Brasilien

Stadt der Mädchen

  • 23.03.2015, 21:01

Brasiliens Regierung will zwischen Rio de Janeiro und São Paulo eine Zugverbindung errichten, die direkt durch das größte Rotlichtviertel Rios führen soll. Dabei haben die Frauen* der Vila Mimosa ganz andere Pläne: Sie wollen einen Raum der Selbstermächtigung schaffen.

Brasiliens Regierung will zwischen Rio de Janeiro und São Paulo eine Zugverbindung errichten, die direkt durch das größte Rotlichtviertel Rios führen soll. Dabei haben die Frauen* der Vila Mimosa ganz andere Pläne: Sie wollen einen Raum der Selbstermächtigung schaffen.

Am Nachmittag ist die Straße noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch von Alkohol und Urin liegt in der Luft – diesen können selbst die Unmengen an Wasser nicht wegspülen. Auf den Gehsteigen sammeln sich Berge von Müll, Musik mit dröhnendem Bass beschallt die Umgebung. Während die letzten Lastwägen die Straße Richtung Ausfahrt verlassen, haben die Frauen* in den Bars gegenüber des Kühlhauses ihre Arbeit längst begonnen. Leicht bekleidet sitzen sie auf den Terrassen mit verschnörkelten Geländern und warten auf Kunden.

Die Vila Mimosa (dt.: „das süße Städchen“) ist das größte und älteste Sexarbeiter*innenviertel von Rio de Janeiro. 1.500 Frauen* arbeiten hier in Schichten und bieten ungefähr doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an. Das Viertel hat Tradition, doch Politik und Gesellschaft würden seine Existenz am liebsten leugnen. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiter*innen immer wieder von ihren angestammten Plätzen vertrieben. Zuletzt 1996, als die Bordelle in der Nähe des Zentrums von Rio de Janeiro einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen mussten.

Damals fanden die Frauen* in einem alten Industrieviertel zwischen zwei Eisenbahnstrecken einen neuen Ort für ihre Arbeit. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute und hat sich inzwischen zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Doch jetzt bedroht ein großes Verkehrsprojekt das Weiterbestehen des Rotlichtviertels: Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff will eine neue Schnellzuglinie zwischen Rio de Janeiro und São Paulo direkt durch das Viertel bauen lassen.

In der Ceará-Straße, nur wenige Meter von den Bars entfernt, steht zwischen Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Auf einer Anschlagtafel neben dem Eingang werden Sprach- und Informatikkurse angeboten. In einem der Räume schmückt ein Blatt Papier die dunkelblau gestrichene Wand. „Gib dein Bestes, damit auch du immer das Beste bekommst“, steht darauf geschrieben. Und: „Gestalte deinen Arbeitsplatz so wie die schönste Ecke deines Zuhauses.“ Es sind gut gemeinte Ratschläge, die auf dem Zettel notiert wurden. Dabei sieht der Raum nicht so aus, als hätte man sich an diese Weisheiten gehalten. Das kühle Licht wirkt wenig einladend, aus dem Nebenzimmer dringen hallende Stimmen, von den Wänden blättert die Farbe ab. „Sehr schön ist es hier nicht“, sagt Cleide Almeida mit einem Seufzer, während sie sich an einen der Tische setzt.

BILDUNG UND SELBSTERMÄCHTIGUNG. Obwohl sie seit beinahe zwanzig Jahren in diesem Gebäude arbeitet, hat Almeida kein eigenes Büro. Darum empfängt sie ihre Gäste in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessensvertretung der Sexarbeiter*innen der Vila Mimosa, eine energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln. Während sie spricht, schlägt sie immer wieder mit der flachen Hand auf den Tisch. Schon früh lernte sie, sich durchzusetzen. Und sie kennt das Viertel wie ihre Westentasche.

Die Vila Mimosa steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet zehn Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Vor allem Frauen* aus armen Vororten kommen zum Arbeiten in die Vila Mimosa. Viele hätten sich von ihren PartnerInnen getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen, sagt Almeida. „Sie kommen mit der Idee, vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.“

Cleide Almeida ist in dem Rotlichtviertel groß geworden. Ihr Vater war Alkoholiker und schlug die Mutter immer wieder. Als Almeida sieben Jahre alt war, verließ die Mutter mit ihren zehn Kindern den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. „Mit 18 habe ich den Verkaufsstand übernommen“, sagt Cleide Almeida. In der Sexarbeit tätig war sie nie. Doch sie kennt die Frauen* des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen.

Cleide Almeida Foto: Hanna Silbermayr

Als die Sexarbeiter*innen 1996 umziehen mussten, ging sie mit und begann für AMOCAVIM zu arbeiten. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen* wollen aus der Prostitution aussteigen, sagt sie. Dazu gäbe es nur einen Weg: Bildung. Genau darauf setzt AMOCAVIM und steht dabei vor allem für eines ein: Selbstermächtigung.

BEDÜRFNISSE DER SEXARBEITER*INNEN. Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er 2005 ein Thema für seine Abschlussarbeit suchte. Der Architekturstudent schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Ceará-Straße um die Ohren. „Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst“, sagt er. Ursprünglich wollte Guilherme die Ceará-Straße neu gestalten. Je länger er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso klarer wurde ihm, dass in dem Viertel etwas anderes gebraucht wird.

„Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten“, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen*, die von Politik und Gesellschaft verachtet werden, wirklich haben. „Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Leben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.“ Daraus entstand die Idee der „Cidade das Meninas“, der Stadt der Mädchen. Wenn Ripardo von den Frauen* spricht, dann von den „prostitutas“, also „den Prostituierten“. Wenn es um ihre Arbeit geht, dann sagt er meistens „trabalho sexual“, also Sexarbeit. Auch Almeida verwendet immer wieder den Begriff „prostituta“, obwohl es im Portugiesischen auch „trabalhadora sexual“ geben würde.

Guilherme Ripardo Foto: Hanna Silbermayr

Guilherme Ripardo klappt sein Notebook auf und zeigt auf eine Zeichnung von zwei Frauen*körpern, einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt, der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. „Die meisten Prostituierten sind zugleich Mutter und Sexarbeiterin“, sagt er. Dieser doppelten Rolle soll auch die Stadt der Mädchen gerecht werden. Er will die Gebäude, in denen sich die Frauen* aufhalten und arbeiten, freundlicher und einladender machen. Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide Almeida. „Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?“, sagt sie. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit überzeugt sie.

Die Gebäude in Form zweier Frauen*körper, die Ripardo entworfen hat, sollen Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Sexarbeit bieten. „Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden“, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen* der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihres Viertels nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen.

(c) Guilherme Ripardo

Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, hat einen intimeren Charakter. Viele Sexarbeiter*innen nehmen ihre Kinder zur Arbeit mit und geben sie in einer Art Kinderkrippe ab. Diese soll im Schoß des zusammengerollten Frauen*körpers unterkommen. „Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben“, erklärt Ripardo. Der Bereich dieses Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen* selbst: ihrer Gesundheit. Hier soll der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben.

STETIGE MARGINALISIERUNG. Bisher ist die Stadt der Mädchen jedoch nur ein Traum. „Es wäre schön, wenn sich jemand finden würde, der investieren will“, sagt Almeida. Eine Zeit lang hat sie gemeinsam mit Ripardo nach Geldgeber*innen gesucht. Doch die Suche gestaltete sich schwierig. Keine politische Institution hat bisher Interesse an dem Projekt gezeigt. Auch sonst engagieren sich nur wenige Politiker*innen aktiv für eine marginalisierte Personengruppe wie die der Sexarbeiter*innen. „Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten“, räumt Almeida ein, die eigentlich über gute Kontakte verfügt. Trotzdem kann sie nicht nachvollziehen, weshalb Brasilien Milliarden für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgegeben hat, obwohl Investitionen in Gesundheit und Bildung dringender wären.

Als der damalige Präsident Luiz Inácio Lula 2007 bekannt gab, dass sowohl die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, als auch die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien ausgetragen werden würden, verfiel das Land zunächst in einen Freudentaumel. Doch die Stimmung wandelte sich, je näher die Sportevents rückten. Immer mehr Menschen äußerten Kritik an den horrenden Ausgaben für Neu- und Umbauten und begannen gegen die Zwangsumsiedlungen ganzer Stadtteile zu demonstrieren.

Als die Frauen* der Vila Mimosa von den Plänen für einen Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo erfuhren, waren sie schockiert. „Viele haben mich gefragt, ob wir jetzt wieder umziehen müssten“, sagt Almeida. Das würde bedeuten, vieles von vorne zu beginnen, sich einen neuen Raum erkämpfen zu müssen. Und diesen erst einmal zu finden. „In Zentrumsnähe ist für die Vila Mimosa kein Platz, dort will man die Prostituierten nicht.“ Das Rotlichtviertel müsste Richtung Vororte übersiedeln. Ein Umzug würde die Sexarbeiterinnen ein ums andere Mal weiter marginalisieren, glaubt Almeida.

GUTE NACHRICHTEN? Der Baubeginn der Schnellzuglinie wurde nun mehrfach verschoben, zuerst auf das Jahr 2016, wenn in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen werden, dann auf 2020. Konkrete Informationen, wie es damit weitergeht, gibt es nicht.

Noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem eine Londoner Firma, die Museums- und Ausstellungsprojekte entwickelt und umsetzt, gemeldet. Sie wollte mehr über die Stadt der Mädchen erfahren und lässt derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Und wenn die Stadt der Mädchen Wirklichkeit werden sollte, hätte Cleide Almeida endlich Zeit, sich voll auf das Weiterbildungsangebot der AMOCAVIM zu konzentrieren.

 

Hanna Silbermayr hat an der Universität Wien Romanistik und Politikwissenschaft studiert. Sie ist freie Journalistin und berichtet für deutschsprachige Medien über und aus Lateinamerika.

 

„Auch die FIFA ist ein politischer  Akteur“

  • 09.07.2014, 19:43

Sport bewegt die Massen. Das zeigen nicht nur feiernde Fußballfans, sondern auch die Proteste auf den brasilianischen Straßen. Aber nicht nur in Zeiten der WM prallen Sport und Politik aufeinander, meint der Politologe Georg Spitaler.

progress: Sie forschen als Politikwissenschaftler zum Thema Sport und Politik. Mit welchen Fragen setzen Sie sich auseinander?
Georg Spitaler: Das hängt davon ab, mit welchem Politikbegriff man arbeitet. Es gibt PolitikwissenschaftlerInnen, die mit einem sogenannten „engen Politikbegriff“ arbeiten, die befassen sich eher mit dem Verhältnis von Institutionen, Staatlichkeit und Sport – also mit der Art und Weise, wie Sport politisch reguliert und gesteuert wird. Ich arbeite eher mit einem weiteren Politikbegriff und beschäftige mich zum Beispiel mit kollektiven Identitäten und Identitätspolitik im Sport. Da geht es dann etwa um die Frage, wie Geschlecht im Sport konstruiert wird, oder wie Exklusionen, wie etwa Antisemitismus und Rassismus, im Sport funktionieren. Auch der Körper im Allgemeinen ist ein interessantes Thema im Sport, denn in ihn schreiben sich verschiedene Identitäten und Macht als solche ein.

Vor ein paar Wochen ging ein Video viral, in dem Obama in einem Fitnessraum eines Hotels beim Trainieren zu sehen war. Die Medien haben daraufhin Obamas sportliche Leistung mit der Putins, von dem ähnliche Aufnahmen im Netz kursieren, verglichen. Was macht den Körper der PolitikerInnen so interessant?

In der Mediendemokratie ist die Darstellung politischer Körper ein wichtiger Teil von Politikvermittlung. Es geht hier um die Demonstration von Macht und von verschiedenen Regierungsstilen. Inszenierungen von Fitness lassen sich in der Politik besonders im Wahlkampf auf Plakaten und in Werbespots wiederfinden – da wird oft auf Metaphern aus dem Sport zurückgegriffen, um politische Inhalte mit der positiven Sphäre der Freizeitkultur in Verbindung zu bringen. Bei Putin geht es dabei meist um machtvolle Inszenierungen und die Darstellung von Stärke. Ich denke bei Obamas Inszenierung steht hingegen stärker die Inszenierung von Normalität und Alltäglichkeit im Vordergrund. Sie soll uns sagen: Auch Obama geht ins Fitnesscenter. Das macht ihn für uns authentischer. Es geht dabei aber auch darum, Selbstdisziplin zu illustrieren und zu zeigen, dass man seinen Körper in Schuss hält. Das passt auch zu politischen Metaphern wie etwa „dem schlanken Staat“. Es passt gut zusammen, wenn PolitikerInnen einerseits ins Fitnesscenter gehen und sich andererseits gleichzeitig für eine neoliberale Wirtschaftspolitik stark machen.

Stehen sich Sport und Politik heute näher als zu anderen Zeiten?

Inszenierungen im Sport haben eine lange Tradition. Es gibt sie spätestens seit der Etablierung des Massensports und der Herausbildung von Nationalsportarten, in Österreich seit der Zwischenkriegszeit. Der Massensport ging mit der Konstruktion des Nationalen einher – das heißt, sportliche Erfolge wurden seither mit nationalen, lokalen oder regionalen Identitäten verknüpft. Es gab in dieser Zeit in vielen Ländern auch viele explizit politisierte Körperkulturen – wie in Österreich etwa der ArbeiterInnensport. Da gab es Massenorganisationen und öffentliche Aufmärsche, das Wiener Praterstadion wurde etwa 1931 für die Arbeiterolympiade gebaut, das war ein klares politisches Ritual. Das gab's natürlich nicht nur auf der Seite der ArbeiterInnen, sondern etwa auch bei den nationalsozialistischen Verbänden mit Verbindung zu militärischen Organisationen, die dann etwa Gymnastik oder Turnen, zum Teil auch öffentlich, praktiziert haben. Gleichzeitig gab und gibt es im Sport aber auch oft die Rhetorik des Unpolitischen. Viele AkteurInnen betonen eine Trennung der Bereiche Sport und Politik. Diese Idee gibt es spätestens seit der modernen Neuerfindung  der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin, mit dem Olympismus als ziviler Religion. Olympische Spiele gelten aus dieser Sicht als unpolitischer Raum, eine Art Auszeit von der Politik. Sie wurden zur Bühne zentraler Werte der bürgerlichen Ära, die aber natürlich auch wieder politisch sind, siehe etwa Konzepte der Konkurrenz, der Fairness, angeblicher Chancengleichheit oder der Nation.

Auch FIFA-Präsident Joseph Blatter hat unlängst, in Hinsicht auf die laut gewordene Kritik an der Entscheidung, die nächste Fußball-WM (2018) in Russland stattfinden zu lassen, gemeint, man solle den Fußball vor der Politik und politischer Einmischung schützen. Inwiefern ist Sport ein Instrument der Politik?

Die FIFA ist ein globaler Akteur, der sicher auch ein politischer Akteur ist, sonst würde sie nicht darauf bestehen, bei Verhandlungen an einem Tisch mit anderen politischen Akteuren wie der EU zu sitzen. Bei Blatters Aussagen geht es wohl eher darum zu zeigen, dass es allein die FIFA ist, die die Politik des Fußballs macht. Im Hinblick auf Ihre Frage müssen wir aber differenzieren, was wir unter „der Politik“ verstehen. Am Beispiel Brasiliens wird deutlich, dass man nicht einfach sagen kann, dass etwa die brasilianische Regierung alleine von der WM profitiert. Im Kontext der WM zeigt sich, wie kompliziert die Governance- und Regierungsstrukturen bei einer solchen Entscheidungsfindung sind. Da gibt es etwa lokale Interessen wie die der Veranstalterstädte, die eine Rolle spielen, dann die der nationalen Regierungen und auch der Verbände, in dem Fall etwa des brasilianischen Fußballverbands, der übrigens auch eine lange Tradition von Korruption hat. Wenn hier wirklich jemand profitiert, dann ist das neben der FIFA und der Bauwirtschaft wohl der nationale Verband, der an möglichen Gewinnen beteiligt wird. Im Hinblick auf die politischen Proteste innerhalb der Bevölkerung war es für die brasilianische Regierung natürlich auch ein Risiko, dieses Großereignis zu veranstalten.

An der aktuellen WM wird deutlich, wie stark ein Sportevent ein Land in Aufruhr bringen kann. Im Vorfeld gab es bereits laute Demonstrationen und Repression gegen die Protestierenden. Es wird befürchtet, dass bei einer Niederlage Brasiliens die Situation endgültig eskalieren könnte. Welche Rolle spielt Sport im Protest und in sozialen Bewegungen?
Einerseits kann Sport dazu dienen,eine soziale Bewegung zu festigen, siehe etwa die ArbeiterInnenbewegung, in der es viele Sportvereine gab. Andererseits können Megaevents wie die WM auch große Proteste triggern. In den letzten Jahren wird die enorme mediale Öffentlichkeit dieser Megaevents zunehmend dazu genützt, um auf bestimmte Probleme und Anliegen aufmerksam zu machen. Am Beispiel Brasiliens wird sichtbar, welche politischen und sozialen Folgen ein Megaevent wie die WM hat: Der öffentliche Raum wird verändert, etwa wenn es um privatisierte Fanzonen, Sicherheitsmaßnahmen oder Umsiedlungen geht. BürgerInnenrechte werden im Zuge dessen weiter eingeschränkt. Das Missverhältnis von enormem Aufwand der Veranstaltung und nur schleppend verlaufendem Fortschritt bei Infrastruktur und Grundversorgung verursacht Proteste – sowohl gegen die FIFA als auch gegen die lokalen Regierungen.

Georg Spitaler lehrt am Institut für Politikwissenschaft in Wien, forscht zum Thema Sport und Politik und schreibt für das Fußballmagazin Ballesterer.
Das Interview führte Simone Grössing
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Foto: by-nc-sa  Joe Shlabotnik