Drogenpolitik

Zwischen U-Bahnhof und Grauem Haus

  • 22.06.2016, 13:50
Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

„Zu zwei Drittel sind wir ja Sozialarbeiter_innen.“ Das sagt meine Ausbildungsrichterin immer, wenn sie das Gefühl hat, der Mensch auf der Anklagebank müsste eigentlich gar nicht da sitzen. Die meisten von unseren Leuten hier, sagt sie, die hätten nur irgendwen gebraucht, der sie an der Hand nimmt und ein bisserl durchs Leben führt.

Seit fast drei Monaten mache ich jetzt Gerichtspraxis, meine erste Zuteilung ist eine Strafabteilung in Wien. Ungefähr die Hälfte der Fälle, die wir verhandeln, haben irgendetwas mit Drogen zu tun. Teenager, die mit einem Joint erwischt worden sind. Ein bisschen ältere Teenager, die mit ein paar mehr Joints erwischt worden sind. Ein bisschen kaputtere Teenager, die auf Heroin-Cold-Turkey im Verhandlungssaal sitzen und keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringen. Und natürlich die erwachsenen Gegenparts zu diesen Teens. Die Leute, die ihre Verhandlung verschieben wollen, weil sie keine Urlaubstage mehr haben und der Chef nichts mitbekommen soll. Die, die sich fürchten ihre Mindestsicherung zu verlieren, wenn sie wegen Drogen verurteilt werden. Die, die auf einmal verschwinden, obdachlos gemeldet sind, aber auch in keiner Einrichtung mehr auftauchen. Die, die mit den Drogen für all die anderen handeln.

KLASSENJUSTIZ, GANZ UNGENIERT. Alle diese Leute, die mir auf der Bank gegenüber sitzen, haben eines gemeinsam: Sie sind das, was der Dekan meiner Fakultät bei meiner Sponsionsfeier mit einem süffisanten Grinsen und ein wenig Abscheu im Gesicht als „bildungsfern“ bezeichnet hat. Die meisten haben keinen formalen Bildungsabschluss, weder eine Lehre, noch eine Schule. Viele sind schon jahrelang beim AMS als arbeitssuchend gemeldet, obwohl sie noch keine achtzehn sind.

Das ärgert meine Ausbildungsrichterin, und mich ärgert es auch. Weil es nämlich nicht so ist, dass die Menschen aus sozial schwächeren Schichten mehr Drogen konsumieren als der Rest der Gesellschaft. Sie sind nur die einzigen, die kontinuierlich verfolgt werden. Armut und Perspektivlosigkeit gehen mit einer erhöhten Kriminalitätsgefährdung, gerade im Bereich der leichten und mittelschweren Delikte, einher. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Teile der Gesellschaft keine Drogen konsumieren. Jede Person mit intaktem olfaktorischem Organ, die jemals auf einer Studierendenparty oder in einer dieser wunderbaren Discos, die 20 Euro Eintritt verlangen, war, weiß das. Keine mir bekannte Person aus dem studentischen Milieu ist jemals wegen einer verdammten Cannabiszigarette vor ein Strafgericht gesetzt worden. Nein, da wird das wegen Geringfügigkeit eingestellt, mit Diversion gleich bei der Staatsanwaltschaft vorgegangen – wenn man überhaupt dort landet. Das ist auch richtig so, dafür gibt es ja diese Instrumente. Nur kommt eine Mindestsicherungsbezieher_ in anscheinend nicht in den Genuss dieser.

IN DEN SCHUHEN DEINER DEALER_IN. Am deutlichsten sieht man das bei jenen, die mit den Drogen für all die anderen handeln. Und damit meine ich nicht die Person, die im VIP-Bereich irgendeines Clubs kleine weiße Plastiktüten auspackt. Diejenigen, die den ganzen Tag auf der Straße stehen, Wind und Wetter ausgesetzt sind, bei Schritt und Tritt beobachtet werden, jederzeit erwischt werden könnten, andauernd erwischt werden. Der Boulevard nennt sie gerne Straßendealer_in.

Die allermeisten sind wahnsinnig jung, haben keinen sicheren Aufenthaltstitel, viele sind Asylwerber_innen oder U-Boote. Sie sprechen kaum oder nur sehr schlecht Deutsch, viele auch kein Englisch. Sie haben Angst. Sie haben alle Angst. Angst vor Gefängnis, Deportation, vor weißen Menschen in Uniformen und ihrer Reaktion auf dunkle Haut. Angst vorm Stummund Taub-Sein. Denn sie sind viel zu oft beides. Wenn sie bei der Verhandlung einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt bekommen, ist das oft das erste Mal seit Wochen, dass sie richtig mit ihrer Umwelt kommunizieren können. „Was soll ich denn anderes machen? Mir bleibt ja nichts anderes über. Ich darf nicht arbeiten, ich darf nicht in die Schule, ich darf nirgends hin.“ Sagt uns die Dolmetscherin. Seine Hände zittern, die Tränen kämpfen mit der Panik um den Platz in seinen Augen. Eine Diversion – das ist eine Art Vergleich mit dem Staat, bei dem man nicht verurteilt wird – bekommen nicht mehr viele von ihnen. Weil sie schon zu oft erwischt worden sind, weil die Gewerbsmäßigkeit im Raum steht. Und sie trifft auch fast immer zu – wer Drogen verkauft, um davon zu leben, tut es nunmal gewerbsmäßig.

Ein Drittel der österreichischen Bevölkerung hat schon einmal Cannabis konsumiert, unter den Jüngeren ist dieser Anteil noch höher: Ich bin Juristin, ich habs nicht unbedingt mit Zahlen oder Statistiken, so etwas wie Methoden lernen wir nicht. Den Theorien des freien Marktes stehe ich – gelinde ausgedrückt – skeptisch gegenüber, aber eines weiß ich: Es gäbe den Markt nicht ohne entsprechende Nachfrage.

Drogen sind medizinisch betrachtet böse zu Menschen. Sie zerstören unsere Hirne und Nervensysteme, sie machen uns abhängig und unsere Wahrnehmung kaputt. Das ist unbestritten. Dass das Konsumieren von Drogen, das Weitergeben und Handeln, strafbar ist, ist ein vollkommen anderes Kapitel. Dass restriktive Drogenpolitik und vor allem gerichtliche Verfolgung jedoch nicht alle gleichermaßen trifft, sondern dass die Verfolgung „bildungsferner“ Teile der Gesellschaft einen derartigen Überhang zu haben scheint, ist nicht einmal unseres bürgerlichen Rechtsstaats würdig.

Eine liberale Drogenpolitik hat viele Vorteile: Sie senkt die Krankheiten und Ansteckungsraten bei den Süchtigen, sie erhöht den Reinheitswert der Suchtgifte und macht sie so berechenbarer, sie bringt nicht zuletzt Steuern ein. Liberale Drogenpolitik wird aber die Probleme derjenigen, die den Straßenhandel am Gürtel betreiben, nicht lösen. Was es braucht sind legale Fluchtwege, vernünftige Aufenthaltstitel mit Arbeitsmarktzugang, eine Sozialpolitik, die ihren Namen verdient – wenn die Armut sinkt und Zukunftsperspektiven bestehen, dann sinkt die Kriminalität.

Tamara Felsenstein hat Rechtswissenschaften studiert und absolviert gerade ihre Gerichtspraxis.

Verweise:
http://derstandard.at/1369362961278/Ueber-das- Etikett-Auslaenderkriminalitaet
http://www.neustart.at/at/_files/pdf/webpublikationen/arbeit_faelle/nulltoleranz_schlechter.pdf
http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3- 531-94164- 6_14#page-1
http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/1/0/6/CH1040/CMS1164184142810/bericht_zur_drogensituation_2015.pdf
 

„Solidarität zeigen mit Dealer_innen“

  • 22.06.2016, 13:35
Gras für die einen – Abschiebung für die anderen? Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

Gras für die einen – Abschiebung für die anderen?

Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

progress: Am 1. Mai 2016 seid ihr mit einem Flugblatt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen. An wen richtet sich eure Initiative?
Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen:
Wir wollen uns solidarisch zeigen mit Dealer_innen und all jenen, die von der Polizei täglich und nicht nur entlang des Gürtels schikaniert, kontrolliert oder festgenommen werden. Und wir wollen unterstützende Interventionsformen entwickeln sowie kompakte Rechtshilfeinformationen zur Verfügung stellen. Zeug_innen von Polizeikontrollen und Racist Profiling sagen wir: Geht nicht einfach vorbei, sondern schaut hin, bleibt stehen, mischt euch ein, fragt die betroffenen Personen, ob sie Unterstützung brauchen. Eine weitere Gruppe, die wir ansprechen wollen, sind die Anrainer_ innen. Viele sind mit der massiven Polizeipräsenz in ihrem Grätzl überhaupt nicht einverstanden, auch nicht mit der willkürlichen Vertreibung unerwünschter Gruppen oder Jugendlicher. Auch jene, die mehr oder weniger aktiv Teil der stattfindenden Gentrifizierung sind, wollen wir ansprechen und in die Verantwortung nehmen. Schließlich wollen wir uns in den medialen und politischen Diskurs einmischen und sagen: Wir lassen uns die rassistischen Politiken und die Polizei auf unseren Straßen, die unter dem Deckmantel von Sicherheit und Sauberkeit daherkommen, nicht länger gefallen.

In eurem Flyer kritisiert ihr studentisch- bildungsbürgerliche Drogenkonsument_ innen dafür, zwar beim Gemüsekonsum, nicht aber bei Graseinkauf auf „Fair Trade“ zu achten.
Die Leute, die ihre Drogen entlang des Gürtels oder an anderen Orten Wiens kaufen, die wegen Vertreibung und Gentrifizierung ständig wechseln, denken oft nicht an die Arbeitsbedingungen ihrer Straßendealer_innen. Häufig sind das Asylwerber_innen oder Sans Papiers, denen der Zugang zu legaler Lohnarbeit verwehrt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleiben ihnen informalisierte und illegalisierte Tätigkeiten. Dealen ist eine der wenigen und zudem männlich* dominierten Jobmöglichkeiten, die bleiben. Die Bedingungen: niedrigster Lohn, anstrengende und stressige Arbeit und hohes Risiko. Dealer_innen ohne Papiere riskieren lange Gefängnisstrafen, Nachteile im Asylverfahren und ihre Abschiebung. Die im Juni in Kraft getretene Verschärfung des Suchtmittelgesetzes trifft die Straßendealer_innen, nicht die Konsument_innen. Dass Konsument_innen ihre Substanzen relativ bequem und sicher einkaufen und sich manche davon gleichzeitig über die Sichtbarkeit von Drogenbusiness und Drogennutzer_innen beschweren, ist absurd. Die Konsument_innen könnten ihre Privilegien dafür einsetzen, das Risiko, dem die Dealer_innen ausgesetzt sind, zu vermindern.

Wie schätzt ihr die Rolle der rotgrünen Stadtregierung in Wien ein?
Die Stadt Wien betreibt seit Jahren eine Säuberungspolitik, mit der unerwünschte Gruppen von zentralen öffentlichen Plätzen vertrieben werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Karlsplatz-Renovierung und die Vertreibung der dortigen Drogenszene. Das Problem von kurzsichtiger Nicht-vor-meiner-Nase-Politik ist, dass es lediglich zu einer Verschiebung in andere Stadtteile kommt – derzeit beispielsweise bei der Josefstädter Straße und der Gumpendorfer Straße. Statt strukturelle Probleme (wie mangelnde Arbeitsmöglichkeiten, ein Defizit an leistbarem Wohnraum, das überlastete Gesundheitssystem, etc.) zu bearbeiten, wird vielmehr eine Stimmung der Angst erzeugt. Diese wird dann noch dazu rassistisch codiert, was dazu führt, dass die marginalisiertesten Personen als Sündenböcke präsentiert werden.

Der grüne Bezirksvorsteher Neubaus, Thomas Blimlinger, richtete sich im Februar mit einem Brief an alle Haushalte, schürte die Ängste der „besorgten Bürger_innen” und stimmte ein in die aus mehreren Richtungen erfolgten Rufe nach mehr Polizei. Dass die massive Polizeipräsenz zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beiträgt, wagen wir aber zu bezweifeln.

Repressive Aktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche Drogendealer_innen werden medial zumeist als Erfolge präsentiert. Wo sind die Leerstellen der herrschenden Art der Berichterstattung?
Es existieren kaum Beiträge, die ohne die Narrative vom 16. Bezirk als Gefahrenzone, Geflüchteten als kriminellen und gefährlichen Drogendealern* und der Polizei als Akteurin in der Wiederherstellung von Sicherheit auskommen. Eine kritische Sichtweise auf rassistische Polizeikontrollen und auf die fast permanente Polizeipräsenz am Gürtel fehlt. Es ist erstaunlich, wie viele Medien – auch so genannte Qualitätsmedien – Meldungen der Polizei direkt, wörtlich und ohne weitere Recherche übernehmen. Manche Darstellungen durch Journalist_innen, die auf stereotype Weise von vor Ort berichten, können nur als Klassenkampf von oben gesehen werden. Medien sind einerseits aktiv an der Herstellung eines Klimas rassistischer Hetze beteiligt, andererseits an der Rechtfertigung von immer mehr Polizeipräsenz und -repression an immer mehr Orten Wiens.

Welche drogenpolitischen Perspektiven würdet ihr favorisieren? Was sich rund um den Gürtel abspielt, ist ein Beispiel dafür, wie Drogenpolitik, Stadtentwicklung und Asyl-/ Migrationspolitiken ineinandergreifen. Das müsste sich auch in den Entwicklungen widerspiegeln, die wir uns wünschen – bloß umgekehrt. Es reicht also nicht, Drogenhandel und -konsum zu entkriminalisieren, so aber vielleicht neue Ausschlüsse zu schaffen. Es braucht auch einen generellen Perspektivenwechsel. Hin zu: Wer hier ist, ist von hier. Und ein Bekenntnis, dass die Städte für alle sind, die in ihnen leben. Ohne Blaulicht, ohne Papiere.

Kontakt zur Initiative: wasgeht@riseup.net

Interview: Florian Wagner

… und Wirklichkeit

  • 22.06.2016, 12:31

… und wie sich ihre echten Gegenstücke zwischen Repression, Prekarität, Ruhm und Reichtum bewegen .

Hanf-Omas
Kurznachrichten über Drogenrazzien und hopsgenommene Dealer_innen sind generell ein dankbares journalistisches Genre. Umsomehr gilt das, wenn ältere Frauen, die Cannabisplantagen betreiben und irgendwann erwischt werden, im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Sie entsprechen einerseits überhaupt nicht dem Bild der gefährlichen Dealer_ innen, andererseits verstecken sich hinter den lustig anmutenden Meldungen oft tragische Geschichten. So standen im Februar 2014 eine 63-Jährige und ihr Mann aus dem Hunsrück vor Gericht, weil sie aus medizinischen Gründen 47 Cannabispflanzen im Keller gehegt hatten. Die Rentnerin baute das Gras an, um eine drohende Erblindung zu bekämpfen. Die teuren Medikamente konnte sich die ehemalige Putzkraft nicht leisten. Das Gericht hatte Mitleid und sprach nur eine Verwarnung aus. Doch nicht jede Hanf-Oma ist so liebenswert: Im schweizerischen Malters verteidigte eine 65-Jährige für 17 Stunden mit Waffengewalt ihre Plantage gegen die Polizei. Sie wurde bei der Erstürmung ihrer Wohnung erschossen.

Meth-Enkel
Nicht nur Großeltern agieren manchmal als Drogendealer_ innen, auch ihre „Enkel“ sind teilweise schon in sehr jungen Jahren aktiv. Im Vereinigten Königreich wurde zum Beispiel im Juli 2014 ein 13-Jähriger im nordenglischen Barrow dabei erwischt, wie er Heroin und Meth dealte. Angeblich wurde der Jugendliche von einer Gang zum Dealer ausgebildet und lebte bei Süchtigen, die er zur Miete mit kostenlosen Drogen versorgte. Dieses Modell scheint in Nordengland beliebt zu sein: Die Polizei berichtete von zwei weiteren Fällen, in denen 14-Jährige in einer sehr ähnlichen Situation gewesen wären. 2012 will die Polizei im Vereinigten Königreich insgesamt über 12.000 Dealer_innen festgenommen haben, die nicht nur minderjährig, sondern auch unter 16 Jahren alt waren. Die meisten von ihnen handelten jedoch mit leichten Drogen wie Cannabis und nicht mit als „class A drugs“ bezeichneten harten Drogen. Für den Dealer aus Barrow wurde unterdes keine Gnade angekündigt. Die Gerichte würden in solchen Fällen „Strafen verteilen, die dem geleisteten Schaden an der Gesellschaft entsprechen“, so eine Polizeisprecherin.

Verschärftes Gesetz
Die Diskussionen über die Wiener U-Bahnlinie U6, bei der vor allem bürgerliche Journalist_innen die Präsenz von Schwarzen Menschen, die sie als Drogendealer_innen zu identifizierten glaubten, beklagten, sind in einer Gesetzesnovelle mit anschließender Polizeiaktion gemündet. Großkotzig kündigte die Wiener Polizei „bis zu 200 zusätzliche Festnahmen“ innerhalb der ersten 24 Stunden an und ließ in Großraumzellen mehr Betten aufstellen. Außerdem wurde das Personal aufgestockt. Insgesamt waren es dann gigantische 14 mutmaßliche Dealer_innen, die in den ersten 24 Stunden nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle verhaftet wurden. Dabei umfasst der neue Straftatbestand den Handel mit illegalen Drogen im öffentlichen Raum und an anderen Orten, wenn „das Verhalten durch unmittelbare Wahrneh mung dazu geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen“. Dieser Gummiparagraph lässt sich hervorragend dazu einsetzen, Drogenszenen von einem Ort zum nächsten zu jagen. So freut sich die Wiener Polizei bereits jetzt darüber, die Dealer_innen von der U6 verjagt zu haben. Aber Wien hat ja noch einige andere U-Bahnlinien.

Vom Gangsta zum legalen Dealer
Nachdem in einigen US-Bundesstaaten der Konsum von Cannabis legalisiert wurde, stellt sich dort eine paradoxe Situation ein: Während ehemalige Dealer_innen, viele davon People of Color, weiterhin ihre Gefängnisstrafen absitzen, haben Cannabis- Start-ups den legalen Markt übernommen. Geführt werden diese meist von Weißen Menschen, die davor nicht im Fokus polizeilicher Ermittlungen bezüglich Drogenkriminalität standen. Allerdings gibt es natürlich auch Ausnahmen: Der Rapper Snoop Dogg ist vor einiger Zeit mit einer eigenen Linie von Cannabisprodukten ins Geschäft eingestiegen – diesmal legal. In den 1990ern stand der Rapper nämlich nicht selten wegen Drogendelikten vor Gericht, unter anderem auch wegen Dealens. Nun ist aber alles anders: Mit „Leafs by Snoop“ vertickt der Rapper im US-Bundesstaat Colorado legal acht verschiedene Cannabissorten in stylisch designten Schachteln, außerdem gibt es Konzentrate und Kekse zu erwerben. Snoops Cannabisimperium wird von einer eigenen Marihuana-Medienfirma abgerundet: „Merry Jane“ soll Cannabis und Popkultur vermengen.

52 Milliarden
Als reichster Drogenboss galt der mittlerweile 85-jährige Amerikaner Frank Lucas. Sein Drogengeschäft begann er in den 1960ern im New Yorker Stadtteil Harlem. Seine Strategie bestand vor allem darin, das Monopol der italienischen Mafia in New York zu brechen. Dafür reiste er nach Bangkok und kontaktierte dort einen entfernten Verwandten, der Verbindungen zur U.S. Army hatte. So begann der Schmuggel direkt aus dem sogenannten „Goldenen Dreieck“. Wie genau dieser von statten ging, darüber gehen die Meinungen auseinander. In manchen Versionen wird von Särgen toter US-Soldaten berichtet, andere Quellen geben nachgemachte Särge oder „nur“ Möbel an. Lucas vertraute nur Verwandten und guten Freund_innen seine Drogengeschäfte an, weil er der Meinung war, dass die Chance, dass diese ihn bestehlen würden, geringer sei. Mit den großen Profitmargen, die er aus dem Direktverkauf seines „Blue Magic“-Heroins ohne Zwischenhändler_innen erzielte, konnte er viel Besitz anhäufen, unter anderem auch eine Rinderfarm in North Carolina. Als er 1975 jedoch festgenommen wurde, verschwand angeblich sein gesamter Besitz. In „American Gangster“ wurde Lucas’ Leben verfilmt, allerdings mit einigen Änderungen, damit die Geschichte genügend Dramatik für das Mainstream-Kino bietet.

Online-Dealer_innen
Der Handel mit Drogen läuft auch im Netz. Wer abgelegen wohnt oder schlicht keine Lust hat, bei Straßendealer_innen zu kaufen, kann sich im Darknet so ziemlich alles besorgen, was das Herz begehrt. Die geheimen Seiten sind nur über das verschlüsselte und anonyme TOR-Netzwerk erreich bar, bezahlt wird in der Kryptowährung Bitcoins. Die bekannteste Seite für alles Illegale war „Silk Road“, benannt nach der historischen Seidenstraße. Aufge setzt und betreut wurde der Darknet-Marktplatz von Ross Ulbricht, der besser unter dem Pseudonym „Dread Pirate Roberts“ bekannt war. 2013 stellte sich heraus, dass Ulbricht ziemlich unsicher gehandelt hatte: das FBI kam ihm auf die Schliche, nahm ihn fest und beschlagnahmte "Silk Road". Ulbricht wurde daraufhin unter anderem wegen Drogenhandels und Auftragsmord zu lebenslanger Haft verurteilt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien und nein, das hat nichts mit Drogenanbau zu tun.

Lest hier den begleitenden Artikel über die fiktiven Drogendealer*innen

Grasgrüne Hoffnungsschimmer

  • 21.06.2016, 19:48
In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

Wer den Duft kennt, weiß was hier wuchert. In jedem Straßenzug zwischen den tristen, oft verwaisten 1970er-Wohnblöcken der Satellitensiedlung am äußersten Stadtrand der andalusischen Provinzhauptstadt Granada riecht es fein süßlich nach Cannabis. Nicht nur an diesem tiefgrauen, regnerischen Maitag, der zum Alltag in Almanjáyar passt.

Ein Schuss aus einem Druckluftgewehr ertönt. Die getroffene Katze miaut schmerzerfüllt. Gelächter. An der Ecke spielen Kinder und Jugendliche, die eigentlich in der Schule sein sollten, mit Airsoft-Pump-Guns. Streunerjagen ist ein willkommener Zeitvertreib. Außenstehende sind hier nicht gern gesehen, denn neben dem Cannabis gehören auch der Verkauf von Kokain und Sexarbeit zu der hier alles dominierenden Schattenwirtschaft.

Der Cannabisanbau stieg über die vergangenen Jahre immens an, vor allem mit der in Granada nichtendenwollenden Krise. „Er prägt den Alltag der von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geplagten Bewohner_innen“, weiß José Lombardo. Der gelernte Installateur hält sich mit Gelegenheitsjobs und zeitweise als Aushilfs-Pizzakoch finanziell über Wasser. Seit mehr als zehn Jahren lebt er hier. Wie er progress erklärt, will er „auch am Boom um die Cannabisplantagen, die leerstehende Wohnungen, Keller, Garagen, ja selbst Industrieflächen füllen, teilhaben“. Jedoch legal: „Guano-Dünger, Kokosmatten, Samen, alles was man für den Anbau braucht“, will er zu seinem Geschäft machen. Und sich eine Ausbildung als Schädlingsbekämpfer leisten.

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SIE KAUFEN ALLES. „Kontrolliert wird der Anbau und Handel von hier vor Dekaden an den Stadtrand umgesiedelten Roma-Familienclans“, sagt Lombardo. „Kund_innen kommen aus Holland, Tschechien, Deutschland. Erst vor wenigen Wochen hat man zwei Franzosen festgenommen, die 34 Kilo im Auto transportierten“, sagt er.

„Sie kaufen alles“, weiß sein Jugendfreund Juan Heredía*, der anonym bleiben will. Heredía ist „Kleinstbauer“. Er hat eine potente Grow- Lampe und 16 Pflanzen, wie er sagt. Dank eines Sozialtarifs ist seine Stromrechnung gering. „30 Euro im Monat.“ Seine größte Sorge ist, dass man ihm seine Ernte stiehlt. „Wo das Geld quasi an ‚Bäumen‘ wächst, gibt es Neider_innen.“ „Warum nach Marokko fahren, um Kif oder Haschisch zu kaufen? Und es über eine EU-Außengrenze schmuggeln, wenn man in Granada für 1000 Euro das Kilo Indoor-Cannabis kaufen kann?“, erklärt sich die Policía Nacional die Plantagenschattenwirtschaft.

Angebot bestimmt die Nachfrage und vice versa. So habe es sich längst bis nach Mitteleuropa durchgesprochen, dass man hier „Qualität für einen Euro das Gramm bekommt“. Sofern man ausreichend große Mengen abnimmt. Die Polizei kommt kaum mit der Beschlagnahme von Pflanzen nach. Fast 12.000 Stauden wurden im Vorjahr vernichtet. Das ist Rekord in Spanien und stellt fast ein Viertel der landesweit konfiszierten Cannabispflanzen dar. Periodische Razzien tun dem Anbau jedoch kein Ende.

Die stetigen Routinekontrollen bei der Ausfahrt aus dem Stadtteil nerven Lombardo indes: „Zwei, drei Mal die Woche wird mein Auto komplett durchsucht.“ Was er mittlerweile mit einberechne, wenn er ins Zentrum fährt.

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STROMAUSFALL. Die „Maria“ hat für die lokale Ökonomie sowie in den angrenzenden Bezirken La Paz, Rey Badis aber auch Cartuja sukzessive an Bedeutung gewonnen. Insbesondere, weil knapp 80 Prozent, ein Großteil der jungen SpanierInnen, bereits lange Zeit erwerbslos sind. Immerhin verdient man als Tagelöhner_ in im Gras-Gewächshaus mehr als bei der harten Olivenernte. 50 bis 80 Euro, die bei einem gesetzlichen monatlichen Mindestlohn von knapp 650 Euro locken. „Wer mehr als 200 Pflanzen hat, braucht Hilfe, um die Blüten vom Blattwerk zu befreien“, weiß Lombardo: „Das muss schnell gehen. Zeit ist Geld. Kund_innen stehen Schlange.“

Der Indoor-Plantagenanbau führt jedoch auch zu Problemen. Angezapfte Stromleitungen strapazieren die Netze über die Grenzen der Belastbarkeit. Stromausfälle sind die Regel. Zwei Trafostationen waren mit dem Strombedarf restlos überfordert. „Sie haben sie durchgeheizt“, sagt Lombardo, schüttelt den Kopf und lacht: „Das Licht ging flächendeckend aus.“ Mittlerweile begleiten stets Angestellte des Stromgiganten Endesa die PolizistInnen bei Razzien. Mehrfach haben Anwohner_innen, die nichts mit dem Grasanbau am Hut haben, protestiert. Endesa gab an, dass der Stromverbrauch in Almanjáyar den von Juncaril, dem größten Industriegebiet bei Granada, übertreffe. Dieser Fakt macht die Dimensionen begreifbar

Im Zuge der „Operation Urko“ nahm die Polizei zum Jahreswechsel 2015 19 Plantagen in Wohnungen, Garagen und Kellern aus. Alleine in dieser Aktion – einer von vielen – wurden stattliche 2.200 Pflanzen beschlagnahmt, außerdem 5,7 Kilogramm getrockneter, verkaufsfertiger Cannabisblüten in Topqualität. 212 Halogen-Hochleistungsanbaulampen, Verteilerstecker, Zeitschaltuhren, Ventilatoren, Klimaanlagen, Pumpen und Co. zeugten vom Grad der Professionalität.

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LAXES STRAFRECHT. Erst Monate nach der Razzia wurden sieben Männer ausgeforscht und festgenommen. Von Seiten der Ermittler_innen wird nicht nur das Stillschweigen der Anwohner_innen, sondern mehr noch das „zu laxe Strafrecht“ lamentiert. Wer unbescholten als Plantagenbesitzer_ in entlarvt wird, „kann zwar nicht auf die Eigenbedarfs-Strategie bauen“, scherzt Lombardo. Aber man komme schlimmstenfalls mit einer bedingten Haftstrafe davon.

Jemi Sánchez, Sozialarbeiterin, langjährige sozialistische Bezirksrätin für Almanjáyar und nun Neo-Stadträtin, weiß: „Die Bewohner_innen werden hier im Stich gelassen. Es ist nicht sicher hier, dreckig, und es gibt keine Arbeit.“ Sie fordert im progress-Gespräch Lösungen ein, für fast 30.000 Menschen, die in den Nordbezirken leben. Höchste Zeit wäre es. Womöglich klappt es nun unter Francisco Cuenca Rodríguez vom sozialistischen PSOE, der seinem in Korruptionsskandale verwickelten Vorgänger als Bürgermeister nachfolgt. Ein weiterer Hoffnungsschimmer. Auf eine Wende abseits grasgrüner Geschäfte.

* Name der Redaktion bekannt

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet seit 2007 als freischaffender Auslandsjournalist.

Wohin mit all der Nächstenliebe?

  • 05.02.2015, 12:34

Wenn soziale Einrichtungen eröffnet werden, gibt es oft Protest von AnrainerInnen: Man solle bitte schön einen anderen Platz dafür finden, am besten weit weit weg.

Wenn soziale Einrichtungen eröffnet werden, gibt es oft Protest von AnrainerInnen: Man solle bitte schön einen anderen Platz dafür finden, am besten weit weit weg.

Der Alsergrund ist ein kleiner und feiner Bezirk im Herzen Wiens. Das durchschnittliche Einkommen und die Menge an Eigentumswohnungen sind hier höher als in anderen Bezirken der Bundeshauptstadt. In der Porzellangasse, dem Aushängeschild des Neunten, kann man zwischen gutem Gulasch in urigen Wiener Traditionsbeiseln und mindestens so gutem Quinoa in hübschen Slowfood-Lokalen wählen. Als im November letzten Jahres ein leerstehendes Geschäftslokal zu einer Suchtberatungseinrichtung umfunktioniert wurde, gingen im ruhigen Viertelchen plötzlich die Wogen hoch. Eine Bürger­ Inneninitiative wurde gegründet, Unterschriften gesammelt, bunte T-Shirts aus den Fenstern gehängt und bei diversen Straßenaktionen klebten sich protestierende AnrainerInnen die Münder zu. „Als Symbol des Widerstandes“, erklären die InitiatorInnen. Sie stellen in Pressemitteilungen und Positionspapieren klar: Helft den Süchtigen, aber bitte nicht vor unserer Haustüre!

Die betroffene Beratungseinrichtung Change ist seit November 2014 eine Anlaufstelle für Menschen mit einer Suchterkrankung, genauer gesagt für „aktive KonsumentInnen illegaler Substanzen“. Die psychosozial geschulten MitarbeiterInnen bieten eine Vielzahl an Betreuungsmöglichkeiten an: Sie beraten, informieren, vermitteln, stellen einen Aufenthaltsbereich zur Verfügung und bieten die Möglichkeit des Spritzentausches im Sinne einer Infektionsprophylaxe.

VERDÄCHTIGER MIT SONNENBRILLE. Die Geschehnisse im Herbst 2014 waren für die MitarbeiterInnen verblüffend, verstörend und belastend. Ihnen wurde mit Aggression begegnet, die bis zu Drohungen und Sachbeschädigungen ging und die Arbeit anfänglich extrem erschwerte. Mittlerweile ist es wieder ruhiger in der umstrittenen Einrichtung in der Nußdorferstraße. Aber die Anrainer­ Innen sind auf der Hut und melden jedes noch so kleine Detail, dass sie irgendwie in Zusammenhang mit der Einrichtung zu bringen schaffen. „Wir bekamen eine Beschwerde, dass in einer Tiefgarage zwei Männer mit Sonnenbrillen gesehen wurden. Oder dass ein Mann auf einer Parkbank saß und ein Bier trank“, so Margit Putre, Mitarbeiterin der Suchthilfe Wien. Diese Stimmung wirke sich auch auf die Selbstwahrnehmung der KlientInnen aus, die sich teilweise unerwünscht und beobachtet fühlen, obwohl sie eigentlich nur ein anonymes Hilfsangebot wahrnehmen wollen. Das sei sehr schade, denn nicht alle würden so denken: „Nach wie vor stehen wir in engem Kontakt mit den AnrainerInnen. Und es gibt auch andere Reaktionen – die meisten wollen mal schauen, wie sich die Situation entwickelt, andere sind positiv gestimmt und einige schämen sich auch für die Reaktionen ihrer Mitmenschen.“ Die Geschehnisse am Alsergrund sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich Gruppen teilweise mit Händen und Füßen wehren, wenn sie als anders und fremd Wahrgenommene auch nur in ihrer Nähe wissen.

STIGMATA-JACKPOT. Das zugrundeliegende gesellschaftliche Phänomen ist Stigmatisierung – ein soziologischer und psychologischer Begriff, der beschreibt, wie Menschen andere aufgrund bestimmter, als ungewöhnlich wahrgenommener Eigenschaften be- und verurteilen. Dabei wird von einer gesellschaftlichen Norm ausgegangen, die als Bewertungsgrundlage dient und eine klare Funktion hat: die eigene Identität zu stärken. Denn diejenigen, die sich als „normal“ bezeichnen, brauchen die „Abnormalen“, um sich ihrer Normalität auch ganz sicher sein zu können. Menschen mit einer Drogenabhängigkeit sind von mehreren Stigmata betroffen: erstens der Sucht an sich, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nur äußerst selten als komplexer biographischer Prozess gesehen wird, sondern vielmehr als Verlust der Selbstkontrolle. Zweitens dem Konsum illegaler Substanzen und der damit in Verbindung gebrachten Nähe zur Kriminalität. Und nicht zuletzt der Vorstellung von einer Lebensführung, die mit Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Krankheit und Sexarbeit assoziiert wird.

Jedoch: Ein drogenabhängiger Mensch wird wegen etwas beschuldigt und exkludiert, was aus der Gesellschaft heraus entsteht – die Idee eines richtigen und „normalen“ Lebens ist dabei entscheidend. „Das Verständnis von Normalität entsteht durch Sozialisation in der Familie und im näheren sozialen Umfeld sowie durch politische Regulationen und Medien. Viele haben Schwierigkeiten, mit anderen Lebensformen umzugehen, weil sie ihnen fremd sind“, so Alexander Hamedinger, Ökonom an der Fakultät für Raumplanung und Architektur der Technischen Universität Wien. Außerdem könnte ein weiterer Aspekt bei Geschehnissen wie denen am Alsergrund entscheidend sein: „Die Sichtbarkeit von Armut hat im öffentlichem Raum zugenommen und löst bei vielen Menschen, vor allem in der bürgerlichen Mittelschicht, ein Gefühl der Angst aus, da sie sich mit eigenen Abstiegsängsten konfrontiert sehen. Das ist wiederum auf die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt zurückzuführen, die von Unsicherheit geprägt ist“, erklärt Hamedinger.

PLÖTZLICH PARTIZIPATION. In Fällen wie dem des Suchtberatungszentrums am Alsergrund werden von GegnerInnen christlich-soziale Wert- und Moralvorstellungen aufgetischt, während gleichzeitig das Prinzip der Nächstenliebe vernachlässigt wird. So äußerte etwa Manfred Juraczka von der Wiener Volkspartei unisono mit seinem freiheitlichen Kollegen Johann Gudenus großen Unmut in Bezug auf die Eröffnung der Einrichtung der Suchthilfe Wien. Juraczka in einer Presseaussendung: „Es gibt in unmittelbarer Nähe Parks, Grünflächen und FußgängerInnenzonen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass ein Suchtkranker nach dem Spritzentausch relativ bald seiner Sucht nachkommen wird.“ In den Unterstützungbekundungen der politischen Parteien für den Protest gegen die Einrichtung wurde unter anderem die fehlende Einbindung der AnrainerInnen kritisiert. Transparenz ist ohne Zweifel ein unverzichtbares Element einer demokratischen Gesellschaft. Allerdings muss man sich die Frage stellen, ob es überhaupt noch soziale Einrichtungen im städtischen Gebiet geben würde, wenn jedes Mal BürgerInnen in den Entscheidungsprozess miteingebunden werden würden.

(c) Eva Engelbert

Die BürgerInneninitiative am Alsergrund bekam allerdings nicht nur politischen, sondern auch medialen Rückenwind. In diversen Boulevardmedien war im Vorfeld von vermehrten Spritzen am Spielplatz, vermüllten Ecken und verstärktem Polizeieinsatz in Gegenden rund um andere Suchthilfeeinrichtungen die Rede. „In den Medien werden generell oft Unsicherheiten erzeugt und dabei Vorurteile und Ängste geschürt“, sagt Hamedinger. Gerade wenn es um neue Hilfsangebote für Betroffene geht, wird klar, wie tief Stigmata in unserer Gesellschaft verankert sind – und zwar dank eines medialen und politischen Nährbodens, der nicht aufklärt und beruhigt, sondern bewusst Öl ins Feuer gießt. Auch das hat weitreichende Konsequenzen, ist sich Margit Putre von der Suchthilfe sicher: „Die KlientInnen haben den Widerstand am Alsergrund natürlich durch die Medien mitbekommen. Viele sind dadurch verunsichert und meiden deshalb die Einrichtung. Das ist natürlich fatal und beeinflusst unsere Arbeit maßgeblich.“ In Bezug auf den Widerstand gegen die neue Suchthilfeeinrichtung muss auch berücksichtigt werden, dass durch die Bekämpfung gesundheitsfördernder Maßnahmen das öffentliche medizinische und psychosoziale Versorgungssystem gefährdet wird.

NICHT IN MEINEM BALKONIEN! Die Ablehnungshaltung vonseiten bestimmter Einzelpersonen, BürgerInneninitiativen, Parteien und Medien kann mit dem Ausdruck „Not in my backyard!“ (gerne abgekürzt mit NIMBY) beschrieben werden. Dabei werden in erster Linie Risiken und Gefahren aufgrund von Veränderungen in der unmittelbaren NachbarInnenschaft befürchtet. Der Begriff ist ursprünglich im Zusammenhang mit neuer Infrastruktur beziehungsweise erneuerbarer Energie entstanden: Kaum jemand hat beispielweise prinzipiell etwas gegen Windkraftwerke – außer, sie stehen eben in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die erlebte Ungerechtigkeit wird in weiterer Folge auch oft bekämpft.

Menschen mit einer Drogenabhängigkeit sind nicht die einzigen, die mit Stigmatisierung und Ablehnung zu kämpfen haben. Auch auf anderen Schauplätzen sind ähnliche Reaktionen beobachtbar, zum Beispiel im Umgang mit geflüchteten Menschen. In den vergangenen Wochen war die Diskussion um nicht eingehaltene Asylquoten bzw. die Suche nach Quartiersplätzen in den Medien präsent. Doch in nahezu jedem Ort wehrten sich die BewohnerInnen gegen die Eröffnung von Flüchtlingsquartieren. Wenn man die Aussagen einer dieser Gruppen im Bezirk Innsbruck Land, wo ein altes Hotel zu einem Flüchtlingsquartier umfunktioniert werden soll, mit denen der Bürgerinitiative am Alsergrund vergleicht, fällt eine irritierende Ähnlichkeit der Argumentation auf: Man fürchte sich, immerhin seien die Kinder nicht immer beaufsichtigt und man müsse ihre Freiheiten dann wohl einschränken. Schulen und Kindergärten seien in der Nähe. Margit Putre meint hingegen, dass soziale Einrichtungen genau an solchen Orten sein sollen: „Dort wo Menschen leben, sind immer auch Bildungseinrichtungen. Das sind eben auch leicht erreichbare Gegenden mit guter Infrastruktur und öffentlicher Anbindung. Mitten im Leben. Und genau dorthin gehören die Suchthilfeeinrichtungen, denn immerhin will man ja auch möglichst viele Menschen erreichen.“

RECHT AUF STADT. Die Ausgrenzung, Herabwürdigung und Stigmatisierung „unliebsamer“ Menschengruppen wie Drogenabhängiger, Kranker, Sexarbeiter­Iinnen und Geflüchteter zeigt, dass das Recht auf Stadt, Infrastruktur und öffentlichen Raum ungleich verteilt ist. In den letzten Jahren wurden allerdings auch immer wieder Projekte initiiert, die diese Ungleichverteilung in Angriff nehmen und Menschen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft holen. Zum Beispiel die Aktion Flüchtlinge willkommen, die junge geflüchtete Menschen in WGs unterbringt und somit eine Alternative zu Massenunterkünften darstellt. Oder das VinziRast mittendrin, wo ehemals obdachlose Menschen mit Studierenden zusammenwohnen, -leben und -arbeiten. Das gemeinsame Ziel dieser Initiativen ist, dass alle Menschen ein möglichst „normales“ Leben führen können, was auch eine Bestrebung der Suchthilfe ist. Und wenn „normal“ irgendwann solidarisch, selbstbestimmt und tolerant bedeutet, dann könnte man dem Wort vielleicht doch noch eine Chance geben. Oder?

 

Katharina Spielmann studiert Psychologie an der Universität Wien.