Lucilio Zwerk

„Wer Arbeit kennt und sich nicht drückt, der ist verrückt“

  • 20.06.2017, 22:30
Wo man auch hinsieht, war Arbeit nichts anderes als Zwang. Auch heute leben die Menschen in der Regel für die Freizeit.

Wo man auch hinsieht, war Arbeit nichts anderes als Zwang. Auch heute leben die Menschen in der Regel für die Freizeit.

Wer selbst einmal gearbeitet hat, der weiß, dass Arbeit trotz aller anderslautenden Versprechen oft nicht sonderlich glücklich macht. In der Regel empfinden die Menschen Arbeit als Last, als mühsame Notwendigkeit, die man hinter sich bringen muss, um endlich wieder Freizeit zu haben. Wer arbeitet, der weiß, dass man sich gerade nach den Pausen, den Feierabenden und vor allem nach den Wochenenden sehnt, nicht aber nach den acht Stunden, die man im Büro, beim Kellnern oder in der Ideologieproduktionsstätte der Universität verbringt.

VERKEHRTES VERHÄLTNIS. Der Zwang, den die Menschen erfahren, ist kein eingebildeter, sondern entspricht dem wirklichen Zwangscharakter der gegenwärtigen Gesellschaft, in der die individuelle Selbsterhaltung an die Verwertung von Kapital unter privater Regie gekoppelt ist. Ernährung, Bekleidung und Bespaßung des Individuums sind in diesem System kein Selbstzweck, sondern erscheinen als funktionale Bedingung dafür, dass Menschen arbeitsfähig bleiben und damit das System erhalten. Die Gesellschaft, namentlich ihr verkehrtes Erscheinen als Kapitalverhältnis, setzt die Lebendigkeit und die Erhaltung der Einzelnen in eins mit der Erhaltung des Leibes als Arbeitskraft. Wo ein Zustand herrscht, in dem nicht Bedürfnisse das Maß der Produktion sind und die Arbeit nicht bloß Mittel, es zu befriedigen, herrscht das groteske Gegenteil der Zweck-Mittel- Relation. Statt die Diktatur der Bedürfnisse über die Produktion zu organisieren, also statt dem Profitinteresse des Kapitals einzig und allein die Menschen entscheiden zu lassen, was sie zum guten Leben brauchen, sind die Einzelnen heute bloß Anhängsel der Produktion und das Bedürfnis bloß Anreiz zur Produktion: Verwertung des Werts, Herausschlagen von Profit, der privat angeeignet wird. Der dieser Gesellschaft angemessene Leitspruch lautet daher nicht: Wo ein Bedürfnis ist, da wird es gestillt. Sondern: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.

SÜNDENFALL … Nun könnte man sich fragen: War denn die Arbeit jemals etwas anderes als Zwang? Wenn wir den konkret-geschichtlichen Erscheinungen der Arbeit kein metaphysisches, im Zwang als ihr reines Gegenteil erscheinendes Wesen unterstellen wollen, so war die Arbeit ab dem Austreten der Menschen aus der Natur stets von fremden Zwecken bestimmt, also Zwecken, die von der Bedürfnisbefriedigung der Arbeitenden getrennt sind. Kaum der Natur entronnen, war Arbeit für jeden Menschen Bedingung des nackten Überlebens. Die Lebenszeit der einzelnen Menschen war also voll und ganz von der Bearbeitung der Natur zum Zwecke der Reproduktion der eigenen Existenz aufgesogen. Erst der gemeinschaftlich zustande gebrachte Überschuss, der nicht gleich konsumiert wurde und daher konserviert und angeeignet werden konnte, setzte ein soziales Verhältnis in Gang, in dem die einen gut leben konnten und die anderen ausgebeutet wurden. Herrschaft und Ausbeutung, so stellt es sich paradoxerweise historisch dar, sind erst dann in die Welt getreten, als die Menschen sich durch die Entwicklung ihrer Produktivkräfte aus dem bloßen Zwang der Natur befreit hatten. Dort, wo die Bearbeitung der Natur rational war, also ganz den Bedürfnissen der Menschen verpflichtet, wies sie noch nicht über den bloßen Kreislauf der Natur hinaus. Vom Naturzwang emanzipierte sie sich erst im Überschuss, welcher die Menschen vom bloßen Gattungsexemplar zu sozialen Wesen, und ihr Zusammenleben zur Produktionsgemeinschaft erhob. Es ist ein historisches Verhängnis, welches nicht weiter ableitbar ist, dass das in der Wiege der Menschheit entstehende Mehrprodukt nicht vernünftig aufgeteilt, sondern herrschaftlich angeeignet wurde.

… UND ERBSÜNDE. Durch diesen „Sündenfall“ wurde Herrschaft in Gang gesetzt. Im Laufe der Jahrhunderte nimmt sie allerdings höchst unterschiedliche Formen an. In der Antike waren bekanntlich nur Bürger frei, alle anderen – Frauen und Fremde – wurden von der Freiheit ausgeschlossen. SklavInnen schließlich, welche den arbeitenden Teil der Bevölkerung bildeten und somit eine unumstößliche Bedingung der Reproduktion der antiken griechischen Stadtstaaten darstellten, waren für die Herrschenden kaum mehr als sprechende Werkzeuge – obwohl ihre Arbeit doch die eigene Lebensgrundlage darstellte. Die Humanität der griechischen und römischen Antike, die sich nicht zuletzt in der Philosophie ausdrückte, war untrennbar an Reproduktion der Gesellschaft durch Sklavenarbeit gekoppelt. Die schrankenlose Herrschaft des einen Menschen über den anderen ist also historisch eine Bedingung für den Beginn der europäischen Zivilisation.

Im Feudalismus stand die Reproduktion der Gattung ganz unter der Regie persönlicher Herrschaft des Feudaladels über die Leibeigenen. Die Bauern und Bäuerinnen waren zwar keine SklavInnen mehr, kannten aber trotzdem so gut wie keine Rechte gegenüber ihren Herren, denen sie als Knechte mehr oder weniger auf Gedeih und Verderben ausgeliefert waren. Die Subsistenzökonomie war derart organisiert, dass die Leibeigenen durch Arbeit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Herren ernährten. Vor der bürgerlichen Gesellschaft haben wir es also mit Gemeinwesen zu tun, die sich durch persönliche, direkte Herrschaft und Ausbeutung auszeichnen.

BLUT UND FEUER. Erst im Zuge der sogenannten ursprünglichen Akkumulation veränderte sich das Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit zu jener Form, wie wir sie heute kennen. Durch die gewaltsame Trennung der Produzierenden von ihren Produktionsmitteln, also der massenhaften Vertreibung von Bauern und Bäuerinnen von ihrem Grundbesitz, wurde die Landbevölkerung zu freien LandarbeiterInnen und zu vogelfreiem, in die Städte strömendem Proletariat umgewandelt. Die nun doppelt freien LohnarbeiterInnen, die frei von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, aber auch frei von jeglichem Eigentum waren, mussten erst durch Gewalt erschaffen und in das moderne System der Lohnarbeit hineingepeitscht werden. Schlussendlich blieb ihnen nichts mehr anderes übrig, als das einzige, was ihnen blieb – ihre Arbeitskraft als Ware – zu verkaufen. Anders als in den Vertragstheorien der bürgerlichen Staatsphilosophie dargestellt, entstanden die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die ihnen entsprechende Organisation der Arbeit nicht als vertragliche Einigung zwischen Individuen. Vielmehr musste ein grundlegendes Prinzip der warenproduzierenden Gesellschaft in der gewaltsamen und unmittelbaren Aneignung des Eigentums der Landbevölkerung gebrochen werden: jenes Prinzip, wonach Aneignung von fremdem Eigentum – seien es nun Waren oder die Arbeitskraft – nur durch Vertrag und als Tausch von Äquivalenten stattfinden darf.

LOHNSKLAVEREI. Die Tatsachen, die geschaffen wurden, als das bürgerliche Recht noch schlummerte, wirken heute noch nach. Sie sind der Grund, warum es das bürgerliche Recht überhaupt geben muss: Wo die Menschen als WarenbesitzerInnen und MarktteilnehmerInnen in der allgemeinen Konkurrenz Interessen haben, die einander diametral entgegengesetzt sind (alle haben das Interesse, dass die anderen in der Konkurrenz auf der Strecke bleiben), kann nur das allgemeine Recht Vermittlung schaffen. Damit das Eigentum der einen Person geschützt werden kann, muss diese Person auch alle anderen Personen als WareneigentümerInnen anerkennen. Wo diese wechselseitige Anerkennung verletzt wird, setzt der Staat das Recht – wenn nötig gewaltsam – gegen die Konfliktparteien durch.

Seit der gewaltsamen Herstellung der eigentumslosen Klasse des Proletariats soll also die Aneignung von Waren nur noch auf rechtlichem Wege, also durch Vertrag geschehen. Damit ist aber weder Herrschaft noch Ausbeutung beseitigt. Die Ausbeutung in der warenproduzierenden Gesellschaft vollzieht sich nicht – wie frühsozialistische Vorstellungen unterstellen – gegen das Rechtsideal der bürgerlichen Gesellschaft, sondern sie geschieht durch das Recht. Wo der große Teil der Bevölkerung frei von Eigentum ist, bleibt als Mittel zur Selbsterhaltung nur noch der Verkauf der Arbeitskraft übrig, welche den KapitalistInnen ganz legal und „gerecht“ als angeeignete Ware zukommt. Diesen dürfen sie benützen wie jede andere angeeignete Ware im Produktionsprozess auch. Weil die menschliche Arbeitskraft es an sich hat, Wert schaffen zu können, und damit auch mehr Wert, als für ihre eigene Reproduktion notwendig ist, können sich die KapitalistInnen vollkommen rechtmäßig das Produkt fremder Arbeit aneignen.

BLUMEN AUF DIE KETTEN. Springen wir von diesen allgemeinen Ausführungen in die heutige Zeit, so merken wir, dass sich am grundlegenden Verhältnis nichts geändert hat. Gegen den Einwand, dass es ja den Sozialstaat gäbe, welcher die Verelendung der Arbeitenden verhindert habe, seien hier also noch ein paar Bemerkungen erlaubt. Der Sozialstaat hat zwar erfreulicherweise auch dem lohnabhängigen Teil der Bevölkerung ein Mindestmaß an Bedürfnisbefriedigung und sozialer Absicherung verschafft, dies aber auch nur auf einem Umweg. Betrachtet man die historische Genese etwa des 8-Stunden-Tages oder der Sozial- und Krankenversicherungen, so wird man schnell merken, dass diese Zugeständnisse sowohl von christlich-sozialer, liberaler als auch von sozialdemokratischer Seite kaum aus reiner Menschenfreundlichkeit unternommen wurden.

Der 8-Stunden-Tag etwa gehört zu jenen Maßnahmen, die verhindert haben, dass das Proletariat zugrunde geht, wo also der Staat das allgemeine Interesse des Kapitals (weil nur menschliche Arbeit Wert schaffen kann) gegen die einzelnen KapitalistInnen (welchen egal sein kann und muss, ob diese Arbeiterin oder jener Arbeiter an der Arbeit zugrunde geht) durchsetzte. Das gleiche gilt für die Sozial- und Krankenversicherungen. So erkannte etwa Otto von Bismarck, dass sich die Arbeiterbewegung am besten dadurch ausschalten ließe, die arbeitende Bevölkerung zu integrieren, ihr also Zugeständnisse zu machen, die gleichzeitig die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse nicht gefährden konnten: Das Zuckerbrot hat sich historisch als effektiver erwiesen als die Peitsche.

Lucilio Zwerk studiert an der Universität Wien.

Null-Euro-Jobs als Zukunft der Arbeit

  • 12.05.2017, 21:47
Wie Arbeitskraft verstaatlicht wird.

Wie Arbeitskraft verstaatlicht wird.

Unter dem Hartz-IV-System in Deutschland vollzog sich eine grundlegende Transformation des Verhältnisses der Arbeitslosen zum Staat. Der Zwang, am sektionierten Arbeitsmarkt der sogenannten Ein-Euro-Jobs teilzunehmen, kommt einer Verstaatlichung der Arbeitskraft gleich. In Österreich drohen nun ähnliche Entwicklungen. In jener Phase des Kapitalismus, die Karl Marx beobachten und analysieren konnte, als er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das „Kapital“ schrieb, war das Verhältnis der LohnarbeiterInnen zu ihrem jeweiligen Staat klar: Sie waren doppelt frei in jenem Sinne, dass es ihnen zum einen als Rechtssubjekten ermöglicht war, frei von unmittelbarem Zwang ihrer ökonomischen Betätigung nachzugehen; zum anderen waren sie jedoch auch frei von eigenen Produktionsmitteln, weshalb der „stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx) ihnen keine andere Möglichkeit bot, als durch Verkauf ihrer Arbeitskraft am Markt ihren Unterhalt zu besorgen. Die Lohnabhängigen waren in dieser Phase weitgehend auf Gedeih und Verderb dem Marktgeschehen ausgeliefert; konnten sie ihre Arbeitskraft zeitweilig nicht verkaufen, zählten sie zur „industriellen Reservearmee“ und warteten – unterstützt durch Almosen oder später durch staatliche Sozialhilfe – darauf, wieder zum Zug zu kommen.

VERSTAATLICHUNG DER ARBEITSKRAFT. Heute hat man sich in den meisten westlichen Ländern mit einer Sockelarbeitslosigkeit abgefunden, das heißt mit einem Anteil an Arbeitslosen in der Bevölkerung, die selbst bei vollständiger Auslastung der Produktionskapazitäten in der Wirtschaft ihre Arbeitskraft nicht verkaufen könnten. In Deutschland führte diese Akzeptanz der Sockelarbeitslosigkeit zu jenen Maßnahmen, die unter dem Namen Hartz IV bekannt sind: Dazu zählen einschneidende Kürzungsmaßnahmen bei Nicht-Einhaltung der vielen Regeln, die EmpfängerInnen der Sozialhilfe einzuhalten haben (Residenzpflicht, Arbeitssuche, regelmäßige Termine im Job-Center etc.). Berühmt-berüchtigt wurden etwa die im Rahmen von Hartz IV eingeführten Ein-Euro-Jobs. Dabei handelt es sich um von Staats wegen generierte Arbeitsplätze, meist in „gemeinnützigen“ Arbeitsbereichen, die bei vollem Gehalt ökonomisch nicht rentabel wären. Der Staat nimmt nun die Rolle ein, die ökonomisch nicht verwertbare Arbeitskraft der Langzeitarbeitslosen mit der nicht vollwertig bezahlbaren Arbeitsstelle zusammenzuführen. Mit anderen Worten: Wer Hartz IV bezieht, weil er/sie niemanden findet, der auch nur den Mindestlohn für die eigene ungebrauchte Arbeitskraft bezahlt, wird vom Staat gezwungen, sie eben unter ihrem Wert zu verkaufen – wer bei den Ein-Euro-Jobs nicht mitmacht, bekommt schlicht und einfach keine Sozialhilfe mehr. Die „doppelt freien“ ArbeiterInnen werden heute also zunehmend doppelt unterdrückt: Nicht mehr nur der „stumme“ Zwang dieser Gesellschaft rückt ihnen an den Leib, sondern zunehmend auch der Staat.

ÖSTERREICH GOES HARTZ IV. Ähnliche Entwicklungen bahnen sich schon länger in Österreich an. Die hier unter dem Namen „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ bekannte Sozialhilfe war zwar von 2010 bis Jahresanfang 2017 bundesweit gesetzlich garantiert, jedoch in föderalistischer Manier von den neun Bundesländern ausgezahlt; die Höhe und die mit ihr einhergehenden Auflagen und Zwänge konnten also seit jeher höchst unterschiedlich ausfallen. Seit es ab dem 1.1.2017 gar keine bundesweiten Bestimmungen mehr gibt, gilt etwa in Niederösterreich die neue Regelung, wonach BezieherInnen der Mindestsicherung zu befristeten und „zumutbaren“ gemeinnützigen Tätigkeiten gezwungen werden können. Durch die Medien ging etwa erst Ende Februar ein Fall, bei dem die niederösterreichische Stadtgemeinde Horn eine 84jährige Pensionistin zur Arbeit zwingen wollte. Der Aufschrei, der dann folgte, galt lediglich dem Umstand, dass hier eine Pensionistin bzw. in anderen Fällen chronisch kranke Menschen zur gemeinnützigen Arbeit aufgefordert wurden – gegen die Verstaatlichung der Arbeitskraft, die sich hier ankündigt, wurde aber kein Einspruch erhoben.

SOBOTKA UND KURZ. Angesichts des Auslaufens der alten bundesweiten Regelung mit Anfang 2017 entspann sich eine mehrere Monate anhaltende Diskussion um ein neues Gesetz. Im Zuge dieser Debatte wurde klar, wohin die Reise zumindest für die ÖVP gehen soll. So stieß etwa Innenminister Sobotka mit dem Vorschlag vor, ebenfalls Ein-Euro- Jobs für BezieherInnen der Mindestsicherung, und damit eine Angleichung an das deutsche Modell einzuführen. Da bis heute keine einheitliche Regelung im Bund erzielt werden konnte, steht es den Bundesländern aber ohnehin frei, Sobotkas Vorschläge zu erwägen. Ob die restlichen Bundesländer es Niederösterreich in Zukunft gleichtun wollen, oder sich mit Kürzung und Deckelung, wie etwa im Burgenland, begnügen, bleibt offen und hängt von den jeweiligen politischen Entwicklungen ab. Dem neuen sogenannten Integrationspaket der Regierung nach zu urteilen, eilt man Sobotkas Vorschlägen aber auch bundesweit hinterher, vermochte es doch Sebastian Kurz für die ÖVP durchzusetzen, dass künftig Asylberechtigte, die Mindestsicherung beziehen, auch gemeinnützige Arbeit leisten müssen – oder Null-Euro-Jobs, wie Kurz die Zwangsarbeit euphemistisch betitelte. Obwohl es in Teilen der SPÖ noch erheblichen Widerstand dagegen gibt, den Arbeitszwang von Staats wegen auch für die autochthone Bevölkerung einzuführen, ist es nicht zu leugnen, dass nun auch in Österreich in puncto Zwangsarbeit ganz deutlich ein Damm gebrochen ist.

Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Volksgemeinschaft statt Klassenkampf

  • 21.06.2016, 20:38
In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

Die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierungspartei Fidesz folgt weder neoliberalen Strategien wie der Verschlankung des Staates und der Kürzung der Sozialleistungen, noch betreibt sie sozialdemokratische, etwa keynesianistische Beschäftigungspolitik. So manche BeobachterInnen der ungarischen Politik stehen daher vor einem Rätsel: Warum erlässt ein Politiker, der vor nicht allzu langer Zeit noch (wirtschafts-) liberale Positionen vertrat, plötzlich Gesetze, wie etwa das Notenbankgesetz von 2011, welches der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins gibt? Und warum geht Orbán nicht den neo-klassischen Weg der Budgetkonsolidierung durch Steuersenkungen und Sozialkürzungen, sondern einen Weg, der sogar bei der linken Zeitschrift Der Freitag Anklang fand?

RECHTER ANTIKAPITALISMUS. Die Antworten finden sich in der Analyse dessen, was Holger Marcks in Bezug auf Fidesz und Jobbik „Antikapitalismus von rechts“ nennt. Dieser Antikapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht im Sinne etwa von Marx auf die Abschaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen wie Kapital und Staat abzielt, sondern sich vielmehr auf der Grundlage des Kapitals gegen bestimmte Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise richtet. Dabei werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach Marx nur als Ganzes kritisierbar sind, in vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Seiten getrennt. Diese Trennung der ökonomischen Vorgänge folgt dabei dem gleichen Muster wie schon im Nationalsozialismus, in dem das produktive, konkret erscheinende Kapital als „schaffend“ und als „deutsch“ das abstrakte, in Geld erscheinende Finanzkapital hingegen als „raffend“ und „jüdisch“ imaginiert wurde. Die Gründe für diese Spaltung liegen in den kapitalistischen ökonomischen Formen selbst.

Wie Moishe Postone in seinem Essay „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ zeigt, ist der „Antikapitalismus von rechts“ vor allem eine unkritische Ablehnung des Kapitals, die den aus dem Warenfetisch entspringenden Verblendungsmechanismen aufsitzt, die Marx im ersten Kapitel des „Kapitals“ untersucht. Aus dem Doppelcharakter der Ware, als sinnlich-übersinnliches Ding zu besitzen, das Gebrauchswert und Wert, also sowohl Träger von konkreten Eigenschaften als auch Träger und Ausdruck von abstrakten menschlichen Beziehungen zu sein, entspringt das falsche Bewusstsein über den Kapitalismus. Die von Menschen gemachten Verhältnisse, die sich hinter Ware, Geld und Kapital verbergen, erscheinen als Eigenschaften von Sachen. Der Kapitalismus erscheint nicht mehr als historisch-gesellschaftliches Verhältnis, sondern, so Postone, als eine „zweite Natur“, die sich wie die Ware in Konkretes und Abstraktes spaltet. Diese bereits im Fetischcharakter der Ware angelegte Naturalisierung der ökonomischen Formen setzt sich fort: Das Konkrete wird als Industriekapital, Technik und Staat als direkter Nachfolger von natürlichen und organischen Verhältnissen begriffen, während das abstrakte Finanzkapital als parasitär erscheint; die Einheit der industriellen Wertproduktion mit dem zinstragenden Kapital wird im fetischistischen Bewusstsein zerrissen und der Kapitalismus nur noch mit seinen abstrakten Seiten identifiziert.

Im völkischen Antisemitismus potenziert sich dieser Fetischismus gleichsam zum Biologismus. Das produktive Kapital wird der magyarischen „Volksgemeinschaft“ gleich als natürlich und positiv angenommen, während die negativen, abstrakten Aspekte der Ökonomie als Auswüchse einer Verschwörung von außen imaginiert werden. Die Art und Weise, wie die Völkischen in Ungarn über jene sprechen, die sie für kapitalismusimmanente Krisenphänomene verantwortlich halten – sei es das „Groß- und Finanzkapital“, die EU oder der Internationale Währungsfonds (IWF) –, gibt Aufschluss darüber, dass sie im Zweifel genau wissen, wer eigentlich dahinter steckt: eine oftmals mit antisemitischem Vokabular beschriebene Verschwörung.

VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER ORBÁN. Nicht zufällig nennt Orbán seine Wirtschaftspolitik eine Hinwendung „vom spekulativen zum produzierenden Kapitalismus“. Sobald Orbán auf die einzelnen AkteurInnen der spekulativen Wirtschaft zu sprechen kommt, die er von den nationalen, produktiven und als positiv erachteten trennen will, tauchen antisemitische Konnotationen und Anspielungen auf. So spricht Orbán etwa von einem „wirtschaftlichen Befreiungskampf“ gegen das spekulative Geschäft der Banken sowie gegen den IWF, aus dessen „Würgegriff“ man sich befreien müsse – als käme die Krise des Kapitals von außen, statt aus den eigenen Tendenzen des Kapitals.

Der Kampf gegen die Banken schlug sich in konkreten gesetzlichen Maßnahmen nieder. Als Maßnahme zur Konsolidierung des Staatshaushaltes angekündigt, beschloss Fidesz kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte Sondersteuern für Banken, die vor allem ausländische Banken traf, sowie ein Notenbankgesetz, das der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins verlieh. Anlässlich der negativen Reaktionen vonseiten der EU und des IWF sprach die Regierung von einer „Verschwörung“ der „internationalen Linken“, die Ungarn mit „Finanz- und Spekulationsangriffen“ in die Mangel genommen hätte. Schließlich nahm Orbán die meisten Regelungen des Notenbankgesetzes zurück, drohte aber mit einem „Wirtschaftskrieg“ gegen jene, die das Leben der Ungarn „wie eine Krake zuschnüren“. Die antisemitischen Zuschreibungen an IWF und EU sind greifbar.

KALMIERUNG DES KLASSENKONFLIKTS. Die Verlagerung des konstitutiven Krisencharakters kapitalistischer Ökonomie nach außen wird von der vermeintlichen Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche begleitet. Statt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch Institutionen wie Industriellenvereinigungen und Gewerkschaften auszutragen, wird er in Ungarn zunehmend verdrängt und externalisiert. Das zeigt sich auch in der Zusammenlegung der Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen zu einem „Ministerium für Volkswirtschaft“. Nicht zufällig strebt Orbán demnach eine Ökonomie an, die nicht auf dem „arbeitslosen Einkommen“ der Banken beruht, sondern „auf Arbeit“, wie es der Pfeilkreuzler Ferenc Rajniss schon 1937 in einem Vortrag über die „Judenfrage“ vor dem antisemitischen Turul-Verband einforderte. Dabei geht es Orbán jedoch keineswegs um die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeitenden, sondern um eine umfassende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik gegen die als „jüdisch“ imaginierten Seiten des Kapitalismus.

Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.