Sarah Langoth

„Hoppauf, Hakoah!“

  • 01.12.2013, 13:17

Der jüdische Sportverein Hakoah Wien zählt seit mehr als 100 Jahren zu einem der erfolgreichsten Sportvereine Österreichs. Eine Fotoreportage von Margot Landl und Sarah Langoth.

Der jüdische Sportverein Hakoah Wien zählt seit mehr als 100 Jahren zu einem der erfolgreichsten Sportvereine Österreichs. Eine Fotoreportage.

Der SC Hakoah wurde im Jahr 1909 als Zeichen jüdischer und zionistischer Kultur und gleichzeitig als Reaktion auf die in immer mehr Sportvereinen gültigen rassischen Arierparagrafen gegründet. Diese schlossen Juden und Jüdinnen in Zeiten des wachsenden Antisemitismus immer stärker vom gesellschaftlichen und damit vereinssportlichen Leben aus. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg feierte die Hakoah viele Erfolge und war weltweit einer der erfolgreichsten Breitensportvereine. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde auch die Hakoah aufgelöst und enteignet.

Nach 1945 konnte die Vereinstätigkeit jedoch bald wieder aufgenommen werden. Heute steht ein modernes Sportzentrum auf dem etwa 2000 Quadratmeter großen Grundstück im zweiten Wiener Gemeindebezirk, welches dem Verein erst 70 Jahre nach seiner Enteignung zurückgegeben wurde.

 

Foto: Sarah Langoth

„Hakoah“ ist hebräisch und bedeutet so viel wie „Kraft“. Der Verein war ein Teil jüdischer Kultur und ist es auch heute noch. „Heute besitzen wir etwa 500 Mitglieder und natürlich sind die meisten davon jüdischer Religion, doch wir sind offen für Menschen aus allen Kulturen und Religionen“, erklärt der Präsident des Vereins Paul Haber.

„Viele Menschen kommen auch einfach zu uns, weil sie unsere Angebote nutzen möchten. Markus Rogan ist auch erst zum Judentum übergetreten, als er schon lange nicht mehr bei uns trainiert hat. Nicht der Hakoah, sondern der Liebe wegen“, schmunzelt er.

 

Foto: Sarah Langoth

Der Präsident Paul Haber ist der 69-jährige Sohn von Karl Haber, der die Hakoah nach dem Krieg neu gegründet hat. „Ich bin im Verein groß geworden. Meine Großeltern sind alle im Krieg umgekommen, viele Verwandte emigriert oder gestorben. Die Hakoah war, wenn man so will, ein Familienersatz.“

In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zählte die Hakoah etwa 8000 Mitglieder – „So viel, wie heute die ganze Kultusgemeinde“, überlegt Paul Haber. Der Verein war mehr als ein Sportklub, er hatte ein eigenes Orchester, veranstaltete Bälle und die Fußballmatches zogen auch Juden und Jüdinnen an, die sich sonst eher wenig für Sport begeisterten. 25.000 ZuschauerInnen bei einem Derby waren keine Seltenheit. Der Schlachtruf lautete: „Hoppauf, Hakoah!“.

 

Foto: Sarah Langoth

Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball oder Wasserball waren beliebte Disziplinen beim SC Hakoah. Ein Wasserballer, der auf anderem Weg berühmt geworden ist,  ist der Schriftsteller Friedrich Torberg. Heute besteht der Verein aus den Sektionen Basketball, Bowling, Judo, Karate, Schwimmen, Tennis, Tischtennis, Wandern und Skifahren.

 

Foto: Sarah Langoth

Bela Guttmann war 1925 mit dem Fußballklub der Wiener Hakoah österreichischer Meister, danach führte er als Trainer beispielsweise Spanien zu einem Sieg im Europacup.

Der Fußballplatz war, damals wie heute, immer ein Ort der Emotionen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurde auch das Fußballfeld immer mehr zum Platz der Diskriminierung und der Gewalt, bis schließlich ab 1933 die sportliche Tätigkeit der Hakoah in allen Bereichen immer stärker eingeschränkt und schließlich unterbunden wurde.

 

Foto: Sarah Langoth

Eine der erfolgreichsten und berühmtesten Schwimmerinnen der Hakoah war Hedy Bienenfeld. Sie gewann nicht nur verschiedene österreichische, sondern auch zahlreiche internationale Meistertitel, beispielsweise bei den Maccabiaden, der größten jüdischen, internationalen Sportveranstaltung.

Bei vielen Wettbewerben waren die SportlerInnen offenen antisemitischen Angriffen ausgesetzt. „Bei manchen Bewerben musste die Hakoah-Ringerstaffel die Schwimmerinnen bis zum Start begleiten“, erzählt Paul Haber. Nicht alle von ihnen nahmen diesen Zustand wortlos hin: Im Jahr 1936 verweigerten die Schwimmerinnen Judith Deutsch, Lucie Goldner und Ruth Langer neben einigen Leichtathleten die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Berlin aus Protest gegen die nationalsozialistische Rassenideologie – eine Entscheidung, die nach den Statuten des Internationalen Olympischen Komitees erlaubt war. Daraufhin wurden sie durch den österreichischen Schwimmverband lebenslänglich gesperrt und es wurden ihnen alle Titel aberkannt. Es dauerte bis in die 1990er Jahre, bis die Sportlerinnen öffentlich rehabilitiert wurden.

 

Foto: Sarah Langoth

Paul Haber zeigt auf die vielen Pokale, Plaketten und Medaillen, die in den Schaukästen im Eingangsbereich des Sportzentrums ausgestellt sind: „Die Hakoah konnte in allen betriebenen Sportarten mindestens einen Staatsmeistertitel vorweisen, in einigen Bereichen konnte man sogar Weltklassesportler hervorbringen, wie beispielsweise Ringen oder Schwimmen. In den 1930ern  waren wir der größte Allroundsportklub der Welt.“

Der SC Hakoah war auf Breitensport hin ausgerichtet, das Angebot des Vereins vor dem Zweiten Weltkrieg umfasste dreizehn verschiedene Sportarten: Fußball, Schwimmen, Ringen, aber beispielsweise auch Fechten oder Schach. Trotzdem, oder genau deshalb, gelang es, in einigen Sportarten SportlerInnen bis an die Weltspitze zu bringen.

 

Foto: Sarah Langoth

In dem Museum des SC Hakoah, welches eine Enklave des Jüdischen Museums Wiens ist, sind Fotos, Texte und Gegenstände ausgestellt, welche hauptsächlich die Zeit vor 1945 thematisieren. Der muskulöse Mann auf dem Schwarz-Weiß-Foto ist Paul Haber im Jahr 1964, als er österreichischer Meister im Schwimmen wurde.

Schwimmen war eine der wenigen Sportarten, welche im Verein kontinuierlich ausgeübt werden konnte, da man dafür nicht viele Ressourcen benötigte. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Verein die meisten seiner, vor allem jungen Mitglieder und sein gesamtes Eigentum verloren hatte, waren Schwimmen und Leichtathletik vorerst die einzigen Sportarten, die weiter praktiziert werden konnten.

 

Foto: Sarah Langoth

Da das Sportzentrum erst 2008 nach der Rückerstattung des Hakoah-Grundstücks gebaut wurde, ist es äußerst modern ausgestattet. „Es ist mit Sicherheit eines der modernsten Fitnessstudios Österreichs“, beurteilt Paul Haber.

Durch die Zusammenarbeit mit der TU und Universität Wien soll auch alles getan werden, um immer auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben. Ein Team aus PhysiotherapeutInnen, SportmedizinerInnen, TrainerInnen und LeistungssportlerInnen steht den Mitgliedern des Vereins zur Verfügung.

 

Foto: Sarah Langoth

Das Sportzentrum besitzt eine sogenannte „Dreifach-Halle“, welche in drei einzelne Hallen unterteilt werden kann. Diese wird unter der Woche von der benachbarten jüdischen Zwi Perez Chajes-Schule genutzt, die dort ihren Turnunterricht abhält.

Auf der anderen Seite des Gebäudes grenzt das Maimonides-Zentrum an, eine Kombination aus betreutem Wohnen und Seniorenheim für vorwiegend jüdische Personen. Auch einige von diesen kommen regelmäßig in das Fitness- und Wellnesscenter.

 

Foto: Sarah Langoth

Der Außenbereich der Sportanlage besteht aus drei Tennisplätzen, einem Hartplatz und einem Swimming Pool für den Sommer. Alle Sektionen haben hier ihren Standpunkt, außer die Bowling- und die Schwimmsektion, die in eigenen Hallen in anderen Bereichen Wiens trainieren.

 

Foto: Sarah Langoth

Neben dem Fitnessbereich besitzt das Sportzentrum auch einen modernen Wellnessbereich mit Sauna, Solarium und Massagemöglichkeit. Ebenso gibt es einen Aufenthaltsbereich im Freien für den Sommer, einen Seminarraum oder eine Cafeteria, das Tagesgericht ist ein Falafelteller.

„Wir haben ein relativ hohes Durchschnittsalter im Verein, die ältesten Mitglieder sind über 80 Jahre alt. Ich selbst lege als Sportmediziner einen besonderen Schwerpunkt auf ältere Menschen“, erzählt Paul Haber. Andererseits ist der Verein auch eine Trainingsakademie für LeistungssportlerInnen und bringt immer wieder Medaillenhoffnungen wie den Judoka Stephan Hegyi hervor. Alle Generationen sollen eingeladen sein.

 

Sportclub Hakoah
Karl Haber Sport & Freizeitzentrum
Simon-Wiesenthal-Gasse 3 (Eingang: Wehlistr. 326)
1020 Wien

Telefon: +43/1/726 46 98 - 0
FAX:      +43/1/726 46 98 - 999
e-Mail:    office@hakoah.at

Öffnungszeiten:
 Mo. - Fr. (werktags): 08:00 - 22:30
 Sa., So., feiertags:    09:00 - 21:00

Wider die Binarität

  • 17.04.2018, 14:40
Intergeschlechtlichkeit und die Hürden des Alltags.

Hinweis: Hinter dem Wort „Inter*“ befindet sich ein Asterix, da Inter* offen sein möchte für alle Selbstbeschreibungen von intergeschlechtlichen Menschen. Mit dem Asterix soll die Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten abgebildet werden.

Abseits von binär männlich-weiblicher Norm: Intergeschlechtliche Menschen sind nach wie vor massiven Herausforderungen ausgesetzt: gesellschaftliche Tabuisierung, medizinische Pathologisierung und rechtliche Grauzonen machen einen normalen Alltag zum Hürdenlauf. In Deutschland soll es in Zukunft einfacher werden: Das Bundesverfassungsgericht wird eine dritte Option als Geschlechtseintrag im Geburtenregister ermöglichen, wie es in einigen Ländern schon der Fall ist. Bis Jahresende soll ein dritter Eintrag wie "anderes", "inter", "X", oder die Streichung des Geschlechtseintrags erfolgen. In Österreich liegt ein ähnlicher Antrag aktuell beim Verfassungsgerichtshof, nachdem sich Alex Jürgen* seit 2016 dafür einsetzt. Was Intergeschlechtlichkeit bedeutet und mit welchen Problemen zu kämpfen sind, hat uns Tinou Ponzer vom Verein intergeschlechtlicher Menschen (VIMÖ) erzählt:

progress: Intergeschlechtlich/Intersexuell - was heißt das?

Tinou Ponzer: Intergeschlechtlichkeit bezieht sich auf Geschlechtsmerkmale, wenn diese sich abseits oder zwischen den vorgegebenen Normen von männlich/weiblich entwickeln – das kann bei der Geburt ersichtlich sein oder erst später. Es geht also um verschiedene chromosomale, hormonelle oder/und anatomische Ausprägungen. Man sieht intergeschlechtlichen Menschen aber nicht unbedingt an, dass sie es sind – das ist sehr individuell.

Es kursieren verschiedene Zahlen, geschätzt wird aber, dass 1,7% der Bevölkerung Variationen in der Geschlechtsentwicklung haben. Das sind also nicht wenige Menschen!

Es gibt Menschen, die als weiblich gesehen werden, aber keine XX-Chromosomen, keinen Uterus, keine Vagina oder Hoden im Bauchraum haben; gemischtes Gewebe und Variationen bei Geschlechtsorganen; vermeintliche Mädchen, die durch Hormonveränderungen „vermännlichen“; vermeintliche Buben, die dadurch nicht in den Stimmbruch kommen, denen Brüste wachsen etc. Manche erfahren es erst als Erwachsene bei medizinischen Check-Ups z.B. bei unerfülltem Kinderwunsch; oder überhaupt nie. Intergeschlechtliche Menschen haben so wie alle anderen meist noch nie davon gehört, dass es ein geschlechtliches Spektrum, eine Vielfalt gibt und dass das vollkommen „normal“ ist – denn so ist die Natur: reich an Diversität und wir sind Teil davon!

Wie ist es zu eurem Verein VIMÖ gekommen?

VIMÖ wurde 2014 von Tobias Humer und Alex Jürgen* als menschenrechtsbasierte Interessensvertretung gegründet und von der Plattform Intersex Österreich unterstützt. Davor war Alex Jürgen* einzig geoutete_r Inter* in Österreich und erreichte mit der Dokumentation „Tintenfischalarm“ die Öffentlichkeit erstmals. Seitdem kommen nach und nach Leute dazu, wie Gorji Marzban, Luan Pertl und ich. Bei uns melden sich Menschen, die inter* sind oder sich fragen, ob sie es sind; genauso wie Eltern, Medien und Fachpersonen. Es muss sich aber niemand outen, der_die sich bei uns meldet oder sich engagieren will – der geschützte Austausch ist immens wichtig. Inter*aktivist_innen haben entschieden sich zu zeigen, etwas zu verändern – die Message ist Selbstbestimmung, damit wir glücklich aufwachsen und leben können, auch wenn die Gesellschaft Herausforderungen bereit hält. 

Habt ihr konkrete Ziele?

Oberstes Ziel ist der Stopp geschlechtsverändernder Eingriffe an Kindern und Jugendlichen, die Körper meist unumkehrbar an eine Norm anpassen – vor allem, da sie ohne vollinformierte Zustimmung der Betroffenen stattfinden. Jeder Mensch muss über seinen Körper selbst bestimmen können! Die Gesundheit und Unversehrtheit eines Menschen darf nicht auf Kosten der Vorstellung gehen, dass es nur zwei definierte Geschlechter zu geben hat. Zu den Eingriffen zählen Genitaloperationen, Entfernungen von Hoden oder Eierstöcken, die lebenslange künstliche Hormoneinnahmen zur Folge haben. Es werden Neo-Vaginen angelegt, die über lange Zeit ständig gedehnt werden müssen, außerdem wird mit Hormonen experimentiert. Zur Forderung eines Verbots muss Aufklärung stattfinden – Veränderungen im Denken und Handeln müssen genauso in der Gesellschaft passieren. Solange es heißt, man könne uns „korrigieren“ und wir immer nur von Mädchen und Buben sprechen und spezifische Zuschreibungen machen, denen sowieso viele nicht entsprechen, hilft auch das beste Gesetz nichts. Wir möchten der Tabuisierung entgegenwirken, die bewirkt, dass Inter* und ihre Familien sich schämen; ein Gefühl der Akzeptanz im Umfeld und einen sicheren Boden schaffen.

Wieso wird Intergeschlechtlichkeit in Gesellschaft und Bildung so stark tabuisiert?

Wenn man sich Lehr- und Bildungspläne anschaut, wird tatsächlich nicht darüber informiert – und wenn nur in pathologisierender Weise. Wenn es um Pflanzen und Tiere geht, lernen wir, dass es „Zwitter“ gibt, bei Menschen ist Sexualität und damit Geschlecht dagegen ein Tabu. Daher herrscht ein Mangel an Information, Sprache, Sichtbarkeit in unserer Gesellschaft generell und auch im Gesundheitsbereich, in der Pädagogik, Sozialarbeit und anderen Bereichen, was die Lebenssituation von Inter* massiv negativ beeinflusst. 

Wo liegt die medizinische Problematik?

Es gibt viele Diagnosen, die intergeschlechtliche Menschen pathologisieren, die Folge ist chirurgische, hormonelle, psychologische Medikalisierung, die sich menschenrechtlich in einem mehr als fragwürdigen Bereich abspielt. Dass es manchmal tatsächlich Bedarf zu lebensnotwendigen Interventionen gibt, bestreitet niemand, nur ist es ein wesentlich geringerer Prozentsatz. Inter* Menschen bekommen oft vermittelt, dass sie „Störungen“, eine „Missbildung“, eine „Disorder of Sexual Development (=DSD)“ haben – eben krank sind. Natürlich obliegt es jeder Person, selbst zu definieren, wer sie ist! Aber wenn wir nicht anfangen, Geschlecht als ein biologisches und sozio-kulturelles Spektrum wahrzunehmen, werden Menschen, die in starre Definitionen nicht hineinpassen, weiterhin Gewalt ausgesetzt.

Sind die Folgen einer Geschlechtsnormierung nicht oft gravierend?

Mediziner_innen lernen auf Auffälligkeiten zu achten, um Krankheiten zu erkennen. Aber medizinische Betrachtungen unterliegen auch sich wandelnden Weltanschauungen und Lehrmeinungen, da geht oft nur langsam etwas weiter. Pathologisierung wirkt als starke Macht; siehe z.B. die frühere Pathologisierung von Homosexuellen. Bei inter* Kindern wird oft davon ausgegangen, dass sie keine gesunde psychosexuelle Identität entwickeln können, wenn ihr Körper nicht eindeutig aussieht, dass sie später keine Partner_innen finden, gemobbt werden. Diese Dinge erfahren sie aber trotz oder vielmehr wegen der Eingriffe in ihren Körper! Diese Eingriffe gelten als Heilbehandlungen und brauchen die Zustimmung der Eltern. In Österreich muss innerhalb einer Woche das Geschlecht des Neugeborenen eingetragen werden, das erzeugt Zeitdruck. Eltern bekommen ja auch nur medizinische "Aufklärung" - sie sind mit dieser neuen Situation alleine gelassen, überfordert und brauchen bestärkende Begleitung. Ihre Sorgen dürfen nicht über den Rechten des Kindes stehen! Der Druck und die Ängste der Eltern scheinen Argumente zu sein, die Kinder diesen Prozeduren auszusetzen – das ist eine Kompetenzüberschreitung der Medizin. Sie ist dem Wohle ihrer Patient_innen verpflichtet und muss sich auf medizinisch notwendige Behandlungen beschränken, Menschenrechte dürfen dabei nicht verhandelbar sein. Es gibt bei manchen Ärzt_innen aber auch schon ein Umdenken und eine andere Praxis.

Was sind die größten Probleme in einer Umgebung, die auf einer klassischen Zweigeschlechterordnung basiert?

Alle Menschen sind ständig mit dieser Rosa-Blau-Einteilung konfrontiert, nicht nur intergeschlechtliche. Wenn sich jemand nicht geschlechtskonform verhält, ist das auffällig. Vor dem Klo muss man sich entscheiden, bei allen Formularen und Dokumenten, man wird entweder als Herr oder Frau angesprochen. Wenn man da irgendwie rausfällt, auch noch androgyn aussieht, ist man Angriffen, Demütigungen oder auch Neugier ausgesetzt: „Ist 
das jetzt ein Mann oder eine Frau?“. Die Krankenkasse übernimmt Kosten nach Geschlecht, nicht nach Organen; wer zahlt also, wenn ich eine Behandlung an einem Geschlechtsorgan brauche, 
das ich nicht haben dürfte? Wieso müssen inter* Menschen die Therapiekosten selbst übernehmen, die nur Folge davon sind, dass ihnen Körperteile 
und Organe genommen wurden? Dazu kommt ein erhöhtes Maß an Stress, Traumatisierung, chronischen Schmerzen, Depression und Angstzuständen. Das Sexleben ist schwierig, manche spüren nichts, können keinen Orgasmus haben. Wenn man sich das alles so anschaut, wird unbegreiflich, warum so viel in nur zwei Geschlechter eingeteilt wird. Ich glaube, letztendlich hat niemand etwas von dieser starren Zweigeschlechterordnung. 

Gibt es aktuelle Projekte?

Aktuell hat das Gesundheitsministerium Interesse an unserer Einbindung am Entwurf verbindlicher Behandlungsleitlinien. Wir hoffen auf eine gute Zusammenarbeit! Auch wenn wir sagen, Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, muss gesundheitliche Versorgung gewährleistet sein, etwa bei Behandlungen, die von der Person nach guter Aufklärung gewünscht sind. Wir geben laufend gemeinsam mit der Plattform Intersex Österreich Workshops und Vorträge, um zu sensibilisieren, Forschung anzuregen und generell aufzuklären. Ganz im Sinne von „Nothing about us without us!“. Das Interesse und der Aktivismus werden zum Glück immer größer, aber es liegt noch viel vor uns. Ich möchte Angehörigen und Nahestehenden Mut machen, sich bei uns zu melden. Wir sprechen aus Erfahrung und wollen Unterstützung bieten. An alle, die sich fragen, ob sie intergeschlechtlich sind und an die, die wissen, dass sie es sind: ihr seid nicht allein! Lasst euch von niemandem einreden, ihr wärt falsch. Jede_r ist individuell – und das ist nicht nur ok, das ist sogar wunderbar!

Danke für das Interview.

Seit 2016 versucht Alex Jürgen*, den dritten Geschlechtseintrag in persönlichen Dokumenten durchzusetzen, mittlerweile liegt das beim Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof, nachdem es in ersten Instanzen abgelehnt wurde - unter anderem weil das Computersystem angeblich keinen anderen Eintrag vornehmen könne. Das Personenstandsgesetz sieht nur vor, dass ein Geschlecht ins Geburtenregister einzutragen ist, dieses ist aber nicht vorgegeben! Dass ein korrekter Eintrag verwehrt wird, geht mit Gleichheitsgrundsätzen nicht überein und ist diskriminierend. Das betrifft genauso Menschen ohne intergeschlechtlichen Körper, die ihr Geschlecht nicht als zutreffend mit „Mann“ oder „Frau“ erleben. Es gibt also verschiedene Menschen, für die eine Alternative geschaffen werden muss, damit sie endlich rechtliche Anerkennung und gesellschaftliche Akzeptanz erfahren.