Ismail Küpeli

Wege ohne Heimkehr. Das armenische Leben vor und nach dem Genozid in der Türkei

  • 23.04.2015, 11:51

Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. Progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.

Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.

Das armenische Leben in der Türkei ist nach wie vor durch Diskriminierung, Hass und die fortdauernde Leugnung des Genozids von 1915 gekennzeichnet. Bis heute verhindert der türkische Staat die geschichtliche Aufarbeitung des Genozids und versucht auch international die Anerkennung des Völkermords zu verhindern.

progress: Der Völkermord löschte die armenische Bevölkerung im Gebiet der heutigen Türkei weitgehend aus. Gibt es noch eine lebendige armenische Gemeinschaft in der Türkei?

Corry Guttstadt: Heute leben schätzungsweise 60.000 Armenier in der Türkei, Tendenz fallend. Sie leben fast ausschließlich in Istanbul, wo es mehrere armenische Schulen, die beiden armenischen Tageszeitungen Jamanak und Marmara sowie die Wochenzeitung AGOS und etwa dreißig armenische Kirchen gibt, wenn man dies als Gradmesser einer „lebendigen Gemeinschaft“ ansehen möchte.

In Anatolien leben so gut wie keine Armenier mehr. Dies ist nicht allein eine Folge des Genozids sondern auch eine Folge der erneuten Vertreibung und Ermordung des in der Türkei als „Befreiungskrieg“ bezeichneten Krieges von 1919-1920. Dieser richtete sich gegen die Rückkehr überlebender Armenier im Schutz französischer Besatzungstruppen nach Kilikien und die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates im Nordosten Anatoliens. Es kam erneut zu Massakern an armenischen Zivilisten, die als Fortsetzung des Völkermords angesehen werden können. Nach der Gründung der Republik Türkei sollte nach der Auslöschung der armenischen Bevölkerung auch ihre Geschichte ausradiert werden. So wurden außerhalb von Istanbul zahlreiche Kulturbauten zerstört, die Namen von Dörfern und Städten türkisiert, und überall Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt.

Die aggressive nationalistische Politik führte während der folgenden Jahrzehnte zur Schließung von Schulen und Gemeindeeinrichtungen und in Folge dessen zu einem weiteren Fortzug der verbliebenen Armenier aus Ostanatolien.

Wie der Titel meines Buches „Wege ohne Heimkehr“ zum Ausdruck bringt, gab es nach dem Völkermord auch für die überlebenden Armenier keine „Heimkehr“: Muslime hatten ihre Häuser und ihren Besitz beschlagnahmt. Mehrere der Erzählungen in dem Band beschreiben dies: Hagop Mintzuri bezeichnet seine Situation in Istanbul als das Leben „einer Geisel“, die Großmutter „Garine“ in der Erzählung Karin Karakașlıs hat nur durch Konversion zum Islam überlebt und ihre armenische Identität bis zum Tode verborgen.

Wie sieht die rechtliche Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten und die der armenischen Gemeinschaft  in der Türkei im Speziellen aus?

Formalrechtlich gesehen sind die Armenier Staatsbürger des Landes und genießen die gleichen Rechte wie muslimische Türken. Außerdem sind ihre Rechte als Minderheit – also auf Unterhalt eigener Schulen und Gemeindeeinrichtungen, Gebrauch der eigenen Sprache etc. – wie die der Griechen und Juden im Lausanner Vertrag von 1923 festgeschrieben. In der Realität hat die Politik der Türkei von Beginn an zwischen „echten“ (muslimischen) Türken und den nichtmuslimischen Bürgern unterschieden.

Armenier und andere Nichtmuslime waren zahlreichen Beschränkungen unterworfen: Sie wurden elementarer Rechte wie der Freizügigkeit, Meinungs- und Organisationsfreiheit beraubt und waren im Alltag zahlreichen Diskriminierungen und Beschränkungen ausgesetzt; bis heute ist ihnen z.B. im Staatsdienst oder in der Armee ein Aufstieg verwehrt.

Anstatt das Leben seiner (nichtmuslimischen) Bürger zu schützen, sind es immer wieder Politiker und staatliche Stellen, die den Hass gegen Armenier schüren und die Aufklärung von Gewalttaten (wie z.B. dem Mord an Hrant Dink, Journalist und Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos) verschleppen.

Welche Auswirkung hat eine Politik des türkischen Staates, die den Genozid leugnet, auf die ArmenierInnen?

Die Leugnung beschränkt sich nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung von Fakten, sondern Armenier werden weiterhin als „Feinde und Verräter“ bezichtigt, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords - vor allem seitens außerhalb der Türkei lebender Armenier - als weiterer Beweis ihres „Verrats“ gewertet wird.

Begleitet wird dies durch die Kontinuität antiarmenischer Propaganda und Taten seitens großer Teile der türkischen Gesellschaft und politisch Verantwortlicher. Schulbücher enthalten antiarmenische Aussagen, die den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, eine Petition mehrerer hundert Intellektueller diese Bücher zu korrigieren blieb unbeantwortet. Die staatliche Gazi-Universität in Ankara rief zu einem Plakatwettbewerb auf, welche die armenischen Gräueltaten darstellen sollten.

Hat sich die Lage der ArmenierInnen unter der AKP-Regierung verbessert oder eher verschlechtert? Gibt es inzwischen Bestrebungen, die ethnische und religiöse Pluralität der türkischen Gesellschaft anzuerkennen und zu fördern?

In ihren ersten Regierungsjahren hat die AKP – zum Teil wohl in der Hoffnung auf eine Aufnahme in die EU – eine Reihe von Reformen durchgeführt, die unter liberalen Intellektuellen sowie unter Angehörigen der Minderheiten Hoffnungen auslösten.

Ein Gesetz von 2011 sieht die Rückgabe des widerrechtlich beschlagnahmten oder eingefrorenen Eigentums der christlichen und jüdischen Stiftungen an diese vor. In der Praxis verläuft die Rückgabe äußerst schleppend und wird von staatlichen Stellen immer wieder behindert. In ihrer Rhetorik propagiert die AKP das „Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften“, das zu osmanischen Zeiten angeblich so friedvoll war.

Die Ideologie der AKP ist nicht nur islamistisch, sondern immer auch nationalistisch: Es war der AKP-Bildungsminister, der die antiarmenische  Propaganda in den Schulunterricht brachte. Während des Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen im letzten Sommer sagte Erdoğan, man habe ihn „sogar“  - und dann entschuldigte er sich für das schlimme Wort - „als Armenier bezeichnet“.

Die Lockerungen, die wir in der Türkei erleben – z.B. dass die Bezeichnung des Völkermords als Völkermord nicht mehr zur Strafverfolgung führt - sind der Erfolg der Zivilgesellschaft, des unerschrockenen und unermüdlichen Engagements von mutigen Publizisten und Menschenrechtsaktivisten.


Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler. Gerade arbeitet er an einem Sammelband über den Kampf um Kobanê, der voraussichtlich im Sommer 2015 bei edition assemblage erscheint.

Türkei: Auf dem Weg zum Polizeistaat?

  • 22.02.2015, 17:57

Die Opposition kämpft gegen neue, äußerst repressive Sicherheitsgesetze – im Parlament wie auf der Straße.

Die Opposition kämpft gegen neue, äußerst repressive Sicherheitsgesetze – im Parlament wie auf der Straße.

Bilder von prügelnden Abgeordneten und Stühlen, die durch Luft fliegen, gingen um die Welt, als im türkischen Parlament um die neuen Sicherheitsgesetze debattiert werden sollten. Zuvor hatte die Opposition versucht, mit hunderten Änderungsanträgen und formalistischen Tricks die Debatte in die Länge zu ziehen und so die Abstimmung zu verhindern. Als dann zur späten Stunde der Parlamentsvorsitzender aus der Regierungspartei AKP einen Redebeitrag der Opposition unterband, entstand ein Wortgefecht, dass recht rasch in einer nonverbalen Auseinandersetzung endete.

Über den weiteren Verlauf kursieren unterschiedliche Darstellungen – sicher ist, dass anschließend AKP-Abgeordnete mit Stühlen und stumpfen Gegenständen Abgeordnete aus den Oppositionsreihen angegriffen und fünf von ihnen verletzt haben. Die Auseinandersetzungen gingen auf der Straße weiter. Aber weder die Demonstrationen mit tausenden Menschen noch eine Sitzblockade von Oppositionsabgeordneten im Parlament konnten die Abstimmung verhindern. Inzwischen sind die neuen Sicherheitsgesetze mit Stimmen der AKP-Mehrheit im Parlament beschlossen worden.

AUTORITÄRE WENDE. Nun sind weder Schlägereien im Parlament noch umstrittene Gesetzesreformen in der Türkei ein Novum. Der derzeitige Vorstoß reiht sich vielmehr in eine Menge von Gesetzen und Beschlüssen ein, die insgesamt eine autoritäre Wende der AKP-Regierung in den letzten Jahren dokumentieren.

Dabei schien es zur Beginn der AKP-Ära so, als könnte ein (wenn auch begrenzter) demokratischer Reformprozess angestoßen werden. Die moderat-islamische AKP-Partei erlangte 2002 die Regierungsmacht, und in der Türkei kam es zu einer ganzen Reihe von innen- und außenpolitischen Veränderungen.

Insbesondere schien das Schielen der AKP-Regierung auf einen möglichst schnellen EU-Beitritt der Türkei ein Hebel zu sein, um politische Reformen durchzusetzen. Die Hoffnung war, dass die EU demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards verlangen würde, die die AKP-Regierung umsetzen würde, um den Beitrittskandidatenstatus zu erlangen.

REPRESSIONSWELLEN. Es gab zwar schon damals kritische Stimmen, die auf die autoritären Tendenzen der AKP-Regierung hinwiesen. Aber es war leicht, diese Stimmen als kemalistisch und nationalistisch abzutun, zumal die kemalistische CHP in diesen Jahren das Anti-AKP-Lager dominierte und die Kritik an AKP als mit diesen alten Eliten verbunden war. . Die AKP-Regierung konnte bei ihrem Machtkampf darauf setzen, dass die alten politischen Eliten von vielen gesellschaftlichen Gruppen aus unterschiedlichen Motiven heraus abgelehnt wurden. So gab es wegen der zahlreichen Festnahmen und Inhaftierungen gegen kemalistische und nationalistische PolitikerInnen, Militärs, Intellektuelle und JournalistInnen im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ab 2007 lange Zeit wenig Kritik. Es kam erst dazu, als nicht mehr zu übersehen war, dass die AKP-Regierung den Prozess dazu nutzte, RegimegegnerInnen zu inhaftieren. Auch jetzt noch fehlen Beweise dafür, dass die Inhaftierten tatsächlich Mitglieder einer nationalistischen Verschwörungsgruppe seien, die einen Putsch plane.

Ab 2009 kam es zu einer zweiten Repressionswelle, dieses Mal gegen vermeintliche Mitglieder der PKK-nahen KCK. Bis jetzt wurden mehrere tausend Menschen verhaftet, darunter zahlreiche PolitikerInnen, JournalistInnen, GewerkschafterInnen, WissenschaftlerInnen und AnwältInnen.

(NOCH) MEHR RECHTE FÜR POLIZEI. Die neuen Sicherheitsgesetze sichern diese autoritäre Wende juristisch ab und geben der Polizei mehr Befugnisse, Protest und Opposition stärker zu unterbinden. Die Polizei darf in Zukunft Personen und Fahrzeuge ungehindert durchsuchen und benötigt dafür keine richterliche Erlaubnis. Ebenso darf die Polizei ohne Absprachen bis zu 48 Stunden lang Kommunikationen abhören und aufzeichnen, bisher war eine Höchstdauer von 24 Stunden an Überwachung erlaubt. Personen dürften nach den neuen Sicherheitsgesetzen auch ohne Anklage bis zur 48 Stunden festgehalten werden.

Weil es weder eine richterliche oder sonstige Kontrolle über die Polizeieinsätze noch ein Beschwerdeverfahren gegen möglicherweise unrechtmäßige Einsätze gibt, ist der politische Missbrauch dieser bereits vorprogrammiert. Sehr problematisch ist eine weitere Bestimmung, wonach die Polizei (ebenfalls nach Gutdünken) Menschen „entfernen“ und „festhalten“ kann. Dies hört sich zuerst nach einem Platzverweis an, wie er etwa auch von der deutschen Polizei durchgeführt wird. Allerdings ist im türkischen Gesetzentwurf nicht beschrieben, wo die „entfernten“ Personen „festgehalten“ werden – und was überhaupt dieses „festhalten“ genau meint.

AUF DEMONSTRANTINNEN SCHIESSEN ERLAUBT. Neben diesen Befugnissen, die verdacht- und anlassunabhängig gegen jeden und jede angewendet werden können, sind weitere Bestimmungen vorgesehen, die sich konkret gegen wehrhafte Protestierende richten. Widerstand gegen Polizeirepression kann nun härter niedergeschlagen werden: So ist eine Haftstrafe für bis zur fünf Jahren ist vorgesehen, wenn man bei einer Demonstration eine Schleuder oder Feuerwerkskörper bei sich führt – der bloße Besitz reicht völlig für die Verhängung der Haftstrafe. Ebenfalls eine Haftstrafe von fünf Jahren gibt es für Vermummung bei Demonstrationen. Das Tragen von Symbolen von „illegalen Organisationen“ wird mit bis zur drei Jahren Haft bestraft.

Besonders umstritten ist die neue Bestimmung, nach der die Polizei die Erlaubnis erhält, Schusswaffen gegen DemonstrantInnen einzusetzen, die Brandsätze, Sprengstoff, brennbare Stoffe oder sonstige „verletzende Waffen“ tragen oder benutzen. Diese lange Liste trifft auf zahlreiche Gegenstände zu, die keine unmittelbare Gefahr darstellen und so eigentlich keinen Schusswaffeneinsatz durch die Polizei notwendig machen, wie z.B. „bengalisches Feuer“ oder Fahnenstangen aus Metall. Diese neue Bestimmung dürfte die Zahl von DemonstrantInnen, die durch  Polizeieinsätze getötet werden, deutlich steigern. Dabei kommt es  bereits jetzt – ohne diese Bestimmung – immer wieder zur Tötung von Protestierenden durch die Polizei, wie etwa bei den Kobanê-Protesten im Oktober 2014, wo über 40 Menschen starben.

Insgesamt wird noch zu beobachten sein, wie intensiv die AKP-Regierung die neuen Polizeibefugnisse gegen die Opposition einsetzt. Dies ist eine politische Frage, denn eine juristische Kontrolle der Befugnisse ist nicht vorgesehen. In Kombination mit Informationen von Whistleblowern wie etwa von Fuat Avni, dass die AKP-Regierung bei den Parlamentswahlen  im Juni auf massive Wahlfälschung zurückgreifen könnte, entsteht ein eher düsteres Szenario.

 

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler. Gerade arbeitet er an einem Sammelband über den Kampf um Kobanê, der voraussichtlich im Sommer 2015 bei edition assemblage erscheint.