Charlotte Madden

Rave und Religion

  • 20.06.2017, 21:23
Familie, Gemeinschaft, Energie – allein begrifflich lassen sich Analogien von Techno und Religion wiederfinden. Wird Rave zur Ersatzreligion?

Familie, Gemeinschaft, Energie – allein begrifflich lassen sich Analogien von Techno und Religion wiederfinden. Wird Rave zur Ersatzreligion?

„Ich würde nur an einen Gott glauben, der es zu tanzen verstünde“, sagte Nietzsche. Ganz schön weise, denkt sich da die Technoide. Scheinen auf den ersten Blick religiöser Glaube und die Technoszene gegensätzliche Phänomene zu sein, kristallisieren sich jedoch bei genauerer Betrachtung einige Parallelen heraus.

Religiöse Werte verlieren hierzulande zunehmend an Wichtigkeit. Wissenschaftlich wird von einem Gestaltwandel von Religion gesprochen. Die Relevanz und gesellschaftliche Präsenz verschiedenster Arten der Vergemeinschaftungen hingegen, Subkulturen, die an moderne Wertvorstellungen anknüpfen, gewinnen an Bedeutung. Besonders interessant ist die Technoszene, da es sich keineswegs um einen flüchtigen Trend, sondern ein Phänomen handelt, das einen festen Platz in der westlichen Gesellschaft hat.

SYNERGIEN. In der modernen Gesellschaft verschwimmen zunehmend Sinnhorizonte, Indifferenz nimmt zu und Kontrastierungen werden entkräftet. Traditionelle Weltbilder erodieren und gemeinschaftlich gefasste Lebensstile zerfallen mehr und mehr. Will man Techno und Religion vergleichen, sind vor allem ihre Funktionen interessant. Der Soziologe Emile Durkheim untersucht grundlegende Formen des religiösen Lebens. Daraus leitet er unterschiedliche Funktionen von Religion ab und sieht diese als auf heutige Religionen übertragbar an. Die Hauptfunktion von Religion ist, die Welt für das Individuum zu strukturieren; ein Begriffssystem zu schaffen, mithilfe dessen die Welt vorstellbar und erklärbar ist. Außerdem prägt Religion das ethische Bewusstsein – sie lehrt die Menschen, „richtig“ zu leben.

Die Idee von Techno ist Freiheit und Spaß. Die Szene steht zwar einerseits im starken Gegensatz beispielsweise zu christlichen Moralvorstellungen, die in ihrer monotheistischen und puritanischen Beschaffenheit verantwortlich für die Regulierung alternativer kultureller Strömungen sind. Andererseits finden sich einige Parallelen. Solidarität und Zusammengehörigkeit sind sowohl in den Glaubensgemeinschaften als auch der Technoszene geteilte Überzeugungen, die von konstitutiver Kraft für die Weltanschauung der AnhängerInnen sind. Ein Kollektivgefühl, das sich als fühlbare Einheit äußert.

Ganz deutlich wird hier die Brücke zum Techno: Bei Events geht es darum, Teil eines Ganzen zu sein. Die Technoiden sprechen von „We are Family“. Insbesondere enge FreundInnenschaften fallen hier ins Gewicht, bieten sie doch Schutz, sich ausgelassen und schamlos dem Exzess hingeben zu können. Die Zugehörigkeit zur Technoszene beruht auf einer freiwilligen emotionalen Bindung der Mitglieder. Somit kann zwar von Unbeständigkeit gesprochen werden, dennoch ist in den Augenblicken der Verdichtung, beim dezidierten Ausleben des Technoiden, die Intensität von atemberaubender Stärke.

Durch Religion bewältigen wir Angst, sie hilft uns, unsere Identität zu bilden, macht den Kontakt mit dem Unbegreiflichen, dem Außergewöhnlichen möglich. Die funktionale Perspektive Durkheims wird durch Überlegungen von Franz-Xaver Kaufmann erweitert. Religionen helfen im Umgang mit Leid und damit, das Chaos der Welt durch Unterbrechungen des Alltags zu strukturieren, um so Mängel der ökonomisierten und digitalisierten Welt zu kompensieren. Überdies fungiert Religion auch als Kritik – so besteht eine Funktion doch im Aufbau von Gegenwelten wider als unmoralisch erfahrene Gesellschaftszustände.

LOVE, PEACE & UNITY. Ist die Technoszene scheinbar ein Ort des losen Zusammenkommens, des Spaßes, Exzesses, des Tanzes und Rausches, werden die von Kaufmann ermittelten Funktionen von Religion auf unterschiedliche Weise in ihr erfüllt. Insbesondere Jugendliche grenzen sich mit der Konzeption Techno von anderen Subkulturen ab und identifizieren sich mit den Gepflogenheiten der Szene. Persönliche Freiheit, die Verschiebung weiblicher und männlicher Körperbilder sowie das Spiel mit Geschlechterrollen stellen nur einige Beispiele dar, mit denen sich AnhängerInnen der Szene identifizieren.

Durch die stark repetitive, physisch wahrnehmbare Musik und die Unterstützung derartiger Empfindungen durch den Konsum von Drogen entsteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Wunsch nach Ekstase wird auch die romantizistische Tendenz der Szene deutlich. Sie ist ein Ort der Sehnsucht und Phantasie, wo die RaverInnen vor alltäglicher Verantwortung Zuflucht suchen. „Love, Peace und Unity“ lassen sich als Vorwegnahme des Paradieses begreifen. Zur Anleitung im Umgang mit Unglück bietet die Technoszene keine großen Theoriegebilde. Dennoch sprechen RaverInnen oft von ihrer „Familie“. In der Wissenschaft ist von einer „posttraditionellen Gemeinschaft“ die Rede, die nicht nur zum Hort von Zärtlichkeit wird, sondern auch praktische familiäre Funktionen übernimmt.

Nicht zuletzt zeigt sich in den Ursprüngen der Technoszene ihr Protestpotenzial. Sie steht für Toleranz, für Friedlichkeit. Mehr und mehr scheint das subkulturelle Protestpotenzial im Zuge der Kommerzialisierung abzunehmen. Nichtsdestotrotz versucht Techno auch heute noch unkonventionell, unkommerziell und anders zu sein. Der Untergrund – und das ist auch schön in Anja Schwanhäußers „Kosmonauten des Underground“ zu lesen – ist im stetigen Wandel. Das Freisein der Technoiden ist dabei oberstes Gebot.

Was geht daraus hervor? Unterschiedliche Möglichkeiten bieten sich an, Bedürfnisse nach Strukturierung, nach Kontakt mit etwas Höherem, nach Gemeinschaft zu befriedigen. Techno ist scheinbar eine davon.

Charlotte Madden studiert Soziologie und Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.