Ähnlich wie beim Songcontest

  • 04.05.2013, 18:59

Europäische Bildungspolitik gibt auf nationaler Ebene immer mehr den Ton an. Die European Students’ Union (ESU) versucht als Studierendengremium die Interessen von elf Millionen Studierenden zu wahren und kämpft um mehr Mitspracherecht.

 Europäische Bildungspolitik gibt auf nationaler Ebene immer mehr den Ton an. Die European Students’ Union (ESU) versucht als Studierendengremium die Interessen von elf Millionen Studierenden zu wahren und kämpft um mehr Mitspracherecht.

Diesmal schottet sie sich komplett ab. Das hat sich Tinja Zerzer für die eineinhalb Wochen vor ihren Prüfungen vorgenommen. Das Auslandssemester der Wienerin in Frankreich ist zeitaufwendig, die drei Prüfungen kommende Woche und die darauffolgende Hauptversammlung liegen ihr im Magen.Es ist Sonntag und die Volkswirtschaftsstudentin sitzt in der Nationalbibliothek in Paris und lernt. Außerdem ist dies der einzige Ort in ihrer Nähemit funktionierendem WLAN-Zugang. Während andere vor ihren Büchern sitzen und pauken, muss Zerzer auch jetzt noch beruflich Mails beantworten und Skype-Konferenzen über EU-Politik führen. Die 22-Jährige begann ihr unipolitisches Engagement im Referat der Bundes-ÖH für internationale Angelegenheiten. Seit April setzt sie sich auf Europaebene für das selbe Anliegen ein, das die HochschülerInnenschaft auf nationaler Ebene verfolgt: qualitative Bildungspolitik. Als ExecutiveCommitee (EC)-Mitglied der European Students’ Union, kurz ESU, vertritt sie als einzige Österreicherin die Interessen von über elf Millionen europäischenStudentInnen.

Die ESU ist der Dachverband von 47 nationalen Studierendenvertretungen aus 39 Ländern. Sie versucht, den bildungspolitischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Studierenden vor der Europäischen Union, dem Europarat und der UNESCO Platz einzuräumen. Das ist nicht immer einfach, schließlich wird in jedem Land das Studierendengremium anders organisiert. So ist die Situation der studentischen Mitbestimmung in Österreich anders als etwa in Weißrussland. Denn währendhierzulande die BundeshochschülerInnenschaft durch Pflichtbeiträge als Körperschaft öffentlichen Rechts circa 2,5 Millionen Euro zur Verfügung hat,kämpft die Studierendenvertretung in Weißrussland ohne Budget im Untergrund gegen die politischen MachthaberInnen. „Wir versuchen so gut wie möglich auf die einzelnen Nationalstaaten einzugehen und zu helfen, wo wir können“, sagt Zerzer, die als EC-Mitglied die Verantwortung für die politischen und finanziellen Entscheidungen der ESU trägt. Aktuell standen Mitglieder des Gremiums Seite an Seite mit hunderten DemonstrantInnen, die in Budapest aufgrund von geplanten Budgetkürzungen aufdie Straße gingen. Zusammen mit der ungarischen Studierendenvertretung (HÖOK) erwägen sie jetzt, eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubringen. Und auch als 2009 das Wiener Audimax besetzt wurde, zeigte sich die ESU solidarisch und verschaffte der unibrennt-Bewegung international Rückenwind.

Politischer Auftrag. Der Kampf um Bildung wird nicht mehr nur auf nationaler, sondern zunehmend auch auf internationaler und europäischer Ebene ausgetragen. Deswegen wird es unverzichtbar, auch die Kompetenzen der einzelnen nationalen StudentInnenorganisationen auf die europäische Gemeinschaftsorganisation zu übertragen. Geht esbeispielsweise nach dem Europäischen Parlament und der Kommission, dann sollen beim Erasmus-Studienprogramm in den nächsten Jahren 150 Millionen Euro eingespart werden. Drei Millionen junge EuropäerInnen haben in den vergangenen 25 Jahren mit diesem Programm in einem anderen EU-Staat studiert. Der Rotstift soll dort angesetzt werden, wo es vor allem finanziell schwächere Studierende am härtesten trifft: bei den Erasmus-Stipendien. Zukünftig sollen diese durch ein Studienkreditsystemersetzt werden. Das Geld soll nach dem Auslandsaufenthalt zurückgezahlt werden.

Der Dachverband ist aber nicht mit Lobbyunternehmen von Großkonzernen vergleichbar. Dafür hat die ESU zu wenig Geld zur Verfügung. Die finanziellen Mittel der ESU kommen aus den Finanztöpfen der einzelnen Studierendenvertretungen und aus projektbezogenen Fördergeldern der EU. Mit 15.000 Euro zahlt Österreich zusammen mit Norwegen und Großbritannien den größten Beitrag. Insgesamt hat die ESU jährlich um die 160.000 Euro zur Verfügung. Da jedes Projekt einzeln finanziert wird, istes laut Zerzer schwierig, in langfristige Projekte zu investieren. Auch das Nahverhältnis zur EU ist ein Kritikpunkt: Die ESU bekommt ihre finanziellen Mitteln zum Teil von der EU und agiert somit inhaltlich nicht ganz unabhängig. Die ESU wird von der Europäischen Union in die meisten Gremien freiwillig eingebunden, ist aber im Gegensatz zurÖH in keinem Gesetz verankert. Trotzdem war der Dachverband in seiner 31-jährigen Geschichte noch nie so einflussreich wie heute.

Vom Informationsbüro zur politischen Organisation 1982 agierte sie noch unter dem Namen Western European Student Information Bureau– mit demZiel, Studierende aus Großbritannien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Island und Österreich zu vernetzen. Nach dem Fall der Sowjetunion wurdesie ein Organ für alle Studierenden Europas. Seit ihrem 25-jährigen Jubiläum im Jahr 2007 heißt das Gremium European Students’ Union. Die BeziehungÖsterreichs zur ESU war von Anfang an besonders eng: Bevor das Büro 2000 nach Brüssel zog, war es zwölf Jahre lang in Wien beheimatet.

Eines der wichtigsten Themen ist seit 2001 der Bologna-Prozess. Als Mitglied der Bologna Follow-Up Group ist die ESU mit der Umsetzung des europäischen Bologna-Prozesses vertraut. Im Rahmen der eher ökonomistisch orientierten EU-Aktivitäten bringt die ESU die Interessen der Studierenden undihre sozialen und finanziellen Bedürfnisse auf überstaatlicher Ebene zur Diskussion – „Wir kämpfen für die Harmonisierung des europäischen Hochschulraums, um ihn einfacher und zugänglicher zu machen“, sagt Zerzer.

Die ESU ist in vier Hauptarbeitsgruppen geteilt, in denen jeweils Themen wie ECTS, Zugang zu Bildung, Zukunft und Gender erarbeitet und weiterentwickelt werden. Die Arbeitsgruppen führen Gespräche mit EntscheidungsträgerInnen, organisieren Diskussionsabende, schreiben Papers und vernetzennationale UnipolitikerInnen. Die richtungsweisenden Beschlüsse finden in den halbjährlichen Hauptversammlungen statt.

Jedes Land hat bei den Versammlungen zwei Stimmen zur Verfügung. Ähnlich wie beim Eurovision Songcontest, bilden sich bei den VersammlungenBlocks. So haben beispielsweise Island, Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, Estland, Lettland und Litauen insgesamt weniger Studierende in ihrenLändern als etwa Polen, aber zusammen acht Mal mehr Stimmgewicht. Auch Zerzer sieht das Problem: „Die Blocks bilden sich nach demselben regionalenMuster wie in der restlichen europäischen Politik. Wir als junge Generation schaffen es noch immer nicht, darüber hinwegzukommen, beziehungsweisees besser zu machen.“

40 Stunden für 300 Euro. Ein weiteres Manko ist die Dauer und Bezahlung der ESU-Mitarbeit selbst. Vorsitzende und EC-Mitglieder arbeiten nurfür ein Jahr. Eine langfristige Planung ist deshalb nicht möglich. Notwendiges Know-how gehe sehr schnell verloren. Es gibt nicht viele, die sich diesenJob freiwillig antun, sagte unlängst Karina Ufert, Vorsitzende der ESU, gegenüber Universityworldnews und sprach damit die prekäre Situation derESU-MitarbeiterInnen an. Während die drei Vorsitzenden Vollzeit in einem Büro in Brüssel arbeiten, engagieren sich alle anderen neben ihrem Studiumfür das Gremium. Das bedeutet für Zerzer und ihre KollegInnen, für bis zu 40 Arbeitsstunden pro Woche monatlich eine Aufwandsentschädigung von300 Euro zu bekommen. „Viele von uns sind rund um die Uhr online. Es gibt immer eine Kleinigkeit zu besprechen“, sagt Zerzer. Auch für ihr Studium seidas nicht immer ideal gewesen, sagt sie und erzählt von den VWL-Prüfungen, die sie vor, während oder nach wichtigen Sitzungen bestehen musste. Auchdie letzte Hauptversammlung findet noch in ihrer Prüfungswoche statt. Diesmal versucht sie sich aber mehr Zeit für die Uni einzuräumen.

Während die ESU für manche Studierende lediglich Zwischenstation auf dem Weg in die Europapolitik ist, vergessen andere die Worte Freizeit und Feierabend und opfern ein Jahr für grenzüberwindende bildungspolitische Arbeit. Ob Zerzer weiter in der Bildungspolitik sein will? „Erstmal möchte ich wieder nach Wien zurückkehren. Aber wie heißt es so schön: Sag niemals nie.“ Elisabeth Gamperl studiert Kultur- und Sozialanthropologie in Wien.

 

AutorInnen: Elisabeth Gamperl