Katharina Gruber

Befähigung zur Gesellschaftskritik als Präventionsarbeit

  • 13.08.2016, 20:01
Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung.

Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung. In der Schule, in der außerschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und in der Sozialen Arbeit stellt sich die Frage nach sinnvoller Prävention, aber auch nach einem adäquaten Umgang mit rechtsextremen Einstellungsmustern. Die Stärke des Bandes liegt in der Vielfalt der Zugänge zum Thema, da viele der Autor_innen sowohl in der Rechtsextremismusforschung verankert sind, als auch über Praxiswissen aus dem Schulalltag und der Sozialarbeit verfügen.

Die Bedeutung der Erziehung zur Mündigkeit – oder anders ausgedrückt: der Befähigung zur Ideologiekritik – zieht sich als roter Faden durch den Sammelband. So argumentieren etwa Stefanie Mayer und Bernhard Weidinger, dass autoritäre Denkweisen und die Vorstellung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung durch eine Gesellschaft begünstigt werden, in der alles einem kapitalistischen Konkurrenzprinzip unterworfen ist. An diese Denklogiken könnten rechtsextreme Ideologien leicht anknüpfen. Mayer und Weidinger plädieren dafür, die Projektionsmechanismen des Rechtsextremismus zum Thema zu machen und die Reflexion der eigenen Abwertung anderer in den Mittelpunkt zu stellen. Ziel davon sei es, „äußere Zumutungen und innere Konflikte in einer Weise zu bearbeiten, die ohne Projektion auf andere und Verfolgen des Projizierten an diesen auskommt.“ Einem ähnlichen Ansatz folgen Elke Rajal und Heribert Schiedel, die der Frage nachgehen, was diese Überlegungen für die rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Schule bedeuten. Eine Schwierigkeit der Selbstreflexion sehen sie darin, dass rechtsextreme Vorstellungen nicht einfach aufgelöst werden können, weil sie oft von grundlegender Bedeutung für das Selbstbild sind und als Problemlösungsstrategien in den Lebenswelten vieler Jugendlicher verankert sind. Die kritische Analysefähigkeit von Kindern und Jugendlichen müsse nach Rajal und Schiedel ebenso gestärkt werden wie ihre Handlungskompetenz. Dadurch werden Ohnmachtsgefühle, die den Rechtsextremismus begünstigen, gemindert.

Neben Selbstermächtigung und Ideologiekritik ist ein zentraler Begriff des Bandes jener der Anerkennung. Da gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oft auf einem Anerkennungsdefizit fuße, sei es wichtig den Jugendlichen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen und sich verstehend auf sie einzulassen. Erst wenn ein Vertrauen hergestellt sei, könne sinnvoll an problematischen Einstellungen gearbeitet werden. Politische Sozialisation erfolge, so Fabian Reicher in seinem Beitrag, durch das Erlernen anhand von dem, was vorgelebt wird. Werden Jugendliche als Problemfälle identifiziert und behandelt, wird ihnen undemokratisches Verhalten vorgelebt. Insofern ist das Buch auch sehr bereichernd für alle, die sinnvolle Reflexionsanregungen für die eigene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Link zur Buchbeschreibung beim Verlag.

Subjektive Unsicherheit

  • 22.06.2016, 13:03
Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

„Wir brauchen uns nicht die Illusion zu machen, dass wir die einzige Großstadt sein werden, in der es überhaupt keine Drogen gibt, aber es kommt drauf an, welche Maßnahmen man setzt und ob die Situation eskaliert oder moderat bleibt“, meint Michael Dressel, Leiter der Wiener Sucht- und Drogenkoordination. Mit der Liberalisierung des Strafrechts zu Jahresbeginn, wurde es erschwert, Menschen wegen Drogenhandels festzunehmen. Damit einhergehend wurde der Verkauf von Haschisch und Marihuana im öffentlichen Raum sichtbarer und von Teilen der Bevölkerung stärker als Problem wahrgenommen. Der Cannabishandel entlang der Linie U6 entwickelte sich zu einem medial breit diskutierten Thema. Die Politik reagierte und Anfang Juni trat eine Novelle des Suchtmittelgesetzes in Kraft, die den Drogenhandel im öffentlichen Raum als eigenen Tatbestand unter Strafe stellt. Es drohen nun bis zu zwei Jahre Haft.

Die Novelle ruft auch Kritiker_innen auf den Plan. „Die Sinnhaftigkeit der neuen Regelung ist fragwürdig“, bemängelt Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart Wien, der im Auftrag des Justizministeriums Bewährungshilfe für verurteilte Straftäter_ innen leistet. „Damit erreichen wir nur, dass die Polizei nicht zahnlos wirkt. Das Ziel, Menschen von straffälligen Handlungen abzuhalten, werden wir damit nicht erreichen“, erklärt er. Auch die Polizei beobachtet, dass Personen, die wegen Cannabishandels verurteilt wurden, nach der Entlassung oft wieder im Drogenhandel tätig sind.

WARUM ALSO DAS NEUE GESETZ? „Es haben sich vermehrt Bürgerinnen und Bürger an mich gewandt, die sich Sorgen machen bezüglich der Sicherheits- und Drogenproblematik entlang der U6 und die Gesetzesänderung hat den Menschen Sicherheit gegeben“, schildert Veronika Mickel, ÖVP-Bezirksvorsteherin des 8. Wiener Gemeindebezirks. Für die städtische Politik und die Bezirksvertretungen ist die Zufriedenheit der wahlberechtigten Bevölkerung entscheidend. Das Sicherheitsgefühl hat aber oft wenig mit der realen Bedrohungslage zu tun, sondern ist äußerst subjektiv. „Es gibt heute nachweislich weniger Kriminalität, trotzdem haben wir als Gesellschaft das Gefühl, in einer unglaublich gefährlichen Zeit zu leben“, erklärt Neustart-Leiter Tsekas.

Dabei wird das Problem oft erst durch mediale Panikmache als solches wahrgenommen. In der aktuellen Diskussion spielt auch Rassismus eine große Rolle. Zwar sind laut Michael Dressler von der Sucht- und Drogenkoordination mindestens die Hälfte der im Drogenhandel Tätigen Österreicher_ innen. Diese werden aber in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen. Als störend empfunden wird die Anwesenheit von „fremden Männern“ in den U6-Stationen. Gerade aber die Dealer (der Straßenverkauf von Cannabis ist ein fast ausschließlich männliches Business), die aus Nigeria, Marokko, Algerien, Afghanistan oder Tschetschenien kommen, haben oft keine andere Erwerbsmöglichkeit, da sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. „Wenn ich keine Transferleistungen des Staates bekomme, aber auch nicht legal arbeiten darf, habe ich nur die Möglichkeit, mir auf andere Weise Geld zu beschaffen“, erklärt Tsekas. Den Leuten sei es dann lieber, leichte Drogen zu verkaufen, als bewaffnete Raubüberfälle zu begehen.

Michael Dressel dagegen zeigt sich überzeugt, dass gegen den öffentlichen Drogenhandel nur polizeiliche Maßnahmen helfen. Daher hat sich auch die Sucht- und Drogenkoordination für die aktuelle Gesetzesänderung stark gemacht. Der maßgebliche Input kam allerdings von der Exekutive selbst, erklärt Roman Hahslinger, Sprecher der Landespolizeidirektion Wien: „Unsere Anregung war es, den Drogenhandel strenger unter Strafe zu stellen.“ Denn wenn die gesetzlichen Bestimmungen schärfer seien, so Hahslinger, könne eine festgenommene Person in Untersuchungshaft überstellt werden und sei zumindest einmal eine gewisse Zeit lang weg vom Drogenhandel.

KAUFEN JA, VERKAUFEN NEIN. Die Menschen, die Haschisch oder Marihuana entlang der U6 kaufen, sind in der Regel „sozial integriert“, heißt es von Seiten der Sucht- und Drogenkoordination. „Das sind Leute, die kiffen wollen und sich schnell was kaufen“, meint Dressel. Dass die neue Rechtslage zu weniger Konsum führen wird, glaubt er nicht: „Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wenn die Leute kiffen wollen, dann werden sie sich das irgendwo besorgen.“ Für Dressel ist wichtig, dass sich die Arbeit der Exekutive nicht gegen die Konsument_innen richtet. Die Kriminalisierung der Käufer_innen sei in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zurückgegangen, erzählt er.

Dies ist ein Indiz dafür, dass der Konsum von Hanfprodukten in den letzten Jahren gesellschaftlich immer mehr toleriert, der Cannabisverkauf allerdings nach wie vor als Störung der öffentlichen Sicherheit empfunden wird. Die damit einhergehende Politik, die zwischen Duldung und Repression schwankt, geht auf Kosten der Dealer_innen. Doch wer auf der Straße Marihuana verkauft, tut das in kleinen Mengen und baut Cannabis nicht selbst an. Darüber hinaus sind die meisten Händler_innen mittellos und können sich oft nicht einmal die Miete leisten.

Während das neue Suchtmittelgesetz das Ziel verfolgt, Cannabishändler_innen zwischenzeitlich aus dem Verkehr zu ziehen, würde es wohl eine nachhaltigere Wirkung zeigen, wenn man legale Erwerbsmöglichkeiten zulässt. Zielführender wäre daher eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber_innen, aber auch für „Geduldete“, also Menschen mit negativem Asylbescheid, deren Abschiebung aber legal nicht durchführbar wäre. Nikolaus Tsekas sieht die aktuelle Debatte als guten Anlass, um auch in Österreich Modelle anderer Staaten zu diskutieren, in denen Cannabis in den letzten Jahren erfolgreich legalisiert wurde. Denn der Handel und Konsum von Hanfprodukten findet mit oder ohne strengere Gesetze statt.

Die Novelle des Suchtmittelgesetzes wirkt wie eine Kompromisslösung zwischen konservativen und links-liberalen Kräften: Die einen wollen, dass Drogen und Armut im öffentlichen Raum nicht sichtbar sind, die anderen wollen, dass Cannabiskonsument_ innen unbehelligt bleiben. Abgewälzt wird der Konflikt auf die, denen nichts anderes übrig bleibt, als Haschisch und Marihuana zu verkaufen. Denn wer nicht wählen darf, für den wird auch keine Politik gemacht.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Weder Hustenzuckerl noch Taschentücher annehmen

  • 05.12.2015, 19:40

Schlepperei als soziales Phänomen und juristischer Straftatbestand wurden in den letzten Jahren zu einem öffentlich breiter diskutierten Thema. Wen Strafverfolgung in der Praxis trifft, ist aber selten Teil der Debatte.

Schlepperei als soziales Phänomen und juristischer Straftatbestand wurden in den letzten Jahren zu einem öffentlich breiter diskutierten Thema. Wen Strafverfolgung in der Praxis trifft, ist aber selten Teil der Debatte.

Die erste Facebook-Einladung zu einem Fluchthilfe- Konvoi bekam ich im September. Angst davor, auf „Teilnehmen“ zu klicken, hatte ich keine. Dabei ist Fluchthilfe in Österreich strafbar. Warum ich keine Angst hatte? Weil ich mutig bin? Wohl kaum. Weil ich naiv bin? Nein, das drohende Strafausmaß war mir bewusst. Warum also dann?

Die Fluchthilfe-Konvois erregten in den letzten Monaten Aufsehen damit, von Österreich aus nach Ungarn zu fahren, um Flüchtende am Rückweg über die Grenze mitzunehmen. Diese Konvois verstanden ihr Handeln nicht nur als Hilfeleistung, sondern auch als politisch-symbolischen Akt, der der Kriminalisierung von Fluchthilfe etwas entgegensetzt.

Eine Frau, die öffentlich dazu steht, Fluchthilfe zu leisten, ist Anahita Tasharofi, Gründerin und Obfrau des Vereins „Flucht nach vorn“. Mit Slogans wie „Ich bin Fluchthelferin und stolz darauf“ versucht ihr Verein die Kriminalisierung von Fluchthilfe öffentlich zu thematisieren, um kriminalisierten Menschen Mut zu machen, sich Unterstützung zu holen. „Wir wollen den Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind, dass Zivilcourage kein Verbrechen ist“, sagt Tasharofi im Interview. Eine Anzeige wegen Schlepperei handelte sich Tasharofi ein, als sie mit einem Mitarbeiter des Innenministeriums in Konflikt geriet. Dass gegen sie ermittelt wurde, sieht Tasharofi als Einschüchterungsversuch.

DIE POLITISCHE FUNKTION DES SCHLEPPEREI-VORWURFES. Im §114 Fremdenpolizeigesetz (FPG) wird Schlepperei – die Förderung der Einreise oder Durchreise von „Fremden“ – als Straftat definiert, wenn eine Gegenleistung (Entgeltlichkeit) im Spiel ist. Aber auch ohne Gegenleistung ist Fluchthilfe nach §120 FPG strafbar, wenn auch nur als Verwaltungsübertretung.

Dass der Schlepperei-Vorwurf gerne verwendet wird, um politischen Aktivismus zu diskreditieren, zeigte sich 2014 im sogenannten Schlepperei-Prozess gegen Aktivisten des Refugee Protest Camps. Die Verhaftungen der Angeklagten im Sommer 2013 gingen mit einem großen Medienspektakel einher. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach davon, dass es sich um eine brutale Schlepperbande handle, die schwangere Frauen am Weg zurücklasse. Von 30 Millionen Euro „Schlepperumsatz“ war die Rede. Dass all diese Vorwürfe der Diffamierung einer lästig gewordenen Protestbewegung dienten, lag für manche von Anfang an auf der Hand und wurde spätestens im Laufe des Prozesses bestätigt. Denn all diese Vorwürfe waren nicht Verhandlungsgegenstand: Es ging immer nur um Kleinstbeträge zwischen 20 und 30 Euro. Fast alle Angeklagten bekannten sich dazu, andere Geflüchtete bei der Durchreise durch Österreich unterstützt zu haben. Verdient hätten sie daran nichts, oft sogar aus der eigenen Tasche draufgezahlt, etwa wenn sie sich um Zugtickets kümmern mussten. Als Prozessbeobachterin für „Nachrichten auf ORANGE 94.0“ konnte ich miterleben, wie weit die Entgeltlichkeit gefasst werden kann. Jede Erwähnung von Kleinstbeträgen in den abgehörten Telefonaten wurde zu einem Indiz für die angebliche Schleppertätigkeit. Auch wurde die Annahme von Essen als „Schlepperlohn“ ausgelegt.

Als im Dezember 2014 ein Großteil der Angeklagten wegen §114 FPG verurteilt wurde, war die Empörung groß. Übersehen wurde dabei aber, dass das Urteil sehr „milde“ war, wenn es mit anderen Verfahren nach §114 mit ähnlicher Sachlage verglichen wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Strafausmaß ohne die mediale Beobachtung weit höher gewesen wäre.

BETROFFENE PREKARISIERTE OHNE RÜCKHALT IN DER ÖFFENTLICHKEIT. Ein ähnliches Phänomen ist im Fall Tasharofi zu beobachten. Die Ermittlungen gegen die Gründerin des Vereins „Flucht nach vorn“ wurden nach kurzer Zeit eingestellt. Tasharofi führt das nicht nur auf mangelnde Beweise, sondern auch auf öffentliche Aufmerksamkeit zurück: „Der Unterschied zwischen mir und den anderen Menschen, die als Schlepperin oder als Schlepper angezeigt wurden, ist, dass ich durch meinen Verein mehr in der Öffentlichkeit stehe.“ Tasharofi ist breit vernetzt, steht laut für ihre Rechte ein und hat einen guten Anwalt. Im Interview erzählt sie, dass sich nach der Anzeige gegen sie viele Menschen bei ihr gemeldet und ihr erzählt hätten, dass sie selbst, Verwandte oder Freund_innen auch davon betroffen seien. „Sie haben keine Anwält_innen, können sich die Kosten nicht leisten, es gab keine öffentliche Aufmerksamkeit und sie trauten sich auch nicht, das öffentlich anzusprechen“, erklärt Tasharofi.

Gefährdet ist also weniger die Fluchthilfe-Konvoi- Bewegung, die gut informiert und vernetzt ist und weiß, dass sie von einer mitfahrenden Person weder Hustenzuckerl noch Taschentücher annehmen darf, um sich nicht der entgeltlichen Schlepperei schuldig zu machen. Gefährdet sind auch nicht jene, die Menschen unter lebensbedrohlichen Bedingungen in Lastwägen pferchen. Gefährdet sind Menschen, die ihre Verwandten und Bekannten über die Grenze bringen und sich dabei das Benzingeld aufteilen. Gefährdet sind auch Taxifahrer_innen, die den normalen Fahrpreis für die Fahrt über die Grenze kassieren. Menschen in prekären Lebensverhältnissen, die auf Pflichtverteidiger_innen angewiesen sind und keinen Rückhalt in der Öffentlichkeit haben, sind es, die letztlich wegen Schlepperei zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden, weil sie Menschen beim Grenzübertritt geholfen haben.

Nach dem „Schlepperei-Prozess“ 2014 wurden Forderungen nach einer Reform des §114 FPG laut. Mit der aktuellen Situation ist die Aussicht auf eine Reform aber in weite Ferne gerückt. Die europäische Asylpolitik macht Schlepperei erst notwendig, indem sie keine legalen Fluchtwege zulässt. Ihre Vertreter_ innen hüten sich davor, Fluchthilfe zu entkriminalisieren, denn das würde auch die Flucht nach Europa erleichtern.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit, im Journalismus und in der Sozialarbeit tätig.

„Erinnern heißt auch handeln“

  • 05.12.2015, 12:48

Der Verein Erinnern Gailtal präsentiert sein neues Buch „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“.

Der Verein Erinnern Gailtal präsentiert sein neues Buch „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“.

Der Verein Erinnern Gailtal und sein Obmann Bernhard Gitschtaler bekamen 2014 mediale Aufmerksamkeit durch einen Prozess, den sie gegen die FPÖ führten. 2015 ist der Anlass dafür erfreulicher: Bernhard Gitschtaler gibt sein zweites Buch heraus. „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“, welches sich 200 Biographien von Opfern aus dem Tal im Südosten Kärntens widmet.

In den vielschichtig aufgearbeiteten Geschichten der Opfer werden die Kontinuitäten der Diskriminierung vor und nach der NS-Zeit deutlich. Die Diskriminierung der Kärntner Slowen_innen im 19. Jahrhundert findet ebenso Eingang in das Buch wie die fehlende Entschädigung von Jüd_innen nach 1945. Damit werden die Ereignisse während des Nationalsozialismus politisch und historisch kontextualisiert. Diese Kontextualisierung „soll es ermöglichen, die jeweiligen Biographien und Leidensgeschichten besser zu verstehen“ und damit, so Gitschtaler, „auch Menschen, die sich mit der Thematik noch nicht befasst haben, einen Zugang ermöglichen“. Das ist ihm und seinen Autor_innen definitiv gelungen und so richtet sich das Buch an ein breites Publikum und nicht nur an Historiker_innen und eingearbeitete Antifaschist_innen.

Aber auch für diese hat der Band einiges zu bieten, ist er doch der erste, der aller NS-Opfer aus dem Gailtal erinnert.Die Biographien werden in thematische Gruppen zusammengefasst, denen jeweils ein Kapitel vorangestellt ist, in dem die nationalsozialistische Verfolgung der Opfergruppe – sowohl allgemein im gesamten NS-Staat als auch konkret im Gailtal – beschrieben wird.

Der Band beginnt mit der Recherche zur SS-Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gegen sogenannte Asoziale, eine Opfergruppe, die erst langsam und viel zu spät im Erinnerungsdiskurs ihren Platz findet. Es folgt ein ausführlicher Beitrag von Wolfgang Haider über die Opfer der NS-„Euthanasie“. Gerade bei dieser Gruppe, schreibt Haider, sei es lange üblich gewesen, nur die Vornamen der Opfer zu nennen und sie damit aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Durch die Opferbiographien wird klar, wie viele Personen sich ihrer Behandlung widersetzten – dadurch wird mit dem Stereotyp des passiven Opfers gebrochen. Im Buch werden erstmals alle NS- „Euthanasie“-Opfer aus dem Gailtal genannt. Viel recherchiert wurde hier auch zu den Täter_innen: Der Abschnitt bearbeitet die Rolle der Ärzt_innen und Pfleger_innen und gibt einen tiefen Einblick in deren Mordpraktiken, Ideologie und Autoritätshörigkeit.

Rom_nija und Sint_ezze, Homosexuelle, Jüd_innen, Kärntner Slowen_innen, Geistliche, Zeugen Jehovas, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter_innen, Widerständige, Deserteure, politisch Andersdenkende und Kritiker_innen des NS-Regimes erfahren in „Ausgelöschte Namen“ eine würdige Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus. Die Geschichte dieser Opfergruppen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen verfolgt und ermordet wurden, wird ausführlich erklärt und konkret auf die Region bezogen.

Über die ausgelöschten Namen hinaus wird im Buch die Geschichte des Gailtals während des Nationalsozialismus erzählt. Die Leser_innen erfahren vor allem viel über die Partisan_innen im Tal – ein Thema, das in Kärnten wie auch im restlichen Österreich lange totgeschwiegen wurde und sehr umkämpft ist. Im unteren Gailtal formierte sich 1943 die Gruppe der Schütt-Partisan_innen, die heute noch ein großes Tabu darstellt.

Einziges Manko des Buches stellt das Kapitel über Homosexuelle im NS dar, das vorgibt, sich mit der Geschichte homosexueller Männer und Frauen zu beschäftigen, de facto zweitere aber außen vor lässt. Das zeigt sich schon im Titel „Der Rosa Winkel – Homosexuelle als NS-Opfer“. Frauen trugen keine rosa Winkel. Lesben wurden nicht systematisch verfolgt, aber dennoch oft als sogenannte Asoziale in KZs gebracht und mit einem schwarzen Winkel versehen. Diese Tatsache wird im Buch leider nicht erwähnt.

Der Androzentrismus spiegelt sich auch in der Sprache des Buches wider. Es kann darüber diskutiert werden, ob der deutschsprachige Buchmarkt es verunmöglicht zu gendern. Wenn sich die Autor_innen aber dazu entschließen, ausschließlich die männliche Form zu verwenden, dann sollten sie auch im Kapitel zur NS-„Euthanasie“ konsequent bleiben und Pflegerinnen bei den Pflegern „mitmeinen“ und nicht durchgehend die sexistische Bezeichnung „Schwestern“ unnötigerweise hinzufügen.

Bei der Lektüre wird immer wieder deutlich, wie sehr im Gailtal versucht wurde und wird, die NS-Opfer aus dem kollektiven Gedächtnis der Region zu löschen. Dem versucht das Buch etwas entgegenzusetzen. Dabei legen die Autor_innen ihren Forschungsprozess offen dar und erzählen davon, dass es ihnen wichtig war, die persönlichen Erfahrungen der Opfer miteinzubeziehen, dass ihnen des Öfteren Steine in den Weg gelegt wurden und dass sich die Recherche manchmal schwierig gestaltete.

„Erinnern heißt auch handeln“, heißt es im Vorwort zu „Ausgelöschte Namen“, und der Herausgeber erklärt, dass Erinnerungsarbeit nur dann erfolgreich sein könne, wenn sie eine Sensibilisierung für die Ausgrenzungsmechanismen der heutigen Zeit schaffe. Diese aufklärerische Herangehensweise zeichnet das Buch ebenso aus wie die sehr aufwendige und genaue Recherchearbeit.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus und in der Sozialarbeit tätig.

Land der Papierberge

  • 24.06.2015, 13:51

Die Studienjahre sind angeblich die schönste Zeit des Lebens. Doch wenn Geld für die Miete fehlt, bleibt wenig Zeit zum Nietzsche-Lesen oder Bier-Pong-Spielen. Viele sind daher auf Studienbeihilfe angewiesen – Garantie gibt es keine. Über ein System, das in seinem Regelwerk zu ersticken droht.

Die Studienjahre sind angeblich die schönste Zeit des Lebens. Doch wenn Geld für die Miete fehlt, bleibt wenig Zeit zum Nietzsche-Lesen oder Bier-Pong-Spielen. Viele sind daher auf Studienbeihilfe angewiesen – Garantie gibt es keine. Über ein System, das in seinem Regelwerk zu ersticken droht.

Zwischen 350 und 450 Euro kostet ein Zimmer
in Wien, das heute unter die Bezeichnung „Normalpreis“ fällt. Nach oben hin sind keine Grenzen gesetzt. Ungefähr 15 bis 25 Quadratmeter Wohnraum hat man dann ganz für sich. Der Rest, also Bad, Toilette und Küche, wird geteilt – mindestens mit einer weiteren Person. 475 Euro beträgt der Maximalbetrag an Studienbeihilfe für Studierende, die nicht am Wohnort ihrer Eltern leben. Daraus ergibt sich eine einfache Rechnung: In einem Monat mit günstigstem Mietpreis und höchster Studienbeihilfe bleiben dann bestenfalls 125 Euro zum Leben. Skripten, Nahrungsmittel, Semesterticket sind da noch zu bezahlen. Auch mit einem Platz im Studierendenheim um etwa 300 Euro wäre ein Studileben so nicht finanzierbar. Und dabei ist den Höchstbetrag an Beihilfe zu erhalten eher Wunschtraum als Realität.

Von Seiten der Stipendienstelle heißt es dazu, dass die Studienbeihilfe keine Finanzierung des Studiums sei, sondern eine Unterstützung, die dazu beitragen solle, den Lebensunterhalt zu sichern. 2013/14 reichten 60.658, also 16 Prozent aller Studierenden, einen Beihilfeantrag ein. Für junge Menschen, die am Wohnort der Eltern studieren, beträgt die Höchststudienbeihilfe 424 Euro im Monat. Studierende, die nicht am Wohnort der Eltern studieren, Vollwaisen, verheiratete oder verpartnerte Studierende, Studierende mit Kind und Studierende, die sich vor Studienbeginn vier Jahre selbst erhalten haben, bekommen höchstens 606 Euro. Davon wird allerdings noch die Familienbeihilfe abgerechnet, wenn sie bezogen wird. Auch abgezogen werden die „zumutbaren Unterhaltsleistungen“ der Eltern oder (Ehe-)Partner_innen beziehungsweise die Alimentenansprüche. Studierende mit erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen bekommen einen Zuschlag, ebenso wie Studierende mit Kind, wenn sie die Sorgepflicht haben. Dieser Betrag wird dann um zwölf Prozent erhöht, um die Höhe der Studienbeihilfe zu errechnen. Die Höchststudienbeihilfe beträgt real entweder 475 oder 679 Euro. Im Jahr 2013/14 haben 6,4 Prozent der Studierenden diese erhalten.

Foto: Alexander Gotter

RECHTSANSPRUCH MACHT NICHT SATT. Doch selbst von einem Mindestmaß an Beihilfe können manche Studierende nur träumen. So auch Julian Hofmayr: Der 23-Jährige studiert Biologie im achten Semester und hat in seinem ersten Semester Studienbeihilfe beantragt. Bekommen hat er nichts, nur einen Brief mit der Information, dass Beihilfen unter fünf Euro nicht ausgezahlt werden. Damals war er verzweifelt: „Ich habe angesucht und bin davon ausgegangen, dass ich aufgrund der gesamten Situation Beihilfe bekomme. Vor allem, weil der Studienbeihilfenrechner im Internet angezeigt hat, dass ich Anspruch auf ein paar hundert Euro hätte.“ Er rief bei der Stipendienstelle an und es wurde ihm gesagt, sein Vater würde zu viel verdienen, wenn auch nur sehr knapp, 20 Euro nämlich. Julians Eltern leben getrennt. Von seinem Vater bekommt er 450 Euro Alimente, damals, im ersten Semes
ter, waren es 400. Für ihn ist die Berechnung der Stipendienstelle nicht nachvollziehbar: „Es zählte im Grunde das Einkommen meines Vaters. Dass meine Mutter kein Einkommen hat, wurde nicht berücksichtigt. Ich hab’ es aber nicht noch einmal versucht, weil mir klar zu verstehen gegeben wurde, dass ich einfach nichts bekomme.“

Julian jobbt daher im Bauhaus, um über die Runden zu kommen. Seine Situation ist keine Ausnahme. Die gerichtlich festgesetzten Alimente werden von der Höchststudienbeihilfe abgezogen. Auch die Familienbeihilfe, die Julians Mutter für ihn bezieht, wird abgezogen. Von den 606 Euro, die ihm zustehen würden, bleibt dann nicht mehr viel übrig. Die Hälfte der Familienbeihilfe überlässt er ohnehin seiner Mutter. Doch selbst wenn er die Familienbeihilfe und Alimente zur Gänze bekommen würde, 600 Euro würden nicht zum Leben reichen.
Suzana Stojanovic vom Sozialreferat der ÖH-Bundesvertretung weiß, dass sogenannte Scheidungskinder bei der Studienbeihilfe oft leer ausgehen. Wenn der unterhaltspflichtige Elternteil, in den meisten Fällen der Vater, die Alimente nicht zahlt, bleibt den Studierenden tatsächlich keine andere Möglichkeit, als den eigenen Vater zu klagen.

STUDIENEINGANGSKLAGE. Dass Eltern die gesetzlich vorgesehene Unterstützung, den Unterhalt, verweigern, trifft aber nicht nur Studierende mit getrennten Eltern. Ob Eltern das Studium ihrer Kinder unterstützen, hängt nicht nur vom Einkommen ab, sondern auch davon, welche Einstellung zum Studium und welche Beziehung sie zu den Kindern haben. Während manche Eltern gar nichts zahlen, finanzieren andere Eltern über den Pflicht- unterhalt hinaus die gesamten Lebenskosten ihrer studierenden Kinder. Wenn die Eltern genug verdienen, aber das Studium ihres Kindes nicht unterstützen wollen, bleibt der Gang zum Gericht der einzige Ausweg. Das ist natürlich für viele undenkbar, daher verzichten viele Studierende lieber auf ihren gesetzlichen Anspruch und darauf, ihre eigenen Eltern zu klagen, und finanzieren sich – ohne Studienbeihilfe – das gesamte Studium selbst. Oft fällt dann sogar die Familienbeihilfe weg, weil sie von den Eltern bezogen wird. „Mit 18 Jahren ist man volljährig“, sagt Stojanovic, daher sei es absurd, als Studierende_r noch von der Willkür der Eltern abhängig zu sein.
Aus diesen Gründen sieht zum Beispiel die Österreichische Hochschüler_innenschaft (ÖH) ein Problem darin, dass die Studienbeihilfe an das Einkommen der Eltern gekoppelt ist. Die ÖH fordert auch die Anpassung der Studienbeihilfe an die Mindestsicherung. Diese wird jährlich der Inflation angeglichen und beträgt heuer 828 Euro im Monat (Zum Vergleich: Die Armutsgrenze liegt bei 1.104 Euro monatlich.), während die Studienbeihilfe nur alle paar Jahre angepasst wird, zuletzt 2007. Sie macht nur wenig mehr als die Hälfte der Mindestsicherung aus. „Das Gesetz erkennt bei der Mindestsicherung an, dass ein Mensch 828 Euro zum Leben braucht und Studierende bekommen höchstens 475 Euro. Das ist ein Widerspruch in sich“, meint Stojanovic.

STEMPELKISSENWEITSPRINGEN. Zahlreiche Undurchsichtigkeiten, die die Zuteilung und das Ausmaß der Unterstützung betreffen, begleiten den Weg durch das bürokratische Wirrwarr. Die 21-jährige Helene Friedinger meint: „Nur mit der Studienbeihilfe würde ich nicht über die Runden kommen. Deswegen muss ich nebenbei auch noch arbeiten.“ Sie studiert im sechsten Semester Musikwissenschaften an der Universität Wien. Seit vier Semestern ist sie nun auch für Bildungswissenschaften inskribiert. Studienbeihilfe bezieht sie nun für Letzteres, seitdem sie nach zwei Semestern ihre Beihilfe von Musik- auf Bildungswissenschaften ummelden hat lassen – pünktlich im befristeten Zeitraum bis Mitte Dezember des begonnenen dritten Semesters. Danach erhielt sie um 30 Euro im Monat mehr an Beihilfe, obwohl die Höhe der Förderung eigentlich immer zu Beginn des Wintersemesters neu berechnet wird und die Wahl des Studiums mit der Beihilfenhöhe eigentlich nicht zusammenhängt, wie die Stipendienstelle progress mitteilte. Dennoch erhält Helene seit ihrem „Wechsel“ also ganze 360 Euro mehr im Jahr, ohne dass sich außer einer Zeile in einem Formular irgendetwas geändert hätte.

Foto: Alexander Gotter

Der Kalender der 21-Jährigen ist voll: Uhrzeiten über Uhrzeiten, in vielen verschiedenen Farben markiert, reihen sich aneinander. Termine für Seminare, Vorlesungen, Gruppentreffen, abzugebende Haus- und Seminararbeiten – multipliziert mit dem Faktor zwei: für ihre beiden Studienfächer natürlich. Daneben bleibt wenig Zeit für anderes. Doch diese übrige Zeit muss die Studentin nutzen, um ihre Lebensgrundlage zu sichern: 35 bis 40 Stunden im Monat arbeitet sie als persönliche Assistentin, nebenbei noch etwa vier Stunden pro Woche als Babysitterin. Das ist der Preis, den es zu zahlen gilt, wenn das Interesse über mehr als eine Studienrichtung hinausgeht.

Denn gerade für Studierende mit Doppelstudium wird es nach Abschluss des Bachelors für den Erhalt der Studienbeihilfe schnell kompliziert: Zwischen Ende des Bachelors und dem Beginn des Masterstudiums dürfen nämlich nur 30 Monate liegen. „Die Gesetzgeberin will damit erreichen, dass nur Studierende mit Studienbeihilfe gefördert werden, die das weiterführende Studium auch rasch und zielstrebig aufnehmen“, erklärt die Stipendienstelle auf Nachfrage. Verlängert werden diese Fristen nur in Ausnahmefällen, etwa aufgrund eines Auslandssemesters, einer Schwangerschaft oder des Zivildienstes. Problematisch wird ein solcher Stichtag aber vor allem bei Studierenden mit zwei Studienfächern, die für das eine Studium Beihilfe beziehen und nach dessen Abschluss erst das zweite beenden. Bis das Masterstudium begonnen werden kann, sind 30 Monate dann oft schon vorbei – und damit der Anspruch auf Unterstützung. Da laut der Studierendensozialerhebung von 2011 über 60 Prozent der Studierenden arbeiten, kommen diese unter Zeitdruck. Denn jede_r Zehnte gab an, über 35 Stunden pro Woche erwerbstätig zu sein – ein Umstand, der zu einer erheblichen Studienzeitverlängerung führt. Zusätzlich kann in dieser Zeit auch die Bereitschaft, ein neues Studium mit all dem einhergehenden bürokratischen Ballast anzufangen, sinken.

Die Regelungen des Beihilfensystems gehen also an der studentischen Lebensrealität komplett vorbei. Der Leistungsdruck an den Universitäten steigt und ein Studium in Mindeststudienzeit ist – auch ohne Nebenjob – kaum noch zu schaffen. Für den Bezug der Beihilfe wird aber ein positiver Studienerfolg von 30 ECTS im ersten Jahr erwartet. Gerade weil die Beihilfe den Lebensunterhalt nicht sichert und viele Studierende arbeiten gehen müssen, ist sie als fehlgeschlagene Maßnahme zu beurteilen.

GEHEIMGÄNGE. Besonders schwer haben es ausländische Studierende bei der Beantragung von Studienbeihilfe. Auch die Studienbeihilfenbehörde selbst kann dazu keine genauen Auskünfte geben. Gilbert Gmoyen vom ÖH-Referat für ausländische Studierende der TU Wien erzählt: „Die Beratung wird immer schwieriger, weil sich die gesetzlichen Regelungen ständig ändern und nie klar ist, was der aktuelle Stand ist.“ Selbst von der Stipendienstelle Wien bekommt progress die Antwort, dass zur Anspruchsberechtigung ausländischer Studierender keine Auskünfte erteilt werden könnten, weil die jetzigen Regelungen vermutlich bis zur kommenden Antragsfrist im Herbst nicht mehr aktuell sein würden. Studierende aus dem Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz haben unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf Beihilfe, eingeschränkt gelten diese auch für türkische Studierende. Student_innen aus anderen Ländern gehen leer aus, es sei denn, sie verfügen über die „Daueraufenthaltskarte EU“.

FAMILIEN(UN)RECHT. Christina Trinkl erhält von der Stipendienstelle keine Beihilfe, obwohl ihre Eltern beide nicht genug verdienen und sie deshalb jeden Samstag zehn Stunden im Supermarkt an der Kasse und nebenher noch als Babysitterin arbeitet. Viele ihrer Studienkolleg_innen allerdings bekommen eine Beihilfe und das obwohl deren Eltern mehr verdienen als ihre eigenen. Zweimal hat sie es nun bereits probiert und immer eine einzeilige Ablehnung erhalten. „Ich verstehe einfach das System dahinter nicht“, sagt sie. Im nächsten Semester wird nun auch ihre Schwester zu studieren beginnen, dann wird sie es ein weiteres Mal versuchen – dieses Mal hoffentlich mit Erfolg. Denn die Anzahl und das Alter der Geschwister wird bei der Berechnung miteinbezogen, wenn diese selbst Studien- oder Familienbeihilfe beziehen oder bei den Eltern mitversichert sind, und wirkt sich günstig auf den Beihilfenanspruch aus. Umgekehrt wird die Studienbeihilfe gekürzt, wenn die Geschwister selbständig werden. Das war etwa bei Helene der Fall. Letztes Jahr begann ihr Bruder mit dem Zivildienst und ihre Schwester zu arbeiten. Dadurch erhielt die Studentin der Musik- und Bildungswissenschaften 70 Euro weniger im Monat als zuvor. Was Trinkl und Friedinger eigentlich dafür können, dass sie Geschwister haben, bleibt offen.

Ein weiteres, regelmäßig auftretendes Problem ist es, wenn Eltern in Pension gehen und eine einmalige Abfertigung bekommen. Dann fällt oft im gesamten nächsten Jahr der Anspruch auf Studienbeihilfe weg. Es zeigt sich auch in dieser Regelung wieder die starke Koppelung der Beihilfe an die Familie, die sehr bürokratisch und oft weltfremd ist.

SCHREIBTISCHKÄMPFE. „Studieren muss für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein. Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren sowie geringe Toleranzsemester stellen vor allem für Arbeiter_innenkinder und Studierende mit Kind oder anderen Betreuungsverhältnissen unüberwindbare Hürden dar. Ein sorgenfreies selbstbestimmtes Studileben ist also nur möglich, wenn man von zuhause unterstützt wird. Denn das Beihilfensystem ist schon lange kein soziales Auffangnetz mehr – die durchschnittliche Ausbezahlungshöhe beträgt laut Studierendensozialerhebung nämlich gerade einmal 230 Euro“, sagt Lucia Grabetz, die Sozialreferentin der ÖH-Bundesvertretung. Die ÖH fordert vom Staat, die Finanzierung der gesamten Ausbildung zu gewährleisten. Das sei seine Aufgabe und Pflicht und notwendig, da sonst nicht unterbunden werden kann, dass Bildung in Österreich „vererbt“ wird (vgl. Seite 14). Die Studienbeihilfenbehörde sieht das anders: Die Beihilfe sei eben nur eine Beihilfe.

„Gespräche des ÖH-Sozialreferats mit dem zuständigen Wirtschaftsministerium und der Stipendienstelle gibt es bereits regelmäßig und da bringt die ÖH ihre Änderungsvorschläge auch ein“, so Stojanovic. Bisher haben diese Gespräche allerdings wenig an den alten bürokratischen Regelungen gerüttelt. Die Behörde rät jedenfalls allen Studierenden einen Antrag zu stellen, weil aktuell auch viele, die eigentlich rechtlichen Anspruch darauf haben, gar keine Beihilfe beantragen. Der österreichische Weg eben: Bürokratie mit noch mehr Bürokratie bekämpfen, statt eine politische Lösung zu finden.
 

Katharina Gruber studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien. 
Anne Schinko studiert Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien.

Von der Fantasie, die Welt zu retten

  • 11.05.2015, 08:36

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Viele junge Europäer_innen „helfen“ und „erweitern ihren Horizont“ durch Freiwilligendienste im Ausland. Aber brauchen die Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika überhaupt unsere Hilfe? Über koloniale Denkmuster und rassistische Überlegenheitsgefühle.

Natalie aus Vorarlberg wollte nach der Matura so weit weg wie möglich – und dabei etwas Sinnvolles tun. Till aus Norddeutschland wollte nach dem Abitur die Entscheidung für ein Studium um ein Jahr verschieben, etwas von der Welt sehen – und etwas Gutes machen. Oleksandr aus der Ostukraine wollte nach dem Bachelor etwas Neues entdecken, sich weiterentwickeln – und sich an einer guten Sache beteiligen. Alle drei haben einen sogenannten Freiwilligendienst in einem anderen Land gemacht und bleiben hier lieber anonym. Wer wo hingeht, ist aber kein Zufall, sondern von globalen Machtverhältnissen diktiert.

VON DER FANTASIE... „Die Motivationen, einen Freiwilligendienst zu absolvieren, sind unterschiedlich“, meint Jana Herbst. Als Trainerin begleitet sie im Rahmen von Vor- und Nachbereitungsseminaren für verschiedene Organisationen junge Menschen, die sich ein Jahr im Ausland engagieren wollen. Herbst hat Internationale Entwicklung studiert und legt in ihren Seminaren den Schwerpunkt auf die Sensibilisierung für Rassismus und (post)koloniale Strukturen. „Ich begrüße es, wenn junge Menschen sich engagieren wollen und eine neue Sprache, ein neues Land oder die eigenen Grenzen in einem anderen Setting kennenlernen wollen“, sagt die Trainerin. Die Freiwilligen müssten sich aber bewusst sein, dass es vor allem um die eigene Erfahrung geht. Herbst beobachtet, dass das meist nicht der Fall ist. Die eigene Erfahrung ist den Freiwilligen vor ihrem Auslandsaufenthalt zwar auch wichtig, im Mittelpunkt steht aber der Wunsch zu helfen. Sehr oft haben die Freiwilligen ein exotisierendes und stereotypes Bild von Asien, Lateinamerika oder Afrika: „Es ist eine koloniale Vorstellung zu glauben, anderen zeigen zu können, wie es besser geht und was der richtige Weg ist.“

Illustration: Marlene Brüggemann

Die Menschen im Globalen Süden werden dabei als Objekte gedacht, denen geholfen werden muss. Diese Logik entspringt einem Überlegenheitsgefühl, das auf den europäischen Kolonialismus zurückgeht. In der weißen Allmachtsfantasie vom Weltretten werden Schwarze Menschen beziehungsweise People of Color nicht als eigenständige Subjekte wahrgenommen, die ihr Leben selbst regeln können. Es wird ausgeblendet, dass die teilweise extremen Formen der Armut im Globalen Süden nicht auf die Unfähigkeit seiner Bewohner_innen zurückgeht, sondern auf die postkolonialen Machtverhältnisse im Kapitalismus. Diese strukturellen Probleme können nicht durch Freiwilligendienste gelöst werden.

Genau mit diesen Fantasien spielen aber so gut wie alle Organisationen, die Auslandsaufenthalte für Europäer_innen im Globalen Süden anbieten, kritisiert Herbst: „Sie arbeiten mit klassischen kolonialen Bildern auf ihren Homepages. Auf den Fotos wird beispielsweise ein weißer Freiwilliger mit einem Buch inmitten von Schwarzen Kindern abgebildet – eine klassische koloniale Ästhetik. Das ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, in dem der Globale Süden als andersartig dargestellt wird und als Objekt, das unserer Hilfe bedarf. Die Motivation der Freiwilligen wird damit bestätigt: zu helfen, die Welt zu verändern und aus einer erhabenen Position heraus bestimmen zu können, wer Hilfe braucht und wie diese Hilfe auszusehen hat.“

...UND DER REALITÄT. Die Erkenntnis, dass es doch nicht so einfach ist, die Welt zu retten, machen viele Freiwillige dann im Laufe ihrer Zeit im Ausland. Natalie, 28 und Lehramtsstudentin, war vor dem Studium fünf Monate in Ecuador. Unter anderem half sie einer alten Frau bei der Arbeit auf dem Feld, einer Schule beim Pflanzen von Bäumen im Schulhof und einer Sozialarbeiterin bei der Projektdokumentation. „Ich und die anderen Freiwilligen haben den Leuten bei alltäglichen Dingen geholfen, aber das hätten sie auch ohne uns geschafft“, erzählt Natalie. Heute sieht sie ihren Freiwilligendienst als eine Form von Tourismus. Damals war das anders: „Ich bin mit der Erwartung in die Projekte gegangen, etwas Sinnvolles machen zu können.“ Geholfen hat der Freiwilligendienst vor allem ihr selbst: „Ich bin kurz nach der Schule nach Ecuador gegangen und habe dort viel an Selbstverantwortung mitgenommen.“

 

Illustration: Marlene Brüggemann

Till ist heute 24 und studiert Internationale Entwicklung. Mit 19 Jahren war er zwölf Monate in Ruanda, wo er bei der Umweltorganisation ACNR arbeitete. Er war dort Bürokraft und Ansprechperson für Projektpartner_innen. Gemeinsam mit sogenannten Nature Clubs in Schulen in Kigali hielt er Seminare zu ökologischer Landwirtschaft. Dabei wurde ihm bewusst, dass er eigentlich sehr wenig Ahnung vom Thema hatte. „Bis auf mich und den zweiten Freiwilligen aus Deutschland haben in der Organisation nur Ruander_innen gearbeitet, die alle viel mehr Plan hatten. Das ist eigentlich eine ganz banale Erkenntnis, dass Leute, die das studiert haben, viel kompetenter sind als Leute, die gerade das Abitur gemacht haben.“ Würde Till das heute wieder machen, dann nur mit einer zumindest teilweise abgeschlossenen Ausbildung oder mit einem konkreten Plan, was er arbeiten will und wie er das umsetzen kann.

Dass der Einsatz im Ausland vor allem ein Lernfeld für die Freiwilligen selbst ist, wird ihnen kaum vermittelt, kritisiert Jana Herbst. Wenn sie davon erzählt, spricht sie nicht nur von den Freiwilligen in ihren Vor- und Nachbereitungsseminaren, sondern auch von sich selbst. Auch sie hat vor dem Studium Freiwilligendienst, in einem Kinderfreizeitzentrum in Honduras geleistet. Heute sieht sie ihre damalige Motivation sehr kritisch: „Ich wollte helfen, die Welt zu verändern und hatte ein sehr exotisierendes Bild von den Menschen in Honduras. Als ich dann dort war, habe ich gemerkt, dass ich nicht viel verändern kann, dass ich nicht einmal eine pädagogische Ausbildung habe und dass – umgekehrt – ich die Unterstützung der Menschen dort brauchte, um mich zurechtzufinden, die Sprache zu lernen und so weiter.“ Diese Erfahrung stoße bei einigen Freiwilligen einen Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen und weißen Privilegien an, erklärt die Trainerin. „Sie haben nicht die Welt verändert und es ging darum, dass sie selbst Hilfe brauchten. Sie erkennen, dass sie selbst sehr viel nehmen mussten und gar nicht so viel geben konnten, wie sie sich vielleicht gewünscht hätten.“

Jana Herbst kritisiert, dass koloniale Kontinuitäten und Rassismus bei den meisten Organisationen in der Vor- und Nachbereitung aber kaum Thema sind. „Es spricht nichts dagegen, ein freiwilliges soziales Jahr zu machen. Aber muss es in diesem kolonialen Setting sein? Die Frage ist, woher der Wunsch kommt, es im Globalen Süden zu machen, und was das reproduziert. Ich kann mich ja auch im europäischen Ausland engagieren“, merkt die Trainerin an.

Auch Oleksandr hat sich während seinem Freiwilligendienst gefragt: „Warum ist hier der Bedarf nach einem ausländischen Freiwilligen? Ich habe oft nicht gewusst, was von mir erwartet wird.“ Der 23-Jährige, der heute in Kharkiv (Ukraine) im IT-Bereich arbeitet, hat vor zwei Jahren seinen neunmonatigen Freiwilligendienst bei Lužánky, einem Freizeitzentrum für Kinder in Tschechien, angetreten. Dort hat er Workshops abgehalten, Veranstaltungen organisiert und beim Buffet geholfen. Die Arbeit mit Kindern war für ihn neu und die Sprache musste er erst lernen.

AUSTAUSCH AUF AUGENHÖHE? Auch bei einer guten Vor- und Nachbereitung der Freiwilligenarbeit bleibt die Ungleichheit bestehen. Die europäischen Freiwilligen im Globalen Süden befinden sich in einer privilegierten Situation. „Aus Mitteleuropa werden jährlich tausende Freiwillige entsendet. Das wäre umgekehrt nie möglich. Das ist ein massives Ungleichgewicht und eine machtvolle Position“, erklärt Jana Herbst.

Das schlägt sich auch in den Werbebildern nieder: Welche Organisation wirbt mit Fotos, auf denen eine Freiwillige aus Kolumbien oder Nigeria in einem österreichischen Kindergarten von lächelnden weißen Kindern umringt wird? Nur wenige Organisationen bieten Freiwilligendienste in Europa für Menschen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika an. Hinzu kommt die EU-Aufenthaltspolitik, die Menschen zahlreiche Barrieren in den Weg legt, wenn sie im Schengenraum Freiwilligenarbeit leisten wollen. Globale Bewegungsfreiheit gibt es nur für einen bestimmten Teil der Menschheit. Viele junge Menschen engagieren sich sozial, die Möglichkeiten, das auf anderen Kontinenten zu tun, haben aber nur wenige.

Oleksandr kommt zwar auch aus Europa, aber nicht aus der EU. Für ihn war es schwieriger als für Natalie und Till, sich einen Freiwilligendienst zu organisieren. Auf die Frage, warum er sich für EVS (European Voluntary Service) entschieden hat, um einen Freiwilligendienst zu machen, meint er: „Ehrlich gesagt war es die einzige Option. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für Menschen aus Drittstaaten, vor allem wenn du nicht aus einer reichen Familie kommst. Der EVS ist der einzige Freiwilligendienst, der dir die Möglichkeit gibt, ein Jahr im Ausland zu verbringen, und die Kosten dafür übernimmt.“ Leider gibt es kaum solche Angebote, die sowohl auf die koloniale Logik verzichten als auch für die Finanzierung sorgen. Auch Till musste die Kosten für sein Jahr in Ruanda nicht übernehmen. Einen Teil konnte er über einen Förderkreis aufstellen. Drei Viertel wurden vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung übernommen, denn in Deutschland gibt es „weltwärts“, ein staatliches Förderprogramm für Freiwilligeneinsätze. Dieses fördert auch den Verein Solivol, mit dem Till nach Ruanda ging und der sich für eine Nord-Süd-Kooperation zur nachhaltigen Energiegewinnung einsetzt.

Ein entsprechendes Förderprogramm gibt es in Österreich nicht. Natalie ging über die österreichische Entsende-Organisation „Grenzenlos“ nach Ecuador und musste die Kosten ihres Auslandsaufenthalts selbst übernehmen. Das begünstigt junge Menschen aus gutsituierten Familien. Positiv an „Grenzenlos“ ist, dass es einen gegenseitigen Austausch zumindest anbietet und internationale Freiwillige nach Österreich kommen können, erklärt Jana Herbst. In Deutschland wurde nach massiver Kritik an „weltwärts“ das Programm „weltwärts-Reverse“ eingeführt, in dem internationale Freiwillige nach Deutschland kommen können. Allerdings wird „weltwärts-Reverse“ in weit geringerem Ausmaß gefördert. Von einem gegenseitigen Austausch auf gleicher Augenhöhe ohne Rassismus und koloniale Kontinuitäten sind Freiwilligendienste also noch weit entfernt.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der Jugendarbeit sowie als freie Journalistin tätig.

 

Menschenrechtsverletzungen zur Terrorprävention

  • 23.03.2015, 21:26

Vorratsdatenspeicherung, Überwachung und höhere Ausgaben für Polizei und Militär: So sieht die aktuelle Antwort der Politik auf Terror aus. Tiefgreifende Maßnahmen zur Gewaltprävention fehlen.

Im Jänner kündigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner ein Maßnahmenpaket zum „Kampf gegen Terror“ an, das ca. 300 Millionen Euro kosten sollte. Und das nur wenige Tage nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris. Nicht nur in Österreich waren Terror und seine Prävention für einige Wochen das scheinbar einzig relevante Thema. Auch auf EU-Ebene wurden – und werden nach wie vor – Terrorpräventionsmaßnahmen diskutiert, deren Sinnhaftigkeit allerdings fragwürdig ist.

Sowohl in Frankreich als auch in Dänemark wird Vorratsdatenspeicherung betrieben, meint Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat). Trotzdem konnten die islamistischen Anschläge in Paris und Kopenhagen nicht verhindert werden. „Bei keinem der Anschläge der letzten Jahre in Europa hat es an Daten gemangelt.“ Dass jetzt in Österreich über eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telefonverbindungen diskutiert wird, ist daher unnachvollziehbar. Die EU-Richtlinie, die die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten vorsah, wurde im April 2014 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung war das Ergebnis einer Klage, die der AK Vorrat gemeinsam mit anderen Kläger_innen gegen die Richtlinie eingebracht hatte.

Wegen dieser EuGH-Entscheidung steht nun auch statt der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten jene von Reisedaten stärker im Fokus der Sicherheitspolitik. Sie würde eine anlasslose Massenüberwachung von allen Reisebewegungen darstellen. Für Lohninger ist klar, dass diese ebenso verfassungswidrig wäre. Sie würde unter anderem gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Recht auf Privat- und Familienleben – verstoßen. Es wären dann nicht mehr nur Kameras auf Bahnhöfen und Flughäfen, die unsere Reisen aufzeichnen. Die lückenlose Überwachung würde mit elektronischen Datenbanken, in denen alle Flugdaten gespeichert würden, erfolgen. Hier spielen auch migrationspolitische Interessen der EU eine Rolle. Das zeigt sich zudem in der Forderung nach verstärkten Grenzkontrollen, die zur Terrorprävention nur wenig Sinn ergeben: Bei den meisten Anschlägen in Europa in den letzten Jahren haben die Täter_innen die Grenzen des Schengenraums nie überschritten.

FEINDBILD MUSLIM_INNEN. Die Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze erklärt, dass die zur „Terrorprävention“ erfolgten und geplanten Grundrechtsverletzungen demokratisch hoch problematisch seien: „Rechtsstaatlich sind diese Maßnahmen schwer zu legitimieren, politisch wird aber mit der öffentlichen Sicherheit argumentiert. Die latenten Ängste der Bevölkerung können dazu genutzt werden, Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen.“ Der Trugschluss, dass Anschläge dadurch verhindert werden könnten, entsteht laut Schulze „durch das Schüren von Angst, die mit sehr stark inszenierten politischen Machtdemonstrationen einhergeht, die das Gefühl der Sicherheit suggerieren sollen.“

Als 2011 bei einem Anschlag in Norwegen 77 Menschen starben, wurden all diese nun geplanten Maßnahmen nicht diskutiert. Der Täter Anders Breivik legitimierte seinen Anschlag antimuslimisch und bezog sich in seinem „Manifest“ stark auf das Christentum. Die Tat wurde meistens als „Massaker“ oder „Massenmord“, nicht aber als „Terroranschlag“ bezeichnet. Eine Debatte über das Gefahrenpotential der christlichen Religion blieb ebenso aus wie jene über „Terrorprävention“.

Dieses Ungleichgewicht der Aufmerksamkeit von Politik und Medien und die Selektivität, mit der der Ausdruck „Terror“ verwendet wird, zeigte sich auch diesen Winter, als eine rassistisch motivierte Anschlagserie auf Moscheen in Schweden mit fünf Verletzten kaum wahrgenommen wurde. Niemand sprach hier von der Notwendigkeit der Verteidigung „westlicher Werte“, wie etwa der Religionsfreiheit oder dem Schutz vor Diskriminierung.

Wenn Täter_innen aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft kommen, werden sie nicht als Terrorist_innen bezeichnet. Umgekehrt werden Muslim_innen – ohne im Geringsten mit gewalttätigen Anschlägen zu sympathisieren – voreilig als Terrorist_innen wahrgenommen. Die Angst und der Hass richten sich gegen Muslim_innen. Marianne Schulze beobachtet die Auswirkungen der sicherheitspolitischen Stimmungsmache: „Die Dämonisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen verstärkt latente Ressentiments, die Übergriffe zur Folge haben.“

KEINE PROBLEMBEARBEITUNG. Bei rechtsextremen und islamistischen Anschlägen lassen sich einige Parallelen ausmachen. Eine davon ist der Antisemitismus, der in Europa laut einer Studie des Pew Research Centers wieder ansteigt und offener und mörderischer als in den letzten Jahrzehnten auftritt. Um diesen Phänomenen entgegenwirken zu können, braucht es Aufklärung, besonders bei Jugendlichen. Katja Schau und Frank Greuel vom Deutschen Jugendinstitut weisen darauf hin, dass bei der Präventionsarbeit mit Jugendlichen eine Orientierung an deren Lebensrealität notwendig sei. Ansonsten sei es nicht möglich, das Vertrauen von Jugendlichen zu gewinnen und erfolgreiche Vorbeugungsarbeit zu leisten. Das gilt gleichermaßen für die Prävention von Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. „Die wichtigste Terrorprävention ist und bleibt die umfassende Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung für alle und damit verbunden die Sicherung der Umsetzung des Menschenrechts auf Arbeit“, ist Menschenrechtsexpertin Schulze überzeugt. Zum 300-Millionen-Sicherheitspaket der Innenministerin meint sie: „Würde man diese Summe in den Bildungsbereich stecken, wäre das wirklich nachhaltige Prävention.“

 

Katharina Gruber studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien.

 

„Asylsuchende werden handlungsunfähig gemacht“

  • 05.02.2015, 08:00

Mit der Verwaltungsreform hat sich Einiges für Asylsuchende geändert. Warum ein Gebäude Angst machen kann und es schwieriger wurde sich zu beschweren, darüber hat progress mit Andrea Fritsche und Kevin Fredy Hinterberger von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gesprochen.

Mit der Verwaltungsreform hat sich Einiges für Asylsuchende geändert. Warum ein Gebäude Angst machen kann und es schwieriger wurde sich zu beschweren, darüber hat progress mit Andrea Fritsche und Kevin Fredy Hinterberger von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gesprochen.

Im Jänner 2014 trat in Österreich erstaunlich still und unbeachtet die größte Verwaltungsnovelle der letzten Jahrzehnte in Kraft. Neben Änderungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und im Gesetzgebungsprozess bedeutete diese auch große Umwälzungen im Asylbereich.

progress: Was hat sich in der Praxis im Asylverfahren geändert?

Hinterberger: Früher gab es im Asylverfahren in erster Instanz das Bundesasylamt und in zweiter Instanz den Asylgerichtshof. Mit 1. Jänner 2014 hat sich das geändert. Es wurde in erster Instanz das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingeführt, das mehr Kompetenzen, als das Bundesasylamt hat. Der Asylgerichtshof wurde aufgelöst, in zweiter Instanz entscheidet jetzt das neu geschaffene Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

Fritsche: Vor der Novelle war das Bundesasylamt grundsätzlich nur für das Asylverfahren zuständig. Ausweisung, Schubhaft und Abschiebung waren Aufgabe einer anderen Behörde, der Fremdenpolizei im Rahmen der Sicherheitsverwaltung. Die Entscheidung über das humanitäre Bleiberecht fällte in Wien die MA 35. Über all das entscheidet jetzt das neue BFA.

Wie äußert sich die engere Verknüpfung von asylrechtlichen und fremdenpolizeilichen Angelegenheiten im Alltag der Asylwerber_innen?

Fritsche: Das BFA Wien ist in jenem Gebäude am Hernalser Gürtel untergebracht, in dem früher die Fremdenpolizei war. Dort befindet sich auch, wie zuvor, das Polizeianhaltezentrum, in dem die Schubhäftlinge eingesperrt sind. Es ist ein Ort mit hohem Symbolcharakter, gerade unter den Asylsuchenden und Illegalisierten. Unsere Klient_innen verbinden das mit einem ganz anderen Gefühl als das frühere Bundesasylamt: nämlich mit großer Angst, weil es der Ort der Schubhaft ist und der Ort der Fremdenpolizei war. Es ist oft schwierig, Klient_innen dazu zu bringen hinzugehen, wenn sie zum Beispiel einen Antrag auf Bleiberecht stellen oder ein Dokument für ihr Asylverfahren abgeben müssen. Die Zusammenlegung von drei Stellen an diesem negativ besetzten Ort ist sehr problematisch.

Hinterberger: Es ist auch fragwürdig, dass seit der Novelle vom Asylantrag bis zur Abschiebung alles ein_e Referent_in alleine entscheiden kann. Wir haben große Bedenken, ob man da objektiv beurteilen kann. Meines Erachtens ist es schwierig, über Asylanträge und Anträge auf humanitäres Bleiberecht zu entscheiden, wenn man zehn Jahre immer nur mit Schubhaft oder Abschiebung konfrontiert war.

Wie beurteilt ihr die Abschaffung des Asylgerichtshofs und die Eingliederung seines Kompetenzbereichs in das Bundesverwaltungsgericht?

Hinterberger: Positiv ist, dass festgefahrene Strukturen aufgebrochen werden, denn die Entscheidungspraxis des Asylgerichtshofs war teilweise fragwürdig. Negativ ist, dass seit 2014 in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) alle Argumente vorgebracht werden müssen, die für eine rechtswidrige Entscheidung des BFA sprechen. Das BVwG darf nur über diese Gründe entscheiden. Wenn es sich den Fall ansieht und erkennt, dass die Entscheidung des BFA nicht korrekt war, aber aus anderen Gründen als in der Beschwerde vorgebracht, darf es die Entscheidung nicht aus diesen nicht vorgebrachten Punkten aufheben.

Während es früher möglich war, noch Argumente nachzubringen, wenn die Beschwerde fristgerecht eingebracht wurde, müssen jetzt also alle Argumente bereits innerhalb der zweiwöchigen Frist vorgebracht werden?

Fritsche: Ja, das ist für uns ein beträchtlicher Aufwand und fällt auf die Asylwerber_innen zurück, die den Bescheid oft gar nicht verstehen und erst kurz vor Fristende zu uns in die Beratungsstelle kommen. Dann sind oft nur noch ein bis zwei Tage Zeit. Früher konnten wir in dieser Zeit zumindest die Grundargumente vorbringen und dann etwas nachreichen. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Hinterberger: Zu begrüßen ist, dass mit der Novelle der Gang zum Verwaltungsgerichtshof wieder möglich ist. Davor war das Asylrecht seit 2008 als einzige verwaltungsrechtliche Materie davon ausgenommen.

Welchen Einfluss hat die Novelle auf eure Arbeit als NGO?

Fritsche: Die angesprochenen Veränderungen bedeuten mehr Arbeit. Und wir merken, dass das BFA mit der Umstellung überfordert ist. Anfang 2014 hat dort nichts funktioniert und nach wie vor ist bei vielen Fällen nicht klar, wer zuständig ist. Teilweise müssen die Einvernahmen wiederholt werden, weil die Referent_innen ständig wechseln. Das führt zu langen Verzögerungen und ist psychisch belastend für die Klient_innen.

Wo hätte die Novelle eine Möglichkeit auf Verbesserungen geboten?

Hinterberger: Bei der Effizienz des Verfahrens beispielsweise. Wir haben einen minderjährigen Klienten, der vor eineinhalb Jahren einen Asylantrag gestellt hat und noch immer wartet. Dabei müsste die Behörde innerhalb von sechs Monaten entscheiden. Es gibt viele solche Fälle. Die Menschen sind oft traumatisiert und dann befinden sie sich in Österreich in diesem Schwebezustand, das ist unvorstellbar.

Fritsche: Wir haben viele Klient_innen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Zuerkennung des Asylstatus oder subsidiären Schutzes relativ hoch ist. Wenn das zwei bis drei Jahre dauert, bleiben in dieser Zeit der Zugang zum Arbeitsmarkt und viele andere Rechte verwehrt. Die Qualität des Verfahrens ist auch ein wesentlicher Punkt, der sowohl inhaltliche Entscheidungen betrifft, als auch die Art, wie mit Asylwerber_innen umgegangen wird. Auch den Dolmetscher_innen fehlt oft eine adäquate Ausbildung. Das führt dazu, dass Asylsuchende durch das Gesetz und die rechtliche Praxis handlungsunfähig gemacht werden, weil sie das Verfahren nicht verstehen. Das ist ein großes Drama für einen Bereich, in dem es um grundlegende Menschenrechte geht.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.