Wir müssen reden!

  • 13.07.2012, 18:18

Unsere Generation ist die letzte, die die Möglichkeit haben wird, mit jenen Menschen zu sprechen, die Krieg, Verfolgung und Diktatur in Österreich miterleben mussten. Viel Zeit dürfen wir aber nicht mehr verlieren, um diese Chance zu nutzen.

Unsere Generation ist die letzte, die die Möglichkeit haben wird, mit jenen Menschen zu sprechen, die Krieg, Verfolgung und Diktatur in Österreich miterleben mussten. Viel Zeit dürfen wir aber nicht mehr verlieren, um diese Chance zu nutzen.

Der 1928er Jahrgang war der letzte, der in den Krieg gezogen ist. 82 Jahre alt werden die noch lebenden VertreterInnen dieses Jahrganges 2010. Damit haben sie die durchschnittliche Lebenserwartung von ÖsterreicherInnen bereits um knapp vier Jahre übertroffen. Laut den Erhebungen des Statistischen Zentralamts von 2008 beträgt die Zahl der vor 1928 Geborenen etwa 350.000. Werden nur die männlichen ZeitzeugInnen gezählt, die im Gegensatz zu den weiblichen auch aktiv in Kriegshandlungen verwickelt waren, sind es knapp 100.000. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil von diesen aufgrund des fortgeschrittenen Alters nicht mehr im Stande ist, genaue Angaben zu den Geschehnissen und dem Erlebten zu machen. Viele, der in den historisch relevanten Jahren Geborenen, mussten ihr Leben bereits für den sinnlosen Todeskampf des maroden Hitler-Deutschland geben oder starben in den bombardierten Städten. Viele sind es also nicht, die heute noch leben und auch über das Erlebte sprechen möchten und können.
Daraus ergibt sich natürlich auch eine Verantwortung, nämlich das Geschehene an die Nachwelt weiterzugeben, um dem viel zitierten Satz „Niemals vergessen!“ Genüge zu tun. Gerade in Zeiten, in denen wichtige Elemente unserer Demokratie wie das Verbotsgesetz von PolitikerInnen des rechten Randes in Frage gestellt werden, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, weshalb es Gesetze wie dieses gibt und warum wir in Österreich unsere Erinnerungskultur immer wieder erneut in Frage stellen müssen. Aus dem „Nie wieder!“ wird so ein „Warum noch immer?“, das neben einer konkreten Handlungsaufforderung auch noch ein verstärktes Reflektieren impliziert. 

Nicht stillhalten, wenn Unrecht geschieht. So lautete das Credo von Agnes Primocic, einer österreichischen Widerstandskämpferin, die 1905 in Hallein geboren wurde. Sie war als Betriebsrätin in einer Tabakfabrik tätig und in der Kommunistischen Partei engagiert, weshalb sie sowohl von den Machthabern in der Zeit des Austrofaschismus als auch von den Nazis bedroht, verfolgt und auch mehrmals eingesperrt wurde. In den Achtzigerjahren begann sie damit, in0w Schulklassen über ihr Wirken im Widerstand zu sprechen. Es war ihr wichtig, Jugendlichen die Wichtigkeit von Zivilcourage zu vermitteln. Bis ins hohe Alter setzte sie diese Tätigkeit fort und wiederholte immer, wie wichtig es ist, gegen Unrecht aufzubegehren. Vor drei Jahren verstarb sie im Alter von 102 Jahren.
Eindrucksvoll ist auch die Geschichte der polnisch-stämmigen Jüdin Havka Raban-Folman, die während der Besetzung Polens als Botin zwischen den verschiedenen Widerstandsverbänden in den jüdischen Ghettos, die auf ganz Polen verteilt waren, fungierte. Nach ihrer Verhaftung wurde sie ins gefürchtete Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Aufgrund eines Formfehlers wurde sie jedoch als Polin und nicht als Jüdin registriert und kam wohl auch deshalb mit dem Leben davon. Nach dem Krieg emigrierte sie nach Israel und gründete gemeinsam mit anderen Überlebenden im Norden des Landes den Kibbuz Lohamei Ha‘Getaot, was übersetzt Ghettokämpfer bedeutet, und wo sie bis heute lebt. In ihrem Beruf als Lehrerin hatte sie die Möglichkeit, mit jungen Menschen über die Geschehnisse zu sprechen und sie für die Thematik zu sensibilisieren. Bis heute spricht sie mit Jugendlichen über ihre Erlebnisse und betreut bis zu drei Jugendgruppen täglich.

Situation in Österreich. Auch in Österreich kommt das Problem der immer kleiner werdenden Zahl von ZeitzeugInnen regelmäßig zur Sprache. Durch Projekte wie A Letter To The Stars wurde das Ganze auch medial vermehrt breit getreten. Bei diesem Projekt wurden SchülerInnen aufgefordert, an österreichische Überlebende der Shoah, die über die ganze Welt verstreut leben, Briefe zu schreiben.
Wichtig ist aber das Bewusstsein, dass ZeitzeugInnen nicht nur durch groß organisierte Projekte angesprochen werden können, sondern nächste ZeitzeugInnen auch in der NachbarInnenschaft zu finden sind. Ihre Geschichten können eines Tages nicht mehr gehört werden und uns kommt ein wichtiges historisches Dokument abhanden. Die Devise lautet: Jetzt handeln, fragen, zuhören und reden, bevor es zu spät ist.

 

AutorInnen: Vinzent Rest