Julia Mathe studiert Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Schutz und Schrecken

  • 26.01.2015, 14:53

Was die weltweit lagernden Nuklearwaffen anrichten könnten, wenn sie absichtlich gezündet werden oder die komplexen Systeme versagen,die sie kontrollieren? Darüber will niemand gerne nachdenken. Ein kasachischer Maler, eine österreichische Aktivistin und ein britischer Aktivist tun es trotzdem. Sie kämpfen für die nukleare Abrüstung.

Was die weltweit lagernden Nuklearwaffen anrichten könnten, wenn sie absichtlich gezündet werden oder die komplexen Systeme versagen, die sie kontrollieren? Darüber will niemand gerne nachdenken. Ein kasachischer Maler, eine österreichische Aktivistin und ein britischer Aktivist tun es trotzdem. Sie kämpfen für die nukleare Abrüstung.

Karipbek Kuyukov ist einer der populärsten Künstler Kasachstans. Er malt kasachische Steppenlandschaften und anmutige Nomaden. Meistens aber porträtiert er Menschen mit entstellten und verschreckten Gesichtern, die Kernwaffentests zum Opfer gefallen sind. Er will daran erinnern, was Atomwaffen anrichten können. Und das weiß er selbst am besten, denn er kam ohne Arme zur Welt - 100 km vom ehemaligen kasachischen Testgelände Semipalatinsk entfernt. Wenn Kuyukov malt, klemmt er den Pinsel zwischen seinen Zähnen oder Zehen ein.

Seine Eltern sind früher oft auf einen Hügel gestiegen, um die leuchtenden Atompilze, die den ganzen Himmel einnahmen, besser zu sehen. Sie wurden nicht über die gesundheitlichen Auswirkungen informiert und waren, wie die anderen Bewohner der Region auch, von dem Spektakel fasziniert. Kuyukov erinnert sich an Erdbeben, die das Geschirr zum Scheppern brachten, und an Radiomeldungen, die weitere „friedliche Atomexplosionen“ ankündigten. Über 40 Jahre lang hat die ehemalige Sowjetunion in Semipalatinsk ihre Kernwaffen getestet. Die 470 herbeigeführten über- und unterirdischen Explosionen hatten insgesamt die gleiche Sprengkraft wie 2500 Hiroshima-Bomben.

Der 46-jährige Kuyukov kämpft dafür, das letzte Opfer radioaktiver Strahlung sein. Das drückt er nicht nur in seinen Bildern aus, sondern auch in seinem Engagement für Atomwaffenfreiheit. Er hat auf dem Testgelände von Nevada demonstriert und mit den Überlebenden Hiroshimas zusammengearbeitet. Heute reist er von einer internationalen Konferenz zur nächsten und erzählt. „Ich habe so viele Menschen gesehen, die unter den Folgen atomarer Strahlung leiden. Ich habe Eltern gesehen, die ihre Kinder mit den Armen verdecken, weil sie sich für sie schämen“, erzählt er immer und immer wieder. Auch auf dem „Civil Society Forum“ am 6. und 7. Dezember in Wien.

Dieses internationale Forum sollte – im Vorfeld der internationalen Staatenkonferenz – die Zivilgesellschaft in die Debatte rund um Atomwaffen einbinden. Internationale Organisationen, Wissenschaftler, Politiker und Überlebende nuklearer Katastrophen wurden zum Vortragen, Debattieren und Zuhören geladen. Mit über 600 Teilnehmern aus 70 Ländern und 100 Organisationen hat Nadja Schmidt, Direktorin des veranstaltenden Vereins ICAN Austria, nicht gerechnet. Sie hat das Gefühl, dass der Diskurs zu Atomwaffen „wieder halb im Mainstream angekommen ist“.

Lauert keine offensichtliche Gefahr wie der Kalten Krieg, wird gerne verdrängt, dass rund 2000 Atomwaffen permanent in höchster Alarmbereitschaft gehalten werden – also innerhalb weniger Minuten gezündet werden könnten, sei es gewollt oder unabsichtlich. Weltweit sind über 17000 Kernwaffen lagernd. Aber wozu? Für den Kriegsfall? Allein 1000 eingesetzte Nuklearwaffen – das sind unter sechs Prozent des globalen Lagerbestandes – würden ausreichen, um die Erde unbewohnbar zu machen. Schon ein regionaler Atomkrieg mit 100 Sprengköpfen würde eine weltweite Klimakatastrophe auslösen, sodass über eine Milliarde Menschen von einer Hungersnot bedroht wäre, wie die „Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) berechnete.

Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es zwar Kanäle zur Verhandlung einer schrittweisen Abrüstung – den Nichtverbreitungsvertrag und die Abrüstungskonferenz in Genf – doch dort drehen sich die Diskussionen im Kreis. Die Positionen haben sich so festgefahren, dass es Zeit wurde, die Debatte von einem anderen Punkt aus zu starten. Seit 2013 fanden deswegen drei internationale Staatenkonferenzen statt, in denen nicht über Schritt-für-Schritt-Abrüstung verhandelt, sondern ausschließlich über die humanitären Auswirkungen einer Detonation gesprochen wurde. Schmidt hält viel von diesem Strategiewechsel: „Das ist ein rein sachlicher Diskurs, gegen den selbst die Atommächte keine Argumente haben.“

Auch wenn internationale Organisationen momentan auf „harmlose“ Informationskonferenzen setzen: Auf lange Frist fordern sie nichtsdestotrotz einen völkerrechtlichen Vertrag, der Kernwaffen delegitimiert. „Im jetzigen Diskurs heißt es immer, dass Nuklearwaffen Sicherheit bringen - und das wird akzeptiert. Niemand stellt die Frage, ob man die staatliche Sicherheit auf solche Waffen stützen darf“, beanstandet Schmidt. Sie ist davon überzeugt, dass ein Verbotsvertrag eine Norm setzen würde, die die Nuklearmächte in die Verteidigerrolle zwingt.

Auch Kuyukov ist zuversichtlich: „Ich kann dir sagen, wie man die Welt ändert, denn in Kasachstan haben wir es schon getan.“ Nachdem die Sowjetunion 1991 zerfallen war, hat Kasachstan nicht nur das verstrahlte Testgebiet geerbt, sondern auch das viertgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Die Regierung ließ das Testgelände, das sich über 18000 Quadratkilometer Steppenlandschaft erstreckt, umgehend schließen und den gesamten Nuklearwaffenbestand verschrotten. „Die Kernwaffentests haben uns so viel Leid gebracht, dass wir die Stärke gefunden haben, uns von diesen Waffen abzuwenden. Die Regierungen anderer Länder können das auch“, ist Kuyukov überzeugt. Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew war einer der ersten Staatsoberhäupter, das Nuklearwaffen abgelehnt und abgegeben hat. Kuyukov zufolge habe sein Präsident den Friedensnobelpreis verdient. In den internationalen Medien hingegen wird der langjährige Präsident eher als „beliebter Diktator“ bezeichnet und der Korruption beschuldigt.

Über 20 Jahre sind seit dem letzten Kernwaffentest in Semipalatinsk vergangen. Die Strahlenbelastung entspricht dem 400-fachen des empfohlenen Maximalwerts. Drei Generationen von Semei - wie Semipalatinsk heute genannt wird – leiden bis heute an Krebs, schweren Deformierungen und anderen Krankheiten, an denen die nuklearen Tests Schuld sind. Die meisten Bewohner werden nicht älter als 60 Jahre. Und Semei ist kein Einzelfall: Weltweit haben an über 60 Standorten Atomwaffentests stattgefunden, sowohl zur Optimierung von Nuklearwaffen als auch zur reinen Machtdemonstration. Der radioaktive Niederschlag dieser Tests hat sich auf der Erde verteilt und die globale Hintergrundstrahlung messbar erhöht. Auch heute werden noch vereinzelt unterirdische Atomtests durchgeführt – der letzte im Februar 2013 von Nordkorea.

„Uns ist klar, dass die neun Atommächte den Verbotsvertrag nicht unterzeichnen wollen. Aber das sollte die überwältigende Mehrheit der Staaten nicht davon abhalten, ihn auszuarbeiten“, erklärt Thomas Nash von der britischen Nichtregierungsorganisation „Article 36“, die sich mit verschiedensten Waffengattungen beschäftigt. Er hat den Eindruck, dass die Bewegung gegen Nuklearwaffen gerade wieder neu auflebe. Das Bewusstsein sei gestiegen, weil man mehr über die Risiken herausgefunden habe - vor allem über die Unzuverlässigkeit der Systeme und Maschinen, die die Atomwaffen kontrollieren. Diesbezüglich sei es reines Glück, dass wir noch keinen unbeabsichtigten Atomkrieg erlebt haben, und das jagt ihm Angst ein.

Der Weg hin zu einer atomwaffenfreien Welt ist allerdings noch weit. Nash rechnet nicht damit, die USA oder Russland in absehbarer Zeit von der Abrüstung überzeugen zu können: „Sie werden ihre Kernwaffen erst dann vernichten, wenn es in ihrem Interesse ist. Wir müssen dieses Interesse wecken, und das ist schwierig.“ Von den Atommächten wäre seiner Einschätzung nach Großbritannien am leichtesten zu überzeugen, da das britische Atomprogramm Trident national stark hinterfragt wird.

Während die Atomwaffen-Debatte in Großbritannien zum Alltag gehört, wird sie in Österreich als verstaubtes Thema aus den Achtzigern abgestempelt. Österreich setzt sich zwar für die nukleare Abrüstung ein; im Juli beispielsweise hat das Parlament einstimmig beschlossen, das weltweite Verbot von Nuklearwaffen zu unterstützen. Doch nur weil Österreichs offizielle Rolle so progressiv sei, heiße das nicht, dass es für ICAN Austria nichts zu tun gebe, meint Schmidt, denn: „Wenn wir keinen Druck ausgeübt hätten, wäre diese Resolution gar nicht verabschiedet worden.“ Gerade weil alle von der Vorbildwirkung Österreichs überzeugt seien und nichts täten, liege es an ihrem Verein, Unstimmigkeiten aufzuzeigen, erklärt sie.

Zum Beispiel macht ICAN darauf aufmerksam, dass die Erste Bank einen Atomwaffenhersteller finanziere: Der Studie „Don’t Bank on the Bomb“ zufolge soll die Airbus Group über 61 Millionen Euro an Krediten von der Ersten Bank erhalten haben. Die Airbus Group ist der zweitgrößte Rüstungskonzern Europas und produziert Nuklearraketen für Frankreich. Während das Finanzinstitut versichert, keine Atomwaffen zu finanzieren und auf das Bankgeheimnis verweist, fragt sich Schmidt: „Wenn eine der drei Hauptzweige eines Unternehmens die Produktion von Nuklearwaffen ist, wo fließt dann ein Kredit zur ‚allgemeinen Verwendung‘ hin?“ Die Erste Bank hat zwar interne Richtlinien, die Investitionen in Massenvernichtungswaffen einschränken. Doch wenn der Verwendungszweck des Kredits nicht konkretisiert wird, also unter „general purpose“ läuft, greift die Regulierung nicht. Das sei ein Schlupfloch, sagt Schmidt. Sie fordert die Erste Bank auf, ihr Geld wieder abzuziehen und die Richtlinien zu überarbeiten.

Während Karipbek Kuyukov spricht, tupft ihm eine Kollegin mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Eine subtile Erinnerung daran, dass er wohl tagein, tagaus auf Hilfe angewiesen ist. Er hat mit der Zeit zwar gelernt, seine Beine und Füße für alles Mögliche zu nutzen. Doch dadurch hat sich seine Wirbelsäule über die Jahre krankhaft verdreht. Seine knappen Antworten auf persönliche Fragen machen den Eindruck, als spreche er nicht gerne über seine eigenen Probleme. Er verschweigt, dass ihm sein Arzt geraten hat, sich zu schonen, anstatt nach Wien zu reisen. „Dadurch, dass ich keine Arme habe, habe ich doppelt so viel Willenskraft“, sagt er. Solange er gehört wird, wird er seine beklemmenden Geschichten wieder und wieder erzählen. Und solange er gehen kann, wird er weiterkämpfen.