Josef Burker

Die Queeren Kinder der Umm el-Dunya

  • 22.02.2020, 18:51
Ein kurzer Einblick in meinen Erfahrungen als queerer Jugendlicher in Kairo, der größten Stadt im Nahen Osten, sowie zur Lage von queeren Menschen dort.

„Umm el-Dunya“ bedeutet auf Arabisch „Mutter der Welt“ und ist eine arabische Redewende, die Ägypten beschreibt und die historischen Leistungen der antiken Zivilisation in der Region betont. Nur hat die Umm el-Dunya ein scheinbar schmutziges Geheimnis, das sie und ihre Familie zu leugnen versuchen, weil es von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Sie hat queere Kinder, mich eingeschlossen. Als ich in Kairo in die Unterstufe ging war „Erstargel“ eine Aufforderung, mit dem ich sehr oft konfrontiert war. Sei es in der Schule von Schulkolleg_innen und Lehrer_innen, von Familienmitgliedern, von einst mir sehr nahestehenden Personen oder sogar von Fremden auf der Straße. „Estargel“ lässt sich am treffendsten mit dem Englischen „Man up“ übersetzen und bedeutet “werde ein Mann“ oder „sei mehr wie ein Mann“. Ein paar mir vertraute Kontexte: „Estargel“, denn dein Verhalten ist sehr feminin. „Estargel“, weil du nur mit Mädchen plauderst wenn du lieber mit Jungs Fußball spielen solltest. „Estargel“, denn dein Gang ist „schwul“.

Auf unterschiedlichste Art und Weise stach ich hervor, da ich nicht dem Männlichkeitsideal meiner Umgebung und meiner Familie entsprach. Ich spielte nicht Fußball, hatte kaum männliche Freundschaften und konnte mich mit dem stereotypischen Machobild hinter „Estargel“ nicht identifizieren. Als ich zwölf Jahre alt war begriff ich, dass ich keinerlei sexuelles Interesse an Frauen hatte und selbst als mir Jahre später klar wurde, dass ich auf Männer stehe, habe ich mich nicht als „schwul“ oder gar „queer“ einordnen können. Grund war meine Sozialisierung und Erziehung in Kairo, der Hauptstadt Ägyptens und größten Stadt im Nahen Osten. Ganz zu schweigen davon, dass es zur Zeit meiner Jugend kein arabisches Wort für „homosexuell“ gab, das nicht „pervers“ oder „abartig“ bedeutete oder generell negativ behaftet war.

Ägypten, wie viele andere Länder in der Region, tabuisiert weitgehend Homosexualität und LGBTQ*-Themen aus verschiedensten Gründen, sei es wegen einer bestimmten Moralvorstellung, der spezifischen Kultur im jeweiligen Land, der Religion und/oder wegen der Folgen europäischer Kolonialisierung. Nicht tabuisiert ist das Wort „Schwuchtel“, das beim Mobbing am Schulhof oder beim Beschreiben von nicht ausreichend „männlichen“ Männern schnell einmal fällt. Staatliche Unterdrückung Zwar gibt es in Ägypten formell keine Gesetzeslage zur Bestrafung von Homosexualität, es kommt aber vor, dass queere Menschen unter den Vorwürfen „Ordnungswidrigkeit“ und „Entartung der Sitten“ inhaftiert werden. Diese Fälle wecken breite mediale Aufmerksamkeit, bekannte Nachrichtensprecher_innen stempeln die unschuldig Inhaftierten als „krank” und „geistesgestört“ ab. Mächtige Institutionen wie zum Beispiel die Koptische Kirche, der Staat oder die islamische Al-Azhar Organisation wähnen sich im Feldzug gegen das moralisch Böse und sehen queere Lebensentwürfe als bekämpfenswert. Die Unterdrückung der queeren Szene in Kairo war und ist nie konstant gewesen. Tatsächlich gab es Phasen, in der es von Seiten der Staatsgewalt mal mehr, mal weniger Repression gab. So zum Beispiel die Zeit vor dem Arabischen Frühling, in der es wesentlich einfacher gewesen sein soll, sich zu vernetzen. Da galten andere Randgruppen als Zielscheibe. Ebenso verhält es sich mit dem stetigen Auf und Ab von medialen Hetzkampagnen gegen die queere Minderheit, die sich ohnehin für die eigene Sicherheit verstecken muss. Zurückzuführen ist dieses Phänomen einerseits auf die sich immer verändernde innenpolitische Lage (Revolutionen, kontroverse Wahlen, Terrorismusbekämpfung) als auch auf die abwechselnde Bereitschaft der Polizei und Repressionsbehörden mit Gewalt zu handeln.

Auch ist die staatliche und soziale Repression, die queere Menschen erleben, abhängig von der sozio-ökonomischen Schicht, aus der die Betroffenen herstammen. In „Sex and the Citadel“, dem Buch der Wissenschaftsjournalistin Shereen El Feki, erkundigt sie im Kapitel „Dare to be different“ die queere Szene Kairos. So legt ein Lehrer einer elitären Schule im Gespräch mit ihr fest: „Es geht um Macht“. Die Polizei traut sich keine Razzia in geschlossenen, abgetrennten Wohnkomplexen durchzuführen, in denen Ärtz_innen, Rechtsanwält_innen, Autor_innen, Professor_innen, usw. verkehren. Auch im kontroversen Film „Family Secrets“ wird Ähnliches geschildert: Marwan, ein Achtzehnjähriger, der schwul ist, outet sich und wird trotz heftiger sozialer Abgrenzung und Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie nicht verhaftet. Sein Vater ist einflussreicher Geschäftsmann. Er landet bei fünf verschiedenen Therapeut_innen und ihm wird aus falscher Fürsorge der Familie die Chance gegeben, seine Homosexualität „heilen“ zu lassen, was vielen Menschen niedrigerer sozialen Schichten keine Option ist.

Auch nach meinem Coming-Out war die erste Reaktion eines nahestehenden Familienmitglieds, panisch zum Hausarzt zu fahren und zu fragen, wie man meine „Krankheit“ heilen kann. Mein Glück war es, dass der Hausarzt in den USA studiert hatte und meiner Familie medizinisch erklären konnte, dass Homosexualität keine Krankheit ist und dass es keine Heilmittel gibt. Selbst nicht mehr Testosteron, was als Vorschlag eines anderen Familienmitglieds kam. Anders war die Reaktion eines bestimmten Imams, der mir mit religiöser Autorität aufgrund strittiger Sekundarquellen des Islams erklärte, warum ich einen Exorzismus brauchen würde. Ein anderes Familienmitglied legte mir nahe, dass es doch nur eine Phase ist und dass ich einfach mehr Sport betreiben soll. Auch ein Bluttest wurde vorgeschlagen. Zu dem Zeitpunkt war ich längst nach Österreich gezogen, wo meiner österreichischen Familie mein Coming-Out viel leichter fiel als mir selbst. Denn mich als schwuler Mann zu identifizieren bedeutete für mich anfangs das Auflehnen gegen eine soziale Ordnung, an die ich aufgrund meiner Erziehung in Kairo fest glaubte und die für mich als unerschütterlich galt. Doch ich bin mit österreichischem Pass und der Möglichkeit, nicht in Ägypten leben zu müssen, im Vergleich zu vielen anderen privilegiert.

Unterdrückung als Ablenkungsstrategie Oft fungiert die Unterdrückung von Individuen oder gar ganzen Gruppen als Manöver, um von der wirtschaftlichen und demokratiepolitischen Notlage des Landes abzulenken, wie zum Beispiel im bekannten Fall „Cairo 52“, wo im Jahr 2001 52 Männer in einem Nachtclub für homosexuelle Männer inhaftiert wurden. Politisch gelten queere Menschen als „innere Feinde“, die die Ordnung und Stabilität des Landes zu bedrohen schienen. Alle sozialpolitisch relevanten Institutionen, sei es die islamische Al-Azhar Organisation, die Koptische Kirche, der Militärapparat, die Muslimbruderschaft, die einflussreiche Medienlandschaft oder der Staat, sind in ihrer Überzeugung ausnahmsweise geeint: LGBTQ*-Identitäten sind „Erfindungen des Westens“ und stören die soziale Ordnung. Heutzutage stehen wenige hinter der LGBTQ* Community. Laut Nicola Pratt in „The Queen Boat case in Egypt“ vermitteln Medien und Staat, dass Homosexualität „un-ägyptisch“ sei. Das spiegelt den gesellschaftlichen Konsens: 95% von Ägypter_innen sind gegen eine soziale Akzeptanz von Homosexualität. Dies belegte eine Statistik des Pew Research Center im Jahr 2013. Für mich hieß es konkret: Mit meiner Identität offen umzugehen könnte für mich sozialen Auschluss und wahrscheinlich familiäre Intervention bedeuten. Für mich als Erwachsener in Ägypten könnte mir eine Freiheitsstrafe mit Begründung der Ordnungswidrigkeit drohen. Angesichts der zivilgesellschaftlichen Befürwortung der Bestrafung meiner queerness war mir als Zwölfjähriger schon klar, dass die Lage in Kairo für Menschen wie mich nicht sicher ist.

Die Reaktionen meiner Familie, meiner Schulgemeinschaft und meiner Freund_innen konnte ich nicht einschätzen. Das Risiko ging ich nicht ein. Denn auch wenn das Milieu, mit dem ich konfrontiert war, ihre Urlaube in Nordamerika und Europa verbrachten, Englisch und eine weitere europäische Sprache als Bildungssprache fließend sprachen, viele außerhalb Ägyptens oder an der American oder German University in Cairo studierten und sich als weltoffen, bildungsnahe und des öfteren wohlhabend verstanden, galt Queersein und die Akzeptanz dessen oft als die rote Linie, die man nur schwer überquert.

Hoffnung für die Zukunft:

Es gibt aber positive Entwicklungen. Mit LGBTQ*-Repräsentation in erfolgreichen amerikanischen Serien und Filmen sowie der immer größer werdende Akzeptanz in den USA und Europa wird auch die Akzeptanz unter Kairoer Jugendlichen, die gute Aufstiegschancen haben und privilegiert sind, besser. Da kann man aber trotzdem nicht von einer generellen Norm ausgehen. Für einige gilt nach wie vor: Egal wie „offen“ man westlichen Idealen oder dem westlichen Lebensstil gegenüber ist, ist Homosexualität im besten Falle eine Krankheit, die es zu bekämpfen gilt. Deswegen lebte ich mehrere Jahre mit großer Achtsamkeit; ein Coming-Out und eine öffentlich queere Identität kamen für mich nicht in Frage. Viel einfacher schien mir die Unterdrückung meiner Homosexualität und das Hoffen, dass sie mit Mühe und Disziplin von alleine weggehen würde. Die tiefe Verwurzelung der Queerphobie in der Gesellschaft und im Einzelnen führte dazu, dass ich mich selbst nach meinem Coming-Out gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Ägypten aussprach, denn für mich fühlte sich eine Gleichberechtigung unter ägyptischem Himmel nicht angemessen an.

Für viele queere Menschen mit Wurzeln im Nahen Osten ist die eigene und fremde Akzeptanz keine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber seit einigen Jahren vor allem in den sozialen Medien Grund zur Freude. Zum Beispiel gibt es das „Queer Muslim Project“, das in einem sozialpolitischen Kontext die Erfahrungen und das Leben queerer Muslim_innen in den Vordergrund stellt. Rafiul Alom Rahman, der Gründer, ist Aktivist gegen Queerphobie innerhalb und außerhalb der muslimischen Community und arbeitet gegen antimuslimischen Rassismus. Auch bekannt auf Instagram ist @artqueerhabibi, ein account, der queere Postkarten und Illustrationen mit arabischen Queers als Motiven kreiert. Umso bekannter ist Hamed Sinno, der als queerer Aktivist auch gleichzeitig Sänger in der libanesischen Band Mashrou‘ Leila ist. 2017 startete er nach einem kontroversen Konzertauftritt (welcher jedoch gut besucht war) indirekt eine große Debatte um LGBTQ* in Ägypten. Online gründeten sich ebenfalls die Initiativen „No Hate Egypt“ und „Solidarity with Egypt LGBT“. Eines Tages, so meine Hoffnung, werden sich queere Menschen in Ägypten nicht mehr verstecken müssen.