Differenzieren, differenzieren, nochmals differenzieren

  • 05.02.2015, 08:00

Der Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo löste eine Schockwelle in den Redaktionshäusern aus. Der Betroffenheit zum Trotz können und müssen gerade die Medien durch Sachlichkeit und Differenzierungsvermögen einen Beitrag zur Entemotionalisierung leisten.

Der Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo löste eine Schockwelle in den Redaktionshäusern aus. Der Betroffenheit zum Trotz können und müssen gerade die Medien durch Sachlichkeit und Differenzierungsvermögen einen Beitrag zur Entemotionalisierung leisten.

Als die Nachricht über den Taliban-Anschlag in Pakistan um die Welt ging, bei dem mehr als 130 SchülerInnen – Kinder von Militärangehörigen – brutal hingerichtet wurden, da haben wohl viele Menschen unwillkürlich an die Klassenzimmer gedacht, in denen sie selbst viele Jahre ihres Lebens verbracht haben.

Und als die Bilder von der Gewalttat in der Redaktion von Charlie Hebdo als Breaking News weltweit die Kanäle überfluteten, da saß der Schock bei einer Berufsgruppe besonders tief, nämlich bei den JournalistInnen. Ob angestellt oder freiberuflich, alle, die schon einmal journalistisch tätig waren, kennen die Redaktionssitzung als eine Bühne der kreativen und argumentativen Auseinandersetzung. Eine Redaktionssitzung bedeutet einen Wettstreit der Ideen und ist gelebte Meinungsfreiheit mit all ihren Facetten.

Es ist daher nachvollziehbar, dass gerade JournalistInnen, für die Meinungsfreiheit Motivation, Credo und Zweck ihrer Tätigkeit zugleich ist, in einem ganz besonderen Ausmaß von dem Attentat in Paris erschüttert sind. Aber zugleich kann es nicht die Aufgabe von JournalistInnen sein, die ohnehin emotional aufgewühlte Atmosphäre zusätzlich anzuheizen oder durch Vereinfachungen und unzulässige Vergleiche dem Sündenbock-Denken Vorschub zu leisten.

WAS IST „DIE COMMUNITY“? Hans Rauscher vom Standard nimmt in seiner Kolumne vom9. Jänner die „muslimische Community und ihre geistigen Führer“ in die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen – dafür, „dass diese Wahnideen in der Community bekämpft werden“. Mit Verlaub, was soll bitte „die Community“ sein? Wie viele Menschen muslimischen Glaubens würden von sich ernsthaft behaupten, einer klar definierten Community anzugehören und deren Regeln – sofern diese überhaupt ausformuliert sind – lückenlos zu befolgen? DieVorstellung, dass „die Muslime“ sich in einer klar abgegrenzten und definierten „Community“ organisieren, entspringt eher dem Wunsch nach Klarheit und Kategorisierbarkeit sowie Lenkbarkeit eines Bevölkerungssegments als der komplexen Realität, die sich einem solchen Ordnungsprinzip widersetzt.

WER SIND „WIR“? WER „DIE MUSLIME“? Rauscher weiter: „Um es offen zu sagen: Wir haben uns mühsam die Moderne angeeignet – Säkularisierung, Frauenemanzipation, eine liberale Sexualmoral und -gesetzgebung, eine nicht vollständige, aber doch beträchtliche Abkehr von altem autoritärem Denken sowohl in der Familie als auch in der Politik. Von den Muslimen kann man das so nicht sagen.“ Wer sind „wir“? Wer sind „die Muslime“? Sind die sozialen und kulturellen Errungenschaften Europas etwa „unser“ Verdienst? Eine derart krass vereinfachende Aufteilung in „wir“ und „sie“ gilt es zu hinterfragen, gerade in der aktuell so aufgeheizten Atmosphäre.

„Es gibt Abstufungen innerhalb der Muslime“, hält Rauscher fest, und fügt hinzu: „Doch ein ziemlich großer Teil hat einen anderen Wertekanon.“ Ja,das mag so sein. Aber nicht die Werte sind es, die töten, sondern es sind gewaltbereite, bewaffnete Menschen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es nun einmal erlaubt, unterschiedliche Werte zu haben. Nicht die Werte der Muslime gilt es zu bekämpfen, sondern die Radikalisierung, die Frustration und die Aggression. Selbst wenn morgen sämtliche geistliche Würdenträger in jeder einzelnen Moschee Europas das Attentat von Paris aufs Schärfste verurteilen sollten, wäre damit die Terrorgefahr nicht aus der Welt geschafft.

HINKENDE NAZI-VERGLEICHE. Und schließlich der Nazi-Vergleich: „Aber es heißt, die Verantwortung dafür anzunehmen, dass diese Wahnideenin der Community bekämpft werden. So wie in Deutschland und Österreich Politiker, Publizisten, Intellektuelle, auch geistliche Führer aktiv die Verantwortung angenommen haben, dass die Wahnideen der Nazis nicht weiterleben oder verharmlost werden. Das war zu Zeiten Waldheims und Haiders ein keineswegs leichter Kampf von ein paar liberalen Geistern gegen den Mainstream.“ Dieser Vergleich hinkt so gewaltig, dass es den Rahmen sprengen würde, ihn an dieser Stelle einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass Nazi-Vergleiche an sich problematisch und grundsätzlich in einem Qualitätsmedium nicht gut aufgehoben sind.

SKEPSIS GEGENÜBER PATHOS. Allerdings ist Rauscher zuzustimmen, wenn er sagt: „Es geht um das geistige Klima in einer Gemeinschaft.“ Ja, das ist richtig. Es geht heute um das geistige Klima in Europa, und hier spielen Medien als vierte Gewalt eine ungeheuer wichtige Rolle, jetzt mehr denn je. Was bedeutet es denn für die Medien, Verantwortung zu übernehmen? Es bedeutet nichts anderes als zu differenzieren, zu differenzieren und nochmals zu differenzieren, sich unermüdlich mit der Komplexität der Realität auseinanderzusetzen, zu versachlichen, zu entemotionalisieren und sich stets aufs Neue auch mit der eigenen Rolle kritisch auseinanderzusetzen.

Verantwortung zu übernehmen heißt auch, jedweder Pauschalisierung oder Hysterisierung die rote Karte zu zeigen, sich von Schwarz-Weiß-Schemata zu distanzieren, und jeglichem Pathos mit Skepsis zu begegnen. Verantwortung zu übernehmen heißt, den Wunsch nach einfachen Rezepten und simplen Erklärungsmustern als eine Versuchung zu erkennen und dieser mit aller Kraft zu widerstehen.

 

Mascha Dabić hat Translationswissenschaft (Englisch und Russisch) fertig und Politikwissenschaft fast fertig studiert und unterrichtet Russisch-Dolmetschen an den Universitäten Wien und Innsbruck.

AutorInnen: Mascha Dabić