Patricia Urban

Rettet die Wale und stürzt das System!

  • 11.05.2015, 08:36

Sechs Dinge übers Weltretten, die du noch nicht wusstest

Sechs Dinge übers Weltretten, die du noch nicht wusstest

Ohne Gage

Der Begriff „Engagement“ kommt – Überraschung! – aus dem Französischen. Er hat zwei hauptsächliche Bedeutungen: Auf der einen Seite bezeichnet er eine berufliche Verpflichtung, auf der anderen den persönlichen Einsatz aus einem Gefühl der Verbundenheit und der Verpflichtung heraus. Das zugehörige Verb „engager“ besteht aus den beiden Worten „en“ (in) und „gage“ (Gehalt, Lohn). Hier wird der implizite finanzielle Aspekt des Begriffs sichtbar.

Paradoxerweise ist gerade das soziale Engagement oft unbezahlt und erfolgt rein aus moralischen Überzeugungen – oder um den eigenen Lebenslauf aufzupolieren. Nicht umsonst wird soziales Engagement häufig auch als Freiwilligenarbeit bezeichnet.

Die Ziele von sozialem Engagement sind so divers wie die Personen, die sich engagieren. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass soziales Engagement einen Status quo, der als verbesserungswürdig wahrgenommen wird, verändern soll.

Crowds, Change, Cash

Auf Onlineplattformen wie change.org oder avaaz.org kann jede und jeder eine Unterschriftenaktion starten und unterschreiben. Doch diese Plattformen sind nicht etwa gemeinnützige Organisationen oder Vereine: Nein, sie sind ganz klassische Unternehmen, die sich durch Kooperationen, Aufträge und Werbung finanzieren. Crowdfunding-Webseiten wie gofundme.org oder kickstarter.comkassieren meist einen Teil der Gesamtspenden bzw. jedes einzelnen Spendenbeitrages über Gebühren ein. Und nicht zuletzt bezahlen die meisten NGOs gewinnorientierte Agenturen, die junge Menschen prekär beschäftigen, um die heiß gefragten Mitgliedsbeiträge einzuholen (vgl. progress 4/14). Die traurige Wahrheit: Aktivismus ist manchmal auch nur ein Business.

Freiwilligenarbeit

In Österreich ist Freiwilligenarbeit sehr beliebt. 46 Prozent der Bevölkerung über 15 leisten Freiwilligenarbeit – also ca. 3,3 Millionen Menschen. Aber was genau bedeutet der Begriff „Freiwilligenarbeit“? Wie so oft gibt es hier verschiedene Definitionen. Das Freiwilligengesetz bezieht sich auf jene Leistungen, die freiwillig und unentgeltlich von Personen in einem organisatorischen Rahmen für andere erbracht werden, aus sozialen Motiven und ohne Erwerbsabsicht. Der Aspekt der informellen Arbeit ohne organisatorischen Kontext, zum Beispiel „Nachbar_innenschaftsdienst“, wird hierbei nicht berücksichtigt.

Gebiete, in denen Österreicher_innen sich engagieren, sind zum Beispiel soziale Dienste, Kultur, Politik, Sport, Gesundheit und Pflege sowie Rettungs- und Katastrophenhilfsdienste. Für alle Interessierten: Die Seite freiwilligenweb.at enthält ein Verzeichnis etlicher Freiwilligenorganisationen, bei denen man sich in Österreich engagieren kann.

Period.

„I will not apologize for not feeding the ego and pride of misogynist society that will have my body in an underwear but not be okay with a small leak.“ Die kanadische Künstlerin Rupi Kaur zeigt in ihrer Fotoserie „period.“ Bilder von Menstruationsblut in verschiedenen Kontexten. Sie wehrt sich damit gegen eine Gesellschaft, die mit der Sexualisierung und Degradierung von Frauen einverstanden ist, nicht aber mit natürlichen Prozessen ihres Körpers, die sie als krank und schmutzig erachtet. Eines von Rupis Fotos zeigt eine Frau, auf deren Hose Menstruationsblut zu sehen ist. Auf Instagram wurde das Bild zweimal gesperrt. Allerdings nicht lange: Rupi empörte sich in mehreren sozialen Netzwerken darüber und erhielt so enorme öffentliche Unterstützung, dass Instagram sich gezwungen sah, das Bild wieder freizuschalten. „You made a giant see that it is only a giant cause you are part of its existence“, schreibt Rupi zum gemeinsamen Erfolg.

Clicktivism

Der Begriff „Clicktivism“ bezeichnet den Gebrauch sozialer Medien zur Förderung einer Sache. Durch das schnelle und einfache Teilen und Verbreiten von Anliegen und Protestaktionen sollen Aktivismus und gesellschaftlicher Wandel erleichtert werden.

User_innen organisieren sich in Gruppen und machen auf Twitter und Facebook auf Inhalte aufmerksam. Doch dieser Online-Aktivismus ist auch als bequeme, wirkungslose Gewissensberuhigungsmaßnahme verschrien: „Clicktivism will never bread social revolution“, meint etwa Micah M. White, Occupy-Aktivist der ersten Stunde. das wichtigste Gegenbeispiel für diese These des einen, richtigen Aktivismus sind wohl der gesamte arabische Frühling und seine vielen Nachwehen, wo Soziale Medien eine große Rolle spielten. Auch Hashtag-Aktivismus wie #Aufschreiin Deutschland und aktuell #BlackLi vesMatter in den USA SORGT dafür, dass Themen gehört und besprochen – und oft von anderen Aktionsformen begleitet – werden. Nicht zuletzt bietet Online-Aktivismus marginalisierten Gruppen Raum für Vernetzung, Austausch und Planung gemeinsamer Aktionen.

Karten der Katastrophen

Naturkatastrophen verändern komplette Landschaften in nur wenigen Minuten gravierend. Herkömmliche Karten und sporadisch aktualisierte Dienste wie Google Maps bieten Helfer_innen vor Ort dann keine Orientierung mehr. Die Community des Open-Source-Dienstes Open Street Map (OSM), der wie eine Wikipedia für Weltkarten funktioniert, versucht zu helfen, indem sie die Karten so schnell wie möglich anpasst. Firmen, die Satellitenbilder anfertigen, liefern für die Online-Kartograph_innen aktuelles Material, aufgrund dessen diese die Karten verändern. Schon 2010 beim Erdbeben in Haiti und 2013 nach dem Taifun Hayan auf den Philippinen wurde das System erprobt. Mit Erfolg: Das Rote Kreuz in den USA empfiehlt den Einsatz von OSM in Katastrophengebieten. Waren es 2010 erst 500 Helfer_innen, so kartieren aktuell über 2.000 Menschen auf tasks.hotosm.org das Erdbebengebiet in Nepal.

 

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien.

 

Kollektivierung und Organisierung: Die Frauen_Ideen_Fabrik 2015

  • 07.05.2015, 12:47

Am 25. 4. hat zum zweiten Mal die Frauen_Ideen_Fabrik der Österreichischen Hochschüler*innenschaft stattgefunden. Im Rahmen von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops sollte jungen Wissenschaftlerinnen* die Möglichkeit geboten werden, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen.

Am 25. 4. hat zum zweiten Mal die Frauen_Ideen_Fabrik der Österreichischen Hochschüler*innenschaft stattgefunden. Im Rahmen von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops sollte jungen Wissenschaftlerinnen* die Möglichkeit geboten werden, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen.

Das Stimmengewirr im Hörsaal verstummt, als Dagmar Fink sich setzt und ihre Unterlagen ordnet. „Ich arbeite seit 20 Jahren in der feministischen Wissenschaft“, beginnt sie zu erzählen. „Doch Frauen bekommen oft die Botschaft, dass sie in den höheren wissenschaftlichen Rängen nichts zu suchen haben.“ Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin im Bereich der Gender Studies unterrichtet an mehreren Universitäten in Österreich und Deutschland. „Wissenschaft hat sich als Metier des männlich, weißen, heterosexuellen Europäers etabliert“, erklärt sie den etwa 30 Frauen*, die an den U-förmig angeordneten blauen Tischen sitzen. Die Studentinnen* hören interessiert zu, manche machen sich Notizen, als säßen sie tatsächlich in einer Vorlesung. Den Rahmen für Finks Vortrag bietet jedoch die Frauen_Ideen_Fabrik, eine von der ÖH organisierte Veranstaltung.

Trotz des schönen Wetters an diesem Samstag haben sich einige Frauen* im Teaching Center der Wirtschaftsuniversität Wien eingefunden, um an den Vorträgen und Workshops teilzunehmen. Birgit studiert IBWL an der WU. „Schon allein aus Network-Gründen ist es sehr förderlich, hierher zu kommen und mehr über Frauen in der Wissenschaft zu erfahren“, erklärt sie. Außerdem hofft sie, dass das Bewusstsein für genderbezogene Themen an der WU durch die Veranstaltung gefördert wird – jetzt, wo die Frauen_Ideen_Fabrik dort stattfindet.

Foto: Mafalda Rakoš

Auch die Veranstalterinnen* betonen die Wichtigkeit, sich als Wissenschaftlerin* in einem Kollektiv zu organisieren: Ziel der Frauen_Ideen_Fabrik sei es, jungen Wissenschaftlerinnen* einen Raum zu bieten, sich zu vernetzen. „Nur sieben Prozent der Professor_innen an österreichischen Hochschulen sind Frauen. Und das, obwohl Frauen mit einem Anteil von 54 Prozent mehr als die Hälfte aller Studierenden in Österreich darstellen“, erklärt Julia Freidl in ihrer Willkommensrede. Gegen diese Strukturen wollen sich die Organisatorinnen der Frauen_Ideen_Fabrik einsetzen.

WISSENSCHAFTLICHES KAFFEEHAUS. Nach der Begrüßung und dem Vortrag von Dagmar Fink bekommen die Studentinnen* im Rahmen eines „Wissenschaftlichen Kaffeehauses“ die Möglichkeit, eigene Erfahrungen auszutauschen. In Kleingruppen von ca. zehn Personen und mit Kaffee und Kuchen ausgerüstet erzählen sich die Studentinnen* von eigenen wissenschaftlichen Arbeiten, ihren Forschungsvorhaben und den Problemen, mit denen sie dabei konfrontiert sind. Die Themen und Disziplinen der Arbeiten sind so vielfältig wie die Teilnehmerinnen* selbst: Von einer Konfliktanalyse rund um die Privatisierung einer rumänischen Goldmine bis zum Entwurf einer Computersteuerung in Form eines Quietschballs – ob nun in Form einer Seminararbeit oder einer Dissertation – sind verschiedenste Forschungsthemen vertreten. Obwohl die Teilnehmerinnen* meist aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen kommen, geben sie sich gegenseitig Tipps zum weiteren Schreib- und Forschungsprozess ihrer Arbeiten.

Foto: Mafalda Rakoš

SCHREIB-OUTFIT. Nach einer einstündigen Mittagspause werden die Teilnehmerinnen* in verschiedene Workshops eingeteilt. Zwei davon konzentrieren sich auf Geistes- und Sozialwissenschaften sowie auf den Schreibprozess selbst, andere Workshopleiterinnen* beschäftigen sich mit Ökonomie, Naturwissenschaften, technischen Studien, Sprachwissenschaften und pädagogischen Studien. Auf diese Weise sollen möglichst viele Studienrichtungen abgedeckt werden, sodass sich die Teilnehmerinnen* Unterstützung von Workshopleiterinnen* und Peers aus Fachrichtungen holen können, die ihrer eigenen möglichst entsprechen. Meist werden Themen behandelt, die mit Gender-Themen an sich gar nichts zu tun haben: So werden Lesetechniken, Arbeitsziele, Schreibblockaden oder Zitationsprogramme behandelt. „Muss ich zum Schreiben spezielle Kleidung anhaben?“ ist beispielsweise eine der Fragen, die im Workshop zum wissenschaftlichen Schreiben besprochen werden.  

Foto: Mafalda Rakoš

BANDEN BILDEN! „Something will go wrong“, betont Mirah Gary, Workshopleiterin im Bereich technische Studien. Man dürfe sich vor Fehlern und Schwächen nicht fürchten und auch nicht davor, um Unterstützung zu bitten. Im Gegenteil. Man solle sich trauen, viele Fehler zu begehen. Alyssa Schneebaum, Ökonomie-Workshopleiterin, meint, dass man nicht ständig nur über Frauen in der Wissenschaft reden dürfe, sondern hauptsächlich und vor allem Wissenschaft betreiben solle. Einen Anstoß dazu hat die Frauen_Ideen_Fabrik in den Augen der meisten Teilnehmerinnen gegeben. Ein weiterer wichtiger Aspekt für viele war jener der Vernetzung und des Bandenbildens. „Um als freie Wissenschaftlerin existieren zu können, brauche ich Kollektivierung und Organisierung“, sagt Dagmar Fink in ihrem Vortrag. Unser momentanes Verständnis von Wissenschaft und die daraus resultierenden sexistischen Strukturen seien situativ und veränderbar. „Es lohnt sich, sich dafür einzusetzen. Und das kann man nicht alleine.“

 

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik an der Universität Wien.

Integration, die durch den Magen geht

  • 10.06.2014, 16:53

Am 17. Februar wurde am Meidlinger Markt in Wien ein neues Lokal eröffnet: Purple Eat wird von einem Verein zur Unterstützung ehemaliger AsylwerberInnen betrieben. Serviert werden Speisen aus den Herkunftsländern der MigrantInnen. Ein Lokalaugenschein.

Zwei alte Männer sitzen vor einem Marktstand und rauchen. Hin und wieder wechseln sie ein Wort miteinander. Von fern trägt der Wind die Klänge eines Lieds herbei, das im Radio gespielt wird. Der Geruch von Essen erfüllt die Luft, und immer wieder ist das Klappern und Klirren von Geschirr zu hören. Die Zeit scheint träge zu vergehen an diesem sonnigen Nachmittag am Meidlinger Markt. Vor einem der Stände steht eine Tafel, die in knallrosa Lettern die Tagesspeise verkündet: „Krautrouladen (vegetarisch
oder mit Bio-Rind)“. Die Fassade des dazugehörigen Lokals ist violett – passend zu seinem Namen: Purple Eat. Aber nicht nur die Farbe des Standes hebt ihn von seiner Umgebung ab. Hinter Purple Eat steht ein besonderes Konzept. Das Lokal wird von Purple Sheep betrieben, einem Verein zur Unterstützung ehemaliger AsylwerberInnen, deren Asylantrag abgelehnt worden ist. „Die Leute kommen alle ganz kurz vor der Abschiebung zu uns“, erklärt Kurosch Allahyari, Obmann von Purple Sheep. Es sind Menschen, die
schon seit Jahren in Österreich leben, deren Kinder hier zur Schule gehen und FreundInnen hier haben. „Wenn der Staat so lange braucht, um ein Asylverfahren zu entscheiden, und die Leute gut integriert sind, dann sollten sie hier bleiben dürfen“, sagt Allahyari.
In der Regel ist das aber nicht der Fall. Deshalb bringt Purple Sheep Menschen in dieser Situation im Freunde Schützen Haus unter und kämpft mit ihnen gemeinsam darum, eine Niederlassungsbewilligung zu erwirken.

das Lokal Purple Eat. Vor dem Lokal steht eine Tafel, auf der das Tagesgericht angekündigt wird. Foto: Christopher Glanzl

Alle helfen, wo sie können.
Zudem betreiben die ehemaligen AsylwerberInnen gemeinsam mit den MitarbeiterInnen von Purple Sheep nun eben auch ein Lokal. Frau Recepi arbeitet in der Küche mit. Sie wohnt seit zwei Jahren im Freunde Schützen Haus, zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Vor sieben Jahren ist sie aus Mazedonien nach Österreich gekommen. Sie hat in St. Pölten gelebt, bis ihr Asylantrag
abgelehnt wurde. Der Verein versucht die Abschiebung zu bekämpfen. „Wir nehmen die Personen ins Haus auf und lassen den Fall über das Innenministerium noch einmal überprüfen“, sagt Kurosch Allahyari. Dennoch dauert es meist zweieinhalb Jahre, bis die Leute Bleiberecht erhalten. „Aber es hat bisher noch keine Abschiebung bei uns gegeben. Alle Fälle, die wir aufgenommen haben, sind auch durchgegangen.“ Bei Frau Recepi ist das bisher noch nicht gelungen. Sie kocht seit der Eröffnung von Purple Eat im Stand. „Sonntags koche ich nicht, und dann freue ich mich immer schon auf Montag. Ich liebe die Arbeit“, erzählt sie lachend. Auch ihr Mann hilft bei Purple Eat mit. „Alle, die können, sind eingeteilt“, sagt Kurosch Allahyari. Die Idee für das Lokal entstand durch Feste im Freunde Schützen Haus, bei denen die Gäste von der internationalen Kost begeistert waren. Daraufhin hat der Verein begonnen Catering anzubieten, und schließlich wurde der Stand am Meidlinger Markt eröffnet. „Wir werden von der Umgebung und den Menschen am Markt sehr freundlich aufgenommen. Alle helfen, wo sie können“, berichtet Kurosch Allahyari erfreut.

Finanziert wird Purple Eat unter anderem durch Spenden. Der Stand wird von Bauträger Hans Jörg Ulreich, der auch das Freunde Schützen Haus mitbegründet hat, zur Verfügung gestellt und auch bei den Nahrungsmitteln wird der Verein unterstützt. „Anders könnten wir das nicht machen und auch den Preis nicht halten. Wir haben vor allem bei den Fleisch- und Milchprodukten nur Bioprodukte und bei den Weinen auch“, erklärt Kurosch Allahyari. „Das Weingut Heinrich stellt uns alles kostenlos zur Verfügung, unser Fleisch bekommen wir gratis von Bioviertel. Genauso verhält es sich mit dem Kaffee von Grandoro.“ Insgesamt hat Purple Eat dadurch relativ geringe Ausgaben. Nur auf diese Weise kann das Lokal ein Menü um sieben Euro anbieten.

das Lokal Purple Eat. Foto: Christopher Glanzl

Integration einmal anders.
Und tatsächlich scheint das Konzept gut zu funktionieren. Der Stand ist liebevoll gestaltet. In den Fenstern stehen Kräuter, vom Dach baumelt die Figur eines Raben im Wind. Vor dem Lokal sind mehrere hellgrüne und weiße Tische verteilt, manche durch bunte
Blumentöpfe verziert. Momentan ist nicht viel los, nur drei der Tische sind besetzt, doch zur Mittagszeit ist das anders. „Die Leute warten, bis ein Tisch frei wird oder setzen sich zu anderen dazu“, erzählt Kurosch Allahyari stolz. Das Essen kommt bei den Gästen
sehr gut an. Heute gibt es mazedonische Krautrouladen und Blattsalat. Als Vorspeise werden Linsen mit Schafskäse und dazu Gebäck serviert, und als Dessert gibt es Blätterteigtaschen mit Cremefüllung. Frau Recepi hat die Krautrouladen auch in ihrem Herkunftsland gekocht. Dabei wird Weißkraut mit Bio-Rindfleisch (optional), Champignons, Zwiebeln und Reis gefüllt, gekocht und mit schwarzem Pfeffer gewürzt. Dazu kommen Dille und Tomatensauce sowie Kartoffeln.

Besonders ist das Essen, das bei Purple Eat serviert wird, vor allem auch, weil es auf traditionelle Weise zubereitet wird. „Wir sagen den Leuten, die kochen, dass sie nicht versuchen sollen, die Rezepte in irgendeiner Weise an den österreichischen Geschmack anzupassen“, erklärt Kurosch Allahyari. Es werden bunt gemischt Speisen aus verschiedenen Ländern präsentiert, immer eine vegetarische Version und eine mit Fleisch. Das Ziel sei, ÖsterreicherInnen an andere Kulturen heranzuführen und gleichzeitig einen Ort zu schaffen, an dem die ehemaligen AsylwerberInnen mit den hier Ansässigen in Kontakt treten können. „Wir wollen Integration von einer anderen Richtung aufziehen. Es soll nicht darum gehen, dass die Ausländer endlich Deutsch lernen, sich integrieren und Leistungen erbringen. Sie sollen das tun können, was sie möchten.“ Frau Recepis Kinder spielen vor dem Lokal. Ihr Lachen wird nur durch den Wind unterbrochen, der hin und wieder die Tür des Stands mit einem lauten Knall zuschlägt. Momentan wird die  Abschiebung der Familie Recepi vorbereitet. „Wir werden das nicht zulassen“, sagt Kurosch Allahyari. „Die Familie Recepi bleibt auf jeden Fall in Österreich.“

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik an der Universität Wien.

No kids on the block

  • 11.12.2014, 09:01

2014 feiert das Internationale Jahr der Familie sein 20. Jubiläum. Statt ein weiteres Loblied auf die Mutter-Vater-Kind-Familie zu singen, hat progress das zum Anlass genommen, Menschen, die keine Kinder wollen, ins Zentrum zu rücken.

2014 feiert das Internationale Jahr der Familie sein 20. Jubiläum. Statt ein weiteres Loblied auf die ‚Mutter-Vater-Kind’-Familie zu singen, hat progress das zum Anlass genommen, Menschen, die keine Kinder wollen, ins Zentrum zu rücken.

Warum keine Kinder bekommen? „Kinder sind doof. Ist das nicht Grund genug?“, fragt @Mr.Bubbles auf Twitter. Und stellt sich damit gegen eine allgemein verbreitete Selbstverständlichkeit: die des Kinderkriegens. Es gibt auch andere Lebensentwürfe als jenen des heterosexuellen Ehepaars mit zwei Kindern.

Momentan ist der Kinderwunsch in Österreich die Norm. Laut Tomáš Sobotka, Leiter der Forschungsgruppe für vergleichende europäische Demographie am Vienna Institute of Demography, wollen nur 4-5 Prozent der 20- bis 29-Jährigen keine Kinder bekommen. Am Beliebtesten bleibt das klassische Konzept der Kernfamilie bestehend aus zwei Elternteilen und zwei Kindern. Weniger gebildete Frauen sowie bestimmte Migrant_innengruppen (v. a. aus der Türkei, dem Kosovo und Albanien) haben die meisten Kinder. Entgegen der gängigen Klischees sind die Unterschiede zu anderen Österreicher_innen jedoch nicht dramatisch: Diese Bevölkerungsgruppen haben im Durchschnitt ungefähr zwei Kinder, während die Norm etwas unter zwei Kindern liegt. Auch stirbt Österreich nicht aus. Denn die Anzahl der Geburten in Österreich steigt – laut Sobotka werden in Österreich bis Ende 2014 mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Menschen geboren als gestorben sein.

Kinderlos? Klar! Trotzdem gibt es Menschen, die sich am Kinderkriegen nicht beteiligen können – oder wollen. 27 Prozent der 44-jährigen Frauen in Wien haben keine Kinder. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die betroffenen Personen. Laut Tomáš Sobotka sind die veränderten Möglichkeiten zum Aufschub einer Schwangerschaft eine wichtige Ursache. Zum Beispiel ist durch die „Pille danach“ ein hohes Maß an Kontrolle über Schwangerschaften gewährleistet. Vor allem trifft das auf Frauen mit höherer Bildung  zu, denen eine Karriere wichtig ist. Dass sich der Wunsch, Karriere zu machen, häufig nicht mit dem Großziehen von Kindern vereinen lässt, ist laut Sobotka ein wichtiger Grund, keine Kinder zu bekommen. Auch Sonja, die anonym bleiben möchte, passen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht: „Ich bin ambitioniert“, erklärt die Studentin: „Ich will später auch Bestätigung aus meinem Beruf ziehen. Da ist kein Platz für ein Kind neben einer Vollzeitbelastung im Beruf.“ Ein weiterer Grund ist, dass Frauen die Opfer, die das Aufziehen von Kindern erfordert, nicht bringen wollen. So auch Sonja: „Ich müsste auf meine Karriere verzichten und wäre auf meinen Partner angewiesen.“ Geringe Karrierechancen, der Verzicht auf Vollzeitbeschäftigung und die Aussicht auf Altersarmut sind keine attraktiven Zukunftsvisionen für ein Frauenleben.

2013 gingen in Österreich 80 Prozent der erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter sechs Jahren einer Teilzeitbeschäftigung nach. Ökonomisch düster sieht es besonders für Hausfrauen aus. Denn um Mindestpension beziehen zu können, müssen Frauen 15 Jahre versichert gewesen sein. Zwar ist es möglich, sich pro Kind maximal vier Beitragsjahre anrechnen zu lassen. Bei mehreren Kindern erhöht sich die monatliche Bemessungsgrundlage von 1649,84 € jedoch nicht. Auch werden nicht mehr Jahre angerechnet, wenn die Geburten der Kinder nicht mindestens vier Jahre auseinander liegen. Fehlende Beitragsjahre können nur über eine Erwerbstätigkeit anerkannt werden. Das bedeutet, dass heutige Hausfrauen ohne eigenes Einkommen in 40 Jahren finanziell genauso abhängig von ihren Partner_innen sein werden wie die Generation ihrer Großmütter und Mütter, falls diese Hausfrauen waren. Für Lisas Mutter war das während ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin beispielsweise keine Option. Sie begann nach dem Mutterschutz wieder Vollzeit im Krankenhaus zu arbeiten. Lisa wurde währenddessen von einer Tagesmutter betreut. Lisa ist 24, studiert Anglistik und Germanistik in Salzburg und möchte selbst keine Kinder bekommen. Jedoch nicht aufgrund der finanziellen und sozialen Rahmenbedingungen, sondern weil sie nicht das Bedürfnis danach hat. „Ich hatte nie den Traum, einen Mann zu finden, zu heiraten und Kinder zu bekommen.“

Österreich verlangt Kinder. Der Entscheidung, keine Kinder haben zu wollen, wird oft mit gesellschaftlichem Druck begegnet. Zum Beispiel indem der österreichische Staat die Familie als das höchste Gut definiert. So steht in der Informationsbroschüre „Der Familien-Kompass“ des Bundesministeriums für Familie und Jugend auf der ersten Seite: „Für das Wichtigste im Leben – unsere Familien“. Aber Ein-Kind-Familien reichen der Familienministerin Sophie Karmasin nicht: „‚Mehr Kinder in den Familien – mehr Familien in der Gesellschaft’ – unter diesen Titel haben wir unsere Familienpolitik gestellt.“ Im Allgemeinen wird diese Politik auf der Homepage des Ministeriums für Familie und Jugend folgendermaßen gerechtfertigt: „‚Familie und Kinder‘ bzw. ‚Partnerschaft‘ stehen nach wie vor an erster Stelle der als besonders wichtig erachteten Lebensbereiche der Österreicherinnen und Österreicher. Die Familie ist und bleibt zentraler gesellschaftlicher Werte- und Leistungsträger.“ Sind und waren das Österreicher_innen ohne Kinder nicht?

(c) Luiza Puiu

Der Vorwurf an und die Herabsetzung von Kinderlosen passiert alltäglich aber auch viel indirekter. Kinderlos zu bleiben braucht Ausdauer und Selbstbewusstsein. Die 25-jährige Sonja berichtet von ihren Verwandten in der Steiermark: „Immer wieder rufen mich Verwandte an und erzählen, sie hätten Kindergewand für mich gewaschen und den Kinderwagen für mich aufbewahrt. Noch ist es spielerischer Druck, aber wenn ich mal über 30 bin, wird es wahrscheinlich mühsamer.“ Ihre steirischen Freund_innen akzeptieren ihr Studium als Ausrede dafür, dass sie keine Kinder haben möchte. „Wenn dieses Argument nicht mehr gilt, wird es schwieriger werden.“ Auch der in Wien aufgewachsene Raphael, 19, sagt: „Meine Familie meint immer, ich würde schon sehen. Wenn ich älter werde, würde ich meine Meinung ändern.“

Wir sind keine Kinderhasser_innen.“ Im Gegensatz zu Männern werden Frauen, die keine Kinder haben wollen, häufig negativ dargestellt. Bilder wie das der kinderhassenden Karrierefrau herrschen vor. Für die Berlinerin Sarah Diehl ist das ein Missstand, der auch Grund für ihr aktuelles Buch „Die Uhr, die nicht tickt“ war. „Es fällt Frauen schwer, sich mit Kinderlosen zu identifizieren und sich selbst nicht negativ zu beschreiben.“, so Diehl im Interview. „Aber warum sollten sie denn in ihrer Lebensplanung an etwas anderes denken als an sich? Oft wird das bei Frauen mehr in Frage gestellt als bei Männern.“ Diehl will mit ihrem Buch nicht nur eine Analyse bieten, sondern den Frauen Handwerkszeug geben, um Kinderlosigkeit für sich positiv beschreiben und ein positives Selbstbild entdecken zu können.

„Wenn du als kinderlose Frau von der Gesellschaft als Mangelwesen beschrieben wirst und du dich selbst so wahrnimmst, dann wirkt sich das aus. Als wären Kinder die einzige Sinnstiftung für ein wirkliches Frauen-Dasein.“ Diehl meint, dass die Vorstellung von Weiblichkeit mit Fürsorglichkeit gekoppelt wird. Die Fähigkeit Liebe geben zu können, erscheint dann besonders problematisch bei Kinderlosen. „Das Schwierigste ist, sich aus diesem Stereotyp rauszuwinden und sagen zu können: ‚Ich bin ein liebevoller Mensch, auch wenn ich keine Kinder habe.‘“ Sowohl Sonja als auch Raphael betonen, dass sie Kinder sehr mögen. „Ich sehe mich als wundervolle Tante, als wundervolle Schwester, als wundervolle Kusine – aber nicht unbedingt als Mutter“, sagt Sonja.

Aber – was aus der Norm fällt, wird kritisiert. Stigmatisierungen finden sowohl bei Familien ohne Kinder als auch bei solchen mit vielen Kindern statt. Sonja fühlt sich oft so, als müsse sie sich rechtfertigen. Ihre Verwandten bringen Gegenargumente wie „Du bist doch eine Frau!“, „Man macht das so!“ und „Ihr liebt euch doch!“. Äußerungen dieser Art spiegeln das gesellschaftliche Unbehagen gegenüber Kinderlosen, die nicht selten auch abgestraft werden, wider. Denn wenn sich Frauen der Selbstverständlichkeit der Mutterschaft entziehen, hat das weitreichende soziale und ökonomische Folgen. Diehl dazu: „Die Gesellschaft erwartet, dass Frauen die Arbeit in der Kleinfamilie umsonst machen und das Problem der Vereinbarkeit ihres bleibt. Sobald das hinterfragt wird, hat unsere Gesellschaft Schiss. Denn dann müssen wir Kinderbetreuung auf einmal gesamtgesellschaftlich organisieren, weil die Frauen sie nicht mehr alleine erledigen wollen oder sich dem durch Kinderlosigkeit ganz entziehen.“

Familie reloaded. Argumente fürs Kinderkriegen spiegeln eine enge, oft konservative Vorstellung davon wider, was Familie ist. Dass Familie keineswegs für jeden Menschen das gleiche bedeutet, wird oft ignoriert. Sowohl für Sonja als auch für Raphael ist Familie nicht mit Verwandtschaft gleichzusetzen. „Familie ist ein Verein von Menschen, die zu einander stehen, gefühlsmäßig miteinander verbunden sind, sich unterstützen und gegenseitige Anteilnahme zeigen“, sagt Raphael. Sonja betont die Konstruiertheit von Familie: „Familie ist ein gedankliches Konzept. Sie besteht aus all jenen, die ich für meine Familie halte.“

Um eine Familie zu haben, muss man also keine Kinder bekommen. „Meinem Freund ist es wichtiger, eine glückliche Partnerin zu haben als ein Kind mit einer traurigen Mutter“, berichtet Sonja. Sarah Diehl weiß auch von ihren Interviewpartner_innen, dass sich viele aus Liebe zu ihrer Beziehung gegen Kinder entscheiden: „Die Gleichberechtigung in der Partner_innenschaft hört oft auf, wenn ein Kind kommt.“ Besonders im Fall einer Trennung von unverheirateten Paaren kommen Frauen in eine schwierige Position. Die Zahlen belegen, dass in diesem Fall mehrheitlich Frauen Alleinerzieher_innen werden. Während 2013 mehr Mütter in Österreich alleinerziehend waren als es in der Stadt Salzburg Einwohner_innen gibt, decken die alleinerziehenden Väter zahlenmäßig nicht einmal Mödling ab.

Dass immer mehr Frauen misstrauisch gegenüber dem Konzept der heilen Familie und Mutterschaft sind und sich gegen Kinder entscheiden, liegt nicht an einer feministischen Paranoia. Sondern daran, dass sie in der Realität die meiste Verantwortung übernehmen, Kompromisse eingehen und einen Großteil der Arbeit leisten müssen. Dieses Ungleichgewicht endet nicht mit der Geburt. Auch in der Kinderbetreuungsarbeit stellt sich in der Regel keine fifty-fifty Aufteilung zwischen Frauen und ihren Partnern ein. Diehl führt in ihrem Buch an, dass laut einer Studie des Allensbach-Instituts von 2013 berufstätige Männer im Schnitt zwölf Minuten täglich mit ihren Kindern verbringen – bei vollzeitbeschäftigten Frauen sind es drei Stunden. Auch was die Hausarbeit betrifft, gab jeder zweite Mann zu, dass Frauen den Großteil erledigen. Die Männer aber als Sündenböcke hinzustellen, geht für Diehl zu weit: „Menschen nutzen nun einmal die Strukturen, die sich ihnen bieten. Und so ist es in gewisser Weise verständlich, dass Männer unhinterfragt von ihren Freiräumen Gebrauch machen und ihnen manchmal gar nicht bewusst ist, wie viele Privilegien sie genießen.“

(c) Luiza Puiu

Schwangerschaftsabbruch. Ein hart umkämpftes Privileg der Frauen ist der sichere Schwangerschaftsabbruch im Falle, dass sie ein Kind nicht möchten. Laut dem Österreichischen Verhütungsreport 2012 wird mehr als die Hälfte aller Frauen in Österreich einmal in ihrem Leben ungewollt schwanger. 55 Prozent der befragten Frauen gaben an, sich dabei für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden zu haben.

„Es ist mein Körper“, sagt Sonja. „Ich entscheide darüber, ob ich Kinder haben möchte oder nicht. Man kann von keiner Frau verlangen, gegen ihren Willen ein Baby zu bekommen.“ Auch Lisa würde eine potentielle Schwangerschaft abbrechen. In Österreich ist ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate erlaubt. Eine Angabe von Gründen ist nicht erforderlich und der Abbruch kann völlig anonym verlaufen. Im Gegensatz zu den meisten westeuropäischen Ländern wird er jedoch nicht von den Krankenkassen bezahlt. Die Kosten schwanken zwischen 350 und 800 Euro. Außerdem werden Schwangerschaftsabbrüche nicht in allen Krankenhäusern angeboten. In Bundesländern wie Salzburg, Oberösterreich, Vorarlberg und Tirol gibt es jeweils nur eine und im Burgenland keine entsprechende Anlaufstelle – obwohl alle Ärzt_innen in ihrer Ausbildung lernen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. In einer Umfrage der SPÖ-Frauen, dem „Frauenbarometer 2014“, gaben fast drei Viertel der befragten Männer und Frauen an, dass ein Schwangerschaftsabbruch in allen Krankenhäusern möglich sein sollte.

Auch wenn die Mehrheit der Österreich_innen eindeutig die heterosexuelle Kernfamilie favorisiert, muss der Wunsch nach einem kinderlosen Leben respektiert werden. Dazu gehört auch der freie, kostenlose und sichere Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Diehl wünscht sich ein solidarischeres Miteinander – auch für Kinderlose. „Es geht nicht darum die Grabenkämpfe auszuweiten und die Blockbildung zwischen Müttern und kinderlosen Frauen zu verschärfen. Ich lege die Betonung hier ganz bewusst auf Frauen, denn sie sind es vornehmlich, die diese Kämpfe führen. Es geht mir nicht um Wertungen, sondern um die gesellschaftliche Akzeptanz verschiedener Lebensentwürfe.“

Marlene Brüggemann und Patricia Urban studieren Philosophie und Kultur- und Sozialanthropologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft  an der Uni Wien. 

Der geheime Lehrplan

  • 11.08.2014, 15:23

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Wenn es um Schule ging, war die Zentralmatura in den letzten Monaten das meistdiskutierte Thema. Unfaire Bewertungssysteme, mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse individueller SchülerInnen und der jüngste Skandal um einen Text bei der Deutschmatura, der den Holocaust verharmlost – die Zentralmatura sorgt für heftige Diskussionen. Aber nicht nur sie gibt Anlass zur Kritik. Als elementarer Bestandteil des Unterrichts haben Schulbücher einen großen Einfluss auf SchülerInnen. Die meisten Schulbücher regen aber keineswegs zum kritischen Denken an, wie eine Studie des Historikers Christoph Kühberger zeigt. Im Gegenteil: Sie stellen ihre Inhalte meist so dar, als wären sie objektiv und allgemein gültig. Dass dahinter die subjektiven Perspektiven einer/s oder mehrerer AutorInnen stehen und Begriffsdefinitionen häufig einseitig sind, wird selten deutlich. „Die wenigsten Schulbücher beinhalten eine Anleitung, wie man kritisch mit ihnen umgehen kann“, sagt auch Christa Markom, Ethnologin und Sozialpädagogin. Wenn sich die vermittelten Ansichten mit jenen des/r Lehrers/in decken, akzeptieren die SchülerInnen sie als Wahrheit. „Was LehrerIn und Schulbuch sagen, stimmt für die SchülerInnen und wird meist nicht hinterfragt“, so Markom.

In dem Projekt „Migration(en) im Schulbuch“ hat Christa Markom zusammen mit Heidemarie Weinhäupl und Christiane Hintermann analysiert, wie Migration in Schulbüchern verschiedener Fächer repräsentiert wird. Ziel war auch, SchülerInnen Wissenschaft näherzubringen. Im Rahmen von Workshops wurde deshalb gemeinsam mit Schulklassen erarbeitet, wie man im Unterricht kritischer mit Themen und Begriffen umgehen kann. „Das war ein völlig neuer Zugang für die SchülerInnen“, berichtet Herbert Pichler, Lehrer und selbst Schulbuchautor, der mit einer seiner Klassen am Projekt teilnahm. „Die Schulbücher zerpflücken und kritisieren zu dürfen, das kannten sie vorher nicht“, erzählt er. Dabei sei das von enormer Bedeutung.

Undurchsichtig. Bevor ein Schulbuch tatsächlich in die Hände eines Schülers oder einer Schülerin gelangt, durchläuft es einen Prozess, der zwei bis drei Jahre dauert – weshalb jedes Schulbuch zwangsläufig veraltet ist. Zunächst erhalten AutorInnen (meistens in Teams) den Auftrag, ein Schulbuch zu schreiben. Ist das getan, wird es von GutachterInnen des Ministeriums auf Basis bestimmter Richtlinien überprüft. „Dabei spielen durchaus auch Anti-Diskriminierungsrichtlinien oder zum Beispiel Gender-Richtlinien eine Rolle“, erklärt Christa Markom. Trotz dieser Approbation gelangen aber viele Bücher auf die Schulbuchliste, die diskriminierende Inhalte haben. Zwar sind viele GutachterInnen sehr bemüht, dies zu vermeiden, allerdings fehlt teilweise auch Hintergrundwissen zu verschiedenen Diskriminierungsformen. Laut Herbert Pichler sind die MitarbeiterInnen des Ministeriums auch manchmal selbst Teil jener Teams, die Schulbücher verfassen. Außerdem haben einige der Verlage großes Interesse daran, dass ihre Bücher approbiert werden. „Sie üben einen enormen Druck auf das Ministerium aus“, erklärt Herbert Pichler.

LehrerInnen können sich zwar theoretisch aussuchen, welches Schulbuch sie verwenden wollen. In der Realität sieht das aber oft anders aus. „Der Griff zu einem altbekannten Buch ist häufig naheliegend“, sagt Christa Markom. Es kommt also durchaus vor, dass Schulbücher, die einseitige Darstellungen oder diskriminierende Repräsentationen und Stereotype beinhalten, als Unterrichtsmaterial fungieren. Laut einer Umfrage des Projekts „Migration(en) im Schulbuch“ verwenden 80 Prozent der LehrerInnen Schulbücher, um ihren Unterricht zu strukturieren. Dieser wird durch die oft einseitige Aufbereitung von Themen in den Schulbüchern entsprechend beeinflusst.

Repräsentation von Migration. Am Beispiel der Darstellung von Migration beziehungsweise von MigrantInnen in Schulbüchern zeigt sich, wie Stereotype und Vorurteile reproduziert werden. „Eines unserer wichtigsten Ergebnisse war, dass Migrationsthemen in Schulbüchern noch immer hauptsächlich in einem Problemdiskurs abgehandelt werden“, sagt Christa Markom. Einerseits betrifft das die Positionierung des Themas, das in einem Schulbuch zum Beispiel in der Nähe des Themenkomplexes „Terrorismus“ angesiedelt war. Andererseits spielen Überschriften wie „Migration – eines der zentralen Probleme Europas“ hier eine Rolle. Auch darüber hinaus wird Migration meist in einem negativen Kontext dargestellt. „Dadurch entstehen keine positiven Identifikationsmöglichkeiten für SchülerInnen mit Migrationsbiographien“, erklärt Markom. Wird Migration ausnahmsweise nicht als Problem dargestellt, dann wird sie meist in einem Nützlichkeitsdiskurs behandelt, in dem wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Fragen im Mittelpunkt stehen. Dass Migrationsgeschichten aus der Perspektive von MigrantInnen erzählt werden, kommt hingegen kaum vor.

Auch Begriffe werden im Kontext von Migration in Schulbüchern kaum umfassend erklärt. So fehlt beispielsweise eine Auseinandersetzung damit, welche Bedeutungen hinter dem Begriff „Integration“ stecken können, oder damit, warum eine Bezeichnung wie „ZigeunerIn“ beleidigend und abwertend ist. Und das, obwohl SchülerInnen großes Interesse daran haben, wie Begriffe verwendet werden und wie sie Diskriminierungen in ihrer Sprache vermeiden können: „Natürlich interessiert mich das, ich brauch’ das ja täglich“, meint ein Schüler einer BHS: „Wenn ich die Erklärungen dazu nicht in Schulbüchern finde, wo dann?“ Laut Christa Markom würden sich die SchülerInnen auch historische Ableitungen der Begriffe erwarten. Sie wollen wissen, aus welchem historischen Kontext ein Begriff kommt, um seine Verwendung in der Gegenwart zu verstehen. Als Teil der österreichischen Geschichte wird Migration aber ohnehin kaum dargestellt. Im Gegenteil: Schulbücher behandeln Migration meist als neueres Phänomen, das von der österreichischen Geschichte abzugrenzen ist. „Das führt dazu, dass SchülerInnen Migration nicht in die österreichische Wir-Konstruktion miteinbeziehen“, erklärt Christa Markom.

Die Macht der Bilder. Diese Tendenzen spiegeln sich nicht nur in Texten wider. Auch in Bildern wird stark mit Klischees gearbeitet. Ein Aspekt, dem laut Herbert Pichler besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Wenn es um Migration geht, sind in Schulbüchern häufig Bilder von Frauen mit Kopftüchern, mit denen meist die Türkei assoziiert wird, abgedruckt. „Warum ist es eigentlich so, dass wir mit ‚Ausländer’ nur die Türken meinen?“, fragte deshalb eine Schülerin im Projekt „Migration(en) im Schulbuch“. Dass Deutsche die größte Migrationsgruppe in Österreich sind, wird durch diesen Fokus verschleiert.

Wenn es um Flucht und Asyl geht, werden wiederum meist AfrikanerInnen dargestellt, die in die „Festung Europa“ wollen. Sowohl auf Bildern, die AfrikanerInnen in überfüllten Booten zeigen, als auch in Texten. In einem Geographiebuch der Sekundarstufe 2 ist dazu Folgendes zu lesen: „Täglich stehen z.B. in Nordafrika tausende Menschen vor den Toren Europas, um in eine bessere Welt zu gelangen. Bilder von Flüchtlingstragödien, z.B. von überfüllten Flüchtlingsschiffen, gelangen in unsere Medien. Auch wenn das überalterte Europa langfristig Einwanderer benötigt, kann es den globalen Migrationsdruck nicht entschärfen. Wird das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt nicht eingeschränkt und werden Arbeitslosigkeit und Hunger und Umweltprobleme nicht nachhaltig bekämpft, wird der Migrationsdruck weiter steigen.“ Problematisch ist das einerseits, weil Afrika durch derartige Darstellungen pauschal mit negativen Bildern verbunden wird. Andererseits wird innerafrikanische Migration nicht thematisiert. „Es wird so dargestellt, als würden alle Flüchtenden und Migrierenden nach Europa kommen, was ja überhaupt nicht der Fall ist“, erklärt Markom: „Wie Migrationsströme tatsächlich verlaufen, wird verschleiert.“

Handlungsoptionen. Selbst das schlechteste Schulbuch kann aber im Unterricht das beste Schulbuch werden, wenn die LehrerInnen gut damit umgehen, ergänzt Markom. Ob entsprechende Kompetenzen in der pädagogischen Ausbildung vermittelt werden, ist jedoch fraglich. Das kritische Hinterfragen der Schulbücher werde in der LehrerInnenausbildung kaum thematisiert. Es sei aber wichtig, einen machtkritischen Blick zu entwickeln, Begriffe zu kritisieren und Lehrmedien nicht als objektiv zu betrachten. Auch die Schulbücher selbst sollten laut Markom stärker dazu anregen, sich kritisch mit Begrifflichkeiten und Inhalten auseinanderzusetzen.

Für den Unterricht wäre es wichtig, mehr Diskussionsräume zu schaffen. Sinnvoll sei deshalb auch, verstärkt Vorträge, Ausstellungen oder Workshops und damit auch Leute von außerhalb der Schule in den Unterricht zu integrieren. Dadurch bringe man neue Dynamiken in eine Klasse und schaffe ein Bewusstsein für verschiedene Themen wie Diskriminierung und Rassismus. Dabei können SchülerInnen abseits von Notendruck und Prüfungsangst lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. „Durch das Projekt‚ Migration(en) im Schulbuch‘ sind die SchülerInnen jetzt viel kritischer als zuvor“, berichtet auch Herbert Pichler.

Was die Schulbücher betrifft, sieht Christa Markom in der Multiperspektivität großes Potential. „Man sollte möglichst viele Sichtweisen auf ein Thema zeigen. Auch mit lebensgeschichtlichen Zugängen kann man da sehr gut arbeiten.“ Wenn es um Migration geht, hätten sie das Potential, die negativen Konnotationen in Frage zu stellen. Interviews wären zum Beispiel eine Möglichkeit, auch Raum für positive Migrationsgeschichten zu schaffen. Für Herbert Pichler ist vor allem die Positionierung des Schulbuchs im Unterricht wichtig: „Ich selbst verwende Schulbücher als Steinbruch, als eine Sammlung von Materialien, die man in bestimmten Unterrichtssequenzen gezielt verwenden kann.“

Zum Schluss betont Christa Markom auch, dass durchaus eine positive Entwicklung der Schulbücher zu beobachten ist. „Da hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr viel getan. Es gibt noch immer Probleme, das ist keine Frage. Aber das ist keineswegs
eine statische Sache.“

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.