Antirassismus

Muslime als die neuen Juden

  • 11.05.2017, 09:00
Diesen März wurde der Dokumentarfilm Islamophobie österreichischer Prägung, der bereits im vergangenen Jahr Premiere feierte, im Wiener UCI-Kino gezeigt.

Diesen März wurde der Dokumentarfilm Islamophobie österreichischer Prägung, der bereits im vergangenen Jahr Premiere feierte, im Wiener UCI-Kino gezeigt. Der Andrang zur dritten Vorstellung war überraschend groß, der Saal an einem Montagabend fast ausverkauft. Der Film von Regisseur Sinan Ertugrul hat den Anspruch, Islamfeindlichkeit in Österreich zu problematisieren. Während auf der einen Seite rassistische Angriffe in den letzten Jahren nachweislich zunehmen, muss sich der Film auf der anderen Seite die Frage gefallen lassen, ob es ihm im Kern um den Schutz von Individuen, oder um den Schutz der Religion geht.

In mehreren ExpertInneninterviews wird betont, dass man Diskriminierung und Angriffe auf Einzelne thematisieren möchte. Verschiedene Beispiele von Diskriminierung werden den Plot hindurch auch immer wieder aufgegriffen. Allerdings präsentiert der Film durchgehend Personen, die dem politischen Islam das Wort reden. Einer der befragten Experten, Universitätsprofessor Rüdiger Lohlker, verkehrt Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung und versucht diese als Beweis anzuführen, weshalb die Aufklärung per se schlecht sei. Er übergeht dabei schamlos die Dialektik, die bereits im Titel des Buches betont wird.

Auch einige persönliche Beispiele von Islamophobie, die im Film angerissen werden, nehmen der zu Anfang naiv geäußerten Behauptung, es ginge um den Schutz von Individuen, die Glaubwürdigkeit. Es wird suggeriert, das Eintreten gegen sexuelle Gewalt an Frauen in islamischen Ländern sei „koloniales Denken“. Oder dass es bereits rassistisch sei, wenn die Sportlehrerin muslimische Schülerinnen auch an Ramadan auffordert, genügend Wasser zu trinken. Ein eindringliches Motiv, das zum Ende des Filmes mehrmals Erwähnung findet, ist der Vergleich von MuslimInnen und Juden/Jüdinnen in den 1930er Jahren. Dabei wird „Charlie Hebdo“, die französische Satirezeitschrift, die vor zwei Jahren Ziel eines islamistischen Terroranschlags wurde, indirekt zum neuen „Völkischen Beobachter“ erklärt, der es auf Muslime abgesehen habe. Mehrere der im Film interviewten ExpertInnen bezeichnen Religionskritik als eindeutig rassistisch und damit als illegitim. Das ist schade, denn es bekräftigt zum einen das Bild von Religion als quasi-natürlicher Zugehörigkeit, zum anderen stellt es säkulare und reformerische Kräfte ins Abseits.

Anna Grellmeer studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Postkolonial sind wir noch lange nicht

  • 02.12.2014, 15:30

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Zu solchen Fragen lädt, in Anspielung auf das berühmte J.F. Kennedy-Zitat „Ich bin ein Berliner“, die Ausstellung „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ der Galerie SAVVY Contemporary - The Laboratory of Form-Ideas ein. Kuratiert wird sie von dem Pariser Schriftsteller, Dozenten und Kunstkritiker Simon Njami, dessen Schwerpunkt auf zeitgenössischer afrikanischer Kunst liegt.

Zum Auftakt der Ausstellung wählt SAVVY den 130. Jahrestag der Kongokonferenz („Berliner Konferenz“). Auf Einladung von Bismarck teilten ab dem 15.11.1884 vierzehn primär europäische Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Unter Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung besiegelten sie mit der Unterzeichnung der „Kongoakte“ die endgültige Ausbeutung und Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Zynischerweise konnte durch die Konferenz der Frieden unter den Großmächten gesichert werden, entsprechend harmonisch teilten diese sich einen Kuchen, der ihnen nicht gehörte.

What was behind it all? Filipa Cesar - The Embassy (Video). Foto: Kristin Lein

„Kolonialmächte, die sich um die Karte des Afrikanischen Kontinents herum versammelten, wie um ein Schachbrett“ (Kurator Simon Njami)

Als Kennedy seine Botschaft 1963 an das geteilte Berlin richtete, ging es ihm um den Abbau von Grenzen und die Überwindung nationalistischer Beschränkungen. „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ fragt, wie im Angesicht von wachsendem Nationalismus und Rassismus in Europa deutsche Identität und europäische Nationalitäten heute definiert werden können sowie welche historischen und zeitgenössischen Bindungen und Parallelen es zu Afrika gibt. Dabei nimmt sie aktiv den Part des ewig „Anderen“ und Ausgeschlossenen ein, die Ausstellung gehört den Kolonialisierten und ihrer Perspektive.

Sammy Baloji etwa legt für sein Werk „Mémoire“ die Minen der Union Miniére du Haut katanga in Lumbashi und Aufnahmen schwarzer und weißer Kolonialfotografen übereinander und schafft so vielschichtige Fotomontagen. Sie verweisen auf ein Europa, dessen Großmächte in einem Kampf um „Fortschritt und Wachstum“ den Grundstein für die Globalisierung legen, was auch die systematische Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung sowie ihren Ressourcen und Rohstoffen bedeutet. Die deutsche Koloniallobby und Großunternehmer starteten 1884 mit der Einführung sogenannter „Schutzgebiete“, die ihnen die Verwaltung und „Entwicklung“ der betroffenen Gebiete erlaubte. Größenwahnsinnige Projekte wurden angestoßen, auch der Kolonialhandel erlebte damit einen Boom. Assimilation, Versklavung und Massenmorde, wie etwa an den Herero und Nama in Südwestafrika, waren dabei ein bloßer Wirtschaftsfaktor im Streben nach Profit, wissenschaftlich- technischem Fortschritt und dem Auf- und Ausbau der Vormachtstellung.

Mansour Ciss dagegen zeigt mit „Laboratoire Déberlinisation“ seine Vision eines wohlhabenden, friedlichen Afrikas, das souverän über eigene Ressourcen verfügt und frei seine Zukunft gestalten kann. Seine fiktive Währung „AFRO“ nimmt mit bunten Geldscheinen und der „AFRO Express Card“ Gestalt an und zeigt wie die finanzielle und politische Selbstbestimmung aussehen könnte. Sein Projekt soll dabei auch den Dialog zwischen Süd- und Nordafrika und über die aufgezwungenen, künstlichen Reißbrettgrenzen hinaus anregen.

Wenn Keramikteller mit einzelnen Körperteilen darauf trophäenartig aufgehängt werden, kann das als Hinweis auf die bis heute andauernde Exotisierung, Sexualisierung, Verwertung und Kommerzialisierung Schwarzer Menschen, ihrer Körper und Arbeitskraft verstanden werden. Dreizehn davon hat Bili Bidjocka aufgereiht. Seine Dekonstruktion des letzten Abendmahls „Dis-ambiguation“ thematisiert Missionierungen und christliche Doppelmoral.

Solche Lücken im deutschen Kollektivgedächtnis will das Projekt „Colonial Neighbours“ von SAVVY Contemporary füllen, das ein Archiv kolonialer Geschichte und Gegenwart werden soll und auch über die Ausstellung hinaus besteht. Erinnerungsstücke, Alltags- und Gebrauchsgegenstände, wie Fotoalben,Tagebücher, Briefe, Sammelalben werden sowohl digital als auch dinglich gesammelt und dokumentiert. Das Archiv zeigt auf, dass der Kolonialismus nicht „irgendwo weit weg“ stattgefunden hat, sondern eine Praxis und Ideologie war, die von der deutschen Bevölkerung gelebt und geschätzt wurde. Vier Millionen Unterschriften zur Verhinderung aus der Bevölkerung gingen ein, als die Versailler Verträge das Ende der deutschen Kolonien besiegelten.

Blick auf Kunst von Cyrill Lachauer. Bilder im Hintergrund: Ausschnitte aus Mémoire von Sammy Baloji. Foto: Kristin Lein

„Während die Berliner Konferenz die Umrisse des afrikanischen Kontinents modifizierte, änderte sie dabei auch Europa.“ (Kurator Simon Njami)

130 Jahre sind kaum ein weltgeschichtlicher Lidschlag und so zeigen sich kolonialistische Spuren nach wie vor. Eine „Entkolonialisierung“ gab es nie. Möbel und Dekoration im „Kolonialstil“ können im Internet bestellt werden, Cafés begrüßen uns mit „Schwarzen Dienern“ im Eingangsbereich, Logos und Slogans mit rassistischen Karikaturen und dem auch in einer österreichischen Süßspeise noch geläufigen M-Wort prangen in Supermarktregalen. Viele Forschungsinstitute und Museen haben koloniale Wurzeln und stellen noch heute romantisierte Werke rund um „tapfere Entdecker“ und Raubkunst aus. Noch immer sind zahlreiche Straßen und Plätze nach Kolonialherren benannt, der Menschenrechtsaktivist und Politologe Joshua Kwesi Aikins kennt sie. Bei seinen Stadtführungen durch Berlin zeigt er diese Spuren, beispielsweise im „afrikanischen Viertel“ im Wedding oder dem May-Ayim-Ufer in Kreuzberg.

Wer deutsch ist, ist weiß und wer in Deutschland weiß ist, ist deutsch. Soweit zumindest die Auffassung der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die damit verbundenen Privilegien basieren nicht auf einer gottgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge, sondern auf Ausbeutung und Unterdrückung. Der weiße Mann erlangte seine Macht durch Massenmorde, Apartheid, Kolonialisierung und Rassentheorien. Er erhält sich seine Vormachtstellung durch umfassende Rassismen und den Neokolonialismus.

Noch heute profitieren die ehemaligen Kolonialmächte von den errichteten Strukturen und erhalten Rassismen und ökonomische Abhängigkeiten aufrecht. Noch heute herrscht ein koloniales Denken und Handeln vor, wie beispielsweise das Bild von „ungebildeten Wilden“ aufzeigt, die vom Westen missioniert und mit Segnungen der Technik ausgestattet werden müssen. Das zeigt sich auch am aktuellen Beispiel Ebola, das als „afrikanisches“ Problem dargestellt wird, obwohl im Jahr 2014 nur vier der 54 Staaten des Kontinents betroffen sind. Auch werden westliche „Hilfeleistungen“ anhand einer dargestellten Unfähigkeit seitens der betroffenen Länder legitimiert. Informationen über afrikanische Initiativen, wie etwa die ASEOWA der Afrikanischen Union, und über die Länder, die sich dem Thema adäquat selbst annahmen, sind nicht bis in unsere Nachrichten vorgedrungen.
Noch heute nützen Entwicklungs-, Subventions- und Reparationspolitiken vor allem dem Westen. Noch heute existiert kaum ein Unrechtsbewusstsein oder ein Streben nach Aufarbeitung. Postkolonial ist bloß das Datum, Europa noch lange nicht.

Zur Ausstellung:

„Wir sind alle Berliner“
15.11.2014-11.1.2015
SAVVY Contemporary Berlin
Richardstraße 20
12043 Berlin-Neukölln

savvy-contemporary.com

 

Anne Pohl macht hauptberuflich politische Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt bei herzteile.org.

Bestie Tier – Bestie Mensch?

  • 19.07.2014, 14:30

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Der Wiener Neustädter Tierschutzprozess hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Tierrechten in Österreich vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Forderung nach elementaren und umfassenden Rechten für die Tierwelt durch ihre menschlichen Advokaten stößt auf scharfen Gegenwind seitens der Staatsmacht und der Wirtschaft.

Im Juni dieses Jahres wurde mit Felix Hnat, dem Obmann der Veganen Gesellschaft Österreich (VGÖ), der letzte Angeklagte im berühmt gewordenen Tierschutzprozess nach sechs Jahren Ungewissheit freigesprochen. Bereits im März 2010 bis Mai 2011 standen 13 Angeklagte aus unterschiedlichen Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen in Wiener Neustadt vor Gericht und mussten sich gegen verschiedene Vorwürfe wie der Bildung einer kriminellen Organisation (§ 278a), Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Tierquälerei (nach einer Befreiungsaktion von Schweinen) verteidigen. Am 02. Mai 2011 wurden alle 13 Angeklagten in allen Punkten freigesprochen. Vorerst. Denn im Juni 2012 legte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt Berufung ein. Gegen fünf  Angeklagte wurden im Frühjahr 2014 Rumpfprozesse gestartet, die jedoch allesamt ebenfalls mit glatten Freisprüchen endeten. Keine Nötigung, keine Sachbeschädigung, keine Tierquälerei, kein Widerstand gegen die Staatsgewalt konnte nachgewiesen werden.

Am Ende war der Wiener Neustädter Tierschutzprozess für die österreichische Justiz eine Blamage, Demaskierung und Toterklärung. Tierrechtler_innen wurden in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der österreichischen Ermittler_innen genommen. Doch weshalb setzen sich Menschen so vehement für die Rechte von Tieren ein, sodass selbst die Repressionsbehörde auf den Plan gerufen wird? Handelt es sich bei diesen Menschen um weltfremde Spinner_innen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben? Wie erklärt sich der gegenwärtige Aufschwung des Veganismus, also einer Lebensphilosophie, die so gut als möglich die Nutzung von Tierprodukten aus dem (eigenen) Alltag verbannen will?

Lebensmittelskandale, Tierfabriken, ökologische Gründe und/oder der Wunsch nach einer gesünderen Kost (Stichwort: Unverträglichkeiten) haben viele Menschen in Österreich dazu bewogen, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren. Verzichtet man beim Vegetarismus nur auf den Konsum von Fleisch, geht der Veganismus noch einen Schritt weiter: So gut als möglich wird auf den Konsum von Tierprodukten (Fleisch, Milch, Eier, Honig, Leder) verzichtet und durch pflanzliche Alternativen ersetzt. Alleine in Wien leben laut der Veganen Gesellschaft Österreich etwa 200.000 Vegetarier_innen, ca. zehn Prozent davon vegan - Tendenz steigend. Und auch der Handel stellt sich darauf ein. So erweitert sich das pflanzliche Angebot im Bereich der Gastronomie rasend; Supermarktketten bieten vermehrt vegane Produkte an und unlängst hat in Wien bereits der zweite rein vegane Supermarkt eröffnet.

Die Gründe für eine rein pflanzliche Kost können vielseitig sein. Besonders interessant sind aber – in Verbindung mit dem Veganismus – die Diskussionen und Forderungen nach elementaren Rechten für Tiere. Es stellt sich die Frage, was Tierrechtler_innen erreichen wollen. Soll etwa durch die Hintertür schlussendlich das Wahlrecht für die Kuh eingeführt werden? In Anbetracht der parteipolitischen Vorlieben in diesem Land vermutlich keine schlechte Idee. Wer weiß, vielleicht würden uns die Kühe einen Linksruck bescheren. Es geht jedoch um andere Dinge.

Der Blick über den Tellerrand

Der Einsatz von Menschen für Tierrechte basiert auf einem antirassistischen Grundverständnis, das Unterdrückungs- und Diskriminierungsmuster nicht nur unter Menschen beseitigen will, sondern einen Schritt weiter geht und den Antirassismus auf andere Spezies ausweitet; auch Antispeziesismus genannt. Dieser stellt die vom Menschen gezogene Mensch-Tier-Grenze in Frage, wobei selbst die Definition „Mensch-Tier“ unzureichend ist und deshalb in der Tierrechtsbewegung von „menschlichen Tieren“ und „nichtmenschlichen Tieren“ gesprochen wird. Diese Definition ist für den Diskurs in der Tierrechtsbewegung auch nicht unwesentlich; ist doch der Mensch ein Tier und gehört der Gruppe der höheren Säugetiere an. Wie auch das Geschlecht (Mann/Frau) ein gesellschaftliches Konstrukt ist, so ist auch die Trennung zwischen „Mensch“ und „Tier“ ein gesellschaftliches, ein vom Menschen geschaffenes Korsett, um Handlungen, die gegen das Wohl von nichtmenschlichen Tieren gerichtet sind, zu legitimieren.

Moralischer Selbstbetrug – der Karnismus

In westlichen Gesellschaften schreckt man davor zurück, einen Hund oder eine Katze, die als Haustiere ihr Leben mit Menschen teilen, zu verspeisen, gleichzeitig hat man aber wenig Probleme damit, ein Schwein oder ein Kalb zu essen, das geschlachtet wurde, um das eigene Bedürfnis nach Fleisch zu befriedigen. Im Unterschied zum „Nutztier“ wird dem Haustier Individualität zugeschrieben. Es wird Teil des kleinen (häuslichen) Kosmos‘, es wird zum Familienmitglied. Wir geben den Haustieren Namen, verbringen Zeit mit ihnen, füttern sie und gehen mit ihnen zum Arzt, wenn wir Anzeichen von Krankheiten bzw. Schmerzen erkennen. Wir pflegen sie und können in sehr lange Trauer verfallen, wenn sich das geliebte Tier von uns verabschiedet und stirbt. Aber das tote Stück Tier am Teller, das anonyme Schwein oder Kalb, das am Küchentisch nie mehr war als eben das Stück tote Fleisch, fällt durch alle von uns den Haustieren zugeschriebenen Kategorien. Melanie Joy, eine US-amerikanische Psychologin, erklärt diesen Widerspruch mit dem Wort Karnismus. Vereinfacht gesagt teilt der Mensch Tiere in „essbar“ und „nicht essbar“ ein – je nachdem, aus welchem gesellschaftlichen Kontext er kommt. Aber welche rationalen Argumente gibt es, welche Tiere wir essen dürfen und welche nicht? Und weshalb ernähren wir uns nicht von Menschenfleisch, das als Eiweißquelle genauso tauglich ist wie das Fleisch von nichtmenschlichen Tieren? Krank macht der Veganismus jedenfalls nicht. Es ist bereits wissenschaftlich bewiesen, dass eine gut durchdachte vegane Ernährung in allen Lebenslagen geeignet ist.

Die Grenzziehung als reine Willkür?

Wenn es nach den nichtmenschlichen Tieren gehen würde, so würden sie wohl lieber leben als sterben. Wenn sie einer externen Schmerzquelle ausgesetzt sind, versuchen sie, sich von dieser zu entfernen und erinnern uns in ihrem Verhalten (sich winden, schmerzerfüllte Schreie) an uns Menschen selbst. Die Behauptung, dass wir nicht wissen können, ob Tiere in der Lage sind, Schmerzen zu empfinden, ist irrelevant. Unsere Erfahrungen lassen uns wissen, welche Reaktionen auf Schmerzen folgen und wir müssen annehmen, dass es sich bei anderen Individuen ähnlich verhält.

Aber was sind nun die Ausschlusskriterien, die unseren brutalen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren rechtfertigen? Was macht nichtmenschliche Tiere so besonders, dass sie in Stallungen gesteckt, eingesperrt, ausgepumpt, gequält, totgeschossen und totgeschlagen werden? Ist es ihre „fehlende“ Intelligenz? Es wird angenommen, dass Schweine intelligenter sind als menschliche Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren. Sollte man daraus schließen, dass man Menschenkinder bis zum Alter bis zu drei Jahren ebenfalls verspeisen könnte? Zugegeben: Kein Gedanke, bei dem sich Wohlgefallen einstellen mag. Ist es die Anzahl der Füße oder Pfoten? Ist es die Körperbehaarung, die bei nichtmenschlichen Tieren vermehrt auftritt? Wie ist dann mit Menschen zu verfahren, die über einen übermäßigen Haarwuchs klagen? Sind es die Unterschiede in der Art und Weise der Kommunikation? Das „Fehlen“ einer Sprache im Reich der nichtmenschlichen Tiere? Tiere verfügen über eine Sprache und sie verständigen sich mittels unterschiedlichster Geräusche. Delfine können ihre Artgenoss_innen beim Namen nennen, indem sie unterschiedliche Pfeiftöne wiedergeben. Wer selbst einmal eine Katze oder einen Hund „besessen“ hat, der/die weiß, auf wie viele unterschiedliche Arten Tiere sogar mit Menschen kommunizieren können. Das Vorhandensein oder Fehlen von Sprache kann kein Kriterium sein, das uns sagt, was wir essen dürfen und was nicht. Menschen müssen sich ihren Wortschatz nach der Geburt erst aneignen oder können sogar stumm geboren werden.

Ein Hauptargument scheint wohl der des „guten Geschmacks“ von Fleisch zu sein (immer vorausgesetzt im Diskurs: Es geht um Länder auf der Erde, auf denen man bereits ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auf tierische Proteine verzichten und durch pflanzliche ersetzen kann). Das Geschmacksempfinden des Menschen ist aber ein subjektives und Fleisch gewinnt oft erst durch die Zugabe der richtigen Gewürze an Geschmack. Allen Argumenten ist gemein, dass sie das Interesse der Tiere nicht berücksichtigen und der Mensch sich einem Wertesystem bedient, das er selbst geschaffen hat. Die Entscheidung, ob man Fleisch isst oder nicht, wird als individuelle Entscheidung angesehen, auf die der Mensch ein Naturrecht zu haben scheint.

Das eigene Spiegelbild – das Bewusstsein als Knackpunkt?

Im 17. Jahrhundert sprach René Descartes im Zusammenhang mit Tieren von Maschinen, die über kein eigenes Bewusstsein verfügen. Diese „Lehrmeinung“ scheint immer mehr an Gewicht zu verlieren. Vielmehr wird z.B. Affen und Delfinen ein Bewusstsein zugeschrieben. Makaken können sich selbst im Spiegel erkennen und besitzen somit ein „Selbstbewusstsein“. Indien hat im Jahr 2013 Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Ergebnissen gezogen und Delfine als nichtmenschliche Personen anerkannt. Sie haben somit ein Recht auf Freiheit und Unversehrtheit.

Aber unter all den Gesichtspunkten wiegt die Forderung von Tierrechtler_innen, nichtmenschlichen Tieren in den von Menschen geführten moralischen Diskurs mit einzubeziehen, revolutionär und oft verstörend. Die Frage, welche nichtmenschlichen Tiere von der Zusprechung von Rechten profitieren sollen, kann man am ehesten mit der Möglichkeit, Schmerzen empfinden zu können, argumentieren. Aber auch das Vorhandensein von einem Bewusstsein kann ein Gradmesser, sollte aber nicht Alleinstellungsmerkmal sein. Es kommt auf die komplexen Eigenschaften an, die menschliche und nichtmenschliche Tiere von Pflanzen trennen. In „Zoopolis“, einem erst kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienen Buch von Sue Donaldson und Will Kymlicka, gehen die Autor_innen auch noch einen Schritt weiter und fordern Bürger_innenrechte für domestizierte Tiere. Es mag auf den ersten Blick nach einem Affront klingen, einem Angriff auf das Menschsein. In Wirklichkeit ist es aber nur ein Versuch, auf argumentative Weise den Diskurs um Tierrechte voranzubringen. Warum es Menschen gibt, die den Diskurs anregen wollen? Weil sie es können.

 

Gabriel Binder (geb. 1987) studiert Geschichte an der Universität Wien, ist freier Schriftsteller und mitunter bei Screaming Birds engagiert.

 

Free Angela and all political prisoners

  • 05.03.2014, 16:15

Free Angela and all political prisoners von Shola Lynch erzählt, wie Angela Davis, politische Aktivistin, Kommunistin, Feministin, Wissenschaftlerin und Ikone der Schwarzen Widerstandsbewegung, im Jahr 1970 eine der zehn meist gesuchten Personen der USA werden konnte. Manu Banu rezensierte den Film für progress online im Rahmen des This Human World-Festivals.

Free Angela and all political prisoners von Shola Lynch erzählt, wie Angela Davis, politische Aktivistin, Kommunistin, Feministin, Wissenschaftlerin und Ikone der Schwarzen Widerstandsbewegung, im Jahr 1970 eine der zehn meist gesuchten Personen der USA werden konnte. Manu Banu rezensierte den Film für progress online im Rahmen des This Human World-Festivals.

Am 7. August 1970 versuchte der 17-jährige Jonathan Jackson durch eine Geiselnahme im Gerichtsgebäude von Marin County, die Freilassung seines inhaftierten Bruders George Jackson zu erpressen. Bei der Flucht kam es zu einer Schießerei mit der Polizei, bei der ein Richter, Jonathan Jackson und zwei weitere Personen getötet wurden. Die Waffen, die bei Jackson gefunden wurden, waren auf den Namen von Angela Davis registriert. Nur wenige Tage später wurde die Fahndung nach Davis ausgeschrieben, woraufhin sie die Flucht ergriff. Angela Davis kam als dritte Frau in der amerikanischen Geschichte auf die Top 10-Liste der FBI der meist gesuchten Verbrecher_innen.

Mit den Originalaufnahmen vom 7. August 1970 beginnt die Regisseurin Shola Lynch ihren Dokumentarfilm Free Angela and all political prisoners. Der Film gibt nicht nur Einblick in das Leben einer sehr mutigen und intelligenten Frau und ihren Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit, sondern auch in aufwühlende Zeiten der amerikanischen Geschichte. Es ist eine Zeitreise in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in Zeiten des Vietnamkrieges, der Bürgerrechts- und Friedensbewegungen und des Schwarzen Widerstands gegen die amerikanische Regierung und den herrschenden Rassismus.

Acht Jahre hat Shola Lynch am Dokumentarfilm Free Angela gearbeitet, vier bis fünf Jahre wären es geworden, wenn sie keine Finanzierungsschwierigkeiten gehabt hätte. Lynch wollte so detailliert wie möglich die Wahrheit ans Licht bringen, weshalb sie besonders viele Fakten gesammelt und im Film integriert hat – unter anderem in Form von Archivfilmmaterial, Fotos und Zeitungsausschnitten. Free Angela ist nicht ihr erster Film über eine politische Person, genauer gesagt über eine politisch aktive schwarze Frau. 2004 wurde ihr preisgekrönter Film Chisholm '72: Unbought & Unbossed über die erste schwarze Kongressabgeordnete Shirley Chisholm im Rahmen des Sundance Film Festivals gezeigt. Lynch ist es wichtig, mit ihren Filmen die hegemoniale Geschichtsschreibung zu durchbrechen und die Geschichten von schwarzen Frauen, die in den USA unsichtbar gemacht werden, zu erzählen. Mit Free Angela and all political prisoners ist ihr ein Dokumentarfilm gelungen, der durchaus dieselbe Spannung wie ein Politkrimi aufbringt. Gerade das Archivfilmmaterial, das Lynch im Film verwendet, gibt diesem eine gewisse Lebendigkeit und Authenzität. Wir erleben eine kämpferische junge Frau, die mit einem Lächeln und erhobener Faust den Gerichtssaal betritt. Die Regisseurin lässt Angela Davis, aber auch andere Personen, die in den Prozess involviert waren, selber zu Wort kommen und die Geschichte erzählen. Zwischendurch kommen ein paar wenige Nachstellungen vor, die die Einsamkeit der Haft besonders betonen. Musikalisch untermalt Jazz, insbesondere die Musik von Max Roach, den Geist der Zeit.

Die Politisierung von Angela Davis. Angela Davis ist in Birmingham, Alabama in einer Mittelschichtsfamilie aufgewachsen, in einem Viertel, das in den 1960er Jahren auf Grund der zahlreichen rassistischen Sprengstoffanschläge auch als „Dynamite Hill“ bekannt war. Bereits in ihrer Jugend kam sie in Kontakt mit kommunistischen Gruppen. Auf Grund ihrer guten Leistungen erhielt sie ein Stipendium für die Brandeis University in Massachusetts, wo sie ihren ersten Mentor Herbert Marcuse kennen lernte. Sie studierte in Paris an der Sorbonne und in Frankfurt an der Goethe-Universität bei Adorno und Horkheimer. Während ihres Aufenthalts in Deutschland wurden die Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen in den USA immer bedeutender, was Davis letztendlich 1967 zu einer Rückkehr bewegte. Sie hatte intensiven Kontakt zur Black Panther Bewegung, trat 1968 der KP der USA bei und wurde Mitglied des Che-Lumumba Clubs, der von schwarzen Kommunist_innen gegründet wurde, um stärker auf rassistischen Strukturen hinzuweisen. Angela Davis entwickelte sich zu einer wichtigen Kapitalismus- und Rassismuskritikerin und wurde insbesondere für ihren Einsatz für politische Gefangene bekannt.

1969 bekam Angela Davis eine Stelle als Philosophiedozentin an der University of California – Los Angeles (UCLA), ihr Vertrag wurde jedoch kurz nach ihrer Einstellung auf Drängen von Ronald Reagan, damals noch Gouverneur von Kalifornien, gekündigt. Der Grund war ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der USA. Die Entlassung löste eine riesige Protestwelle aus. Vom Dekan der Philosophie erhielt Angela Davis die Möglichkeit, eine außerplanmäßige Vorlesungsreihe zu halten – in der ersten Vorlesung kamen statt der 167 angemeldeten Student_innen über 2000.

Von Top 10 Most Wanted zur Ikone. Angela Davis wurde am 13. Oktober 1970 in New York festgenommen und kam für eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Man warf ihr als angebliche Komplizin von Jonathan Jackson Mord, Menschenraub und Verschwörung vor. Sie sah sich jedoch als politische Gefangene – genauso wie ihre zahlreichen Unterstützer_innen. Sie wurde angeklagt, weil sie als Kommunistin, Aktivistin, Schwarze und Frau den imaginären Feind verkörperte. Begleitet wurde der Prozess von einer massiven internationalen Protestbewegung. Menschen aus der ganzen Welt solidarisierten sich mit Angela Davis und forderten ihre Freilassung. Tausende Menschen aus der DDR schickten ihr unter dem Motto „Eine Million Rosen für Angela Davis“ Postkarten mit Rosen ins Gefängnis. Am 4. Juni 1972 wurde sie mangels Beweise von allen Anklagepunkten freigesprochen.

Im Film erfahren wir jedoch wenig von Angela Davis Leben nach dem Prozess.

Die emeritierte Professorin der University of California, Santa Cruz, setzt sich vehement für die Abschaffung von Gefängnissen und gegen den „gefängnisindustriellen Komplex“ ein. Gefängnisse sind für Angela Davis nicht nur eine unangemessene Antwort auf soziale Probleme, sondern auch ein nicht unbeachtlicher Wirtschaftsfaktor. "Für Privatunternehmen ist Gefängnisarbeit wie ein Hauptgewinn. Keine Streiks. Keine Gewerkschaften. Keine Arbeitslosenversicherung (…) Alles zu einem Preis, der einen Bruchteil dessen beträgt, was Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt kostet", so ein Zitat von Davis. Weiters ist Angela Davis insbesondere für die Race-Class-Gender-Debatte von großer Bedeutung – eine Thematik die auch heute noch sehr aktuell ist (siehe #SolidarityIsForWhiteWomen).

Angela Davis ist eine bemerkenswerte und inspirierende Person, die ihr Leben der Revolution gewidmet hat und obgleich sie sich selber nicht gerne so sieht, ist sie zu einer Ikone des Widerstands geworden, die mit ihrem Konterfei viele T-Shirts und Poster schmückt. Aber solange sie dadurch anderen Mut machen kann, kann sie damit leben. Trailer zum Film auf Seite 2:

Manu Banu (geb. 1979) studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe und der NGO EXIT.

Wenn alles am Spiel steht

  • 28.03.2013, 22:16

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Akbarjan Abdullah sitzt auf seinem Feldbett und kramt suchend in seinen Sachen. „Zehn Jahre lang habe ich in Afghanistan Cricket gespielt“, erzählt der 22Jährige auf Englisch. „Ich würde so gerne auch in Österreich Cricket spielen – aber kaum jemand interessiert sich hier für diesen Sport“, sagt Abdullah. Deswegen hat er begonnen, Volleyball zu spielen, das war ihm zumindest ein wenig Ersatz. Mittlerweile hat er in einer Tasche gefunden, was er gesucht hat: einen Pokal. Gleich sein erstes Volleyball-Turnier in   Österreich hat er gewonnen. Stolz zeigt er seine Trophäe in der Runde herum.

Abdullah ist einer jener Flüchtlinge, die im November den langen Marsch aus Traiskirchen angetreten sind, um gegen die unzumutbaren Zustände der österreichischen Asylpolitik zu demonstrieren. Er protestierte im Zeltlager im Sigmund-Freud-Park und danach in der Votivkirche. Als die österreichischen PolitikerInnen nur mit Arroganz reagierten, trat auch er in den Hungerstreik, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. 13 Kilo hat er in dieser Zeit verloren. Mehrere Male musste sein gesundheitlicher Zustand im Krankenhaus kontrolliert werden.

Trotz eisernem Durchhaltevermögen brachte auch diese drastische Maßnahme wenig Erfolg: Die österreichische Politik weigerte  sich weiterhin, auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen. Nun setzt Abdullah seinen Protest gemeinsam mit 63 Mitstreitern  im Keller des Servitenklosters im neunten Wiener Gemeindebezirk fort – ohne Hungerstreik.

Dass ihm am erhofften Ende seiner Flucht ein dermaßen harter Kampf bevorsteht, damit hatte Abdullah nicht gerechnet. Er kommt aus der Nähe von Kabul, arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und verkaufte Speiseöl. Eines Tages wollten ihn die Taliban rekrutieren: „Wenn du nicht zu uns kommst, dann bringen wir dich um“, drohten sie ihm. Er aber wollte mit ihren Gräueltaten nichts  zu tun haben. „Dann haben sie mich entführt und für 27 Tage in einem winzigen Raum eingesperrt“, erzählt Abdullah. Seit fast zwei  Jahren ist er in Österreich, ein Jahr lang hat seine Reise von Afghanistan mit Schiff und LKW gedauert. Auf dem Weg musste er sich von seinen Eltern trennen, mit denen er zuerst gemeinsam nach Pakistan geflohen war. Seither hat er nichts von ihnen gehört. Als er  in Österreich ankam, wusste er nicht, wo er eigentlich war. „Ich habe jemanden gefragt, und er hat gesagt: ‚in Österreich‘. Ich  meinte: ‚Nicht der Ort, das Land, wie heißt das Land?‘; ‚Österreich – Austria’“, erinnert sich Abdullah. „Dann habe ich erst verstanden, wo ich überhaupt gelandet bin.“ Er war in einem katastrophalen körperlichen Zustand, hatte keine Schuhe, keine frische  Kleidung und überall am Körper entzündete Wunden. Daher musste er zunächst für einige Tage ins Krankenhaus. Aufgrund seiner Hautprobleme sollte Abdullah zweimal am Tag duschen, regelmäßig Kleidung und Bettwäsche wechseln. Das ist im Servitenkloster  zwar leichter als in der Votivkirche. Trotzdem gibt es hier für 64 Flüchtlinge nur eine Dusche.

Provisorium. Die Luft im Keller des Servitenklosters ist feucht und abgestanden, die Bettwäsche mieft etwas. Dennoch sieht es sehr  ordentlich aus: Jedes der provisorischen Klappbetten ist gemacht. Wer die Refugees besucht, wird gastfreundlich und herzlich empfangen. „Mit Zucker?“, fragt der 21jährige Ahmad Zai Azizulla, als er den Tee bringt. Wer nichts hat, der gibt am meisten –  dieses Sprichwort bewahrheitet sich in diesem Kellergewölbe. Azizulla ist erst seit sechs Monaten in Österreich. Auch er musste aus Afghanistan flüchten, weil er von den Taliban verfolgt wurde. Sein älterer Bruder wurde von ihnen getötet, weil er sich nicht  rekrutieren lassen wollte. Azizulla wartet noch auf seinen ersten Asylbescheid. „Es geht nichts weiter“, sagt er. In Österreich war er zuerst in Traiskirchen und dann in Straden untergebracht: „Ein kleines Dorf, in dem es überhaupt nichts gibt.“

„Die schlechten   Lagerbedingungen und das Verfrachten der Flüchtlinge an enorm exponierte Orte, in denen es an jeglicher Infrastruktur mangelt, haben System“, meint Irene Messinger, Politikwissenschafterin und Spezialistin für Fremden- und Asylrecht. „Das wundert nicht, sieht man sich an, wie wenig der Staat für die Grundversorgung der Flüchtlinge ausgeben möchte. Das und die komplette Entmündigung waren bestimmt Initialzünder für die Demonstrationen“, sagt sie.

Gezielte Strategie. Der Protest der  Refugees ist der erste dieser Art: Zwar hat es schon zuvor immer wieder Protestschreiben von Flüchtlingen gegen die unzumutbaren Zustände gegeben. Über die Briefform ging es aber selten hinaus. „Es gab in gewisser Hinsicht eine Phantasielosigkeit in der Ausdrucksform dieses Protests – und die ist jetzt aufgebrochen“, sagt Messinger. Sie hat   jahrelang in NGOs im Bereich der Rechtsberatung für Fremdenrecht und Asylverfahren gearbeitet. „Ein Problem ist auch, dass Asylrecht ExpertInnenwissen geworden ist. Ich denke, das ist eine gezielte Strategie, Unterstützung zu verunmöglichen oder zu erschweren“, sagt sie. Und auch wenn das Ministerium der Öffentlichkeit mit „geschönten Statistiken“ immer wieder
das Gegenteil weismachen wolle: „Österreich ist kein Land, in dem es gute Aussichten auf Asyl gibt.“

Zentrale Forderung der Refugee-Proteste sei die Arbeitsmarktpolitik. Hier einen Erfolg zu erringen, sei Messinger zufolge symbolisch sehr wichtig. Die Flüchtlinge haben auf diesem Gebiet auch Support von verschiedensten NGOs. Auch für Abdullah ist das eine der drängendsten Forderungen. „Wir brauchen euer Geld nicht. Wir wollen keine Almosen, wir wollen arbeiten“, sagt er. Er sei es gewöhnt, Geld selbst zu verdienen und wolle nicht vom Staat leben. Derzeit ist die Arbeitsregelung für AsylwerberInnen aber besonders restriktiv – de facto dürfen sie nur in der Saisonarbeit und der Sexarbeit tätig sein.

Wie es weitergeht? Messinger befürchtet, dass das „Ministerium langfristig fremdenrechtlich durchgreifen und in voller Härte  abschieben“ werde. Auch Abdullah ist sich unsicher, ob sein Protest erfolgreich sein wird: „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich  nicht. Wir können nur hoffen. Wenn wir jetzt aufgeben, dann verlieren wir alles.“ Auch er rechnet mit Abschiebungen. Und „alles verlieren“, das heißt für einen Flüchtling viel mehr als die Aussichten auf ein gemütliches Leben im Wohlfahrtsstaat Österreich zu begraben: „Ich liebe mein Land und ich möchte heim. Aber wenn ich jetzt zurück muss, töten mich die Taliban.“

Kampf für das Recht auf Asyl

  • 11.03.2013, 16:24

Michael Genner, Obmann von „Asyl in Not", hat stets die Missstände der Asylpolitik aufgezeigt und die BeamtInnenwillkür angeprangert. Claudia Aurednik hat mit ihm für progress über sein Engagement gesprochen.

Michael Genner, Obmann von „Asyl in Not", hat stets die Missstände der Asylpolitik aufgezeigt und die BeamtInnenwillkür angeprangert. Claudia Aurednik hat mit ihm für progress über sein Engagement gesprochen.

Der 64-jährige Michael Genner ist seit 1989 als Rechtsberater für Flüchtlinge tätig. Als Obmann des Vereins „Asyl in Not“ hat er Hunderten von Flüchtlingen in Österreich geholfen und politisch gegen die Verschärfung der Asylgesetze protestiert. Doch trotz seiner über jahrzehntelangen Tätigkeit, wird er weiterhin für das Menschenrecht auf Asyl kämpfen.

Links:

www.asyl-in-not.org

Eine Buchrezension zu Michael Genners Autobiografie Verleitung zum Aufstand.

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.