Terror

Mehr als eine Autopanne.

  • 06.04.2017, 18:14
Kurzfilme sind immer so eine Sache. Sind sie gut, wünscht man sich es dauerte länger, sind sie schlecht, fragt man sich ehrlich wie lange einem 20 Minuten erscheinen können.

Kurzfilme sind immer so eine Sache. Sind sie gut, wünscht man sich es dauerte länger, sind sie schlecht, fragt man sich ehrlich wie lange einem 20 Minuten erscheinen können.

„Die Überstellung“ von Regisseur Michael Grudsky findet dagegen die genau richtige Länge.

Irgendwo im Nirgendwo in der Wüste Negev steht Abu Sharif vor seiner letzten Überstellung bis seine Haftstrafe in zwei Wochen abgebüßt ist. Der junge Befehlshaber Erez versucht streng die Disziplin durchzusetzen, die seine untergebenen Soldaten vermissen lassen und eher kommod mit den Regeln und den Gefangenen umgehen.

Der Produzentin Nina Poschinski gelang es, Drehgenehmigungen in einem israelischen Gefängnis und in der Wüste Negev zu bekommen, was sich in der bemerkenswertenCinemateographie widerspiegelt. Im Niemandsland der Wüste taucht eine Festung der Überwachung auf, die abgelöst wird von bombastischen Weitwinkelaufnahmen der Wüste auf der Fahrt in Abu Sharifs letzten Gefängnisaufenthalt Megiddo. Als dann plötzlich der Wagen einen Motorschaden hat, geraten die Soldaten in eine Ausnahmesituation. Abu Sharif ist Automechaniker, darf aber laut Erez weder seine Handschellen ablegen noch den Wagen berühren. Es scheint Erez einziger Halt, in einer aus den Fugen geratenen Situation streng nach Vorschrift vorzugehen. Erst als der Fahrer durch sein Asthma in eine lebensbedrohliche Situation zu kommen droht, lässt Erez es zu, Hilfe von dem Mann anzunehmen, von dem er nur Schaden erwartet. Abu Sharif hilft und schafft so einen kurzen Moment der Kameraderie auf der Weiterfahrt. Es wird über Autos und Zigaretten geredet und gelacht. Der normale tägliche Wahnsinn dringt jedoch über das Radio ein, das einen Terroranschlag in Ashkelon meldet, der Heimatort eines der Soldaten, der panisch seine Freundin anruft. Die Rollen sind wieder klar verteilt und alles was bleibt, ist Schweigen.

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Es ist die Unmöglichkeit von Freundschaft und Frieden in einer ausweglosen Situation, die den Nahostkonflikt im kleinen Rahmen der Autofahrt spiegelt. Die Schuldfrage bleibt nicht unbeantwortet: Es ist der Terrorismus der Feinde Israels, die eine Normalität verhindert. Die Fronten sind wieder geklärt, hier ein (ehemaliges) Mitglied einer islamistischen Gruppe, dort Soldaten, die ihren Dienst tun und doch nicht ihre Liebsten zu schützen vermögen, wenn Terrorist*innen attackieren.

Bemerkenswert war auch eine Frage des Moderators im Publikumsgespräch. Der Film sei ja durchaus kritisch gegenüber Israel (der Regisseur merkte hier an, dass er dies nicht so sehe), ob dieser dann überhaupt in Israel zum Beispiel im Rahmen eines Festivals zeigen könne. Hier zeigt sich ein Bild von Israel, dass selbst vor der Kulturszene nicht Halt macht: Israel lasse keine Kritik an seiner Politik zu. Der Regisseur musste den Moderator erst darauf hinweisen, dass es in Israel keine Zensur gibt und durchaus noch viel kritischere Filme in Israel gezeigt werden.

Die Überstellung, DE 2017 | Hebr. mit dt. UT |23 Minuten

Anne Marie Faisst schreibt (nicht) ihre Masterarbeit in Internationale Entwicklung sondern stattdessen Filmkritiken von der #Diagonale17 in Graz.

Der Vaterror

  • 25.03.2015, 19:09

„Haunting“ ist wohl die beste Beschreibung für das Portrait des Vaters in Nina Bunjevac’ vor Kurzem erschienener Graphic Novel „Vaterland“; die deutschen Übersetzungen „beklemmend“ und „unvergesslich“ lassen die geister- und rätselhafte Komponente im Grinsen des serbischen Nationalisten vermissen.

In präzisen, kontrastreichen schwarz-weißen Bildern fährt Bunjevac die „Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada“ nach und erzählt davon, was ihre Familie vom Balkan nach Nordamerika und zwei Mal wieder hin und zurück trieb. Und, wie ihr Vater zum dem Mann wurde, der im Ausland terroristische Anschläge auf jugoslawische Vertretungen und Tito-Sympathisant*innen durchführte.

Bei der einfühlsamen Nacherzählung ihrer Familiengeschichte vergisst Bunjevac nicht auf den politischen Kontext, aber auch nicht auf pointierte, makabere Spitzen. „Es lag etwas Böses und Kaltes in der Art, wie die Deutschen die Unerwünschten eliminierten. Mit so viel Leidenschaft, wie man braucht, um einen Dieselmotor zu perfektionieren“, zeichnet Bunjevac die systematische, industrielle Vernichtung der Juden während des zweiten Weltkrieges. „Im Gegensatz dazu widmete sich die Ustascha (kroatische Faschisten, Anm.) mit Herz und Seele ihrem praktischen Ansatz des systematischen Schlachtens.“ Bunjevac’ Graphic Novel ist hier, bei der Rekapitulation der Geschichte des Balkans, am stärksten und fetcheindrücklichsten. Selten wurden die historischen Verstrickungen so prägnant und verständlich auf den Punkt gebracht wie in den Rückblenden in „Vaterland“. Was unbeschreiblich und unüberblickbar scheint und an dessen Erklärung schon so viele Literat*innen und Publizist*innen gescheitert sind, wird in Bunjevac’ Buch zum Lehrstück, ohne jemals parteiisch zu werden. Und doch ist „Vaterland“ kein schwerer Familien- oder Historienepos, sondern ein feinfasriges Buch über das Private im Politischen.

Mit der Darstellung des Terrors (in diesem Fall übrigens die gerne „vergessene“ Ausformung des christlich-nationalistischen) trifft Bunjevac heute mit spitzem Stift einen Nerv und zeigt mit ihrer neuartigen Verarbeitung der Geschichte Jugoslawiens: Vielleicht ist die Graphic Novel ja die beste Form, den Landstrich, „der mehr Geschichte produziert, als er verarbeiten kann“, zu verhandeln.

Nina Bunjevac: „Vaterland“
avant-Verlag, 156 Seiten
24,95 Euro

 

Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Universität Wien.

Menschenrechtsverletzungen zur Terrorprävention

  • 23.03.2015, 21:26

Vorratsdatenspeicherung, Überwachung und höhere Ausgaben für Polizei und Militär: So sieht die aktuelle Antwort der Politik auf Terror aus. Tiefgreifende Maßnahmen zur Gewaltprävention fehlen.

Im Jänner kündigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner ein Maßnahmenpaket zum „Kampf gegen Terror“ an, das ca. 300 Millionen Euro kosten sollte. Und das nur wenige Tage nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris. Nicht nur in Österreich waren Terror und seine Prävention für einige Wochen das scheinbar einzig relevante Thema. Auch auf EU-Ebene wurden – und werden nach wie vor – Terrorpräventionsmaßnahmen diskutiert, deren Sinnhaftigkeit allerdings fragwürdig ist.

Sowohl in Frankreich als auch in Dänemark wird Vorratsdatenspeicherung betrieben, meint Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat). Trotzdem konnten die islamistischen Anschläge in Paris und Kopenhagen nicht verhindert werden. „Bei keinem der Anschläge der letzten Jahre in Europa hat es an Daten gemangelt.“ Dass jetzt in Österreich über eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telefonverbindungen diskutiert wird, ist daher unnachvollziehbar. Die EU-Richtlinie, die die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten vorsah, wurde im April 2014 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung war das Ergebnis einer Klage, die der AK Vorrat gemeinsam mit anderen Kläger_innen gegen die Richtlinie eingebracht hatte.

Wegen dieser EuGH-Entscheidung steht nun auch statt der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten jene von Reisedaten stärker im Fokus der Sicherheitspolitik. Sie würde eine anlasslose Massenüberwachung von allen Reisebewegungen darstellen. Für Lohninger ist klar, dass diese ebenso verfassungswidrig wäre. Sie würde unter anderem gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Recht auf Privat- und Familienleben – verstoßen. Es wären dann nicht mehr nur Kameras auf Bahnhöfen und Flughäfen, die unsere Reisen aufzeichnen. Die lückenlose Überwachung würde mit elektronischen Datenbanken, in denen alle Flugdaten gespeichert würden, erfolgen. Hier spielen auch migrationspolitische Interessen der EU eine Rolle. Das zeigt sich zudem in der Forderung nach verstärkten Grenzkontrollen, die zur Terrorprävention nur wenig Sinn ergeben: Bei den meisten Anschlägen in Europa in den letzten Jahren haben die Täter_innen die Grenzen des Schengenraums nie überschritten.

FEINDBILD MUSLIM_INNEN. Die Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze erklärt, dass die zur „Terrorprävention“ erfolgten und geplanten Grundrechtsverletzungen demokratisch hoch problematisch seien: „Rechtsstaatlich sind diese Maßnahmen schwer zu legitimieren, politisch wird aber mit der öffentlichen Sicherheit argumentiert. Die latenten Ängste der Bevölkerung können dazu genutzt werden, Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen.“ Der Trugschluss, dass Anschläge dadurch verhindert werden könnten, entsteht laut Schulze „durch das Schüren von Angst, die mit sehr stark inszenierten politischen Machtdemonstrationen einhergeht, die das Gefühl der Sicherheit suggerieren sollen.“

Als 2011 bei einem Anschlag in Norwegen 77 Menschen starben, wurden all diese nun geplanten Maßnahmen nicht diskutiert. Der Täter Anders Breivik legitimierte seinen Anschlag antimuslimisch und bezog sich in seinem „Manifest“ stark auf das Christentum. Die Tat wurde meistens als „Massaker“ oder „Massenmord“, nicht aber als „Terroranschlag“ bezeichnet. Eine Debatte über das Gefahrenpotential der christlichen Religion blieb ebenso aus wie jene über „Terrorprävention“.

Dieses Ungleichgewicht der Aufmerksamkeit von Politik und Medien und die Selektivität, mit der der Ausdruck „Terror“ verwendet wird, zeigte sich auch diesen Winter, als eine rassistisch motivierte Anschlagserie auf Moscheen in Schweden mit fünf Verletzten kaum wahrgenommen wurde. Niemand sprach hier von der Notwendigkeit der Verteidigung „westlicher Werte“, wie etwa der Religionsfreiheit oder dem Schutz vor Diskriminierung.

Wenn Täter_innen aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft kommen, werden sie nicht als Terrorist_innen bezeichnet. Umgekehrt werden Muslim_innen – ohne im Geringsten mit gewalttätigen Anschlägen zu sympathisieren – voreilig als Terrorist_innen wahrgenommen. Die Angst und der Hass richten sich gegen Muslim_innen. Marianne Schulze beobachtet die Auswirkungen der sicherheitspolitischen Stimmungsmache: „Die Dämonisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen verstärkt latente Ressentiments, die Übergriffe zur Folge haben.“

KEINE PROBLEMBEARBEITUNG. Bei rechtsextremen und islamistischen Anschlägen lassen sich einige Parallelen ausmachen. Eine davon ist der Antisemitismus, der in Europa laut einer Studie des Pew Research Centers wieder ansteigt und offener und mörderischer als in den letzten Jahrzehnten auftritt. Um diesen Phänomenen entgegenwirken zu können, braucht es Aufklärung, besonders bei Jugendlichen. Katja Schau und Frank Greuel vom Deutschen Jugendinstitut weisen darauf hin, dass bei der Präventionsarbeit mit Jugendlichen eine Orientierung an deren Lebensrealität notwendig sei. Ansonsten sei es nicht möglich, das Vertrauen von Jugendlichen zu gewinnen und erfolgreiche Vorbeugungsarbeit zu leisten. Das gilt gleichermaßen für die Prävention von Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. „Die wichtigste Terrorprävention ist und bleibt die umfassende Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung für alle und damit verbunden die Sicherung der Umsetzung des Menschenrechts auf Arbeit“, ist Menschenrechtsexpertin Schulze überzeugt. Zum 300-Millionen-Sicherheitspaket der Innenministerin meint sie: „Würde man diese Summe in den Bildungsbereich stecken, wäre das wirklich nachhaltige Prävention.“

 

Katharina Gruber studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien.

 

A New War On Terror

  • 21.02.2015, 19:24

Die Wortwahl in Mediendebatten zu systematischen Gewaltverbrechen führt zu Desinformation und Hetze. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Terrorbegriffs.

Die Wortwahl in Mediendebatten zu systematischen Gewaltverbrechen führt zu Desinformation und Hetze. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Terrorbegriffs.

Am 10. Februar erschoss der „Anti-Theist“ Craig Stephen Hicks seine muslimischen Nachbar*innen Deah Shaddy Barakat, Yusor Mohammad Abu-Salha und Razan Mohammad Abu-Salha in Chapel Hill, North Carolina. Die großen Nachrichtenagenturen und -Sender ließen sich lange Zeit mit der Berichterstattung über den Anschlag; als sie endlich kam, wurde nicht etwa von rassistischen Morden oder einem rassistischen Terroranschlag gesprochen, sondern von einem „Parkplatzstreit“.

Diese „Vorsicht“ bei der Bezeichnungen von An- oder Übergriffen Weißer findet im obligatorischen Nachsatz „die Polizei schließt einen rassistischen Hintergrund aus“ mittlerweile fast schon eine Zuspitzung als Gag. Bittere Ironie ist auch, dass nun offenbar keine Atheisten (oder Autofahrer*innen) genötigt werden, sich von Craig „I hate religion“ Stephen Hicks zu distanzieren, aber das ist wohl eine andere Geschichte.

Ähnlich wie mit dem Rassismus gestaltet es sich mit dem offenbar nichtexistenten weißen Terrorismus: Selbst Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 vorwiegend Jugendliche in einem lange und akribisch geplanten Massaker erschoss, gilt als „Wahnsinniger“ und „Psychopath“. (Dass er unter anderem exakt wegen Terrorismus verurteilt wurde, ging in der Prozess-Berichterstattung unter.)

Ab wie vielen Menschen ist es eigentlich ein terroristischer Anschlag, wenn die Opfer Muslime oder Nicht-Weiße und der Täter ein Weißer ist? Die Antwort ist, dass es keine Antwort gibt. Der Begriff Terrorismus ist in den westlichen Medien und ihrer Gesellschaft nämlich ausschließlich für Gewalttaten Nicht-Weißer vorbehalten. Weiße Verbrechen werden somit individualisiert und pathologisiert, während den Verbrechen und der Gewalt Nicht-Weißer eine permanent systematische Komponente angehängt wird.

Zusätzlich zeigt die Tatsache, dass es keine objektiven Maßstäbe dafür gibt, wie sich ein Terroranschlag von einem Massaker oder einem Amoklauf abgrenzt, wie beliebig und deshalb gefährlich der Begriff ist. Eine der unzulänglichen Definitionen für „Terror“ ist „die systematische Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen zum erreichen politischer Ziele“. (Dass diese Definition sich übrigens manchmal auch mit jener für das Gewaltmonopol des Staates deckt, lassen wir mal außen vor.) Der breite Interpretationsspielraum dieser Definition wird nicht zufällig nie genutzt, um beispielsweise Gewalt und Verbrechen von Kolonialmächten als solche zu verurteilen; nein, der Terror ist trotz lateinischer Wurzel eine Erfindung der Post-9/11-Ära. Der US-amerikanische „War on Terror“ und seine gesellschaftlichen und innenpolitischen Auswirkungen schließlich haben gezeigt, dass der Terrorbegriff zum Begriffsterror geworden ist.

Harte Zeiten, harte Buchstaben: Das fast lautmalerische Zitterwort macht natürlich wunderbare Schlagzeilen und weltbedeutenden Journalismus, jedoch führt die beliebige (und an den falschen Orten inflationäre) Anwendung und das Verschwimmen der ohnehin schon schwammigen Anhaltspunkte nur zu Desinformation, Zementierung von Ungerechtigkeiten und Hetze gegen Nicht-Weiße. Wir brauchen einen neuen Kampf gegen den Terror: Nieder mit der rassistischen Begriffskultur.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

force, power and violence

  • 10.04.2015, 12:55

Sechs Dinge über Gewalt, die du noch nicht wusstest.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.


unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen.


thermonukleare Metaphernexplosion
Sollte es in naher Zukunft in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, wird manchen Medien die sprachliche Munition ausgehen. So werden jedes Jahr im Jänner bereits im Vorfeld die Proteste gegen den FPÖ-„Akademikerball“ als „Chaos“, „Krawalle“, „Ausschreitungen“ beschrieben, es wird vor „Gewaltexzessen“ gewarnt und nach den Protesten werden dann gar „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeifabuliert. Diese verbale Aufrüstung wurde heuer auch von der Forderung der Bezirkshauptfrau des 1. Wiener Gemeindebezirkes nach einem Bundesheereinsatz in der Innenstadt begleitet. Wer sich Bilder von Städten wie Kobanê oder Aleppo, wo tatsächlich Bürger_innenkrieg herrscht, ansieht, wird relativ schnell erkennen, dass es sich bei Demonstrationen, an deren Rand Mistkübel umgeworfen (und wieder aufgestellt) und Fensterscheiben zerbrochen werden, mitnichten um Ereignisse handelt, die man als „Krieg“ bezeichnen könnte.


„bürgerkriegsähnliche Zustände“

ohne Graustufen
Die „erotische“ Romanreihe „Fifty Shades Of Grey“ von E. L. James ist von den Bestsellerregalen in die Kinos gewandert und feierte auch dort Erfolge. Während die Buchreihe von einigen als sexuelle Befreiung gefeiert wurde, hagelt es gerade aus der BDSM-Szene Kritik: Der beschriebene Sex sei zwar BDSM-Praktiken nachempfunden, die dargestellte Beziehung sei jedoch durch Missbrauch gekennzeichnet. Während in der BDSM-Szene Vertrauen, Konsens und sogenannte Safe-Words (Wörter, die im Vorhinein ausgemacht werden und „Stop“ oder „Nein“ bedeuten) eine wichtige Rolle spielen und das Ausleben gewisser Kinks überhaupt erst möglich machen, kommen diese Aspekte in James’ Roman überhaupt nicht vor. Nein-Sagen wird von der Romanfigur Grey konsequent ignoriert und gewalttätige Praktiken wie Stalking und Gaslighting werden glorifiziert und als sexy dargestellt. Laut einer Studie der Michigan State University haben Fifty-Shades- Leserinnen* ein höheres Risiko, in einer missbräuchlichen Beziehung zu leben, was zusammen mit dem Bild, das das Buch von BDSM vermittelt, zu einer Normalisierung häuslicher Gewalt führen könnte.


Monopol
In modernen Demokratien herrscht das sogenannte „Gewaltmonopol“ des Staates. Dieser Begriff stammt vom deutschen Soziologen Max Weber und drückt aus, dass die Mitglieder einer Staatsgemeinschaft darauf verzichten, selbst Gewalt auszuüben, um ihre Rechte durchzusetzen. Einzig die (meist demokratisch legitimierte) Exekutive hat das Recht, mittelbare (physische) oder unmittelbare Gewalt anzuwenden, um „Recht und Ordnung“ durchzusetzen. Lange Zeit galt dieses Gewaltmonopol in jedem Bereich, außer einem: der Familie (vgl. nächste Box). Aber auch Staaten geben gerne Stückchen und Scheibchen ihres Monopols ab: Private Sicherheitsfirmen oder gar Söldner_innen übernehmen Aufgaben des Staates und schrecken dabei – oft nicht ganz legal – vor Gewaltanwendung nicht zurück. Ein besonders schwerwiegender Fall ist das Militärunternehmen Blackwater (heute Academi). Im letzten Irakkrieg haben dessen Mitarbeiter_innen in mehreren Fällen Zivilist_innen getötet und Gefangene misshandelt. In Europa gibt es eine einzige legale Privatarmee: Die Atholl Highlanders stehen im Dienst des schottischen Duke of Atholl und sind heute eine Tourismusattraktion.


ungeschützt
Nicht alle sind gleichermaßen vor Gewalt geschützt. Während dies bei Eigentum und weißen Männern wenig Probleme bereitet, gibt es Personengruppen, die unverhältnismäßig oft Gewalt erleben. Zum Beispiel Kinder: Eltern hatten in Österreich bis 2000 (!) das Recht, zur „Erziehung“ Gewalt gegen ihre Kinder zu verüben. Auch gegen Gewalt in der Ehe, die meist von Männern ausgeht, gibt es erst seit 1997 ein eigenes Schutzgesetz, das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. In diesem Jahr beschloss die EU eine Kampagne zur „vollständigen Ächtung von Gewalt gegen Frauen“. Auch Gewalt gegen trans*Menschen ist traurige Normalität: Das Transmurder Monitoring Project der NGO Transgender Europe, das systematisch Hassmorde an trans*Menschen analysiert, hat seit Projektbeginn im Jänner 2008 über 1.600 Morde an trans*Personen gezählt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

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