Macondo – eine Fantasie, ein Dorf, ein Film

  • 28.10.2014, 01:45

Eine Filmrezension.

Eine Filmrezension.

In der Literatur ist Macondo ein fiktiver Ort, in Wien ist Macondo Realität. Im Bezirk Simmering liegt das Flüchtlingsdorf, in dem seit Mitte der 50er Jahre über 3.000 Flüchtlinge aus über 20 Ländern zusammenleben. Seinen poetischen Zweitnamen hat die Kaserne Zinnersdorf von chilenischen Flüchtlingen erhalten, Vorbild war ein fiktives Dorf in Gabriel García Márquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“. „Macondo“ heißt auch der Spielfilm von Sudabeh Mortezai, der bei der diesjährigen Viennale seine Österreich-Premiere feiert. Macondo ist ein Fußballplatz hinter einer Wellblechwand, ein Sofa im Wald und eine Busstation im Nirgendwo. Macondo ist Brachland und eine Wohnanlage mitten im Industriegebiet. Macondo ist ein Kinderspielplatz, ein Einkaufszentrum und ein Baggerpark. Vor allem aber ist Macondo das Zuhause des elfjährigen Tschetschenen Ramasan (Ramasan Minkailov), der mit seiner Mutter (Kheda Gazieva) und seinen beiden Schwestern in der Flüchtlingssiedlung lebt. Seit dem Tod des Vaters spielt Ramasan den „Mann im Haus“. Als eines Tages Isa (Aslan Elbiev) – ein Kriegskamerad des Vaters – auftaucht, gerät Ramasans Welt aus den Fugen und das idealisierte Bild des Vaters zerbricht.

Fast protokollierend erzählt die Regisseurin vom Leben des Elfjährigen. Keine Sekunde weicht der Film von seiner Seite, was die große Stärke dieser Geschichte ist. Die Behördengänge, die Gespräche mit dem Sozialarbeiter, der Deutschkurs der Mutter: Bei allem steht Ramasans Erleben im Mittelpunkt.

„Macondo“ wurde ausschließlich mit Laien gedreht; Profi-Schauspieler_innen hätten es auch nicht besser machen können. Der Film lebt vom eindrücklichen Spiel Minkailovs und der beobachtenden Kameraführung Klemens Hufnagls. Sudabeh Mortezai, die bisher Dokus gedreht hat und mit „Bazar der Geschlechter“ bekannt wurde, ist ein einfühlsames und beeindru ckendes Spielfilmdebüt gelungen. Jetzt ist „Macondo“ also nicht nur ein fiktiver Ort und ein reales Flüchtlingsdorf in Wien, sondern auch ein toller Film.

 

Sara Schausberger hat Germanistik studiert und arbeitet als Kulturjournalistin in Wien.

AutorInnen: Sara Schausberger