Helga Hansen

Offene neue Welt

  • 27.10.2014, 16:31

Der Bildschirm, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2014. Dies sind die Abenteuer der Videospiele, die seit einem halben Jahrhundert unterwegs sind und immer mehr Menschen erreichen.

Der Bildschirm, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2014. Dies sind die Abenteuer der Videospiele, die seit einem halben Jahrhundert unterwegs sind und immer mehr Menschen erreichen.

Wer ein Buch liest, beginnt meist vorne und liest es dann (nicht immer) bis zum Ende durch. Bei Kinofilmen sitzen wir ebenfalls eine Weile vor dem Bildschirm, auch wenn schon lange keine Rolle mehr die Bilder durch einen Projektor rattern lässt. Anfang, Hauptteil, Ende. Die meisten unserer Unterhaltungsmedien funktionieren linear, erzählen dabei eine Geschichte und verlangen unsere Aufmerksamkeit, bis alles vorbei ist. Videospiele sind anders. Das liegt weniger am Video-Teil als am Spiele-Teil. Das liegt weniger am Video-Teil als am Spiele-Teil und fängt schon bei der Definition an.

Wann ist ein Spiel ein Spiel? Was braucht ein Spiel? Regeln? Eine Geschichte? Spielzeug? Mitspieler_ innen? Ziele? Spaß? Die englischsprachige Wikipedia unterscheidet zwischen „play“, dem Spiel, das man um seiner selbst Willen und zum Spaß betreibt, und „games“, strukturierten Spielen mit Regeln, Herausforderungen, Zielen und Interaktion. Auch Games werden meist zum Spaß und in Abgrenzung zur Arbeit gespielt – außer von professionellen Spieler_innen. Einen Tennisball einfach so gegen die Wand zu werfen, sei kein Spiel, es fehle ein_e Gegner_in. Gäbe es eine Herausforderung oder ein oder ein Ziel, etwa den Tennisball möglichst oft wieder zu fangen oder ihn stets an die gleiche Stelle zu werfen, wäre es dann doch wieder ein Spiel.

Die meisten Spiele erfordern mehrere Personen: ob Brettspiele, Rollenspiele oder Sportspiele. So überrascht es wenig, dass bereits die ersten Videospiele in den 50er Jahren für zwei Spieler_innen gemacht waren, oft umgesetzt wurde etwa Schach. Allerdings blieb die Popularität dieser Spiele auf akademische Kreise begrenzt. Die schrankhohen Computer waren teuer und hätten bei den Wenigsten ins Wohnzimmer gepasst. Mit dem Siegeszug der Spielautomaten in den 70ern wurden Videospiele massentauglich und es kam zum „einsamen“ Spielen, Mensch vs. Maschine. Wobei der Klassiker „Pong“ dann doch wieder zwei Spieler_innen erforderte. Außerdem standen die Automaten in Spielhallen, Kneipen oder Einkaufszentren. Erst in den 80ern zogen Videospiele ins Wohnzimmer ein. Dort ist das Videospiel seither fest verankert und ständig verfügbar, auch wenn sich die Hardware alle paar Jahre ändert. Und nun ist alles möglich: alleine virtuelle Welten durchqueren oder mit Freund_innen um die Wette düsen – wenn denn genügend Controller vorhanden sind, versteht sich. Mit dem Game Boy wurde dann noch die mobile Konsole im Handformat entwickelt, die zusammen mit Fotoapparaten heute weitgehend im Smartphone aufgegangen ist. Stundenlanges Jump’n’Run ist genauso drin wie ein kurzes Puzzlespiel während der Busfahrt – dank mobilem Internet auch zunehmend als Gemeinschaftsspiel.

Videospiele als Bedrohung. Trotz der gemeinschaftlichen Aspekte werden Videospiele erst allmählich gesellschaftlich angenommen. Heute ist rund die Hälfte der Spieler_innen weiblich, dennoch hält sich das Stereotyp des männlichen Teenagers ohne Freund_innen. Dass in den letzten 20 Jahren vereinzelt junge Männer, die an Schulen um sich schossen, zuvor viel Zeit mit Computerspielen verbracht hatten, wurde als Kausalität gedeutet. So verwundert es nicht, dass auch der wissenschaftliche Blick zunächst nur den (mutmaßlichen) negativen Konsequenzen von Videospielen galt – so wie vor hunderten Jahren angenommen wurde, dass Romane Lesesucht und weibliche Hysterie auslösen würden und sich das Fernsehen als Medium erst neulich vom pauschalisierten Verblödungsverdacht befreien konnte. Aber während im Feuilleton nun schon lange Filme und seit einiger Zeit auch Fernsehserien besprochen werden, ist das bei Games noch keine Selbstverständlichkeit. Besonders im deutschsprachigen Raum steckt der Spielejournalismus noch mitten in einer Debatte darüber, wie er über simple 8-von-10-Sternen-Bewertungen und Beschreibungen der Spielemechanik hinausgehen kann. Die Forschung hat sich der digitalen Spiele mittlerweile – zögerlich, aber doch – angenommen. So zeigen beispielsweise Analysen, dass sie erzähltechnisch etwas können, was kein anderes Medium kann: In dem Moment, wo ein Joystick oder eine Tastatur in die Hand genommen werden, fallen zum ersten Mal Leser_in, Erzähler_in und Protagonist_in einer Geschichte zusammen.

Das Spiel im Film. Oder andersrum? Spannend ist auch, welche Auswirkungen Videospiele auf „klassische“ Medien haben und welche neuen Formen der Intermedialität sie hervorgebracht haben. So gibt es zu jedem „Harry Potter“-Film (der ja selbst wiederum auf einen Roman zurückgeht) nun auch ein Spiel – allerdings mit überwiegend mittelmäßigen bis schlechten Bewertungen. Auf das Bedürfnis von Fans, noch mehr Zeit mit ihren Held_innen zu verbringen oder sogar selbst in ihre Rolle zu schlüpfen, wurde lange nur mit inhaltlich schludrigen Umsetzungen reagiert. Dafür war das Ergebnis dann auf jedem Rechner und jedem System spielbar. Tatsächlich ist es schwierig, Filmstimmungen einzufangen, bekannte Geschichten nicht einfach nur nachzuerzählen und zwischen Jump’n’Run, Egoshootern und Adventures das passende Spielgenre zu finden. Zahlreiche Spiele wurden auch im „Star Wars“-Universum angesiedelt. Dabei wurde eine Bandbreite an Genres bedient, vom Strategiespiel über Shooter bis zum Podrennen. Auch die Geschichten entfernten sich in den Spielen von den bekannten Figuren und entwickelten neue Charaktere. Am Ende dürfen Nicht-Spieler_innen bei eventuellen Fortsetzungen nichts verpassen.

Umgekehrt wurden und werden auch Computerspiele als Kinofilme umgesetzt oder von diesen aus konzipiert. Als erster vollständig computeranimierter Film mit realistischer statt comichafter Umsetzung erschien 2001 „Final Fantasy“, der sich von der inzwischen 14-teiligen Spieleserie allerdings deutlich entfernte. Auch in diesem Kontext wurden die neuen ästhetischen Möglichkeiten meist als Bedrohungen diskutiert. Die allgemeine Ablösung von Schauspieler_ innen durch computergenerierte Figuren schien sich anzukündigen. Für computeranimierte Filme werden aber immer noch „echte Menschen“ vermessen und digitalisiert, das Schreckensszenario ist also bis heute nicht eingetreten. Schauspieler_innen sind fast wichtiger als zuvor – sowohl als Sprecher_innen als auch Vermessungsvorlagen. So muss Vin Diesel gerade in „Guardians of the Galaxy“ als Baum Groot quasi nur „Ich bin Groot!“ sagen und das reicht zur Bezirzung der Zuschauer_innen. Auch zwischen Serien und Videospielen gibt es Verbindungen: Das stark filmische Zombiespiel „The Walking Dead“ erscheint beispielsweise in fünf Staffeln. Und die Science-Fiction-Serie „Defiance“ setzt seit zwei Staffeln auf die Verbindung von Spiel und TV-Serie, bleibt dabei allerdings Nischenprodukt, sowohl als Serie als auch als Game. So brauchte in der zweiten Staffel ein aus dem Fernsehen bekannter Charakter Unterstützung von Spieler_innen, um wieder in der Serie zu erscheinen. Die Einschätzungen bleiben dennoch bei „mittelmäßig“.

Dem Level entwachsen. Bei den meisten Spielen waren bisher stets Unterschiede zwischen den aufwändig generierten filmischen Sequenzen, die die Handlung erklären, und dem tatsächlichen Aussehen der spielbaren Teile zu erkennen. Bisher war auch eine Einteilung in Levels, die aus technischen Notwendigkeiten erwuchs, üblich. Neue Umgebungen, Texte und Aufgaben mussten ja vom Rechner oder der Konsole immer wieder neu geladen werden. Aufgrund der begrenzten Rechenstärke und Speicherkapazitäten blieben viele Spielwelten nur Oberflächen und Kulissen. Jedes Scheitern bedeutete einen Neuanfang. Das klingt einerseits verlockend. Andererseits kann der ständige Neustart auch zum frustrierenden Hamsterrad werden. Bestehen oder Scheitern waren also lange der gängige Spielmodus – jetzt in der linearen Handlung weitergehen oder eine Runde nachsitzen. Mittlerweile werden aber offene Spielwelten mit zahlreichen Verlaufsmöglichkeiten populär, die Kulissen weichen größeren, offenen Welten, die die Spieler_innen erkunden können.

So etwa in der Serie „Grand Theft Auto“ – einem aufgrund der sexistischen und rassistischen Anklänge eher unrühmlichen Beispiel. Im Gegensatz zum deutlich progressiveren „The Elder Scrolls V: Skyrim“: Beide Spiele ermöglichen es, eine virtuelle Welt abseits „künstlicher Grenzen“ zu erkunden und dennoch in der Handlung „voranzukommen“. „The Stanley Parable“ treibt das Ganze auf die Spitze: Jede Entscheidung hat eine Konsequenz, führt manchmal auf Umwegen zum Anfang zurück und schließlich an eines von zahlreichen möglichen Enden. Mit der Abkehr von Levels geben Videospiele ein Alleinstellungsmerkmal auf, das in seiner Linearität aber sehr traditionell war. Stattdessen schöpfen sie nun in offenen Welten langsam ihr wahres Potenzial aus.

Wie innovativ Spiele sind, wird dennoch in den einschlägigen Publikationen oft weiterhin an der technischen Umsetzung und neuen Fähigkeiten der Spielecharaktere, wie Schwimmen und Klettern, gemessen. Dabei kommen die interessantesten Spiele der letzten Zeit aus einer anderen Ecke: Seit einer Weile gibt es Programme, die allen die Möglichkeit bieten, eigene Geschichten aufzubereiten – von einfachen textbasierten Spielen bis hin zu grafisch aufwendigeren Umsetzungen. Damit wurden Spiele wie Mattie Brices „Mainichi“ über den Alltag als Transfrau und Zoë Quinns „Depression Quest“ geschaffen. Deirdra Kiai nutzte für ihre Stop-Motion-Musical-Detektivgeschichte in Schwarzweiß, „Dominique Pamplemousse“, vor allem analoges Material. Abseits jahrzehntelang recycelter Serien von Shootern und Strategiespielen werden in Zukunft die spannendsten Ideen wohl von jenen kommen, deren Geschichten wir in Spielen bisher noch nicht nachempfunden haben.

 

Helga Hansen ist Projektkoordinatorin im Gleichstellungsbüro der TU Braunschweig. Privat schreibt und spielt sie für herzteile.org.