David Hellbrück

Marco Polo und der Camping-Bus

  • 11.05.2017, 20:19
Ein kleiner historischer Abriss des Reisens – von Alexander dem Großen bis zum Post-Tourismus

Ein kleiner historischer Abriss des Reisens – von Alexander dem Großen bis zum Post-Tourismus.

Reisen stammt laut Duden aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutete lange Zeit Aufbruch, (Heer-) Fahrt oder auch (Heer-)Zug, verweist also bereits etymologisch auf etwas, das sich von einem zu einem anderen Punkt bewegt und ein entferntes, meist unbekanntes Ziel ansteuert, das – durchaus auch militärisch – erschlossen werden soll.

REISELITERATUR. Aus der historischen Reiseliteratur geht zunächst hervor, dass das Reisen lange Zeit mehr Qual als Erholung bereitet hat und dass es außerdem nie funktionsfrei war. Die Reiseliteratur hat frühe Wurzeln: Der Indienraubzug Alexander des Großen wurde vermutlich erstmals im 3. Jahrhundert n. Chr. von dem Hofhistoriografen Kallisthenes anhand einer biografischen Nacherzählung literarisch gefasst.

Im Zuge der Erschließung neuer Handelsmärkte wurde fortan gereist – die Reiseliteratur galt künftigen Entdeckern als Leitfaden. Der erst 17jährige Marco Polo begleitete seinen Vater Niccolò auf einer 24 Jahre andauernden Reise, die erst 1295 ihr Ende nehmen sollte. Infolge einer Seeschlacht geriet er in genuesische Kriegsgefangenschaft und diktierte dort seine Erlebnisse einem Mitgefangenen. In den Büchern finden sich ausgiebige Landschaftsbeschreibungen, darüber hinaus berichtet er aber auch über religiöse Sitten und Herrschaftsverhältnisse. Columbus studierte vor seinem Aufbruch in die Neue Welt Marco Polos Schriften.

Reisen erfolgte selten aus freiwilligem Antrieb: Matrosen, die heute gerne romantisiert werden, waren meist schwer für die langwierigen Schifffahrten zu begeistern, die Lebensumstände auf und unter Deck eine Tortur. Oft zwang man auf Fernreisen Ganoven, Taugenichtse, Verbrecher, Sklaven und andere, die man in der Alten Welt nicht vermisste, unter majestätischer Flagge in See zu stechen.

REISEINDUSTRIE. Alsbald stellte sich auch das Reisen unter das Joch des Kapitals – aus der Tortur wurde ein Privileg. Bäderreisen galten im 18. Jahrhundert als Vorrecht von ArtistokratInnen und Beschreibungen dienten der schnellstmöglichen Route, ohne Landschaftsbeschreibungen und Sightseeing- Tipps. In dem 1836 erschienenen „Red Book“ von John Murray sind allerdings schon erste Sehenswürdigkeiten und romantische Wegrouten notiert.

Durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert war die Erschließung bislang unbekannter Flecke nicht mehr nur der Aristokratie vorbehalten, sondern auch dem aufstrebenden BürgerInnentum. Im Juli 1841 organisierte Thomas Cook als Erster eine, heute vielleicht so zu bezeichnende, Pauschalreise; vier Jahre später gründete er sein bis dato bekanntes Reisebüro, um die Bedürfnisse breiter kleinbürgerlicher Schichten zu bedienen. Reisen wurde alsbald zur Industrie, indem es sich dem Massentourismus öffnete. Der Campingtourismus der 1950er und ‘60er als Freizeitprogramm markiert den Höhepunkt der Reiseindustrie. Der VW-Bus – das romantisierende Sinnbild der Ferne. Doch das Reisen war auch hier nie funktionslos, diente nie dem einfach Schönen, es war – wie alle freie Zeit – auf die Reproduktion der Arbeitskraft ausgelegt.

Reisen war in der Moderne nie unabhängig vom Status der Reisenden zu sehen, denn diese schöpfen einen Mehrwert aus der Fahrt. Die Person selbst, wie Hans Magnus Enzensberger feststellte, tritt neben das Reiseziel und allein das soziale Prestige zählt: „Zum Programm der touristischen Reise gehört als letzter Punkt die Heimkehr, die den Touristen selbst zur Sehenswürdigkeit macht.“ 1950 mokiert der Vielreisende Gerhard Nebel in seinem Buch „Unter Kreuzrittern und Partisanen“ am Massentourismus, dass ein Land, das vollständig touristisch erschlossen wurde, nur noch eine Kulisse bilden würde, und behauptete, es gäbe eine dämonische Kraft des Reisens. Sein Groll brach sich gegen PauschaltouristInnen Bahn, die wie eine Krankheit über ihre Reiseziele hereinbrechen würden. In dieser Kritik äußert sich eine Abscheu gegenüber der Moderne und der Öffnung von Reisemöglichkeit auch für nicht-Privilegierte. Verachtet wird das Reisen der Unterschichten“ – Pauschaltourismus.

POST-TOURISMUS. Der Urbanist Johannes Novy charakterisiert die „Post-TouristIn“ – ein Modewort – als eine Person, die es vermeidet, in Hotels zu übernachten. Sie sei nicht interessiert an den wichtigen touristischen Attraktionen, sei auf der Suche nach unkonventionellen Erfahrungen und vertreibe sich die Zeit in angesagten Nachbarschaften. In der Sendung „Urlaub XXL – Europa macht frei!“ auf Arte wird erklärt, dass die Post-TouristIn sich „in der Stadt verlieren“ und hinter die „Fassade sehen“ möchte. Bei genauerer Betrachtung kann und will sie dem Alltäglichen überhaupt nicht mehr entfliehen, da sie dem alltäglichen Trott nur an anderem Ort nachgeht.

In Berlin, so gibt ein Guide für Post-TouristInnen zu verstehen, besuche man daher Hinterhöfe, Berliner Cafés und Flohmärkte – es wird jenes bestaunt, was es in jeder beliebigen größeren Stadt zu sehen gibt. Der Post-TouristIn geht es nicht um Erholung oder die Abwesenheit des Alltags, sondern um das Erlernen einer Sprache, sie nützt den Aufenthalt für die Arbeit oder das Studium. Dies wird sodann als authentische Erfahrung verkauft und nicht als das, was es erscheint: eine Selbstoptimierungskampagne, um sich in der (meist) akademischen Arbeitswelt besser zu platzieren. Reisen war und ist nie unabhängig von einer Funktion. Der Post-Tourismus betreibt die Ausweitung der Arbeitswelt ins Unendliche.

David Hellbrück ist freier Autor und Verleger und studiert u.a. Philosophie in Wien.

Trawnys Deutschtümelei

  • 11.05.2017, 09:00
Der Heideggerianer Peter Trawny bläst in seinem knappen Essay Was ist deutsch? einen kleinen Gedanken zum ganz großen auf.

Der Heideggerianer Peter Trawny bläst in seinem knappen Essay Was ist deutsch? einen kleinen Gedanken zum ganz großen auf: Intellektuelle seien ihrer gesellschaftlichen Relevanz beraubt worden. Ausgehend von Theodor W. Adornos Radioessay Auf die Frage: Was ist deutsch entstellt Trawny Adorno regelrecht zur Unkenntlichkeit, nennt ihn kurzerhand den „Spiritus Rector der Bundesrepublik“ und macht ihn posthum zum Säulenheiligen des postnazistischen Deutschland. Adornos Denken und Wirken wäre noch stark genug gewesen, um „die Vertreter eines anderen Deutschland in Schach zu halten.“

Heute sähe das mit Thilo Sarrazin, dem keine nennenswerte Entgegnung widerfahre, anders aus: Es herrsche ein „Diskurs-Vakuum“. Nicht jedoch zu Adornos Lebzeiten, denn dieser hätte nicht nur als „eine Instanz“ gewirkt, er selbst sei aus dem Exil zurückgekehrt, um eine Gesellschaft aufzubauen, „in der es sich nach dem Schrecklichsten wieder leben ließ“. Der Judenmord verkommt schlussendlich nicht nur zum schlecht-abstrakt Schrecklichen, nein, für die wahrlich vernichteten Jüdinnen und Juden ließ es sich nicht mehr in dieser Gesellschaft leben – sie beraubte man der Individualität und befehligte sie ins Massengrab. Dass Adorno jedoch in dem oben genannten Radioessay auch die Anpassungsschwierigkeiten bei seiner Rückkehr hervorhob, ihm jeder Mitmachzwang zuwider war, darüber schweigt Trawny freilich.

Im Weiteren schreibt Trawny über die Verfallsgeschichte der zweiten Generation der Kritischen Theorie eines Jürgen Habermas und von Thilo Sarazzins Deutschland schafft sich ab. Nicht fehlen darf ein „autobiografischer Exkurs“, wo der Autor darstellt, dass er bei sich angesichts von Auschwitz keine Schuldgefühle feststellen kann, da er von der Gnade des Spätgeborenen zehrt. Überhaupt sei die Rede von der Schuld, die er zum „Schuldkomplex“ aufbläht, irreführend, denn dies lenke von der Erinnerung an Auschwitz ab. Beinahe glücklich kann man sich schätzen, dass Trawny nicht auch noch auf die Idee kommt, gegen die lebenden Jüdinnen und Juden vom Leder zu ziehen.

David Hellbrück ist freier Autor und Verleger und studiert u. a. Philosophie in Wien.