Mai 2012

Sodom und Andorra

  • 04.10.2012, 23:44

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Seit 1989 gibt es im österreichischen Lehrplan für den Deutschunterricht keine Leselisten mehr. Allerdings sieht er weiterhin vor, für die verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte repräsentative Werke zu behandeln. Gerade, wenn es um Antisemitismus und Nationalsozialismus geht, wird jedoch auch ohne Liste immer wieder zu den gleichen Werken gegriffen. Und so arbeitet sich jede  Klasse aufs Neue durch das Tagebuch der Anne Frank, Andorra und Auszüge aus der Blechtrommel. Hin und wieder werden vielleicht auch Thomas Bernhards Heldenplatz oder Passagen aus Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit berücksichtigt. Dabei werden diese Werke – das kann aus eigener Erfahrung und den Berichten anderer mit einiger Gewissheit gesagt werden – meist nicht problematisiert, sondern als die Wahrheit über die Zeit, den Antisemitismus und die Menschen im Allgemeinen präsentiert.

Probleme. Zu problematisieren gäbe es an manchen der genannten Schriften aber durchaus einiges. Max Frischs Andorra wurde etwa von dem Kabarettisten Georg Kreisler als „schwach auf der Brust und latent antisemitisch“ angesehen. Ein Urteil, das Kreisler nicht nur so nebenher gegen einen von ihm Ungeliebten losließ. Zusammen mit KünstlerInnen wie Topsy Küppers und Kurt Sowinetz vertonte er sogar eine Parodie, die den plakativen Titel Sodom und Andorra trägt. Frisch versucht in seinem Stück die Funktionsweise von Antisemitismus aufzuzeigen. Die recht durchsichtige These lautet, dass es das antisemitische Vorurteil sei, welches die Juden zu Juden mache. In dem Stück gilt der junge Andri in seinem Dorf im erfundenen Land Andorra als Jude und nimmt aufgrund der Behandlung durch die Bevölkerung schließlich jene Eigenschaften an, die nach Frisch das antisemitische Stereotyp charakterisieren. Der Tischler will die Meisterschaft seiner Arbeit nicht anerkennen und zwingt ihn in den Verkauf, der Pfarrer dagegen will eine besondere Gabe bemerkt haben und empfiehlt ihm, in die Wissenschaft zu gehen. Der derart gegängelte Andri wird schließlich nervös, unruhig, wittert überall Antisemitismus und zieht sich schließlich auf die Position zurück, sich nur  noch um Geld kümmern zu wollen.

Der wohl gut gemeinte Versuch, die Wirkmächtigkeit von Vorurteilen zu demonstrieren, endet, genauer betrachtet, in einer Affirmation der antisemitischen Karikatur, die Andri schließlich darstellt. Fast als wäre Frisch der Ansicht, die Juden – bei ihm ist der archetypische Jude schließlich ein Mann – sind schon so, nur liege dies nicht in ihrem Wesen, sondern die antisemitische Gesellschaft habe sie selbst hervorgebracht. Da wundert es dann wenig, dass in seinem Stück keine Jüdinnen oder Juden in positiven Rollen vorkommen. Andri stellt sich schließlich als Andorraner heraus, positive jüdische Figuren würden das Bild des Juden als manifestierte Projektion nur stören.

Würden solche Probleme im Unterricht behandelt werden, wäre an der Lektüre nichts auszusetzen. Aber in der Praxis werden diese Werke als Lehrstücke behandelt, fast als aus der Wirklichkeit genommene Beispiele. Was will uns der Autor sagen? Was lernen wir daraus?

Textwahl. Darüber hinaus ist bemerkenswert, welche Schriften nie oder nur sehr selten im Unterricht behandelt werden: so beispielsweise Bertolt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reichs, ein Stück, das der Autor im Exil in den 1930er-Jahren verfasste. Oder Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur, das zunächst nur in der englischen Übersetzung erscheinen konnte, weil im  Deutschland der 1960er niemand bereit war, diesen Roman zu veröffentlichen, der als Anti-Blechtrommel bezeichnet werden könnte. Hilsenrath schildert den Nationalsozialismus aus der ungeschönten Sicht eines Täters in seiner Kontinuität bis in die Gegenwart. Anders als bei den nivellierenden Formulierungen Grass’ handelt es sich um eine wirkliche Groteske: eine, die real bleibt.

Hilsenraths Darstellung spitzt die Brutalität aufs Äußerste zu und steigert sie ins Unmögliche, ohne dabei den Charakter der Realität einzubüßen. In Deutschland konnte dieses Buch erst Ende der 1970er-Jahre erscheinen, obwohl es zuvor bereits in den USA große Erfolge erzielt hatte. Es ist kein Zufall, dass Die Blechtrommel als das Buch der Deutschen bezeichnet werden kann, während sich  ein Autor wie Edgar Hilsenrath erst allmählich etablieren konnte. In Schulen wird er wohl niemals vergleichbar oft gelesen werden wie Grass.

Kritik. Natürlich kann die Konsequenz daraus nicht darin bestehen, die Lektüre dieses oder jenes Werkes anzuempfehlen. Es ist durchaus eine Errungenschaft, dass Lehrern und Lehrerinnen große Freiheit in der Auswahl der behandelten Texte zugestanden und dadurch eine Vielfalt der behandelten Werke begünstigt wird. Das Problem liegt allerdings in der unkritischen Behandlung der schließlich ausgewählten Texte. Literatur, die sich kritisch mit Nationalsozialismus und Antisemitismus befasst, müsste daraufhin untersucht werden, ob sie ihrem Anspruch gerecht wird, welche Vorstellungen von Antisemitismus, von Geschichte und Gesellschaft ihr zugrunde liegen und ob sie womöglich selbst antisemitische Topoi enthält oder Entlastungsangebote macht. Auch diese Aufgabe obliegt schließlich den Lehrenden. Ihre Erfüllung könnte aber von einem gesellschaftlichen Klima gestützt werden, in dem nicht alles, was kritisch daherkommt, zum nicht zu hinterfragenden Nonplusultra erklärt wird – je plakativer desto besser.

Schlagabtausch: Vollbeschäftigung

  • 01.10.2012, 12:18

Vollbeschäftigung: Pro und Contra

PRO Vollbeschäftigung

VOLLBESCHÄFTIGUNG: EIN WEG UND ZIEL

Vollbeschäftigung wurde in den letzten Jahren als Begriff ausgedehnt. In Österreich wird die Vollbeschäftigung ausgerufen, wenn die Arbeitslosenquote unter die 3,5-Prozent-Marke sinkt. Es stellt sich aber die Frage, was sich hinter diesen Prozentzahlen verbirgt, und warum die Linke von der Forderung nach Vollbeschäftigung nicht Abstand nehmen darf.
Klar ist, dass es im derzeitigen kapitalistischen System die 100-prozentige Beschäftigung nicht geben kann, weil es immer Menschen geben wird, die gerade Job wechseln oder ein paar Monate auf der Suche nach ihrem ersten Arbeitsplatz sind. Die derzeitige staatliche Definition vom Zustand der Vollbeschäftigung ist aber sicherlich weit entfernt von dem Ziel, das eine systemkritische Position verfolgt. Vollbeschäftigung darf nicht bedeuten, dass eine Zahlenbeschönigung durch AMS-Programme stattfindet, dass Frauen nach wie vor in prekären Arbeitsverhältnissen leben müssen oder in Teilzeit gedrängt werden. Diese Entscheidung muss eine individuell zu treffende sein, was sie momentan nicht ist. Dennoch ist eine echte Vollbeschäftigung, bei der der Arbeitsmarkt Platz für alle bietet, ein gesamtgesellschaftliches Ziel, das es zu verfolgen gilt.

Wer sich eine Gesellschaft nach Solidaritätsprinzip wünscht, wird schnell erkennen, dass das am besten funktioniert, wenn alle arbeitsfähigen Menschen auch tatsächlich Arbeit finden. Arbeit, die sie fördert und fordert und nicht krank macht, oder sie in die Klasse der sogenannten Working Poor drängt. Allein eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sprich die Abkehr von der regulären 40-Stunden-Woche, würde die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze bedeuten und Menschen auch wieder mehr Zeit geben, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Der Weg von einer kapitalistischen Gesellschaft zu einer sozial-solidarischen mit neuem Arbeitsbegriff kann nur über Vollbeschäftigung passieren. Wir dürfen uns nur die Definition des Begriffes nicht entreißen lassen und müssen den Arbeitskampf endlich wieder mit vereinten Kräften aufnehmen.

Mirijam Müller studiert Medizin an der Meduni Wien.
 

CONTRA Vollbeschäftigung

VOLLBESCHÄFTIGUNG - GEHT'S NOCH?

Gemeinsam mit meiner AMS-Betreuerin arbeite ich daran, dem Zustand der Vollbeschäftigung in Österreich in Zeiten der Krise näherzukommen. Zur Schönung der diesbezüglichen Statistik trainiere ich fünf Wochen lang mit zwei Dutzend anderen „Überflüssigen“, mich am Arbeitsmarkt richtig zu positionieren und meine Nische am Markt zu lokalisieren. Der Geheimtipp der Trainer*innen bei völliger Missachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Du kannst alles erreichen, wenn du es nur wirklich willst. Und wenn es mit dem Traumjob doch nicht klappt, bist du jedenfalls selbst schuld. Diese „Maßnahme“ ist allerdings noch die harmlose Variante.

Abgesehen davon: Vollbeschäftigung im Kapitalismus langfristig zu realisieren, ist rein ökonomisch unmöglich, denn die damit kurzfristig erreichbaren hohen Löhne führen schließlich zu sinkendem Mehrwert und damit über kurz oder lang zu einer notwendigen Steigerung der Produktivkräfte. Diese Erhöhung des Ertrages lässt sich beispielsweise durch neue Maschinen realisieren, wodurch Arbeitskräfte letztlich wieder freigesetzt werden.
Und außerdem: Was wäre mit einer Vollbeschäftigung überhaupt gewonnen? Die Ausbeutung (also: die Nicht-Bezahlung des durch die Arbeitskraft produzierten Mehrwerts) endlich auch der „Langzeitarbeitslosen“ und „nicht vermittelbaren“ Klient*innen des AMS, sofern das in den aus- und vorgelagerten „sozialökonomischen“ Betrieben nicht ohnehin schon und in noch viel krasserem Ausmaß geschieht?

Wäre es nicht vielmehr an der Zeit, den Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft bei ansonsten drohendem persönlichem Untergang auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen? Das hieße wiederum, an die Stelle der Verwertung des Kapitals endlich die menschlichen Bedürfnisse zu setzen – damit man und frau sich schließlich geruhsam auf ihr Recht auf Faulheit zurückziehen, oder, jenseits jeglichen Arbeitszwangs in jener Art und Weise betätigen kann, die die Bezeichnung „Arbeit“ nicht mehr verdient. Um mit Marx zu sprechen: Jede nach ihren Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Schlagabtausch: Integration

  • 01.10.2012, 12:13

Integration: Pro und Contra

PRO Integration

EIN GEFÜHL DER ZUGEHÖRIGKEIT

Das Gefühl, integriert und gleichzeitig ein Teil der Gesellschaft zu sein, ist ein wichtiger Faktor im gesamten Migrationsprozess. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für Menschen, deren Migrationshintergrund sichtbar ist, bedeutend schwerer. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, prägen diese Menschen in ihrem weiteren Integrationsprozess – sowohl positiv als auch negativ. Erfahrungen, bei denen Diskriminierung, Nicht-Anerkennung und Dequalifizierung erlebt werden, wirken lähmend, frustrierend und demotivierend.

In einer Zeit, wo die Mobilität der Arbeitenden immer selbstverständlicher wird, und Menschen zunehmend versuchen, durch Länder- oder Jobwechsel ihre Lebenssituation zu verbessern, muss ebenfalls selbstverständlich sein, dass Menschen mit ihren Erfahrungen, Ressourcen, Kompetenzen und Ausbildungen gesehen werden, und nicht vorrangig nach Name, Geburtsort, Muttersprache oder Religion beurteilt werden. Die Sprache spielt im gesamten Integrationsprozess eine wichtige Rolle. Ihre Vermittlung muss so schnell wie möglich und von Anfang an stattfinden, damit das Gefühl der Zugehörigkeit wachsen kann. Derzeit sind die größten Hindernisse beim Zugang zum Arbeitsmarkt Sprachschwierigkeiten, nicht anerkannte Ausbildungen und Informationsdefizite. Das Ziel ist, von einer absolut defizit- und ausgrenzungsorientierten Diskussion wegzukommen, hin zu einem ressourcenorientierten Denken: „Was kann die Person?“ anstatt „Was kann sie nicht?“. Aufgrund der oft negativen Darstellung fehlt die Wertschätzung für das, was ZuwandererInnen können und an Ausbildung und Erfahrung mitbringen. Die Lernbereitschaft und Motivation dieser Menschen wird oft unterschätzt. Für den Versuch, das zu ändern, spielen Unternehmen eine wichtige Rolle. Sie müssen viel mutiger werden und sehen, dass „diverse/s“ Personal und Teams eine Bereicherung – in jeder Hinsicht – für das Unternehmen sind.

Moluksadat Homayouni ist Integrationsbotschafterin im Rahmen des Projekts „Zusammen Österreich“.
 

CONTRA Integration

„IVO, JETZT BIST DU EIN ECHTER ÖSTERREICHER!“

Diese Schlagzeile der Kronen Zeitung nach dem WM-Tor des Nationalspielers Ivica Vastić gegen Chile 1998 hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, da sie ein Sinnbild für die Integrationspolitik dieses Landes ist. Die Tatsache, dass Ivica Vastić seine Staatsbürgerschaft schon 1996 erhielt, war irrelevant, denn erst ein Tor, sprich eine Leistung für Österreich, und nicht der Pass, machte ihn zum „echten Österreicher“.

Austria-Trainer Vastić ist auch ein ausgezeichnetes Vorführobjekt für Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz, soll er doch Vorbild sein für all die schulschwänzenden Mustafas und Alis aus den städtischen Außenbezirken. Dem rassistischen Otto-Normalösterreicher soll er signalisieren, dass es auch gute Tschuschen gibt, die das Land voranbringen, und den Tschuschen soll er zeigen, dass sie es auch zu etwas bringen können, wenn sie sich nur anstrengen und etwas leisten.

Bei Kurz’ Suche nach dem_der „Supermigrant_in“ werden soziale Selektion in den Bildungseinrichtungen, der rassistische Normalzustand in Österreich und zunehmend schlechtere Aussichten für Migrant_innen am Arbeitsmarkt nicht nur verschleiert, sondern schlichtweg ignoriert. Eine Politik à la "die Guten ins Tröpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen" ändert nichts an der Situation von Migrant_innen, da sie für ein angebliches Scheitern selbst verantwortlich gemacht werden. Das Sichtbarmachen von Migrant_innen ist zwar durchaus positiv, doch nur in Verbindung mit anderen Maßnahmen auch sinnvoll. So braucht es eine Förderung in den Bildungseinrichtungen (Stichwort: Gesamtschule), die Bekämpfung der Diskriminierung am Arbeitsmarkt und eine Politik, die sich an den Lebensrealitäten der einzelnen Menschen orientiert, die die Unterteilung in Migrant_in und Nicht-Migrant_in nicht weiter positiv besetzt und die erfolgreiche Einzelschicksale nicht zum Maß aller Dinge erklärt.

Fanny Rasul studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Schlagabtausch: Grundeinkommen

  • 01.10.2012, 12:06

Grundeinkommen: Pro und Contra

PRO Grundeinkommen

ARBEIT NERVT. MUSS SIE ABER NICHT.

Für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zu sein, bedeutet nicht, bedingungslos für Grundeinkommen zu sein. Gegner_innen sind aber bedingungslos gegen eine grundsätzliche Existenzsicherung für alle. Den Diskurs des BGE nur entlang der Finanzierbarkeit zu führen, ist der einfachste Weg, um sich nicht mit den verschiedenen Aspekten von Grundeinkommen beschäftigen zu müssen. Visionen werden so dem Sachzwang geopfert. Ohne BGE ist Arbeit nicht mehr als ein Produkt, dessen Wertigkeit nicht rational daran bemessen wird, welche Auswirkungen es auf und für die Gesellschaft hat. Ihre Entlohnung orientiert sich stattdessen an irrationalen gesellschaftlichen Normen und Systematiken. Solange es Erwerbsarbeit im herkömmlichen Sinne gibt, die zur Sicherung von Existenzen benötigt wird, ist Arbeit ein Zwang – und damit ein wichtiger Faktor, wenn es um die zahlreichen Schieflagen in unserer Gesellschaft geht. Hingegen würde bedeuten, dass der Arbeitsplatz dann nicht mehr die wichtigste Institution wäre, mit der man in Wechselwirkung tritt. Die grundsätzliche Teilhabe an der Gesellschaft – wie auch die Möglichkeit, sich ihr ohne Existenzverlust entziehen zu können – sind essentielle Aspekte, die für ein bedingungsloses, existenzsicherndes Grundeinkommen sprechen.

Die Denkweise, dass sich jede arbeitsfähige Person dem Arbeitsmarkt unterordnen muss, wird ersetzt. Die Schaffung von Möglichkeiten dafür, Beiträge für die und in der Gesellschaft zu leisten, rückt ins Zentrum der politischen Debatte. Es geht um einen Paradigmenwechsel: Zentral ist nicht mehr, wie viele Freizeitmöglichkeiten man sich individuell am Arbeitsmarkt erkämpfen kann. Vielmehr geht es darum, dass Arbeit auch wirklich sinnstiftend wirkt. Wer so naiv ist, zu glauben, ein BGE erledige alles, erledigt damit auch eine Diskussion rund um das BGE. An der Debatte der Verteilungsgerechtigkeit kommen wir damit nicht vorbei – die Voraussetzungen dafür sind aber weit bessere.
 

CONTRA Grundeinkommen

KNAPP VORBEI IST AUCH DANEBEN.

Menschen sollen die Möglichkeit haben, ein eigenständiges Leben abseits des kapitalistisch-reproduktiven Erwerbszwanges zu gestalten: So die Hauptidee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE). So richtig dieser Anspruch auch ist, so wenig wird ihm das Grundeinkommen gerecht. Es mag stimmen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Theorie einen Beitrag zur Abschaffung der warenproduzierenden Wirtschaftsweise leisten kann. Tatsächlich führt ein BGE aber an der zentralen Frage vorbei: „Wem gehört aus welchen Gründen was in unserer Gesellschaft?“ Grundeinkommen-Befürworter_innen umgehen die Frage, warum nicht die gesamte Wirtschaftsleistung einer Gesellschaft gleichmäßig auf alle zu verteilen ist. Wieso sollte es überhaupt gerechtfertigt sein, dass es Leute gibt, die mehr verdienen als andere? Es würde finanziell schlechter gestellten Menschen für die eigenständige Gestaltung des eigenen Lebensentwurfes zwar neue Möglichkeiten eröffnen, jedoch wären diese ebenfalls nur begrenzt.

Der Betrag, den man durch ein BGE umverteilen würde, stellt nur einen Bruchteil des gesamten zur Verfügung stehenden Vermögens einer Volkswirtschaft dar. Die Super-Vermögen und Super-Einkommen – und damit einhergehende wirtschaftliche und realpolitische Macht – würden auch nach dessen Einführung weiterhin zirkulieren. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das allen unabhängig von ihrer materiellen Ausstattung denselben Betrag zuspricht, widerspricht dem Grundgedanken eines progressiven Steuersystems nach dem Leistungsprinzip. Während hier diejenigen, die materiell mehr beitragen können, auch höhere Steuern zu zahlen haben, verringert sich der Betrag bei jenen, die es nicht können. Diesen Grundmechanismus gilt es auch auf staatliche Zuwendungen umzulegen, wenn man schon nicht die oben genannte Grundsatzfrage thematisieren will. Wieso sollte der Staat aus den Steuergeldern aller auch jenen einen Beitrag leisten, die aufgrund von FreundInnenwirtschaft und Erbschaften ohnehin leben wie Gott in Frankreich? Von grundlegender Umverteilung kann also keine Rede sein.

 

Jugendarbeitslosigkeit am Arbeitsmarktkirtag

  • 28.09.2012, 01:48

Ohne Normbiographie kein Pardon. Das gilt am Arbeitsmarkt besonders dann, wenn es sich um arbeitslose Jugendliche handelt.

Ohne Normbiographie kein Pardon. Das gilt am Arbeitsmarkt besonders dann, wenn es sich um arbeitslose Jugendliche handelt.

„Ich will ja arbeiten gehen, aber es ist verdammt schwer, eine Arbeit zu finden.“ Der 19-jährige Sebastian Steiner hat sich in den vergangenen Jahren bei 112 der 164 vom AMS für ihn vorgeschlagenen Stellen beworben. Nur wenige Unternehmen haben ihm überhaupt geantwortet, gerade eine Handvoll hat ihn zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, ohne Ergebnis. Von der Backsteinwand hinter ihm hängen Broschüren, die vom richtigen Auftreten bei Bewerbungsgesprächen erzählen oder davon berichten, welche Biographie eine jeweilige Branche von ihm und anderen erwartet. Er ist einer von vielen arbeitslosen Jugendlichen, die regelmäßig hier in die Räume des Vereins Backbone - mobile Jugendarbeit, im 20. Wiener Gemeindebezirk, kommen, nicht nur um abzuhängen.

LEHRVERTRAG AUFGELÖST. Obwohl Sebastian gerade im letzten Semester einer Berufsschulklasse für Elektrotechnik ist, hat er keine Lehrstelle und damit auch keine Arbeit. Seine Ausbildung als Elektrotechniker hat er vor drei Jahren, nicht in einem Betrieb, sondern an einem Arbeitsplatz in einer überbetrieblichen Lehrwerkstätte begonnen. Sein Lehrvertrag wurde nach zwei Jahren einseitig von der Lehrwerkstatt aufgelöst. Ihm wurde ein körperlicher Übergriff auf einen anderen Jugendlichen vorgeworfen. Bis heute bestreitet er allerdings den Vorfall. Seither geht er einmal die Woche in die Berufsschule und muss von 120 Euro Arbeitslosengeld leben. Würde er nicht noch bei seinen Eltern wohnen, könnte er damit wohl kaum auskommen. Während er erzählt, klopft er hektisch mit seinen Fingern auf seiner Camouflage-Hose herum und unterbricht sich nur dann, wenn er sein Capi nach hinten zieht, um seine Haare zu richten. Sebastians Dilemma ist nicht nur, dass er arbeitslos ist, sondern auch, dass er zur anstehenden Lehrabschlussprüfung nur dann antreten darf, wenn er noch sechs Monate Praxis nachholt.

Wie Sebastian haben arbeitslose Jugendliche generell damit zu kämpfen, dass sie die vom Arbeitsmarkt gewünschten Vorstellungen einer Normbiographie nicht immer erfüllen können. Nach unzähligen Bewerbungsschreiben scheint er die Hoffnung aufgegeben zu haben. Mit einem Arbeitsplatz verbindet Sebastian zugleich aber den Wunsch nach einem Haus, oder zumindest einer tollen Wohnung, einem „bomben“ Computer sowie einer Familie. Mit der Zeit wird seine Stimme immer angespannter, schließlich meint er entnervt: „Es ist schwer, wirklich schwer. Es ist ja nicht so, dass wir Jugendlichen nicht arbeiten wollen. Wir dürfen nicht.“

JUGEND OHNE JOB. „Wir“, das heißt in kalten Zahlen: Die Jugendarbeitslosenquote in Österreich beträgt derzeit 7,3 Prozent. Alleine in Wien haben laut Angaben des Arbeitsmarktservice 12.800 Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren keinen Job. Gut die Hälfte davon befindet sich in Schulungsmaßnahmen. Sie holen entweder einen Hauptschulabschluss nach, beginnen eine Lehre in einer überbetrieblichen Lehrwerkstätte oder besuchen einen anderen der zahlreichen Kurse. Wer an einer dieser Weiterbildungsmaßnahmen teilnimmt, bekommt eine Entschädigung zwischen 240 und 540 Euro im Monat zur „Deckung des Lebensunterhalts“. Jugendliche, die sich in keiner Fortbildungsmaßnahme befinden, aber beim AMS gemeldet sind, werden bei der Arbeitssuche unterstützt. In Wien werden arbeitslose Jugendliche bis 21 Jahren vom Jugend-AMS betreut, eine in Österreich einzigartige Einrichtung.
Auch Sebastian ist einmal im Monat beim Jugend-AMS, am Gumpendorfer-Gürtel, bisher allerdings ohne Erfolg: „Das AMS konnte mir bisher nicht helfen. Bei einem Termin bekomme ich drei Seiten ausgedruckt und wir vereinbaren einen neuen Termin, das war’s dann.“ Darauf angesprochen, verweist die Geschäftsstellenleiterin des Jugend-AMS, Gerda Challupner, darauf, dass es ihre Aufgabe sei, Arbeitssuchenden Stellen zu vermitteln und etwaige Weiterbildungen zu finanzieren. Mit den Jugendlichen intensiver auf einer Beziehungsebene zu arbeiten, sei schon allein aufgrund der großen Zahl an KlientInnen nicht möglich.

Gerade diese beziehungsorientierte Arbeit mit den Jugendlichen scheint es aber zu brauchen: „Die Jugendlichen machen zum großen Teil sich selbst dafür verantwortlich, dass sie keine Jobs finden. In einer individualisierten Gesellschaft wird das Versagen natürlich auf einen selbst zurückgeworfen“, erklärt Fabian Reicher, Sozialarbeiter beim Verein Backbone. Und er betont, dass eine intensive Arbeit mit diesen Jugendlichen dazu führen kann, dass sie wieder eine Perspektive aufbauen und wieder Vertrauen in sich gewinnen können. Kommen Jugendliche in die Räume von Backbone, können sie ihre Zeit dort partizipativ gestalten, die SozialarbeiterInnen geben in der Regel nichts vor. Im vereinseignen Aufnahmestudio können die Jugendlichen ihre eigenen Tracks aufnehmen und vervielfältigen, viele von ihnen rappen. Ein Hintergedanke dabei: Die Jugendlichen können so stückweise ihr Selbstvertrauen wieder zurückerlangen. Jugendlich erhalten bei Backbone aber genauso Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen, bei AMS-Besuchen oder dem Vorbereiten auf Bewerbungsgespräche.

ORTSWECHSEL: Eine gute dreiviertel Stunde dauert die Fahrt mit den Öffis von Backbone zu Spacelab im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Das Projekt bietet Jugendlichen die Möglichkeit, entweder in einer Kreativ- oder in einer Medienwerkstatt, tageweise oder in einem sechsmonatigen Trainingsprogramm, mitzuarbeiten. Gedacht ist es für jene Jugendlichen, die aus der Bildungs- und Arbeitswelt komplett herausfallen. In den Werkstätten können Filme, Zeitungen, Taschen oder Siebdruckwerke produziert werden. Über diese kreative und produktive Arbeit kommen die Jugendlichen nicht nur wieder mit regelmäßigen Tagesstrukturen in Kontakt, im Idealfall entwickeln sie auch wieder eine Vorstellung davon, was ihre Bedürfnisse und Wünsche im Hinblick auf ihr Leben und einen etwaigen Beruf sind.

Projekte wie Backbone oder Spacelab bieten Jugendlichen Möglichkeiten, einen Zugang zur Arbeitswelt zu entwickeln. Das Fundament, auf dem desillusionierte Jugendliche bauen, liegt hingegen anderswo. Die Bildungswissenschafterin Agnieszka Czejkowska hat sich eingehend mit dem Thema beschäftigt. Einerseits verortet sie, wenig überraschend, einen Großteil des Problems im differenzierten Schulsystem in Österreich. Auf der anderen Seite stellen für sie die zunehmenden Erwartungen des Arbeitsmarktes ein entscheidendes Problem dar: „Wir haben zum Beispiel untersucht, wie Lehrstellen ausgeschrieben werden. Dabei stellte sich heraus, dass sich diese Angebote mehr an fertig ausgebildete Jugendliche richten als an Lehrstellensuchende. Die Vorstellung davon, was Lehrlinge eigentlich sind, dass sie sich eben noch in einem Bildungsprozess befinden, scheint abhandengekommen zu sein.“ Diese Erfahrung musste Sebastian auch machen, nicht zuletzt nach seinem raschen Rauswurf aus der überbetrieblichen Lehrwerkstatt. Zur Lehrabschlussprüfung wird er nun vielleicht aber doch antreten dürfen. Eine Woche nach dem Gespräch mit ihm, hatte er wieder einen Termin beim Jugend-AMS. Dabei hat sich schließlich herausgestellt, dass er ein Arbeitstrainingsprogramm in Anspruch nehmen kann. Das heißt: Das AMS übernimmt für drei Monate die Lohn- und Versicherungskosten für die Arbeitgeberin. Das hat die Arbeitssuche für Sebastian erheblich erleichtert. Eine Stelle, die ihn unter diesen Bedingungen aufnimmt, hat er bereits gefunden. Nach drei Monaten muss er allerdings erneut um Unterstützung ansuchen. Werden ihm insgesamt sechs Monate bewilligt, dann darf er auch zur Lehrabschlussprüfung antreten. Warum ihm diese Möglichkeit vom Arbeitsmarktservice nicht schon früher angeboten wurde, bleibt fraglich.

Wir sind so smart!

  • 28.09.2012, 01:28

4179 Mal wurde der Artikel des Klimaforschers Boyd Cohen zu seiner Recherche zu Smart Cities, der Anfang des Jahres auf dem Design-Blog Co.Exist veröffentlicht wurde, getweetet. Was hat es mit diesen Rankings auf sich?

4179 Mal wurde der Artikel des Klimaforschers Boyd Cohen zu seiner Recherche zu Smart Cities, der Anfang des Jahres auf dem Design-Blog Co.Exist veröffentlicht wurde, getweetet. Was hat es mit diesen Rankings auf sich?

Diese Städte-Rankings stellen Wien ein gutes Zeugnis aus: 2011 kürte die Unternehmensberatungsagentur Mercer die Hauptstadt zum dritten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt. Wien ziert triumphierend das Cover des Smart City Rankings und ist laut dem britischen Unternehmen QS die fünftstudierendenfreundlichste Stadt der Welt. Damit liegt Wien nach dem permanenten Spitzenergebnis im Mercer Quality of Living Ranking auch im Wettkampf der am „smartesten“ gemanagten Städte
der Welt auf Platz eins.

Was auf den ersten Blick wie eine wissenschaftliche Gegenüberstellung aussieht, ist allerdings nicht viel mehr als ein journalistischer Shake bestehender Rankings. Cohen beschreibt die Methodik als eine Melange aus vier etablierten Studien, darunter ein für Wien erfreuliches Innovation City Ranking, eine Studie über E-Government sowie die Mercer Quality of Living Survey. Das von der US-amerikanischen Consulting-Agentur erstellte Ranking vergleicht eine Vielzahl von Indikatoren, etwa das wirtschaftliche, soziale und politische Umfeld genauso wie die Qualität von Konsumgütern oder das Erholungs- und Freizeitangebot. Boyd Cohen definiert eine Smart City als „Stadt, die smart geführt wird und die das Management ihrer Ressourcen, der Infrastruktur und der Interaktion mit der Bevölkerung smart organisiert, (…) eine erstklassige Lebensqualität, einen geringen ökologischen Fußabdruck, ein ausgeklügeltes Verkehrssystem, das FußgängerInnen und öffentlichen Verkehr Autos vorzieht und das die Anwendung innovativer und grüner Technologien in der Stadt bei gleichzeitiger Schaffung von Unternehmenschancen vorantreibt“. Eine sehr reiche Sammlung von Kriterien also, die mitunter schwer zu messen sind und von den herangezogenen Studien in dieser Form gar nicht durchleuchtet werden. Cohen räumt im Gespräch mit dem progress zwar ein, dass seine Methoden einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten, betont aber gleichzeitig, dass es eine Reihung der Smartness von Städten auf globaler Ebene vorher nicht gegeben habe. Also doch ein ernstzunehmendes Ergebnis?

Städte-Rankings für Studierende. Ein für Studierende relevantes Ranking lieferte letztes Jahr QS, das Consulting für Universitäten, andere Bildungsinstitutionen sowie auch Privatpersonen in Bildungsfragen anbietet. Es bewertete erstmals Universitätsstädte nach Studierendenfreundlichkeit. Gereiht wurde nach den Kriterien Student Mix, Quality of Living, Employer Activity und Affordability.
Wien wurde als fünftbeste Student City gereiht, Paris ist der Studie zufolge die studierendenfreundlichste Stadt der Welt. Wien verdankt die hohe Platzierung vor allem der Internationalität der Studierenden, vergleichsweise niedrige Lebenserhaltungskosten und Studiengebühren sowie der allgemein hohen Lebensqualität. Faktoren wie die aktuelle finanzielle Lage der Universitäten sowie Betreuungsverhältnisse oder Forschungsmöglichkeiten wurden dagegen gänzlich ausgeblendet. Und Studienstädte mit weniger als 250.000 EinwohnerInnen wie etwa Salzburg oder Innsbruck wurden erst gar nicht beachtet. Dass dabei essentielle Aspekte, die zur Qualität eines Studiums beitragen, ausgespart werden, muss sich nicht zum Vorteil der Betroffenen auswirken. Wie können solche Rankings nun richtig verstanden und konsumiert werden?

Die Macht der Zahlen. Rankings erfüllen verschiedene Funktionen: Sie quantifizieren ansonsten qualitative Merkmale von Städten wie Lebensqualität oder Freundlichkeit, um Vergleichbarkeit herzustellen, wo oft keine ist. Dafür ist es notwendig, komplexes Datenmaterial in einfache Formen zu gießen. Diese Komplexitätsreduktion führt unter anderem dazu, dass Wien, einst die Stadt an der blauen Donau und im Wienerwald, zur Stadt mit 107 Lebensqualität-Punkten wird. Ändert sich die Gewichtung der Kriterien, ändert sich das Ranking – obwohl die Donau nicht weniger blau ist. „Rankings sind etwa für die Evaluierung von Verteilungsfragen nicht ausgelegt. Wien hat unbestritten eine hohe Lebensqualität und das E-Government ist gut“, meint Verena Madner, Professorin am Forschungsinstitut für Urban Management und Governance an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Die Frage ist, ob man da stehen bleiben will. Impulse, sich weiterzuentwickeln, spiegeln sich in solchen Rankings nicht wider.“

Die Attraktivität dieser vereinfachten Darstellung spielt auch den Medien in die Hände und führte zu einer raschen Verbreitung. Dabei wird auf eine kritische Reflexion der Parameter, der Datengrundlage und der Rolle der AuftraggeberInnen oft verzichtet. Konzerne mit Ranking-Ambitionen wie Mercer oder Siemens oder Medienunternehmen wie Economist oder Monocle sind mehrheitlich nämlich private, gewinnorientierte Unternehmen. Deren Eigeninteresse und mögliche Beeinflussung durch finanzielle Anreize sind Beispiele für problematische Konstellationen, die sich durch die Gewinnorientierung der rankenden Organisationen ergeben können. Bei bewusster Berücksichtigung der Tatsache, dass Rankings ein wertendes Weltbild beinhalten, ist das kein Problem – sie verbietet aber die Verallgemeinerung vom speziellen Ranking zum allgemeinen Freudentaumel.

Das Mercer-Ranking etwa zeigt, dass solche Reihungen meistens eine spezifische Funktion haben – etwa als Orientierungshilfe für ManagerInnengehälter. Eine günstige Platzierung in einem renommierten Ranking bedeutet keineswegs eine hohe Lebensqualität für alle. Dennoch ist das für eine Stadt eine erfreuliche Nachricht, auch weil ein Spitzenplatz als Bescheinigung des guten „Standorts“ gesehen wird. Das wirtschaftliche Interesse an Rankings ist also evident, wobei Madner anmerkt: „Solche Rankings sollten nicht überbewertet werden oder in Selbstzufriedenheit bei der Stadtführung resultieren. Aber Ideen aus Wien werden so auf die Reise geschickt.“

Best practice. Dabei besteht die Gefahr, dass Städte im Kampf um den besten Platz im angeblichen Standortwettbewerb dazu neigen, die von den Studien untersuchten Indikatoren bestmöglich zu erfüllen. Städte werden auf diese Weise angeleitet, die normativ als Best Practice bezeichneten Maßnahmen aufzugreifen, wie auch Boyd Cohen festhält: „Eine Smart City ist auch smart genug, zu wissen, dass sie nicht alles weiß, und dass sie nicht am besten in allem ist. Sie befindet sich in einem Städtenetzwerk und teilt ihre herausragenden Initiativen mit anderen Städten bzw. – falls sie keine Lösungen für ein Problem parat hat – verbündet sich mit jenen Organisationen, die sich damit am besten auskennen.“ Die damit verbundene Schaffung von internationalen Vorbildern zeigt, dass Rankings weniger dazu dienen, die Wirklichkeit abzubilden, als eine Wirklichkeit zu schaffen: Nämlich die von miteinander um Smartness, und damit um Geld und schlaue Köpfe, konkurrierenden Städten.

Zur Info

QS Best Student Cities 2012:
1. Paris
2. London
3. Boston
4. Melbourne
5. Wien
6. Sydney
7. Zürich
8. Berlin

Mercer Smart Cities Ranking:
1. Wien
2. Toronto
3. Paris
4. New York
5. London
6. Tokio
7. Berlin
8. Kopenhagen

Rivalitäten in der Fabrik

  • 28.09.2012, 00:56

Eine kleine Geschichte der Anfänge der österreichischen Arbeiterinnenbewegung.

Eine kleine Geschichte der Anfänge der österreichischen Arbeiterinnenbewegung.

„Wir wollen nicht Menschen zweiter Klasse sein.“ Mit dieser Parole brachten die anwesenden Sozialdemokratinnen 1930 auf einer Frauentagskundgebung in Wien ihre Wut zum Ausdruck. Denn trotz der damals bereits langen Geschichte der sozialistischen (und liberalen) Frauenbewegung waren zentrale Forderungen noch lange nicht erfüllt. Und auch in der ArbeiterInnenbewegung wurden die frauenpolitischen Anliegen als Nebenanliegen und Nebenwiderspruch behandelt. Deshalb ist die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung auch von Beginn an von den Kämpfen der Genossinnen um Gleichberechtigung - aber auch von der Resignation der Frauen - geprägt.

EIN KAMPF? Die ersten Organisationen der ArbeiterInnenbewegung formten sich in der Habsburger-Monarchie im Kontext des Revolutionsjahres 1848. In den Arbeitervereinen und in den meisten später entstehenden Gewerkschaften waren Frauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht beteiligt - obwohl sie mindestens seit der Frühen Neuzeit Teil der Hungerrevolten und sozialen Proteste waren, und auch 1848 an den Barrikaden mitkämpften. Daran zeigt sich: Der entstehende bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat ist auch auf Basis der Geschlechtertrennung entstanden, was sich unmittelbar in den Möglichkeiten politischer Betätigung niederschlug. Die Gewerkschaften waren - auch anknüpfend an die Tradition der Zünfte - vor allem „Männerbünde“. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Verhältnis von arbeitenden Frauen und Männern nicht immer von Solidarität geprägt, wie so manche beschönigende Erzählung von den Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung suggerieren mag, sondern gerade auch von der Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und vor den meist ungelernten Arbeiterinnen als Lohndrückerinnen und Streikbrecherinnen. Nicht zuletzt zeigt sich sowohl in Rufen nach dem Verbot von Frauenarbeit wie auch in der Vergeblichkeit von Versuchen weiblicher Gewerkschaftsmitglieder, die Forderung von gleichem Lohn durchzusetzen, die Wirkmächtigkeit des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses: Trotz der Tatsache, dass 1890 42,9 Prozent aller Erwerbstätigen Frauen waren, passte sich die Politik der Gewerkschaften in ein bürgerliches Familienideal ein, das den Mann als Alleinernährer betrachtet(e). Auch spezifisch weibliche Lohnabhängigkeitsverhältnisse, wie etwa Heimarbeit, wurden durch die Gewerkschaftsbewegung nicht abgedeckt.

NUR EIN NEBENWIDERSPRUCH. Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung im heutigen Österreich ist spätestens seit der Einigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) am Parteitag in Hainfeld 1888/89 eng mit dieser verbunden. Die Parteitage waren lange Zeit Schauplätze symbolischer Kämpfe um die Integration frauenpolitischer Fragen ins Parteiprogramm. Spezifische Frauenorganisationen - sofern sie nicht ohnehin durch das Verbot von weiblichen Mitgliedern in politischen Vereinen nach Paragraph 30 des damaligen Vereinsgesetzes verunmöglicht waren - und Publikationen wie die Arbeiterinnen-Zeitung mussten sich immer wieder den Vorwurf des Separatismus gefallen lassen. Die Angst, dass die ArbeiterInnenbewegung geschwächt werden könnten bewegte auch die Genossinnen selbst dazu, ihre Anliegen nachrangig zu behandeln. Das Frauenwahlrecht ist ein eindrückliches Beispiel: Es verdeutlicht die konflikthaften Beziehungen zwischen den Akteurinnen der bürgerlichen und der sozialistischen Frauenbewegung. Am Parteitag von 1905 beschloss die SDAP den Druck hinter der Forderung nach dem allgemeinen Männerwahlrecht per Massenstreik zu erhöhen - Auslöser war dessen Einführung im zaristischen Russland. Adelheid Popp, Mitgründerin der Arbeiterinnen-Zeitung und ab 1918 im Parteivorstand der SDAP, stellte diesbezüglich fest, dass „der Augenblick des großen Kampfes, der jetzt gekommen ist, nicht dazu angetan ist, das gleiche Recht der Frau in den Vordergrund zu stellen“. An dem zeitgleich gegründeten Frauenstimmrechtskomitee des radikal-liberalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung beteiligten sich die Sozialdemokratinnen nicht - allerdings zählte das Frauenwahlrecht neben anderen Forderungen, wie etwa nach gleichem Lohn bei gleicher Arbeit, der Abschaffung des Paragraphen 30 des Vereinsgesetzes und der Gleichstellung von Frauen im Eherecht, zu ihren zentralen Anliegen. 1907 fanden die ersten Reichsratswahlen statt, bei denen das allgemeine Männerwahlrecht galt. Erst nach Ende der Monarchie wurde auch den Frauen das Wahlrecht zugestanden.

GENOSSINNEN. Die Sozialdemokratinnen organisierten sich neben dem Reichsfrauenkomitee auch in Vereinen wie dem Arbeiterinnen-Bildungsverein oder im Verein sozialdemokratischer Mädchen und Frauen. Während des Ersten Weltkriegs engagierten sich viele von ihnen in der pazifistischen Linksopposition. Gleichzeitig waren die Frauentagsveranstaltungen ab 1916 im Kontext des restriktiven Kriegsrechts eine eindrückliche Veranschaulichung der Größe von Sozialdemokratie und ArbeiterInnenbewegung. Frauen als potentielle Wählerinnen sollten mit der Transformation der Habsburgermonarchie zur Ersten Republik schließlich zentral werden. Die Integrationsangebote seitens der Partei richteten sich nicht mehr nur an Werktätige, sondern auch an die „proletarische Hausfrau“, zum Beispiel mittels KonsumgenossInnenschaften. Der Frauentag als Kampftag für das Frauenwahlrecht und Symbol der Stärke der sozialistischen Frauenbewegung wurde allerdings eine Zeit lang nur mehr von den KommunistInnen abgehalten. Aufgrund der Ausweitung der staatsbürgerlichen Rechte wurde er von den SozialdemokratInnen zunächst als nicht mehr notwendig betrachtet. Die Anerkennung von frauenpolitischen Anliegen als zentrale Grundlage für eine gerechte Gesellschaft statt bloßem Nebenwiderspruch mussten die Sozialdemokratinnen beständig durchsetzen. Unbestreitbar ist, dass die SPÖ-Frauen, gemeinsam mit vielen anderen Feministinnen nach 1945 große Erfolge erzielten, wie beispielsweise die Fristenlösung oder das Gewaltschutzgesetz. Johanna Dohnal, Österreichs erste Frauenministerin, resümierte in diesem Sinne noch kurz vor ihrem Tod: „Nur eine Frauenorganisation, die lästig ist, hat eine Existenzberechtigung.“

Die Autorin Veronika Helfert studiert Geschichte im Doktorat an der Uni Wien. Im Zuge dessen spezialisiert sie sich auf Frauen- und Geschlechtergeschichte.

Literaturtipp: Flora Tristan: Arbeiterunion. Sozialismus und Feminismus im 19. Jahrhundert. Frankfurt/ Main 1988

Filmtipp: We want sex. Regie: Nigel Cole, 2010

Permanentes Lästigsein

  • 28.09.2012, 00:47

Barbara Blaha und Sylvia Kuba beleuchten in ihrem neuen Buch „Das Ende der Krawattenpflicht“ die schwierige Situation von Frauen in der Politik. Sigrid Maurer bat sie zum progress-Gespräch.

Barbara Blaha und Sylvia Kuba beleuchten in ihrem neuen Buch „Das Ende der Krawattenpflicht“ die schwierige Situation von Frauen in der Politik. Sigrid Maurer bat sie zum progress-Gespräch.

PROGRESS: Ihr habt euch nun ausführlich mit empirischen Studien zu Frauen in der Politik beschäftigt. Was sind die drei größten Hürden für Frauen, in der Politik zu bestehen?
Barbara Blaha: Erstens waren Frauen vom politischen Prozess historisch ausgeschlossen – sie konnten weder gewählt werden, noch durften sie wählen. Sie konnten auch die Regeln der Politik, die bis heute gelten, nicht mitgestalten. Zweitens ist die Politik ein sehr zeitaufwendiges Geschäft, insbesondere im kommunalen Bereich muss man unzählige Abendveranstaltungen, Feuerwehrfeste oder Stammtische besuchen. Da Reproduktionsarbeit nach wie vor ungleich verteilt ist, haben Frauen einen massiven Nachteil gegenüber ihren männlichen Kollegen, die über mehr Zeit verfügen und leichter in politische Positionen kommen können. Drittens gilt: Wenn sie es trotzdem schaffen, in die Politik einzusteigen, werden sie auch noch schärfer beurteilt, angefangen von Stilkritik über Fragen der Ressortverteilung bis hin zur Frage „Kann die das überhaupt?“.

Viele der Zahlen, die ihr im Buch aufarbeitet, sind sehr frustrierend - nur fünf Prozent der BürgermeisterInnen zum Beispiel sind weiblich. Gibt es auch etwas Positives zu berichten?
Sylvia Kuba: Es gibt Frauen, die politische Frontrollen innehaben und die Macht haben: Hillary Clinton, Angela Merkel oder Ségolène Royal zum Beispiel. Das sind Vorbilder, die Orientierung bieten.
Barbara: Dort, wo das Schlaglicht wirklich auf die Spitzen der Politik fällt, verändern diese Frauen auch. Es ist zum Beispiel nicht mehr möglich, reine Männermannschaften aufzustellen. Aber überall dort, wo die öffentliche Aufmerksamkeit nicht so groß ist, in der Kommunalpolitik beispielsweise, bestehen noch eher mittelalterliche Verhältnisse.

Was waren die überraschendsten Ergebnisse bei eurer Recherche?
Barbara: Die neuesten Ergebnisse zur Kindererziehung: Acht von zehn Buben sagen, ihr Vater tröstet sie nicht, wenn sie weinen – da hätte ich gedacht, dass wir da schon weiter wären.
Sylvia: Was mich sehr überrascht hat, war, dass Virginia Woolf eigentlich schon alles gesagt hat. Sie argumentiert: Wenn Männer sich mit Fußball beschäftigen, ist das wichtig. Wenn Frauen sich mit Kleidung beschäftigen, dann ist das unwichtig. Sie entwickelt da zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Literatur eine wesentliche These, die wir in unserem Buch auch wieder aufgreifen.

In eurem Buch gibt es viele Hinweise auf Widersprüche zwischen Wahrnehmung und Erwartungshaltung an Frauen in der Politik. Wenn sich Frauen dominant verhalten, werden sie als „kalt“ wahrgenommen - wo doch gesellschaftlich Wärme erwartet wird. Solche Diskussionen sind auch in linken Gruppen durchaus üblich. Überladen nicht gerade Feministinnen die Politikerinnen mit Erwartungshaltungen?
Barbara: Auch die Linke ist natürlich nicht frei von Sexismus. Das ist eine Erfahrung, die auch ich in einem Jahrzehnt politischer Aktivität gemacht habe. Frauen haben die zusätzliche Schwierigkeit, dass sie mit der Erwartungshaltung konfrontiert sind, dass sie's ja genau richtig machen müssen: Weil sie ja Feministinnen sind, müssten sie genau wissen, wie man sich als Frau im politischen Feld verhält. Wir haben in unserem Buch aber auch aufgezeigt, dass es international in linken Fraktionen einen höheren Frauenanteil gibt, weil Frauenpolitik dort einen höheren Stellenwert hat, Quoten implementiert sind. Dort ist klar, dass auch Frauen an der Spitze stehen sollen.

Euer Buch ist eine gute Zusammenfassung unzähliger Studien zum Thema, lässt die LeserInnen aber auch etwas ratlos zurück. Die Situation ist nicht gerade rosig, Tipps für Frauen in der Politik finden sich dennoch wenige. Warum habt ihr kein Kapitel zu Gegenstrategien geschrieben?
Sylvia: Wir hatten nicht den Anspruch, einen Ratgeber zu schreiben, sondern ein Buch, das Frauen dabei helfen soll, ihr eigenes Frausein und die eigene Wirkung in der Politik ständig mitzureflektieren. Dazu muss man wissen, welche Muster es gibt - das macht es leichter, damit umzugehen. Insbesondere zu wissen, dass die Dinge, die an einer Politikerin kritisiert werden, nicht an ihr selbst liegen. Wenn über ihre Frisur diskutiert wird, ist das kein Problem der Frisur, sondern liegt an der Tatsache, dass Frauen es schwer richtig machen können in diesem Bereich.

Was muss auf institutioneller Ebene getan werden, um den Einstieg für Frauen in die Politik zu erleichtern?
Barbara: Wichtig ist, sich anzuschauen, wo wir die Frauen in der Politik verlieren: Bis zum Alter von 19 Jahren engagieren sich sogar ein bisschen mehr Frauen als Männer, das beginnt mit 20 Jahren zurückzugehen. Wir sprechen da von der Berufseinstiegsphase, Familiengründungsphase - diese Frauen steigen Mitte 30 wieder ein. Männer haben 15 Jahre lang einen großen Vorteil, weil sie bereits an ihren politischen Karrieren basteln können, das ist für Frauen kaum aufholbar. Und auch wenn Frauen den Wiedereinstieg schaffen, haben sie keine politische Hausmacht. Deshalb müssen sich Institutionen und Parteien fragen, wie dieser Übergang so gestaltet werden kann, dass Frauen nicht aussteigen, zum Beispiel durch neue Partizipationsmöglichkeiten.
Sylvia: Der zweite wichtige Punkt, den wir in unserem Buch ausgearbeitet haben, ist das Thema Prestige. Frauen wird weniger zugetraut und Frauen trauen sich auch selbst weniger zu. Deshalb ist es wichtig, Frauen in ihrer inhaltlichen Kompetenz zu stärken, also nicht nur Frauennetzwerke, sondern auch inhaltliche Netzwerke aufzubauen, die es den Frauen ermöglichen, Kompetenz zu erarbeiten. Ebenso liegt die Verantwortung bei den Parteien, Frauen auch bewusst als Expertinnen zu positionieren. Das ermöglicht es auch, dass Frauen in Politikbereiche hineinkommen, die nicht die „klassischen“ Frauenbereiche wie Familie und Soziales sind.

Die Frauenbewegung gilt als eine der erfolgreichsten politischen Bewegungen überhaupt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat sich sehr vieles verändert. Erwarten wir manchmal zu viel, was das Tempo der Veränderungen betrifft?
Barbara: Das ist kein Automatismus, auf den man sich verlassen darf: Wenn nur genügend Zeit vergeht, dann kommt schon Halbe-Halbe oder Reproduktionsarbeit wird dann gleichmäßig verteilt. Ich finde auch, dass das etwas ist, was wir von der Frauenbewegung sehr schön lernen können - dieses permanente Thematisieren, dieses permanente Lästigsein, Unbequemsein und Dinge aufzeigen, das führt schlussendlich dazu, dass sich ein Mehr an Gleichberechtigung einstellt.

Zweimal hingehört

  • 28.09.2012, 00:38

Kati Hellwagner und Eva Grigori über „Vision“ von Grimes und „We All Yell“ von Giantree.

Kati Hellwagner und Eva Grigori über „Vision“ von Grimes und „We All Yell“ von Giantree.

Grimes | Visions (2012)

KATI: Cyborgs. Ich liebe Cyborgs. Ich warte darauf, dass eines Tages Roboter die Welt regieren. Bis dahin kann es aber ruhig Grimes mit ihrem Album „Visions“ tun. Und sie macht das von ihrem Zimmer aus - das Album hat sie dort aufgenommen, indem sie mit ihrer Lispelstimme spielt, sie verzerrt, zu ihrem eigenen Echo macht und ihren eigenen Background-Chor mit Grimes-Klonen einsingt. New-Wave-Synthie-Pop wird der Sound zur Post-Internet-Revolution sein. Der von Grimes ist nämlich nicht nur cool und trotz seiner simplen Machart bestechend, sondern auch irgendwie witz- und tanzig. Außerdem: Wer kann schon von sich behaupten, in einem selbstgebauten, nur mit Hühnern beladenen Hausboot den Mississippi runtergefahren zu sein?

EVA: Kati meinte zu mir: „Ey, lass uns unbedingt ‚Visions‘ von Grimes besprechen.“ Ich habe von ihr noch nie gehört, würde auch nach dem Durchhören sicher niemals auf ein Konzert von Claire Boucher gehen und würde das Album niemals freiwillig nochmal hören. Außerdem ist die jünger als ich! Eitelkeiten hintenan gestellt: Ich mag affektierte, hochgeschraubte Kinderstimmen. Ich dachte zuerst, „da kommt jetzt seichter Pop“, der Sound hat aber deutliche Elektronika- und Breaks-Anleihen und löst sich immer wieder gelungen in Disharmonien auf. Von „Visions“ ist alles in allem jedoch nicht besonders viel zu spüren, „Sketch Book“ wäre ein zutreffenderer Titel: Insgesamt finde ich die Platte etwas dürftig produziert, und selbst (oder gerade) auf guten Kopfhörern klingt der Sound recht dünn. Mir fehlt der Groove. Anspieltipps: „Nightmusic“ und „Eight“.

Giantree | We All Yell (2012)

KATI: Als mir letztes Semester die Kollegin im Seminar einen Flyer für ein Konzert in die Hand drückte, dachte ich mir noch nicht viel. „Machst du da auch mit?“, fragte ich sie. Ja, tut sie. Jetzt hat sie mit ihren BandkollegInnen von Giantree das erste Album herausgebracht. Vertraut hört es sich an. Das Indie-Rezept „Gitarre - Vocals - Synthesizer, einmal umgerührt“ funktioniert - vor allem Nummern wie „Communicate“, „Life was Young“ oder auch der Opener erinnern an Francis International Airport in ihren sonnigeren Augenblicken. In der zweiten Hälfte von „We All Yell“ werden die Stimmen rauer, die Instrumente rockiger, Schatten ziehen auf. Mich fröstelt ein bisschen und ich hör lieber nochmal „Communicate“ zum Aufwärmen.

EVA: Ich gebe es zu, diese Ausgabe der Plattenkiste ist meine Grantl-Edition. Ich hab mir die neue lokale Indie-Hoffnung (auch wenn man „Indie“ nicht mehr sagen darf) angehört, und alles, was mir einfiel, war: „Was für ein belangloser Scheiß.“ Beim zweiten Durchhören dachte ich: „Naja, gegen Grimes sind die okay“. Und seitdem begleiten Giantree mich durch regne- rische Nachmittage. Textlich gibt die Platte nicht besonders viel her, und beim Titel „We All Yell“ kratzt man sich doch am Schädel, denn gebrüllt wird nicht. Von Verzweiflung oder Wut keine Spur, höchstens eine abgesicherte Koketterie mit Licht und Schatten des Lebens. Ich kann Ansagen wie „I’m ready for drowning“ nicht besonders ernst nehmen, wenn sie in einer heiteren Popnummer untergebracht sind. Und dass gerade dieser Gegensatz das Tiefgründige ausmachen soll, kann ich genauso wenig ernst nehmen. Wenn man aber von all dem absieht, eine wunderbare Aprilwetterplatte.

Pufferzone zum Arabischen Frühling

  • 28.09.2012, 00:34

Was das Mittelmeer im Süden ist, ist die Türkei im Osten: Hier muss durch, wer nach Europa will.

Was das Mittelmeer im Süden ist, ist die Türkei im Osten: Hier muss durch, wer nach Europa will.

Ungefähr so groß wie St. Pölten ist Reyhanli, die südosttürkische Grenzstadt, an deren Rand eines der drei großen Auffanglager für syrische Flüchtlinge steht. 25.000 SyrerInnen sind in den drei Lagern untergebracht, die Erdogans Republik zur Verfügung stellt. Um dauerhaften Aufenthalt geht es bei diesen Flüchtlingen nicht. Sie sind Spielball der internationalen Politik, in der das NATO-Mitgliedsland Türkei sich eine immer gewichtigere Rolle erarbeitet. Einem Syrer hat die Türkei dagegen Asyl angeboten: dem syrischen Diktator Bashar al-Assad. Ein Detail am Rande, das verdeutlicht, dass sich die Türkei als Maklerin der Interessen zweier Welten - jener der Europäischen Union im Westen und jener der instabilen Regimes im Osten - positionieren will.

Das zeigt auch eine andere Geschichte aus Reyhanli: NGOs und JournalistInnen war der Zutritt zu den Flüchtlingslagern bisher verboten. Weil die Türkei sich noch nicht endgültig entschieden hat, auf wessen Seite sie im syrischen Konflikt steht, will sie nicht, dass zu viele Geschichten der Flüchtlinge an die Öffentlichkeit kommen, sagt Senay Özden, Migrationsforscherin an der Istanbuler Koc Universität. Ein Regimewechsel in Syrien mischt die Karten der gesamten Region neu: Von Teheran bis Gaza und von Manama bis Bagdad wird nichts mehr so sein, wie es war, wenn Assad fällt. Wenn sich allerdings der UN-Sonderbeauftragte für Syrien ankündigt, muss die Türkei die Tore zu den Lagern öffnen. Mit Kofi Annan kommen JournalistInnen, deren Berichte von syrischen Flüchtlingen einen neuen Blickwinkel auf den Konflikt ermöglichen. Es ist ein diplomatisches Schachspiel.

EINWANDERUNGSLAND TÜRKEI. Die Europäische Union braucht Erdogans Republik in der Flüchtlingsfrage ganz unabhängig von der akuten Situation in Syrien als Partnerin. Die Türkei ist längst vom Auswanderungs- zum Einwanderungs- und Transitland geworden. Für europäische Anti-Einwanderungs-HardlinerInnen ist sie die letzte Befestigung vor den Toren der Union. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich in der Türkei beim UNO-Flüchtlingsrat um Asyl beworben haben, stieg von 2006 bis 2008 von 4500 auf 12.980. Und das war vor dem Arabischen Frühling. Für Flüchtlinge aus Asien und Afrika kommt erschwerend hinzu, dass in der Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention, die weitreichenden Asylschutz bietet, nur für Schutzsuchende aus Europa gilt. Dennoch: In der türkischen Asylpolitik haben Zivilgesellschaft, NGOs und der UNHCR zuletzt entscheidende Fortschritte erkämpft. Zwar müssen Asylberechtigte nach wie vor in zugewiesene Städte weit entfernt von den Metropolen Istanbul und Ankara ziehen und haben dort eine Melde- und Residenzpflicht. Aber sie bekommen seit 2008, zumindest am Papier, eine Grundversorgung und den Anspruch auf medizinische Behandlung.

Damit der Druck auf die türkische Regierung wächst, alle Flüchtlinge gleich zu behandeln, braucht es eine Öffentlichkeit für deren Lage und Interesse an ihren Geschichten. Bis dahin fließt aber noch viel Wasser durch den Bosporus. Denn für die Regierung Erdogan steht im Vordergrund, internationales Profil zu gewinnen und sich in Bezug auf die wackelnden Diktaturen an ihren Ostgrenzen möglichst alle Optionen offenzuhalten.

Paul Aigner studiert Pädagogik in Innsbruck und ist derzeit Praktikant beim Kulturverein „diyalog“ in Istanbul.

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