Kommission zukünftig aussehen soll. Die größte Parlamentsfraktion wird auch den/die KommissionspräsidentIn stellen, so die Abmachung unter den Mitgliedsstaaten. Unabhängig davon, wie stark die Wahlbeteiligung ausfallen und wie das EU-Parlament nach den Wahlen zusammengesetzt sein wird, die Union wird uns auf jeden Fall noch eine Weile erhalten bleiben, auch wenn neue Formen der politischen Organisation entstehen. „Solange das so ist, kann man auch gleich wählen gehen – Veränderung ist ja schließlich keine Entweder-Oder-Frage“, meint Johanna Nyman vom Europäischen Jugendforum. Oder man macht es wie Alina Böling: Da auch sie findet, dass die EU etwas stagniert, entschloss sich die 24-jährige Finnin kurzerhand selbst für das Europäische Parlament zu kandidieren, um so neuen Input geben zu können. Jeder wisse schließlich, so Böling, dass eine demokratische und funktionierende Union mehr als nur den Euro und Wirtschaftspolitik braucht.

 

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie in Wien.

„Österreich hat den Paternalismus der Monarchie nie überwunden“

  • 06.06.2015, 15:12

Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.

Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Zu Wort gekommen sind sie bereits im Artikel „Tag der (Mehr-)Arbeit“, nun haben wir genauer nachgefragt: Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.

progress: Wie erklären Sie sich, dass es so etwas wie Arbeitslosigkeit überhaupt gibt? Wieso brauchen Menschen Arbeit, obwohl die Gesellschaft ihre Arbeit nicht braucht?

Martin Mair: Weil in einem kapitalistischen Staat die Produktionsmittel und das Geld nicht demokratisch organisiert und verteilt sind. Während die Wirtschaft ihre Strukturen und Vermögen immer weiter aufbaut und immer mehr Lebensbereiche ihren Kapitalverwertungsprozessen unterwirft, erhalten die ArbeiterInnen aufgrund des steigenden Machtungleichgewichts immer weniger und werden in ihren Handlungsmöglichkeiten stärker eingeschränkt. Sie müssen mehr Arbeit zu schlechteren Bedingungen auf sich nehmen, um ihren Arbeitsplatz überhaupt behalten zu dürfen.

Durch steigende Erwerbsarbeitslosigkeit können die ArbeiterInnen von den Unternehmen besser ausgebeutet werden. Der Staat wiederum ist auf die Steuern der ArbeiterInnen angewiesen, weil das Kapital im wahrsten Sinne des Wortes die Steuern umgeht. Obwohl Kapitaleinkommen die Lohnarbeitseinkommen zum Teil überholt haben, hängt die ganze Finanzierung des Sozialsystems und des Staates von der Kopfsteuer in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben ab.

Die Europäische Union versucht daher mit einem „Aktivierungsregime“ alle Menschen auf den freien Arbeitsmarkt zu drängen, um die Sozialausgaben weiter zu senken. So steigt vor allem das Angebot prekärer Jobs. Angenehmer Nebeneffekt für das Kapital ist, dass aufgrund steigenden Angebots der Preis der Arbeit sinkt. Für die Gesellschaft als Ganzes ist das eine brandgefährliche Abwärtsspirale, siehe Griechenland und Spanien. Dank technischem Fortschritt und internationaler Arbeitsteilung wäre eigentlich eine Arbeitszeitverkürzung auf 25 Stunden pro Woche längst machbar.

Wieso kommt uns der technische Fortschritt dann nicht entsprechend zugute?

Weil im Kapitalismus Eigeninteressen der UnternehmerInnen wichtiger sind als die Bedürfnisse der ArbeiterInnen und KonsumentInnen. Viele Produkte werden absichtlich so gebaut, dass sie schnell kaputtgehen oder es werden künstliche Abhängigkeiten geschaffen. Das heißt, Produkte sind nicht mehrfach verwendbar, mit anderen Produkten inkompatibel, sie veraltern rasch und können nicht repariert werden.

Durch das zwanghafte Konkurrenzregime wird erst recht unnötige Arbeit geschaffen. Es wird vieles vernichtet, das mühsam aufgebaut wurde, nur weil es nicht genug Gewinn gebracht hat. Es wird die Überproduktion vernichtet, um die Preise hoch zu halten. Neue Modelle steigern den Konsum künstlich, weil der Wachstumszwang im kapitalistischen Geldsystem angelegt ist. Die Gewinnerwartungen der KapitalbesitzerInnen müssen mit aller Gewalt erfüllt werden. Sogar die blanken Lebenskosten werden künstlich hoch gehalten, zum Beispiel Mieten, um die Gewinne auf Kosten anderer zu steigern und den Zwang zur Lohnarbeit zu erhöhen.

Durch Lohnarbeit und Konsum werden Menschen zugerichtet und isoliert. Der neueste Schrei ist Crowdworking, wo wir gar keine ArbeitskollegInnen mehr haben, sondern uns am globalen Arbeitsmarkt via Internet völlig anonym rund um die Uhr niederkonkurrieren.

Heißt das auch, dass Vollbeschäftigung im Kapitalismus immer ein Wunschtraum bleiben wird? Sie kennen die nächste Frage vermutlich: Was ist die Alternative?

Wir sagen klar, dass es innerhalb des Kapitalismus keine echte Lösung geben kann. Wichtig wäre, schrittweise ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen und die Arbeitszeit zu verkürzen. Wie schon Viktor Adler Ende des 19. Jahrhunderts feststellte, kann es revolutionär sein, wenn die Menschen Zeit haben, sich ohne Angst zu überlegen, was sie wirklich wollen.

Auf jeden Fall brauchen wir wieder echte politische Bewusstseinsarbeit, so wie sie in den vergangenen Jahrhunderten ArbeiterInnenbildungsvereine gemacht haben. So wie früher Produktions- und Konsumgenossenschaften gegründet wurden, wäre es notwendig, in solidarökonomischen Projekten Abhängigkeiten vom jetzigen System zu reduzieren und gemeinsames politisches und wirtschaftliches Handeln von Grund auf neu zu entwickeln. Dank Internet wäre nun eine vielseitige Information und Selbstorganisation möglich.

Österreich hat die zutiefst paternalistische Tradition der katholischen Monarchie nie wirklich überwunden. Demokratie wurde nicht erkämpft, sie war das Ergebnis zweier verlorener Weltkriege. Selbstverwaltungsprojekte waren leider immer nur Nischenprojekte. Eine Bildung zu echter, kritischer Selbstständigkeit ist überfällig, damit die Menschen die Bevormundung durch die Bürokratie und die erstarrten Parteiapparate überwinden. Demokratie kann nie auf Dauer an Parteien delegiert werden.

Wie fördern die Aktiven Arbeitslosen die Bewusstseinsbildung und Selbstbestimmung?

Wir wollen eine längerfristige Strategie fahren. Mittels Aufklärung der Erwerbsarbeitslosen über ihre Rechte versuchen wir schrittweise einen Raum für den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und politisches Bewusstsein aufzubauen. Vom „Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose“ – das erstmals umfassend die Rechte der Arbeitslosen und die Fallstricke bei AMS & Co. darstellt – ist bereits die dritte Auflage in Arbeit.

Wir haben nun auch eine Arbeitslosenakademie gegründet und versuchen Geld für erste Projekte über die Österreichische Gesellschaft für politische Bildung aufzustellen. Wir haben auch schon erste Themen wie das Sanktionsregime beim AMS und das Aktivierungsregime der EU einer politisch interessierten Wissenschaft präsentiert.

Der Kampf um die Rechte der Erwerbsarbeitslosen ist im Kapitalismus ein zentraler Kampf. Er ist letzten Endes ein Kampf um die Rechte aller unter dem jetzigen System leidenden Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit. Wir verstehen uns daher als eine Avantgarde einer international orientierten Gewerkschafts- und Sozialbewegung 2.0, die in all ihrer Vielfalt geeint – wie einst die Internationale propagiert hatte – das Menschenrecht erkämpft. Auch wenn es am Anfang sehr mühsam ist, so bleibt uns nichts anderes mehr übrig.

 

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

Der Winter tut den Fischen gut

  • 28.09.2012, 10:45

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab...

Der Winter tut den Fischen gut

Maria ist Anfang vierzig und verliert ihren Arbeitsplatz. Daraufhin beginnt sie, zum AMS zu gehen und arbeitet hart daran, einen neuen Job zu finden. Zwischen den AMS-Terminen und dem Warten auf eine Zusage, spielt sich das Leben in all seinen unscheinbaren Facetten rückwärts ab – seien es nun Geschichten über Otto, eine der Kaulquappen die Maria in ihrer Wohnung züchtet, Erinnerungen an den ersten Kuss mit ihrem verstorbenen Mann Walter im Wiener Prater oder der Einkauf am Fischmarkt im Winter. Wachsam und liebevoll beschreibt Anna Weidenholzer den Alltag in der Arbeitslosigkeit, ohne dabei auch nur ein Detail zu übersehen. Sie erzählt die Geschichte einer wartenden Frau, die auf den ersten Blick in der Langsamkeit und Einsamkeit der  Arbeitslosigkeit gefangen ist, bei näherem Hinsehen jedoch voller  Sehnsüchte und Lebenshunger ist. Ein schönes, ruhiges Buch.

Der Winter tut den Fischen gut.
Residenzverlag 2012

Wo der Scheinwerfer nicht hingelangt

  • 28.09.2012, 10:24

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.

Die Jungautorin Anna Weidenholzer über den Entstehungsprozess ihres jüngst im Residenzverlag erschienenen Romans Der Winter tut den Fischen gut, ihren Zugang zum Schreiben und Sprachminimalismus.

progress: Dein erster Roman Der Winter tut den Fischen gut ist gerade im Residenzverlag erschienen. Wann hast du zu schreiben begonnen?

Anna Weidholzer: Ich hab immer geschrieben. Schon als Kind, später mal mehr, mal weniger. Während und nach dem Studium hab ich im Journalismus gearbeitet. Ich habe dann in Leonding die Leondinger Akademie für Literatur besucht. Dort habe ich den Literaturbetrieb kennengelernt, welche Zeitschriften, Stipendien und Preise es gibt und begonnen, die ersten Sachen einzureichen. So ist dann alles ins Laufen gekommen.

Wie hast du es geschafft, bei einem so großen Verlag wie dem Residenzverlag unterzukommen?

Über das erste Buch Der Platz des Hundes, das beim Welser Mitter Verlag erschien. Mein jetziger Lektor bekam es empfohlen, hat es gelesen und war begeistert. Irgendwann war dann ein Mail von ihm in meinem Posteingang.

Wie hast du dich dem Thema deines Romans genähert?

Es geht um Maria, eine arbeitslose Frau. Sie ist eine Textilfachverkäuferin, verliert mit Ende vierzig ihren Arbeitsplatz und ist dann in dieser schwierigen Situation, dass sie als für den Arbeitsmarkt zu alt und als schwer vermittelbar gilt. Sie verliert damit auch ihr soziales Umfeld und kommt immer mehr in die Isolation. Für das Buch hab ich beim AMS recherchiert, mit einem  Arbeitslosenverein zusammengearbeitet und mit arbeitslosen Frauen gesprochen, alle so um die vierzig. Aus den Gesprächen hat sich dann auch die Struktur des Buches ergeben. Marias Leben wird rückwärts erzählt. In längeren und kürzeren Kapiteln wird ihre Geschichte aufgerollt. Der Ausgangspunkt war der, dass ich jedes Mal einer Frau begegnet bin, von der ich außer ihrem Namen nur wusste, dass sie langzeitarbeitslos ist. Dann sprachen wir miteinander und es ergaben sich kleine Mosaike aus ihrem Leben. Man sieht nach ein paar  Stunden Gespräch die Person ganz anders. Das wollte ich in dem Buch nachbilden, dass man die arbeitslose Maria nicht nur als Arbeitslose sieht, sondern in ihrer ganzen Geschichte, weil sie denGroßteil ihres Lebens ja auch anders verbracht hat.

In der Protagonistin Maria stecken also verschiedene Geschichten über Arbeitslosigkeit?

Ja, es geht aber nicht nur um Arbeitslosigkeit, sondern auch ganz stark um Identität. Es sind mehrere kleine Geschichten, die immer mehr aus ihrem Leben ergeben.

War es für dich wichtig, eine Frau als Hauptcharakter zu wählen?

Bei dem Thema schon. Weil es für Frauen einfach noch einmal schwieriger ist, in dem Alter eine Arbeit zu finden. Mir war es deswegen wichtig, dass Maria eine Frau ist, und ich habe auch die Interviews nur mit Frauen geführt.

Warum das Thema Arbeitslosigkeit?

Es sind da mehrere Faktoren zusammengekommen. Das Thema hat mich schon länger beschäftigt. Der ausschlaggebende Moment zur Figur Marias war wohl beim Theater Hausruck in Attnang-Puchheim in Oberösterreich. Dort wurde ein Stück in einer ehemaligen Fabrik aufgeführt, eine Polstermöbelfabrik, die in Konkurs gegangen ist. Am Schluss des Stücks gab es eine Szene, wo in einem Lagerregal statt Waren Menschen in den Fächern waren. Die SchauspielerInnen haben einfach die Geschichten von Arbeitslosen in der Region erzählt. Also ganz normale Geschichten, Biographien, wo dann der Bruch dadurch kommt, dass man den Arbeitsplatz und das Umfeld verliert. Das war der zündende Moment zu den Interviews. Ich glaube, dass Arbeitslosigkeit immer ein Thema ist, solange es Arbeit gibt. Und dass die Tatsache, als was, wo und ob man arbeitet, sehr viel im Leben bestimmt.

In deinem Roman verstecken sich viele Zitate. In den Quellen ist auch die bekannte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda angeführt. Inwiefern spielte diese eine Rolle für dein Werk?

Die Studie war eine Basis für mein Buch. Ich habe es in den Interviews und der Recherche spannend gefunden, was sich in den 80 Jahren seit ihrem Erscheinen geändert hat – und das eigentlich relativ viel gleich geblieben ist. Die Art etwa,  wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht. Es gibt verschiedene Typen: die, die  zuhause bleiben, nichts mehr machen und ihre Kinder nicht mehr versorgen, oder die, die noch ein bisschen aktiver sind und mit der Situation besser umgehen. Es war natürlich ganz ein anderes Umfeld in Marienthal 1933 als in Oberösterreich 2010, aber es gibt Parallelen. Ich denke, Arbeitslosigkeit wird immer ein großes Thema für die Betroffenen, aber auch für Nichtbetroffene bleiben. Es ist ein ziemliches Tabuthema. Es war zum Beispiel irrsinnig schwierig, Interviewpartnerinnen zu finden, die über ihre Situation sprechen wollten. Die wenigsten stehen zu ihrer Arbeitslosigkeit. Die meisten sagen: „Ich orientiere mich neu.“ oder: „Ich schau jetzt einmal.“

Es kommt auch ein Zitat aus Hildegard Knefs Rote Rosen vor …

Im Buch sind viele Zitate aus Schlagern und Ratgebern. Ganz am Anfang zum Beispiel: „Machen sie konsequent systematisch parallel schnell und viel.“ Das ist so ein Ratgeber-Satz. Die vielen Schlager kommen vor, einfach weil Maria gerne Schlager hört und davon träumt, Sängerin zu sein. Auch Elvis kommt oft vor, weil ihr verstorbener Mann Elvis-Imitator war. Ich habe für das Buch viel Elvis und Schlager gehört. Was gut zur Figur passt, hab ich dann hineingenommen. Oder auch, was ich in Cafés gehört habe.

Hast du dich zum Schreiben bewusst an Orte begeben, an denen du dich sonst nicht aufhältst, die aber zu Maria passen?

Eigentlich bin ich mehr durch Zufall dort hingekommen und hab mir dann gedacht, das passt gut zu Maria. Einmal zum Beispiel war ich in so einem Beisl beim Franz-Josefs-Bahnhof in Wien. Weil alles schon zugehabt hat, sind wir dort hineingegangen. Das war einfach super dort. Es gab nur zwei Sorten Wein, Rot oder Weiß, auf dem Tisch war ein Foto von einem Hund. Meine Freundin hat gefragt, wo dieser Hund ist und die Kellnerin deutete zum Fenster, wo eine Urne stand, mit dem Hund drinnen. Daraus ist das Bistro Brigitte im Buch entstanden.

Ist es nicht sehr schwierig, über ein Milieu zu schreiben, aus dem man selbst nicht stammt? Die Grenze zum Voyeurismus ist doch oft sehr schmal.

Wenn man mit dem Finger auf Leute zeigt, sich über sie lustig macht, um sich selbst weiter oben zu sehen, wird es problematisch. Dann wird das Ganze zum Sozialporno, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sicher, ich habe einen anderen Hintergrund als meine Protagonistin Maria, ich habe studiert, sie hat eine Lehre gemacht. Aber das ist ja das Spannende am Schreiben, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Mich interessieren die Ecken, wo der Scheinwerfer nicht hingelangt, das Alltägliche, das Absurde im Alltäglichen, ohne zu erklären oder zu belehren. Beschreiben, ohne bloßzustellen, den Figuren ihre Würde lassen.

Die Sprache in deinem Buch ist eher langsam und stark im Detail. Ist das dein üblicher Schreibstil oder eher ein Resultat der Handlung?

Es ist generell schon eher meine Schreibweise. Am Anfang des Buches sind vielleicht noch mehr Details, weil die Protagonistin alleine ist, und wenn man alleine ist ja auch nicht wirklich viel passiert.

Du verwendest außerdem eine sehr reduzierte Sprache, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen …

Genau. Ich verwende auch keine Anführungszeichen. Mir kommt das oft zu stark vor. Ich mag es, wenn ein Text fließend ist und offen bleibt. Mir sind manche Wörter einfach zu viel. Ich habe eher einen minimalistischen Zugang zur Sprache. Die Protagonistin wirkt im Laufe der Arbeitslosigkeit immer neurotischer und esoterischer, nicht nur durch die Sprache. Sie hört auf, zum AMS zu gehen und versucht es mit Ratgeber und Selbstoptimierungsliteratur. Sie beginnt etwa,  Zettel mit Sätzen von in ihren Augen erfolgreichen Menschen auf den Spiegel zu kleben. Das ist diese Universumsgeschichte: Wenn man stark genug ans Universum glaubt, wird es alles richten. Das findet man in einem Bestseller-Ratgeber namens The Secret. Da steht etwa, dass man Rechnungen immer zerreißen soll, denn mit ihnen kommt Schlechtes ins Leben. Je mehr Rechnungen man bekommt, desto mehr glaubt man, dass man welche bekommt und man kriegt so nur noch Rechnungen. In solchen Ratgebern fällt die Schuld immer auf das Individuum zurück: Wenn ich mich an das halten würde, was in  dem Ratgeber steht, würde ich auch aus der Situation rauskommen. Indem ich  das aber nicht ganz schaffe, scheitere ich weiter. Es fällt alles auf das Individuum zurück – so als ob es keine gesellschaftliche oder soziale Verantwortung gäbe.

Lesungen und Termine:

http://annaweidenholzer.at/http://annaweidenholzer.at/termine

Zur Person

Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wrocław studiert. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen, unter anderen den Alfred-Gesswein-Preis 2009. Mit ihrem Erzählband Der Platz des Hundes war sie für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. 2011 erhielt sie das Österreichische Staatsstipendium für Literatur.