Konstantin Vlasich

Sendersuchlauf im freien Fall

  • 17.04.2018, 14:31
Neben dem öffentlich-rechtlichen und dem kommerziellen Privatrundfunk gibt es noch den freien Sektor. Im Regierungsprogramm kommt er nicht vor. Ist das gut?

Die Radiosender haben klingende Namen wie Agora, FREEQUENNS, Freistadt oder gar Helsinki. Sie laufen frei von Werbung, ihre Sender stehen in Klagenfurt, Wien, oder eben auch Kirchdorf. Doch im Regierungsprogramm steht nichts über den nichtkommerziellen Privatrundfunk. „Es wäre schlimmer, wenn sie uns nennen würden und ankündigen würden, dass sie die Situation für uns verschlechtern“, sagt Helmut Peissl. Er ist einer der frühen Radio-Aktivist_innen, ehemaliger Geschäftsführer von Radio Agora und nun in dieser Funktion bei COMMIT, der Aus- und Weiterbildungsstätte der Freien Radios. Peissl kann schwer einschätzen, ob es gravierende Änderungen für den nichtkommerziellen Rundfunk geben wird. Da beruhigen die Krapfen am Tisch und der büroyale Ausblick über den Belvederegarten ein bisschen. Es sind Leute wie er, die viel im Kampf der Freien Radios erlebt haben.

Ein Radiosender im Rucksack.

Helmut Peissl hat die Idee des Freien Radios in Frankreich kennengelernt, wo Anfang der 80er eine politisch günstige Phase das Aufkommen von hunderten Piratensendern zuließ und auf die Legalisierung von nichtkommerziellen Sendern hinauslief. Auf der Kooperative von Longo Maï, einem Selbstverwaltungsprojekt auf einem Bauernhof in der Provence, hatten die dort Wohnenden ein solches Radio konzipiert und alle, die wollten, konnten sich ein Thema aussuchen, überlegen wie es vermittelt werden sollte und es ging on air. Radio als Alltagstätigkeit, als konstruktive Auseinandersetzung mit dem Lokalen und dadurch auch mit sich selbst. Aus der französischen „Riesen-Aufbruchsstimmung“ kommend, stand Peissl vor der Mauer des österreichischen Rundfunkmonopols. Der Wille, das Ende des Monopols einzuläuten, war hier enden wollend. Aufmerksamkeit bekam man mit Piratensendungen. Mit bescheidenen Mitteln (etwa einem Sender aus dem Auto) konnte man einen Straßenzug mit einer Sendung beglücken. „Alle Leute, die Ö3 gehört haben, haben dann plötzlich Radio Sozialfriedhof gehört.“ Peissl muss sich ein Auflachen verkneifen, er denkt an einen der größeren Erfolge: „Einmal haben wir in der Argentinierstraße vor der Tür des ORF-Funkhauses gesendet und die Redakteur_innen drin haben plötzlich aus ihren Radios gehört, was aus unserem Sender kam. Die haben gedacht, das ist jetzt österreichweit auf Sendung. Und sie haben sich danach im Radio entschuldigt und gesagt das kam nicht vom ORF, allerdings hatten nur sie diese komische Sendung gehört.“ Wie man schon in Frankreich versuchte, vor Wahlen eine Gegenöffentlichkeit durch Piraterie aufzubauen, wollten das um die einhundert Beteiligten auch vor der Kärntner Landtagswahl 1989. Sie wollten mit einem zweisprachigen Programm ein Zeichen gegen die mediale Diskriminierung der kärntnerslowenischen Minderheit setzen. Da es nicht legal gewesen wäre, aus Österreich zu senden und die Post, damals für Funk zuständig, den Sender suchen und beschlagnahmen würde, wichen die späteren Aktivist_ innen des Vereins AGORA (Arbeitsgemeinschaft offenes Radio) nach Italien aus. „Wir hatten im Tal ein Studio in einem Ferienapartment und oben am Berg einen kleinen Sender installiert – der strahlte nach Kärnten hinein,“ sagt Peissl. Am Schluss sah die Intervention gegen das Anderes Radio für Kärnten/ drugačni radio so aus: Ein Hubschrauber des österreichischen Innenministerium kreiste über dem Sender auf der Achmitzer Höhe und die Carabinieri kamen. Ein paar Stunden festsitzen und drei Strafmandate fürs unerlaubte Befahren eines Forstweges waren die Folgen. Während damals in Italien ein einseitiges Formular reichte, um auf Sendung zu gehen, wurden in Österreich die Höchststrafen für illegales Senden drastisch hinaufgesetzt – von 5.000 auf 100.000 Schilling. Und da allein in Wien zig Sender beschlagnahmt wurden, war deren Neubeschaffung nicht einfach und kostete einiges. In Kärnten folgte nach der Wahl die große Gleichschaltung: „Alles, was Landeshauptmann Haider nicht opportun war und nach seiner Pfeife getanzt hat, ist ausgehungert worden.“ Doch AGORA beschloss weiterzumachen. Fast zwei Jahre lang wurde der Radiobetrieb sonntäglich von Italien aus fortgeführt – aber nicht mehr mit großem Sender und Generator. Batterie und Antenne wurden im Rucksack auf den Berg gebracht. Diese Präsenz sei ein Hoffnungsschimmer gewesen: „Man hat gehört, dass es auch andere Stimmen gibt.“ Um diese anderen, kritischen Stimmen ist Peissl heute besorgt. Sie seien „ganz gelinde gesagt“ nicht erwünscht. Der aus dem kärntnerisch-italienischen Bergsender hervorgegangene Verein AGORA hat 1989 für die „anderen Stimmen“ geklagt – und zwar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Es ging um die Verletzung der Artikels 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, um das Recht auf freie Meinungsäußerung und passive und aktive Informationsfreiheit. Am 23. November 1993 erklärte der EGMR das Rundfunkmonopol für gesetzeswidrig und hielt fest, dass bestimmte Publikumsgruppen (etwa Minderheiten) Zugang zum Rundfunk haben müssen. An dieser Stelle überspringen wir das harte Lobbying und die unermüdliche Arbeit vieler, aber auch die österreichischen „Lösungen“ – etwa der anfänglichen Abmachung des ORF und großer Zeitungen, dass er nach dem Monopolfall jeweils die größte Frequenz pro Bundesland bekommen würde – und schließen mit dem Jahr 1997, wo unter 43 ausgeschriebenen Lokalradiofrequenzen sieben an Freie Radios gingen. 1998 durften sie endlich legal senden.

Ein anderes Medienverständnis.

Auf einem gelben Sofa im 7. Wiener Gemeindebezirk räkelt sich ein kleiner Hund. Neben ihm sitzt die Geschäftsführerin des Verbands Freier Radios Österreich, Helga Schwarzwald – die Juristin trägt Undercut und eine schicke Brille. „Sind Sie der Wrabetz der Freien Radios?“ – „Na! Schauen’S mi o! Da gibt’s in vielerlei Hinsicht Unterschiede, die diesen Vergleich nicht wirklich sinnvoll erscheinen lassen. Aber ich bin gern die Schwarzwald der Freien Medien.“ Wie viele Menschen die vierzehn Freien Radios hören, weiß Schwarzwald nicht. 50 Prozent der Bevölkerung könnte Freie Radios empfangen, aber an Reichweitentests hätten sich die Freien nie beteiligt. Die Tests seien für kommerzielle Anbieter gemacht, zu teuer und nur auf Deutsch. Bei den Freien Radios zählen andere Parameter: Beispielsweise, wer Sendungen macht. „Ist das nicht wie im Internet, wo auch alle Medien schaffen können?“ – „Im Freien Radio bin ich mit denen, die im Netz leicht als Objekt des Hasses konstruiert werden, im selben Boot, auf einem Schiff – um eine pirat_innentaugliche Metapher zu verwenden,“ Schwarzwald erzählt von jungen Homosexuellen, von Asylwerber_innen und Minderheiten, von benachteiligten Frauen, die auf Freien Radios Sendungen bekommen – von Gruppen, über die sonst berichtet wird, statt sie selbst ans Wort zu lassen. Für ein Worst-Case-Szenario der Zukunft der Freien Radios brauche man nur nach Ungarn blicken, so Schwarzwald. Dort hat Viktor Orbán die Sende- und Förderkriterien so verschärft, dass die Freien der Reihe nach eingegangen sind. Doch lange will Schwarzwald nicht bei dem Szenario bleiben. Ihr fällt „Fürchte die Furcht“ ein. Diesen Spruch hat Stefanie Sargnagel für ein Radio Orange-Poster karikiert. Viel lieber als Furcht will Schwarzwald Wertschätzung, „schlicht und ergreifend verdammt noch mal Wertschätzung für diese positive Medienarbeit, die sonst niemand leistet.“ Das könnte ordentliche gesetzliche Berücksichtigung etwa mit Frequenzreservierung und angemessenen Förderrichtlinien sein. Doch davon ist im neuen Regierungsprogramm keine Spur, es wird nicht auf den nichtkommerziellen Privatrundfunk eingegangen. Erwähnt wird in der schwarz-blauen Neuauflage etwa der Punkt „Neue Organisationsstruktur der ausgelagerten Gesellschaften“ und dabei auf die RTR, die Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH, verwiesen. Das ist sowohl für den kommerziellen als auch für den nichtkommerziellen Privatrundfunk von Bedeutung. Denn die RTR-Medien verteilt Gelder aus dem Rundfunkfonds, die aus dem Bundesanteil der Rundfunkgebühren stammen. 15 Millionen Euro sind jährlich für kommerzielle Privatsender reserviert, 3 Millionen für nichtkommerzielle, davon ergehen ein Teil auch an community TVs wie Okto. Die RTR bestimmt aber weder die Höhe der Förderungen, noch wie es medienpolitisch weitergeht.

Reden ist Silber, Radiomachen ist noch schlechter bezahlt.

„Seit 20 Jahren senden wir in einem Zustand, der den kommerziellen Rundfunk zum Lachen bringen würde. Der bekommt fünfmal so viel fisnanzielle Zuwendung durch die öffentliche Hand. Wofür? Einen Musikteppich mit Uhrzeitansage?“, sagt Ulli Weish und verweist auf die 150 Sendungen, die bei ihnen laufen. Seit einem halben Jahr ist sie Geschäftsführerin von Radio Orange 94.0. Das größte freie Radio im deutschsprachigen Raum hat keine einzige Vollzeit-Kraft. Über die Fliesen der Orange-Redaktion streift der Hund des Tierrechtsaktivisten Martin Balluch auf der Suche nach Streicheleinheiten. Bei 150 Sendungen stellt man sich die Geschäftigkeit anders vor, es ist aber gemütlich. Während Tierrechtsradio auf Sendung geht, nimmt Simon Inou gemeinsam mit der Geschäftsführerin Weish ANDI auf. Das ist der Alternative Nachrichtendienst – einmal wöchentlich eine halbe Stunde läuft er auf Orange. Beim Einsprechen des Elements wird etwas improvisiert. Heute ist auch die Geschäftsführerin am Mikro im Aufnahmeraum und spricht ein. „Reden ist Silber, Radiomachen Orange“ lautet die plakative Kampfansage des Senders, sie ziert viele Möbel der Redaktion. Einstweilen werden die Tierrechtsaktivist_ inen von einem älteren Duo abgelöst – zwei Herren treten ein, als würden sie schweben. Einer sei weit über siebzig. Die Show, die Freitag zu Mittag ansteht, lautet Swingtime. Früher haben die zwei sicher brav unter der Discokugel getanzt. Vielleicht ja immer noch.

Zurück aufs gelbe Sofa.

Helga Schwarzwald will mehr Geld für den „dritten Sektor“. Medienminister Gernot Blümel hätte bereits als Mediensprecher der ÖVP verstanden, „dass wir zwar als Privatradios organisiert, aber eigentlich sehr stark im Bereich public service tätig sind.“ Ein kommerzieller Sender wäre gar nicht in der Lage, die Qualitäten der Freien zu erfüllen, er kenne keinen offenen Zugang, so Schwarzwald. Blümel verwendet das Wort Schuhlöffel oft – er will den ORF als Schuhlöffel für Private sehen. Schwarzwald leiht sich den Begriff: „Die Freien Radios sind der Schuhlöffel für den ORF, wenn es um die Versorgung der Volksgruppen geht.“ So produziert AGORA in Kärnten und der Steiermark Programm für die slowenische oder Radio OP in Oberpullendorf für die kroatische Volksgruppe. Der Ball liegt bei Blümel, die mehrmaligen progress- Anfragen zur Zukunft der Freien Radios blieben unbeantwortet. Dass die mit großem Tamtam angekündigte Medienenquete auch mit Beteiligung der Freien Radios stattfinden soll, ist für Schwarzwald klar. Einladung hat sie aber noch keine erhalten.

Mein vergessener Nachbar

  • 18.07.2018, 10:59
Sie wurden auf LKWs getrieben und umgebracht. Doch an die größte Siedlung der Roma im mittleren Burgenland erinnert nichts. Einst wurden dort 187 Menschen gezählt.

Darf ich persönlich werden?

Ich ertappe mich gerade dabei, wie ich vor dem Anschlussdenkmal in Oberschützen (Südburgenland) davonlaufe. Es ist Gefahr im Verzug – es regnet und blitzt – und dieses Denkmal überragt alles rundum. Auf österreichischem Boden ist es das größte seiner Art, acht Meter hoch. Zum Glück haben die Sowjettruppen beim Einmarsch den gigantischen Reichsadler inmitten des Denkmals mit einer Panzerabwehrrakete vom Sockel geschossen. Jetzt würde das metallene Vieh doch nur die Blitze anziehen. Nach dem Krieg wurde lange über den Abriss des optisch wirklich ansehnlichen Gemäuers debattiert, es wurde 1997 zum Mahnmal umbenannt. Ob es aus Mahnung hier immer so blitzt? Es braucht keinen acht Meter hohen Säulenhof, um nachkommende Generationen vor Unrecht zu warnen – das wird in Jabing klar. Von Oberschützen geradeaus durch Oberwart, bei der Ziegenherde abbiegen und bis kurz vor die Kirche fahren. Auf zwei Holzplanken hat man drei metallene Bretter montiert. Das spartanische Gebilde wird durch ein Holzstück am Boden abgerundet, auf dem eine Kerze brennt – eine zweite tut’s nicht. Das ist das Denkmal an die Roma und Romnija aus Jabing. Mindestens 77 waren es, die verschleppt und ermordet wurden, gerade einmal fünf Überlebende sind dokumentiert. Ihre Namen zieren die erste Gedenktafel. Auf der zweiten findet man überwiegend den Nachnamen Horvath und das Wort Auschwitz. Auf der Dritten stehen die elf Namen jener Jabinger Romnija und Roma, deren Schicksal ungeklärt ist. Kurz ist die Liste nicht. Jene der Gefallenen beim Kriegerdenkmal ist bei weitem kürzer. Obwohl das Roma-Denkmal noch provisorisch ist, merkt man: Jabing gedenkt seiner Bewohner_innen, die fehlen. Die fehlen! So steht’s auf der Tafel. Die optische Aufwertung des Gedenkortes wird mit der Renovierung des Kirchenvorplatzes einhergehen. Am Ende soll das Denkmal so aussehen wie die Gleise, die die Volksgruppenangehörigen in den Tod transportiert haben. Echte Gleise, 150 Kilo das Stück. Meine Heimatgemeinde Großwarasdorf hat ein Geheimnis. Ich wusste es sehr lange nicht. Im Ortsteil Langental befand sich vor dem Zweiten Weltkrieg die größte Roma-Siedlung des Mittelburgenlandes. Die Bezirksbzw. Landeshauptmannschaft und auch die Gendarmerie versuchten die Zahl der Roma schon vor der NS-Zeit zahlenmäßig zu erfassen. Vertreter der Gemeinden, des Landes, der Justiz und der Gendarmerie debattierten 1933 (sic!) über die Lösungen der „Zigeunerplage“ – ihre Ideen reichten von Deportation auf irgendeine Insel, bis zur Ermordung und massenhafter Sterilisation. Die Geschichte der Unterdrückung der Roma und Romnija beginnt nicht mit dem Nationalsozialismus und hört auch nicht mit ihm auf. Wer sich eingehender damit beschäftigen will, dem lege ich die Arbeiten von Gerhard Baumgartner ans Herz. Der Historiker ist wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands und gab dieser Recherche ein ausführliches Hintergrundgespräch. 1936 gab es 187 registrierte Roma und Romnija in Langental und sie stellten in dem Ortsteil die Mehrheitsbevölkerung. Heute ist es dort idyllisch. Kleine Häuser stehen entlang dreier Straßen und ehe man sich versieht, ist man an ihnen und den 89 Einwohner_ innen vorbeigefahren. Der Großteil sind Zugezogene, die hier unwissend ihre Pension verbringen. Vor der Mini- Kirche steht ein Stein. Er besagt, dass der Verschönerungsverein diesen Platz designt hat. Ich hätte mir eine andere Aufschrift erhofft. Ein paar Meter weiter steht das Kriegerdenkmal. Unterhalb der Namen der Gefallenen wurde eine zweisprachige Zusatztafel angebracht: „Wir gedenken an dieser Stelle auch all jener Mitbürger, die in dieser schrecklichen Zeit des Krieges auf andere Weise ihr Leben lassen mussten. Na spominak i za sve, ki su u tom času na drugi način njev žitak zgubili.“ Auf Wikipedia wird man aus diesem kryptischen Satz (natürlich) nicht klüger, auch die Ortschronik von Großwarasdorf „vergisst“ auf die Mitbürger_innen, die auf andere Weise ihr Leben ließen. 
Also nicht gefallen? Nicht normal verstorben? Und wer überhaupt? Meine verstorbene Großmutter, einst mit der naiven Frage konfrontiert, warum die Roma und Romnija weggebracht wurden, antwortete meinem Vater, sie seien mit LKWs weggebracht worden, da sie etwas gestohlen hätten. Mehr schien sie nicht gewusst zu haben. Das Roma-Zeitzeug_innen-Projekt Mri Historija (die Aufnahmen sind auf Youtube zu finden) spricht eine deutlichere Sprache. Der Langentaler Rom Adolf Papai schildert darin auf Romanes, wie seine Familie 1941 ins „Zigeuner- Anhaltelager Lackenbach“ – es lag ein paar Kilometer weiter weg – gebracht wurde: „Ich habe einen kleinen Hund gehabt und ich habe den Hund nicht hergegeben. [...] Und wir sind runter vom Auto, und ich habe den Hund nicht ausgelassen. Und dann hat einer den Hund, den armen Hund, bei den Hinterbeinen genommen und mich mit ihm so lange geschlagen, bis ihm die beiden Hinterbeine in den Händen geblieben sind.“ Je tiefer ich in diese Materie eintauche, umso trauriger stimmt sie mich. Wie würde das Leben in der Gemeinde aussehen, wenn es hier noch immer 200 Roma-Angehörige gäbe? Würde ich mich mit ihnen verstehen? Michael Schreiber, ein befreundeter Historiker, meint, der Antiziganismus wäre dann wohl viel stärker als er ist. Für die burgenländische Forschungsgesellschaft beschäftigt Schreiber sich insbesondere mit der jüdischen Geschichte – eine Zeit lang hatte er Alpträume von Vertreibung. Das hätte aber aufgehört. Alptraum hatte ich noch keinen. Im Standesamt wird auf Kroatisch zur Hochzeit eines jungen Paares angestimmt. Ein paar Minuten später ist auch der Bürger_innenmeister der Gemeinde Großwarasdorf/Veliki Borištof im Haus. Eigentlich hat Rudi Berlakovich (ÖVP) einen Gemeinderatsbeschluss, der ein Denkmal für die verschleppten und ermordeten Roma von Langental/Longitolj vorsieht. „Ich habe auch angeboten, dass eine Gedenktafel in Langental aufgestellt wird. Ich wurde aber von den dort wohnenden Roma gebeten, davon Abstand zu nehmen.“ Das ist ein Sonderfall. Zwei Familien gäbe es noch, die Nachfahren der während des Nationalsozialismus verschleppten Roma und Romnija seien. Als Kind habe der Bürger_innenmeister auch mit ihnen in Langental Fußball gespielt, aber viele seien es damals nicht mehr gewesen. Ich verstehe ihn, er will den Angehörigen nichts aufoktroyieren. Ein Telefonat mit einem der Angehörigen bleibt kurz. Er möchte Ruhe. Ein Denkmal interessiere ihn nicht.

Soll man das Kapitel Aufarbeitung so beenden?

Ohne jemandem zu nahezutreten, wünsche ich mir, dass etwas passiert. Der Langentaler Adolf Papai hatte einst – so schildert es der Vorsitzende des Volksgruppenbeirats der Roma und Sinti, Emmerich Gärtner-Horvath – die Idee, Gedenktafeln anzubringen. Papai ist 2012 verstorben und in seiner Heimatortschaft Langental wird, sofern sich die Meinung der Angehörigen selbst nicht ändert, nicht viel passieren. In der Gemeinde gäbe es andere Möglichkeiten. Papais Vater wurde nach Buchenwald deportiert und dort ermordet, doch Adolf Papai selbst hat das Anhaltelager in Lackenbach gemeinsam mit seiner Schwester und seiner Mutter überlebt, da sie 1943 der Graf Niczky in Nebersdorf (ebenfalls ein Ortsteil der Gemeinde Großwarasdorf) aus dem Lager herausgenommen und so ihr Leben gerettet hat. Papai hat bei ihm Kühe gehütet und mit dem Holz geholfen. Niczky habe auch viele Roma und Romnija, die er gar nicht zum Arbeiten gebraucht habe, so aus dem Lager geholt. Hätte der Graf eine 
Ehrung verdient? Langental ist bei weitem nicht der einzige Ort des Mittelburgenlandes gewesen, wo Roma und Romnija lebten. Die zweithöchste Zahl an Roma und Romnija gab es 1933 in Liebing (85), dann Oberpullendorf (67) und Kleinmutschen (63). In über zwanzig Ortschaften wurden 1936 Roma und Sinti registriert. Meistenorts gibt es heute keine Volksgruppenangehörigen mehr, auch ihre Siedlungen wurden geplündert und zerstört. Aber das muss kein Hindernis für Engagement sein. Als Gerhard Baumgartner vom DÖW gemeinsam mit anderen Aktivist_innen Anfang der 80er den ermordeten Roma und Romnija des Burgenlandes ein provisorisches Denkmal neben das Oberwarter Kriegerdenkmal stellte, wurde es trotz „Luftlinie zum Polizeikommissariat 50 Meter“ über Nacht zerstört. Der mediale Aufschrei war groß, aber die Gesellschaft vor Ort hatte etwas gegen das Denkmal.

Heute ist das anders.

In Jabing steht ein Roma-Denkmal, da sich der 27-jährige Theologe Jakob Frühmann u.a. in einer Diplomarbeit mit den verschwundenen Mitbürger_innen seiner Gemeinde befasst und fürs Gedenken eingesetzt hat: „Vor allem vor der Enthüllung hat’s einiges an Aufruhr gegeben, aber das ist nicht direkt zu mir durchgedrungen, sondern über mehrere Ecken“. Teile der Bevölkerung hätten eine Aufstellung als Anklage gesehen oder auch eine Schuldverstrickung ihrer Familie befürchtet – vor allem aus Unwissen gegenüber der Vergangenheit. „Oder ganz einfach, da in Bezug auf Roma und Sinti weiterhin starke Rassismen am Werken sind“, so Frühmann. Doch als das Denkmal im Herbst enthüllt wurde und im März auch noch sein Buch in Jabing präsentiert wurde, habe er unheimlich viel Zuspruch bekommen – „ohne, dass die Aufarbeitung damit fertig wäre.“ Abschließend fahre ich zum Mahnmal des Roma-Anhaltelagers in Lackenbach. Ein Stück der Landstraße, auf der ich fahre, haben die Internierten unter härtesten Bedingungen gebaut. Die, die nicht deportiert wurden, hatten Zwangsarbeit zu leisten. Google Maps findet das Mahnmal nicht. Vor Jahren war ich hier, als Bundespräsident Heinz Fischer einen Kranz niederlegte. Letzten Herbst hat es Alexander Van der Bellen auch getan. Ich schaue mit trübem Blick darauf. Hinter mir fährt ein kleiner Bub auf seinem Rad und prahlt mit Wheelies. Ich würde ihm gern etwas sagen, aber es kommt nichts raus. In Gedanken bin ich bei der Aussage Gärtner-Horvaths, dass viele nicht wüssten, wo sie an ihre Angehörigen denken sollen, wenn’s am Friedhof nicht einmal ein ordentliches Grab gibt. Deswegen ist der Friedhof in Langental so ausgesprochen leer! 
„Brauchst a Kerze?“, hör' ich wen sagen. Aber der Bub mit dem Rad ist weg.

Konstantin Vlasich studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.