Rechtsextremismus

Die ,,Volksgemeinschaft‘‘ bröckelt

  • 05.12.2015, 18:25
Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen.

Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen. Mitherausgeber Andreas Hechler spricht mit Judith Goetz über rechte Wortergreifungen gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und den fehlenden Blick auf Opferperspektiven und Alternativen.

progress: Ihr schreibt in eurem Buch, dass „Neonazismus nur mit ganz bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten“ funktioniert. Was ist damit gemeint?
Andreas Hechler: N(eon)azistische Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind exklusiv; sie sind idealtypisch weiß, (seit vielen Generationen) deutsch, christlich oder verwurzelt in der germanisch- nordischen Mythologie, gesund, heterosexuell etc. Was also de facto hyperprivilegiert und nur auf eine kleine Minderheit überhaupt zutreffen kann, ist nach neonazistischer Lesart „normal“.

Darüber hinaus stehen diese Konstruktionen im Dienst einer größeren Sache. Hier greift unter anderem eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die Frauen und Männern innerhalb der „Volksgemeinschaft“ klar definierte Aufgaben und Orte zuteilt. Zu all dem gesellen sich autoritäre und diktatorische Züge, sowohl als strategisches Element zum Erreichen der politischen Ziele als auch ganz prinzipiell in der Vision, wie Gesellschaft organisiert sein soll. Das Zusammenspiel der genannten gesellschaftlichen Positionierungen, Verhaltensweisen und Einstellungsmuster produziert ganz bestimmte Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Anders formuliert: Es werden all diejenigen ausgeschlossen, die davon abweichen.

Stärker denn je machen sich Rechte gegen vermeintliche „Frühsexualisierung“ stark. Warum ist sie bedrohlich für den Rechtsextremismus und was kann eine Sexualerziehung im frühen Kindesalter zu einer geschlechterreflektierten Pädagogik gegen Rechts beisteuern?
„Frühsexualisierung“ ist ein schillernder Kampfbegriff, der nicht näher definiert wird. Eine altersangemessene Sexualerziehung trägt ganz maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu unterstützen und zu einer selbstbestimmten, verantwortlichen und gewaltfreien Sexualität zu befähigen. In dieser Hinsicht wirkt Sexualerziehung gegen Scham bzw. Beschämung, für Kinderrechte und für die freie Entscheidung, wen Menschen lieben wollen und mit wem und wie sie Sex haben möchten. Dagegen läuft das rechte Spektrum Sturm, mit den immer gleichen „Argumenten“ einer angeblich „natürlichen Scham“ und des „Elternrechts“. Zudem stören sie sich ganz maßgeblich daran, dass Kinder sich frei entwickeln können sollen, da das eben auch die Möglichkeit beinhaltet, schwul, lesbisch, bi-/pansexuell, queer, trans*geschlechtlich, nicht-binär, nicht-verheiratet, polyamourös oder was auch immer zu leben oder auch abzutreiben. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Möglichkeiten gleichberechtigt neben viele andere zu stellen, ist ein fundamentaler Angriff auf ein Verständnis, das Sexualität als „natürlich“ fasst und es darüber hinaus auf Fortpflanzung (der „Volksgemeinschaft“) verengt. Der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit löst sich durch das Offenlassen von allen geschlechtlichen und sexuellen Möglichkeiten im Nichts auf – die „Volksgemeinschaft“ beginnt zu bröckeln. Ein Beitrag behandelt die Modernisierung homofeindlicher Argumentationen. Was hat sich in aktuellen rechten Debatten gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geändert? Der angesprochene Artikel argumentiert, dass Homosexualität nicht mehr als Akt „wider die Natur“ diffamiert und die Existenz der anderen (homosexuellen usw.) Kulturen toleriert wird, solange keine „unethischen“ Vermischungen stattfinden – etwa in dem Sinne, dass Heterosexuelle mit Homosexualität „angesteckt“ werden könnten. Gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wird so zwar offiziell eine Daseinsberechtigung zugesprochen, jedoch nur dann, wenn sie sich in die etablierte „Kultur“ integrieren, inklusive dem faktischen Verbot, ihre Interessen auch wirksam auszudrücken.

In Anlehnung an die analytischen Perspektiven eines „Postfeminismus“ können wir vielleicht für bestimmte Spektren von einer „Post-Homofeindlichkeit“ sprechen. Diese bejaht Gleichstellung, hält sie aber für erreicht und warnt vor einer angeblichen Umkehrung ins Gegenteil. Diese gesellschaftlichen Akteur_innen kämpfen gegen ihren Macht- und Privilegienverlust.

Ihr betont, dass sich insbesondere die Sozialpädagogik bis heute an einer verengten Vorstellung deklassierter (männlicher) Jugendlicher orientiert. Welche Probleme ergeben sich durch die Vernachlässigung der Erwachsenen in geschlechterreflektierten pädagogischen Auseinandersetzungen mit Neonazismus?
Die Verengung betrifft nicht nur die Sozialpädagogik, sondern auch mediale Diskurse, institutionelles Handeln etc. Große Teile der Gesellschaft bleiben durch die Projektion des Neonazis als „jungmännlichdeklassiertgewalttätigausm Osten“ unberücksichtigt. Dabei weisen gegenwärtig europaweit Menschen ab dem sechzigsten Lebensjahr – und nicht etwa Jugendliche – die höchsten Zustimmungswerte zu neonazistischen Einstellungsmustern auf. Somit wird die zurzeit zahlenmäßig größte problematische Gruppe von vornherein aus dem Aufmerksamkeitsfeld ausgeblendet.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Kinder in aller Regel viel offener und weniger stereotypisierend als Erwachsene sind, wenn es um Geschlecht geht. Erwachsene geben Kindern und Jugendlichen – häufig unbewusst – ihre Vorstellungen von Geschlecht mit. Das trifft in besonderer Weise diejenigen, die sich nicht geschlechtskonform verhalten. Daher muss auch für Pädagog_innen eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Sozialisation und daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht gefördert werden.

Was ist eurer Meinung nach an täter_innenfokussierten Ansätzen in der Neonazismuspräventionsarbeit zu kritisieren?
In der Neonazismusprävention findet sich fast durchgehend ein Täter_innenfokus. Es ist zwar naheliegend, sich ,,den Neonazis“ – ihren Taten, Strukturen und Ideologien – zuzuwenden. Verloren gehen hingegen zwei andere Ebenen, die für eine Präventionsarbeit von großer Bedeutung sind: Einerseits fehlt der Blick auf Menschen, die von Neonazis real oder potenziell angegriffen werden, in täglicher Angst vor Bedrohungen leben und in ihrem Aktions- und Handlungsradius stark eingeschränkt sind. Wird ihre Perspektive nicht wahrgenommen, werden ihre Verletzungen unsichtbar gemacht mit der Folge, dass Diskriminierungen reproduziert und Gewöhnungseffekte in Kauf genommen werden. In einer solchen Neonazismusprävention ändert sich für die Diskriminierten überhaupt nichts. Ein erfolgreicher Kampf muss aber daran gemessen werden, ob sich real etwas für diskriminierte Gruppen verbessert hat. Andererseits fehlt der notwendige Blick auf Alternativen.

Wie könnten und sollten derartige Alternativen aussehen?
Hierzu gehört insbesondere die Stärkung nicht-neonazistischer, antifaschistischer, nicht- und antirassistischer sowie queerer Lebenswelten und Jugendkulturen. Auch das Einüben nicht-diskriminierender Verhaltensweisen, demokratischer Interessenvertretungen und Konfliktlösungsstrategien zählen dazu. Ohne diese bringt auch die beste Präventionsarbeit nichts. Neonazismusprävention ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses.

Zu einer erfolgreichen Neonazismusprävention gehören drei Ebenen und eine Fokusverschiebung: An erster Stelle stehen der Schutz, die Unterstützung und das Empowerment derjenigen, die von Neonazis real oder potenziell bedroht werden. An zweiter Stelle stehen der Aufbau und die Unterstützung von Alternativen zum Neonazismus. An dritter Stelle steht die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Neonazis und rechts orientierten Kindern und Jugendlichen.

Für die Pädagogik gilt es, für diese drei Ebenen zielgruppenspezifische Angebote bereitzustellen. Da die Arbeit mit Täter_innen sowohl der Schutzverpflichtung gegenüber Opfern und Diskriminierten als auch einer Stärkung von Alternativen zuwiderläuft, sollten nicht die selben Personen und Institutionen alle drei Ebenen gleichzeitig bespielen.

Pädagog_innen stecken in dem Dilemma, einerseits Ansprüche pädagogischer Unterstützung in der Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen zu verfolgen und andererseits wirkungsvolle Arbeit gegen rechtsextreme Orientierungen zu leisten. Wie könnte das gelöst werden?
Ich finde, dass Michaela Köttig in ihrem Buchbeitrag auf der Grundlage ihrer eigenen pädagogischen Arbeit in einer rechten Mädchenclique viele wertvolle Impulse liefert. Das Dilemma lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, aber es können Rahmenbedingungen für einen guten Umgang geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem ein guter Personalschlüssel, zeitlich fest eingeplante und bezahlte Reflexionsräume (Reflexion, Intervision, fachkundige Supervision), realistisch erfüllbare Anforderungen, finanzielle und räumliche Ressourcen, eine Ausbildung, in der die kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Neonazismus Teil des Curriculums ist, regelmäßige Fort- und Weiterbildungen, die Möglichkeit, bei Bedarf Hilfe von außen zu holen und angemessene Erholungszeiten.

Eine geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts kann derzeit nicht gut gemacht werden, wenn Ressourcen dafür schlicht nicht vorhanden sind. Das hat nichts mit persönlichem Scheitern zu tun; die Haltung mag noch so toll, das Wissen um Geschlecht und Neonazismus noch so profund, die Methodik ausgefeilt sein – wenn man* drei Jugendclubs parallel als einzige_r Sozialarbeiter_in betreuen muss, wie es in mehreren Bundesländern der Fall ist, wird all das nicht viel helfen. Es braucht bessere Arbeitsbedingungen für eine erfolgreiche Arbeit.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Polnische Nationalisten stören Vortrag im Wien Museum

  • 09.04.2015, 15:21

Bei einem Vortrag des polnischen Wissenschaftlers Zygmunt Bauman drangen polnische Neonazis in das Gebäude ein und skandierten Nazi-Parolen.

Bei einem Vortrag des polnischen Wissenschaftlers Zygmunt Bauman drangen polnische Neonazis in das Gebäude ein und skandierten Nazi-Parolen.

Der polnische Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman hielt am Mittwochabend einen Vortrag im Wien Museum zum Thema „Diasporic Terrorism“. Nach rund 20 Minuten tauchten etwa zehn Mitglieder der polnischen Gruppe „Wiedeńska Inicjatywa Narodowa“ (WIN), was so viel heißt wie „Wiener nationale Initiative“, auf. Hinter einer Glastür riefen sie „die Kommunisten lassen wir nicht leben, an die Helden werden wir uns erinnern - weg mit dem Kommunismus“. Diese Parolen sind in der polnischen Hooligan-Szene weit verbreitet und stehen nicht nur für Antikommunismus, sie symbolisieren unter anderem auch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Bauman warf den Unruhestiftern einen unbeeindruckten Blick zu und führte seinen Vortrag nach wenigen Sekunden fort. Wie auf dem Überwachungsvideo des Museums zu sehen ist, reagierte der Aufseher sofort und forderte die Männer auf, das Museum zu verlassen. Es ist nicht das erste Mal, dass Baumans Vorträge gestört wurden. So schrien 2013 etwa 100 Neonazis „Hau ab!” bei einer Vorlesung in Wrocław (Breslau).

Der polnische Jude Zygmunt Bauman wurde 1925 in Poznań (Pozen) geboren. Als Polen von Nazideutschland überfallen wurde, flüchtete er mit seiner Familie in die Sowjetunion. Fünf Jahre später nahm er an der Schlacht um Ostpommern teil und kehrte nach Polen zurück. Nach dem Krieg arbeitete er für den Sicherheitskorps des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit. Er soll dort Widerstandskämpfer aus den Reihen der Armia Krajowa (Polnische Heimatarmee) bekämpft und später als Geheimagent gearbeitet haben. Im März 1968 kam es zu einer antisemitischen Kampagne des kommunistischen Regimes, infolgedessen Bauman nach Israel flüchtete. Wenig später emigrierte er nach Großbritannien und erhielt einen Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds. Der heute 89-jährige Zygmunt Bauman behandelt totalitäre Regime in seinen Schriften und verfasste unter anderem „Modernity and the Holocaust“.

In einer schriftlichen Stellungnahme progress gegenüber bekannte sich die WIN zur Störaktion. Der Vereinsobmann schreibt: „Wir haben die Anweisungen der Sicherheitskräfte befolgt und haben die Räumlichkeiten des Wien Museums umgehend nach Aufforderung verlassen. “ Man dürfte, so WIN, Zygmunt Bauman keine Plattform bieten, vor allem „wenn das Ganze mit öffentlichen Geldern aus Österreich und Polen finanziert wird“.

Inzwischen soll der Verfassungsschutz bereits die Ermittlungen aufgenommen haben. Laut Polizeipressesprecher Patrick Maierhofer stehe die Polizei mit dem Wien Museum in Verbindung und nähme solche Vorfälle sehr ernst. Zygmunt Baumann wird im Laufe der Woche noch weitere Vorträge halten. Laut dem Internetportal Indymedia seien erneute Angriffe denkbar. Deshalb würden sich die „Veranstaltungen selbst sowie die jeweils naheliegenden Parks als Ausgangspunkte für einen tatkräftigen Antifaschismus“ anbieten.

 

Nathan Spasić studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien und ist als freier Journalist und Fotograf tätig.

A New War On Terror

  • 21.02.2015, 19:24

Die Wortwahl in Mediendebatten zu systematischen Gewaltverbrechen führt zu Desinformation und Hetze. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Terrorbegriffs.

Die Wortwahl in Mediendebatten zu systematischen Gewaltverbrechen führt zu Desinformation und Hetze. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Terrorbegriffs.

Am 10. Februar erschoss der „Anti-Theist“ Craig Stephen Hicks seine muslimischen Nachbar*innen Deah Shaddy Barakat, Yusor Mohammad Abu-Salha und Razan Mohammad Abu-Salha in Chapel Hill, North Carolina. Die großen Nachrichtenagenturen und -Sender ließen sich lange Zeit mit der Berichterstattung über den Anschlag; als sie endlich kam, wurde nicht etwa von rassistischen Morden oder einem rassistischen Terroranschlag gesprochen, sondern von einem „Parkplatzstreit“.

Diese „Vorsicht“ bei der Bezeichnungen von An- oder Übergriffen Weißer findet im obligatorischen Nachsatz „die Polizei schließt einen rassistischen Hintergrund aus“ mittlerweile fast schon eine Zuspitzung als Gag. Bittere Ironie ist auch, dass nun offenbar keine Atheisten (oder Autofahrer*innen) genötigt werden, sich von Craig „I hate religion“ Stephen Hicks zu distanzieren, aber das ist wohl eine andere Geschichte.

Ähnlich wie mit dem Rassismus gestaltet es sich mit dem offenbar nichtexistenten weißen Terrorismus: Selbst Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 vorwiegend Jugendliche in einem lange und akribisch geplanten Massaker erschoss, gilt als „Wahnsinniger“ und „Psychopath“. (Dass er unter anderem exakt wegen Terrorismus verurteilt wurde, ging in der Prozess-Berichterstattung unter.)

Ab wie vielen Menschen ist es eigentlich ein terroristischer Anschlag, wenn die Opfer Muslime oder Nicht-Weiße und der Täter ein Weißer ist? Die Antwort ist, dass es keine Antwort gibt. Der Begriff Terrorismus ist in den westlichen Medien und ihrer Gesellschaft nämlich ausschließlich für Gewalttaten Nicht-Weißer vorbehalten. Weiße Verbrechen werden somit individualisiert und pathologisiert, während den Verbrechen und der Gewalt Nicht-Weißer eine permanent systematische Komponente angehängt wird.

Zusätzlich zeigt die Tatsache, dass es keine objektiven Maßstäbe dafür gibt, wie sich ein Terroranschlag von einem Massaker oder einem Amoklauf abgrenzt, wie beliebig und deshalb gefährlich der Begriff ist. Eine der unzulänglichen Definitionen für „Terror“ ist „die systematische Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen zum erreichen politischer Ziele“. (Dass diese Definition sich übrigens manchmal auch mit jener für das Gewaltmonopol des Staates deckt, lassen wir mal außen vor.) Der breite Interpretationsspielraum dieser Definition wird nicht zufällig nie genutzt, um beispielsweise Gewalt und Verbrechen von Kolonialmächten als solche zu verurteilen; nein, der Terror ist trotz lateinischer Wurzel eine Erfindung der Post-9/11-Ära. Der US-amerikanische „War on Terror“ und seine gesellschaftlichen und innenpolitischen Auswirkungen schließlich haben gezeigt, dass der Terrorbegriff zum Begriffsterror geworden ist.

Harte Zeiten, harte Buchstaben: Das fast lautmalerische Zitterwort macht natürlich wunderbare Schlagzeilen und weltbedeutenden Journalismus, jedoch führt die beliebige (und an den falschen Orten inflationäre) Anwendung und das Verschwimmen der ohnehin schon schwammigen Anhaltspunkte nur zu Desinformation, Zementierung von Ungerechtigkeiten und Hetze gegen Nicht-Weiße. Wir brauchen einen neuen Kampf gegen den Terror: Nieder mit der rassistischen Begriffskultur.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

Die Ungleichheit bekämpfen

  • 05.02.2015, 08:00

Die kritische Rechtsextremismusforschung in Österreich hat ein Problem: Abseits des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands findet sie vorwiegend diskontinuierlich im Rahmen von Journalismus, Aktivismus und kaum beachteten studentischen Arbeiten statt.

Die kritische Rechtsextremismusforschung in Österreich hat ein Problem: Abseits des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands findet sie vorwiegend diskontinuierlich im Rahmen von Journalismus, Aktivismus und kaum beachteten studentischen Arbeiten statt. Das konstatierte die seit 2011 bestehende Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) bei der ersten öffentlichen Präsentation ihres Sammelbandes „Rechtsextremismus – Entwicklungen und Analysen“ im Dezember 2014. Nun liegt ein gut durchkomponiertes Buch vor, das versucht systematische Grundlagenarbeit zu leisten, etwa indem die Verwendung des Begriffes „Rechtsextremismus“ in Abgrenzung zu deutschen Debatten gerechtfertigt wird.

Eingeleitet wird der kleinformatige Band durchein inhaltlich leider mageres Vorwort von Julya Rabinowich. Dies soll jedoch nicht entmutigen: Die folgenden 270 Seiten bieten reichhaltige und diverse Beiträge. Der Stand der Rechtsextremismusforschung wird durch Bernhard Weidinger aufgearbeitet, ihre Geschlechtsblindheit wird von Judith Götz beleuchtet. Der sogenannten Islamophobieforschung diagnostiziert Carina Klammer „Kulturalisierung beziehungsweise Entpolitisierung [...] sozialer Ungleichheiten“. An konkreten Beispielen arbeiten sich weitere Beiträge ab, etwa jener von Matthias Falter, der den Rechtsextremismusbegriff des Verfassungsschutzes historisch verfolgt und theoretisch durchleuchtet. Heribert Schiedel widmet sich seinem Stammthema FPÖ und der Gastbeitrag von Lucius Teidelbaum analysiert die mediale Inszenierung von BettlerInnenfeindlichkeit. Abgerundet wird der Band durch eine Reflexion der antifaschistischen Proteste gegen den WKR- beziehungsweise Akademikerball sowie eine fragmentarische Chronik rechtsextremer Straftaten. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Wer sich mit Rechtsextremismus analytisch befasst oder sich aktiv gegen diesen einsetzt, sollte BesitzerIn dieses Sammelbandes sein.

Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (Wien): „Rechtsextremismus“
Entwicklungen und Analysen – Band 1
Mandelbaum Verlag, 272 Seiten
19,90 Euro
 

Eva Grigori ist Germanistin und studiert Soziale Arbeit an der FH St. Pölten.

Mariage pour tout le monde? Ehe für Alle?

  • 17.07.2014, 20:18

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

Anmerkung der Redaktion:
Wir bedaueren sehr, dass es zu Unklarheiten rund um dieses veröffentlichtes und dann wieder gelöschtes Interview gekommen ist. Diese Situation war die Folge von Meinungsverschiedenenheiten in der Online-Redaktion. Dafür, dass nicht sofort eine adäquate und professionelle Vorgangsweise im Umgang damit gefunden wurde, möchten wir uns entschuldigen.

Uns ist klar, dass sich über das betreffende Interview zumindest stellenweise streiten lässt. Es spiegelt auch nicht unbedingt die (durchaus heterogenen) Meinungen der Redaktion und der ÖH wider, wie Artikel und insbesondere Interviews allgemein nicht immer die Meinung der ÖH widerspiegeln. In folgendem Punkt sind wir uns allerdings einig: Wir trauen unseren LeserInnen zu, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können. Sie können und sollen selbst entscheiden, ob sie die Positionen der Interviewten teilen oder nicht.

Wir werden organisatorische Konsequenzen ziehen, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden. Im progress muss Platz für Meinungsvielfalt, kritische Debatten und konstruktiven Dialog sein.

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

progress online: Wann begannen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um die "mariage pour tous" in Frankreich und wie entwickelten sie sich?

Kunstreich und Naber: Beim Amtsantritt der Regierung Hollande 2012 hatten viele Linke und Linksliberale in Frankreich das Gefühl, dass sich alle linken Essentials in der Anpassung an die Mitte in Luft aufgelöst hatten und dass als einziges genuin linkes Projekt im Vergleich zur vorangegangenen Sarkozy-Regierung die „mariage pour tous“ verblieben war. Dieses Gesetzesprojekt bekam damit wohl für Befürworter wie Gegner der sozialdemokratischen Regierung einen starken Symbolcharakter. Daraus allein aber lässt sich die Massenmobilisierung gegen dieses Gesetz nicht erklären. Vielmehr scheint es uns so zu sein, dass mit diesem Thema die Mehrheit des rechten Spektrums endlich „ihr“ Thema gefunden hatte, das an symbolischer Kraft dem Antirassismus und Antikolonialismus der Linken gleichkommt. Es sollte unterstrichen werden, dass es bürgerliche Rechte gibt, auch innerhalb von Sarkozys UMP, die diese Gegnerschaft zur „mariage pour tous“ nicht teilen. Aber diese sind aus taktisch-politischen Gründen bei der Verurteilung dieser Massenbewegung ähnlich zaghaft wie israelfreundliche Sozialdemokraten bei der Kritik des linken Antizionismus. Und daneben geht die Begeisterung für den Hass auf die „loi Taubira“, das Gesetz zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, das nach Hollandes Justizministerin Christiane Taubira benannt ist, weit ins bürgerliche Lager hinein. Die „manif pour tous“ – zu deutsch: Demo für alle –  die Aktionsbewegung, die 2013 in Frankreich den Widerstand gegen die „Ehe für Alle“ organisiert hat ist zugleich ein Klima der Enthemmung entstanden, in dem zum einen die Gewalt gegen Homosexuelle wieder hoffähig geworden ist und zum anderen ein gewisses rechtes Spektrum sich auf einmal ermutigt fühlt, sich vom linken ‚Joch des Antirassismus’ zu befreien – indem sie die schwarze Christiane Taubira mit Bananenschalen bewerfen und dabei die „quenelle“-Geste des antisemitischen und rechtsextremen Komikers Dieudonné zeigen, eine neue Variante des Hitlergrußes. Damit wird dann auch der Haken geschlagen, der die politisch rechte Identität dieser Bewegung wieder auflöst: Die „mariage pour tous“ war gewissermaßen nur der Anlass, das bürgerliche Lager, das mit Antirassismus, Antikolonialismus und Antizionismus in den letzten Jahren in der Mehrheit nie so recht zu locken war, in eine faschistische Massenbewegung einzugemeinden. Das ist geglückt.

Wie entstand die die Gegenbewegung zur "mariage pour tous", was sind ihre Besonderheiten und aus welchen Persönlichkeiten setzt sie sich zusammen?

Losgetreten hat die Bewegung Virginie Tellenne, die unter dem Namen Frigide Barjot in Frankreich als Komikerin bekannt ist. Sie gehört zu einem Spektrum, das zwischen rechtsextrem und faschistisch changiert, aber bislang sein Milieu in den verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen antibürgerlicher Provokation gefunden hatte, die landläufig eher als ‚links’ angesehen wurde, ohne dass man sich genauer angesehen hätte, was da verhandelt wurde. In den 2000ern hatte Barjot ihr katholisches Coming Out, während sie sich zuvor als Touristin in der schwulen Sub von Paris verlustiert hatte. Mit ihrer Bewegung der „Manif pour tous“ brachte sie dann aber mehr ins Rollen, als sie selbst wahrscheinlich je zu hoffen gewagt hatte. In Gestalt des „Französischen Frühlings“ wuchs ihr ein von Béatrice Bourges geführter, offen faschistischer Flügel als Konkurrent heran, der sie inzwischen an Popularität überholt hat und effektiver als sie die Verschmelzung von Links und Rechts besorgt.

Womit wird gegen das Recht Aller auf Ehe argumentiert? Kann man Analogien zu anderen regressiven Ideologien entdecken?

Das ist schwer zu sagen, denn im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht um Argumente, sondern um Glaubensbekundungen: etwa für den natürlichen Geschlechtsunterschied, für die Notwendigkeit von Mama und Papa, für die Natürlichkeit der Familie, der Abstammung und des Zustandekommens des Lebens ... Der psychologische Hintergrund ist unseres Erachtens, dass viele Menschen auf einmal merken, dass sie sexuelle Minderheiten brauchen, um auf sie herabblicken zu können, weil die Herrschaftsverhältnisse anders nicht zu ertragen sind. Deswegen werden folglich in der Begründung der Ablehnung der „mariage pour tous“ diese Verhältnisse affirmiert und als Garant alles wahrhaft Menschlichen beschworen. Das erinnert an die arabische Bevölkerung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren im Mandatsgebiet Palästina Pogrome gegen Juden veranstalteten und dabei die Parole skandierten: „Die Juden sind unsere Hunde!“ Sie konnten und wollten nicht akzeptieren, dass die Juden nicht länger ihre Hunde sein würden und das zionistische Projekt ihnen die Möglichkeit ihrer eigenen Emanzipation vor Augen führte.

 

Wie ist die allgemeine Rechtslage für Homosexuelle in Frankreich momentan?

Homosexualität wurde im Zuge der Revolution in Frankreich bereits 1791 entkriminalisiert. Im 19. Jahrhundert wurde Homosexualität im Zuge der Restauration nicht wieder verboten, was Frankreich zu einem Asylland für verfolgte Homosexuelle machte – der bekannteste Asylbewerber war Oscar Wilde, der nach seiner Haftentlassung 1897 nach Paris ging. Seit 1985 gibt es eine Antidiskriminierungsgesetzgebung und seit 1999 den Pacte civil de solidarité, kurz PACS, eine Art Zivilehe, die zwischen beliebigen Menschen geschlossen werden kann. Galt der PACS zunächst als eine Art eingetragene Partnerschaft, ist er seit einigen Jahren vor allem für heterosexuelle Paare eine Alternative zur Ehe geworden, weil sie vertragliche Regelungen erlaubt, die in der Ehe nicht vorgesehen sind, und leichter zu beenden ist. Mit der Einführung der Ehe für alle, inklusive des Adoptionsrechts, im Frühjahr 2013 hat Frankreich sich dem europäischen Mainstream – mit Ausnahme der deutschsprachigen Länder – angeglichen.

Woraus speist sich die spezielle Ablehnung der Homosexualität bzw. des Rechts homosexueller Paare auf Heirat seitens rechter Organisationen in Frankreich? Was für Positionen hat die Linke in Frankreich hierbei?

Frankreich ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz Entkriminalisierung das Ressentiment gegen die Homosexualität halten kann. Solange die Homosexuellen, wie die Juden im Übrigen auch, die Plätze einnehmen, die ihnen zugewiesen werden, können sie damit rechnen, zu überleben und toleriert zu werden. Dafür gibt die Literatur von Marcel Proust ein beredtes Beispiel. Im Unterschied zu deutschen und österreichischen Nazis sind französische Faschisten allerdings nicht an sich homophob: Sie dulden die Homosexualität als Markenzeichen eines intellektuellen Grand-Seigneurs, der sich über Klassenschranken hinwegsetzt und sich zu Kommunismus und Faschismus gleichermaßen bekennen kann, wie ihn etwa der Schriftsteller André Gide verkörperte. Außerdem gibt es die Fraktion der katholischen extremen Rechten und die Überbleibsel des Monarchismus, die klassische konterrevolutionäre Gegenaufklärung, die die Entkriminalisierung der Homosexualität auch nach über zweihundert Jahren noch bedauern. Sie sind nicht mit den Faschisten zu verwechseln – nicht wenige von ihnen kämpften gegen die deutsche Besatzung –, ihre Gemeinsamkeit liegt jedoch darin, dass sie die Homosexualität straffrei im übertragenen Sinn nur dem Adel zugestehen wollen. In diesem Sinne argumentieren manche Intellektuelle gegen die „mariage pour tous“ mit dem Verweis auf die großen homosexuellen Dichterfürsten, was aber in dem Moment albern wird, wenn man sich auf Amerikaner wie den Dichter Walt Whitman bezieht, der eine Poetik der Individualität in der Gleichheit und der Demokratie geschaffen hat.

Eine Mehrheit der Linken hat in französisch- republikanischer Tradition die „mariage pour tous“ unterstützt. Auch linksradikale Gruppierungen, wie die verschiedenen trotzkistischen Parteien, haben sich angesichts der wachsenden rechten Bewegung schließlich für die Ehe für alle ausgesprochen. Wobei es nie eine Massenbewegung für die Ehe für alle gegeben hat – sie ist, wie in anderen europäischen Staaten und den USA, das Ergebnis des jahrzehntelangen Ringens einer klugen Lobby. Die Demonstrationen für die „mariage pour toues“ waren eine Reaktion auf die „Manif pour tous“ und die mit ihr einhergehenden Angriffe auf Homosexuelle und ihre Treffpunkte.

Daneben gibt es aber noch jene Linke, die das Rechtsinstitut der Ehe für überholt hält und nicht verstehen kann, was der Staat in privaten Beziehungen zu suchen hat. Mit ihrem Ideal der offenen Zweierbeziehung perpetuieren sie die Illusion der autonomen Linken vom kollektiven Leben jenseits von Staat und Gesellschaft – die Ideologie des Freiraums. Für sie gilt, was der neokonservative Publizist Alain Finkielkraut, der selbst die Ehe für alle ablehnt, vor kurzem in einer Fernsehsendung im Hinblick auf die liberalen Kritiker des vom französischen Innenminister Manuel Valls durchgesetzten Verbots der Auftritte des Nazi-Komikers Dieudonné diagnostizierte: „Sie wünschen sich einen Rechtsstaat ohne Staat und eine Justiz ohne Schwert.“

 

„Es war wie eine Mischung aus der Schachnovelle und dem Prozess“

  • 11.07.2014, 17:20

Ein Lehrstück der Repression: Gregor S. schildert seine Festnahme bei #blockit, Haft und all jenes, was (auch friedliche) Demonstrant*innen in Wien zu erwarten haben

Ein Lehrstück der Repression: Gregor S. schildert seine Festnahme bei #blockit, Haft und all jenes, was (auch friedliche) Demonstrant*innen in Wien zu erwarten haben

Am 17. Mai marschierten etwa 100 internationale Mitglieder einer jungen rechten Bewegung durch Wien. Sie nennen sich „die Identitären“, sorgen sich um die ethno-kulturelle Reinheit ihrer Nationen und schwingen gelb-schwarze Fahnen. Mit Slogans wie: „More border, more nation, stop immigration!“ wollten sie die Wiener Mariahilferstraße hinunter ziehen.

Der Verein „Offensive gegen Rechts“ rief in Folge zu einer Gegendemonstration auf. progress online berichtete in der Fotostrecke Kampf um die Straßen Wiens.

200 der ungefähr 400 antifaschistischen Gegendemonstrant*innen haben nun Anklagen zu befürchten. Darunter auch Gregor S*.

Der junge Mann aus Wien war bei der Demonstration gegen die neuen Rechten dabei, weil er nicht mitansehen wollte, „wie im Jahre 2014 Faschisten ungehindert mit ihren Parolen durch Wien schreiten“. Er beobachtete die Festnahme einer Frau, die behauptete, schwanger zu sein und um die sich später auch das Gerücht verbreitete, sie hätte wegen Polizeigewalt eine Fehlgeburt gehabt. Gregor S. war auch dabei, als die insgesamt 230,- € Sachschaden durch die Gegendemonstration entstanden (Anmerkung: Der Sachschaden wurde später von der Polizei auf 170,- € revidiert). Er schildert progress gegenüber den Ablauf und beschreibt seine Festnahme und Haft im Rahmen der Gegendemonstrationen, die unter dem Namen und Hashtag #blockit bekannt wurden.

progress online: Herr S., sind Sie gewaltbereit?

Gregor S.: Ich verstehe die Frage nicht. Was bedeutet denn gewaltbereit überhaupt? Eine Person ist entweder gewalttätig oder eben nicht. Dieser absolut schwammige Begriff der „Gewaltbereitschaft“ ermöglicht nur Angstmacherei und Hetze.

Festgenommen wurden Sie jedenfalls, also hat die Polizei Sie als gefährlich eingestuft.

Ich bin ein durchschnittlicher Demonstrationsteilnehmer, der einfach gegen Faschisten auf die Straße gehen wollte.

Gehören Sie zu einer Szene? Anarchos, Punks? Bewegen Sie sich in einem dem Verfassungsschutz bekannten Milieu?

Nicht, dass ich wüsste.

Können Sie die Ereignisse rund um Ihre Festnahme schildern? Wie sind Sie überhaupt im Douglas-Geschäft, wo der Sachschaden entstanden ist, gelandet?

Gegen Ende der Demonstration hieß es, dass wir zum Rathausplatz gehen. Die Polizei hatte angefangen, einzelne Gruppen einzukesseln bzw. ihnen nachzulaufen – so landeten wir in der Josefstädterstraße. Hinter uns war ein ziemlich großer Polizeitrupp, der das Pfefferspray schon in der Hand bereit hielt, also rannten wir weiter.

Wurden irgendwelche Dinge nach der Polizei geworfen? Diese in irgendeiner Form angegriffen?

Nein, wir liefen nur davon. Jemand schmiss dabei hinter sich ein Absperrgitter um, um die Polizei-Gruppe zu verlangsamen. Das war’s dann aber auch.

Was passierte weiter in der Josefstädterstraße?

Aus der anderen Richtung kam uns ein weiterer Trupp entgegen, wir waren also umzingelt. Daraufhin liefen ungefähr 30 Leute in das Douglas-Geschäft in der Nähe. Die Polizei hat uns quasi hineingetrieben – wir hatten Angst vor dem Pfefferspray. Es gab unter den Demonstrant*innen in dieser Situation Panik. Dabei ist ein Ständer mit Sonderangeboten oder Ähnlichem im Geschäft umgefallen bzw. umgeworfen worden. Das ist, denke ich, der Grund, warum es gegen uns alle Verdacht auf Sachbeschädigung gab. 

Das waren also die 230€ Sachschaden? Ein Ständer in einer Drogerie?

Ja. Für eine Parfumerie ist das gar nicht mal so viel, ein paar Flaschen am Boden. Das war jedenfalls die Szene, die in den Medien als „Verwüstung eines Lokals in der Josefstädterstraße“ herumgereicht wurde.

Wie hat die Polizei die Lage unter Kontrolle gebracht?

Größtenteils durch Einschüchterung. Sie zerrten uns heraus und legten oder setzten uns auf den Gehsteig. Einem Demonstranten wurden sogar kurz Handschellen angelegt.

Wart ihr vermummt, geschützt?

Nein.

Wie viele Männer und wie viele Frauen waren unter den Festgenommenen aus der Parfumerie?

Ich habe nicht nachgezählt und kann mich daher nicht genau erinnern – es waren aber auf jeden Fall mehr Frauen als Männer. Die Polizei war übrigens ausschließlich männlich. Die Frau, von der es nachher hieß, sie hätte eine Fehlgeburt gehabt, war ebenfalls dabei. Ich beobachtete, wie es zum Konflikt zwischen dieser Frau und den Polizisten kam, als sie abgeführt werden sollte. Sie stand fünf Beamten gegenüber, die sie anbrüllten. Von der Seite kamen mehr Polizisten dazu, einer packte sie an der Schulter und riss sie um. Sie fiel bäuchlings auf den Boden und der Polizist landete auf ihr. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Frau und mehrere andere Demonstrant*innen versucht, der Polizei klarzumachen, dass sie schwanger sei.

Wie hat die Polizei auf diese Information reagiert?

Zunächst gar nicht. Nach einer Weile, als auch zwei andere Demonstrant*innen eine Panikattacke hatten – eine davon war 14 Jahre alt – rief die Polizei dann die Rettung.

Wie traten die Polizist*innen Ihnen und den anderen Teilnehmer*innen gegenüber auf?

Die Polizei war grundlos sehr aggressiv. Beschwerden oder eben Panikattacken belächelte sie. Die Demonstrant*innen wurden unnötig rau behandelt, die Polizisten wurden persönlich beleidigend. Sie brüllten uns ununterbrochen an. Chaoten, Zecken und Vandalen schimpfte uns etwa ein Polizist. Es schien mir, als würde er völlig durchdrehen und nur darauf warten, uns zusammenzuschlagen. Nachdem ich ihn bat, sich etwas zu beruhigen, wurde ich auf den Boden geworfen und weiter beleidigt: „Bleib unten, G’schissener!“

Was ist weiter passiert? Wie ging die Festnahme vor sich?

Männer und Frauen wurden zunächst getrennt. Personaldaten wurden aufgenommen, wir wurden durchsucht und man nahm uns alle persönlichen Gegenstände ab. Dann führten Polizisten die Menschen in kleinen Gruppen ab. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen in so ein Polizeiauto passen – jedenfalls gibt es in so einem Bus mehrere getrennte Abteile, in die die Demonstrant*innen einzeln eingesperrt werden.

Wie sieht es in diesen Zellen im Polizeiauto aus?

Sie sind ganz weiß und es gibt eine Überwachungskamera. Es gibt keine Gurte – eine Vollbremsung wäre sehr gefährlich. Es gibt auch keine Möglichkeit, sich festzuhalten, es ist ein ganz steriler kleiner Raum mit einer kleinen Bank. Genau so, wie es immer in den Filmen in aussieht, wenn vermeintlich Verrückte in eine Zelle kommen.

Wohin ging es mit dem Auto?

Man fuhr uns ins Anhaltezentrum Roßauer Lände. Dort wurden wieder alle einzeln herausgeführt. Ich wurde am längsten im Auto sitzen gelassen – vielleicht, weil ich darin herumgetrommelt und Lärm gemacht habe.

Was ist dann der konkrete Vorgang im Anhaltezentrum?

Zuerst gibt es eine Leibesvisitation in einer größeren Eingangshalle. Ich musste Hemd, Gürtel und Schuhe ausziehen, wurde genau abgetastet – das passierte immer durch einen Beamten in kleineren Kabinen. Dann wurde eine Liste meiner Besitztümer angefertigt, die ich unterschreiben musste. Interessanterweise wurde genau der Gegenstand, den sie mir als Waffe hätten auslegen können – eine recht große Glasflasche – nicht aufgeschrieben. Ich denke, sie haben einfach darauf vergessen. Danach wurde ich von zwei Beamten in den Zellentrakt gebracht und eingeschlossen.

Beschreiben Sie bitte Ihre Zelle.

Der kleine Raum war sehr hoch, gelb gestrichen und hell beleuchtet. Es gab ein Bett, ein vergittertes Fenster, einen Holztisch, ein Waschbecken und einen zerbrochenen Spiegel. Ein WC, das zuletzt vor ungefähr hundert Jahren geputzt wurde; das Wasser, das aus dem Hahn kam, war die ersten zehn Sekunden lang knallgelb. Die Tür war sehr massiv und aus Metall und hatte einen Schlitz, der nur von außen geöffnet werden konnte. Es gab auch eine Gegensprechanlage, die ich von innen nutzen konnte.

Wurde Ihnen irgendwann erklärt, warum Sie festgenommen und in eine Einzelzelle gebracht werden?

Nein. Ich schätze, dass sie zuerst die Einzelzellen füllten, bis keine mehr übrig waren und dann dazu übergingen, andere Zellen mit Demonstrant*innen zu belegen. Meine Rechtsbelehrung an dem Tag: „Sie wissen, dass sie das Recht haben, nicht auszusagen. Sie müssen nix sagen, aber Sie wissen eh, dass das schlecht wäre für Sie.“ Ich fragte mehrere Male, wieso ich festgenommen werde, bekam aber meistens keine Antwort. Erst am Weg zur Zelle sagte mir ein Beamter, dass es Verdacht auf Sachbeschädigung gäbe.

Was machten Sie in der Zelle?

Mir war sehr langweilig, weil es in der Zelle gar nichts zu tun gab und mir alles abgenommen wurde. Ich verschob dann das Bett, um draufzusteigen und aus dem Fenster heraus sehen zu können. Kurz darauf erschien zufällig ein Beamter mit einem medizinischen Fragebogen – es gab in der Zelle keine Kamera. Er fragte mich, was ich da mit ihrem Bundeseigentum aufführte und meinte, dass ich gefälligst runterkommen soll. Ich wurde noch zwei Mal kurz herausgeführt: Ein Arzt maß mir den Blutdruck und es wurden Fotos und Fingerabdrücke gemacht. Mittlerweile weiß ich, dass das mit den Fingerabdrücken wohl nicht einmal erlaubt gewesen wäre.

Woran dachten Sie zu dieser Zeit?

Ich habe nur versucht, nicht wahnsinnig zu werden. Ich grübelte darüber, was wohl passieren würde und ob ich noch am selben Tag heimgehen dürfte. Ich hatte noch nie Erfahrungen mit der Polizei gemacht und war auch sehr schockiert darüber, wie sie bei der Demonstration vorgegangen ist. Ich hatte das nicht erwartet. Ich dachte früher immer, dass Polizist*innen auch nur einfache Menschen seien, die ihren Beruf ausübten. Ich konnte den ganzen Polizeihass davor nicht nachvollziehen. Aber an diesem Tag realisierte ich einiges. Die Polizist*innen agierten willkürlich und wussten genau, dass sie sich alles leisten können. Ich hatte Angst. Ich bin die ganze Zeit nur auf und ab gegangen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war…

Hätten Sie nachfragen können?

Wahrscheinlich schon, aber die Polizisten auf der anderen Seite der Gegensprechanlage waren sehr unfreundlich. Ich fragte drei Mal, ob ich nun endlich meine gesetzlich für mich vorgesehenen Telefonate durchführen durfte: „Na, jetzt geht’s ned!“ Sie vertrösteten mich jedes Mal auf die Vernehmung, sagten mir aber nicht, wann diese stattfinden würde. Bei weiterem Nachfragen drohten sie mir damit, noch länger warten zu müssen.

Haben Sie dann im Endeffekt mit jemandem telefoniert? Ihren Eltern, Freund*innen, einem Anwalt?

Nach insgesamt 10 Stunden – das habe ich erst im Nachhinein errechnen können – wurde ich endlich vernommen. Das war kurz nach Mitternacht. Und bei der Vernahme wurde mir abermals deutlich klargemacht, dass einen Anwalt anzurufen die Prozedur verlängern würde: „Sie können jetzt schon telefonieren, aber wir müssen Sie dann wahrscheinlich etwas länger hier behalten…“

Also wurden Ihnen die Telefonate faktisch verweigert. Wie gestaltete sich die Vernahme sonst?

Ungefähr zu Mitternacht wurde ich aus der Zelle geführt. Ich war sehr müde, dehydriert und eingeschüchtert. Ich wurde geistig nicht fertig mit der Situation, ich war irgendwie nicht mehr richtig zurechnungsfähig. Ich kann mich gar nicht mehr wirklich an alles erinnern, ständig wollten irgendwelche Beamten und Formulare etwas von mir. Es war wie eine Mischung aus dem Prozess und der Schachnovelle. Ich habe dann bereitwillig Informationen herausgegeben, die ich wahrscheinlich nicht hätte teilen müssen. Aber ich wollte einfach, dass es endlich vorbei ist, ich war nicht in der Verfassung zu diskutieren. Ich habe der Polizei über die Demonstration dann ungefähr das erzählt, was ich jetzt Ihnen erzählt habe. Der Beamte hat das dann sehr langsam und mit vielen Rechtschreibfehlern für mich am Computer zusammengefasst. Ich wurde gefragt, ob ich „mir vor der Demo etwas eingeworfen“ hätte, weil ich derart gezittert habe. Ich hatte zu dem Zeitpunkt seit sicher mehr als 24 Stunden nichts gegessen. Um 00:45 konnte ich gehen, nachdem ich mir meine Sachen abgeholt hatte, auch die Glasflasche.

 

Gregor S. erhielt eine Anzeige wegen Sachbeschädigung, nach $125 StGB. Er wartet, wie viele am 4. Juni Festgenommenen, sehr lange auf eine Verständigung der Staatsanwaltschaft, ob es zu einem Verfahren kommen würde oder nicht. Nach fünf Monaten dann endlich die Nachricht: Die Ermittlungen gegen Gregor wurden wegen mangelnder Beweislage eingestellt.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien, twittert unter dem Namen @OljaAlvir und hat eine Facebookseite.

Die Mär vom rechten Heimchen

  • 20.06.2014, 11:55

Die meisten verbinden mit rechten Frauen Mutterschaft, Heimchen am Herd und die Unterordnung unter den Mann. Doch diese Klischees entsprechen nicht der Wahrheit. progress online hat mit der Politikwissenschaftlerin Judith Götz über Frauen in rechten und rechtsextremen Organisationen sowie über die gesellschaftliche Rolle von Frauen im Nationalsozialismus gesprochen.

Die meisten verbinden mit rechten Frauen Mutterschaft, Heimchen am Herd und die Unterordnung unter den Mann. Doch diese Klischees entsprechen nicht der Wahrheit. progress online hat mit der Politikwissenschaftlerin Judith Götz über Frauen in rechten und rechtsextremen Organisationen sowie über die gesellschaftliche Rolle von Frauen im Nationalsozialismus gesprochen. 

progress online: Mit der Rolle der Frau im Nationalsozialismus verbindet man vor allem Mutterschaft und den sogenannten „Dienst am deutschen Volk“. Welche Geschlechterordnung wurde in der NS-Ideologie propagiert?

Judith Götz: Im Nationalsozialismus wurde eine biologistische, klassisch dichotome Geschlechterordnung lanciert. Für Frauen wurde diese mit Attributen wie Opferbereitschaft, Treue, Selbstlosigkeit, Pflichterfüllung verknüpft und mit dem von den NationalsozialistInnen propagierten Mutterbild verbunden. Kurz nach der Machtergreifung wurde von diesen der Muttertag zu einem staatlichen Feiertag gemacht. Und mit der Einführung des Mutterkreuzes kurz nach Kriegsbeginn wurde auch eine eindeutige Politik forciert, um bestimmte Frauenbilder zu etablieren und zu pushen.

Diese Ideologie stand jedoch oftmals nicht in Bezug mit den gesellschaftlichen Realitäten. Denn durch den Arbeitskräftemangel, der durch die im Krieg eingezogenen Männer ausgelöst worden war, wurden viele Frauen in Arbeitsstrukturen eingebettet. Viele der sogenannten „arischen“ und nationalsozialistischen Frauen konnten damals aus der privaten Sphäre ausbrechen. Und sie haben dieses Ausbrechen als etwas Positives und Emanzipatorisches wahrgenommen. Die Frauen haben es auch als Gleichberechtigung empfunden, dass jeder Mann und jede Frau für das „größere Ziel“ gebraucht wurde. Das ist etwas, auf das sich bis heute rechte und rechtsextreme Frauen berufen.

Es kann also auch von einem rechten Feminismus gesprochen werden.

Es kann diesbezüglich ein rechter und rechtsextremer Feminismus konstatiert werden, in dem einerseits Themen aus der Frauenbewegung aufgenommen wurden und andererseits auch auf die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus Bezug genommen wird. Diese Rezeption ist mit der Aufwertung der Frauenrolle, dem Ausbruch aus dem Privaten und der Aufopferung für das höhere Ziel verbunden. Bestimmte Argumentationen gehen bei einzelnen Gruppen sogar so weit zu behaupten,  dass das Judentum das Patriarchat installiert hätte und dass die von jenen propagierte „nordische Rasse“ eine lange Tradition der Gleichberechtigung gehabt hätte. So kann an dieser Stelle, wie auch Rechtsextremismusforscherin Renate Bitzan meint, es kann von „sexismuskritischen Nationalistinnen“ gesprochen werden.

Was unterscheidet diese von linken Feministinnen?

Der Unterschied liegt darin, dass Sexismus oder Unterdrückung von Frauen bei rechten Frauen immer auf das vermeintlich Andere – wie beispielsweise - auf „andere Kulturkreise“ ausgelagert wird. Eine Bedrohung von sexualisierten und sexistischen Übergriffen wird ausschließlich auf ausländische Männer projiziert. Und die Diskriminierung und Unterdrückung in den eigenen Reihen wird komplett ausgespart, ignoriert und negiert. Eine Analyse von anderen Unterdrückungsmechanismen - wie Herkunft, Klasse oder körperliche Beeinträchtigung - wird von den rechten Feministinnen nicht miteinbezogen .

Die zwei rechten Politikerinnen Marine Le Pen und Alessandra Mussolini stammen aus bekannten rechten Familien. Wäre ein Aufstieg von Politikerinnen ohne einen derartigen familiären Background in rechten Parteien überhaupt möglich?

Prinzipiell ist geschlechtsunabhängig zu sagen, dass die familiäre Sozialisation ein Hauptgrund dafür ist, weshalb sich Menschen in rechten bzw. rechtsextremen Strukturen beteiligen. Die Erziehung und die Einordnung in Dominanzstrukturen werden bereits in der Kindheit eingeübt. Insofern finde ich es nicht verwunderlich, dass bekannte rechte bis rechtsextreme Frauen auch aus einschlägigen Familien kommen. Allerdings muss auch immer berücksichtigt werden, dass die Betonung des Einstiegs von Frauen in den Politbereich über Männer auch einer sexistischen Argumentationsweise zuspielt. Natürlich gibt es diese auch. Dennoch scheint es mir wichtig zu betonen, dass rechte Frauen aktive Trägerinnen menschenfeindlicher Gesinnungen sind. Ihr Engagement auf eine abgeleitete Position, die von Männern ausgeht, zu reduzieren, greift meiner Meinung nach zu kurz.

Ich wollte mit meiner Frage keinesfalls der sexistischen Argumentationsweise zuspielen, aber im Hinblick auf andere rechte bis rechtsextreme Parteien stellen Marine Le Pen und Alessandra Mussolini als Parteivorsitzende Ausnahmen dar.

Prinzipiell ist es schon so, dass mit der Höhe der Hierarchieebene der Frauenanteil bei rechten bis rechtsextremen Parteien abnimmt. Und es gibt natürlich weiterhin rechte bis rechtsextreme Frauen, die über Männer in politische Strukturen kommen. Es sind aber bei weitem nicht alle. Denn für Frauen gibt es auch unabhängig von Männern einen Gewinn sich in rechtsextremen Kreisen zu engagieren. Und das muss in der Diskussion auch anerkannt werden. Insofern denke ich, dass es auch für Frauen ohne einen familiären Background möglich ist, in rechten bis rechtsextremen Parteien einen Aufstieg zu machen, auch wenn es natürlich mit familiärer Unterstützung einfacher ist.

Worin liegt der erwähnte Gewinn für Frauen in rechten bis rechtsextremen politischen Organisationen?

Die Forschung hat bewiesen, dass Frauen sich in rechten bis rechtsextremen Spektren engagieren, da sie dadurch einen Machtgewinn durch Selbsterhöhung erzielen können. Diese Frauen betrachten sich als Teil einer rassistisch konstruierten Elite und können durch ihr Engagement ihre eigene Position in der Gesellschaft durch ihre Einbindung in Dominanzstrukturen aufwerten. Teilweise fungiert ihr Engagement auch als Ausgleich für die eigene Unterdrückung und die Absicherung von gesellschaftlichen Privilegien. Das bedeutet, dass eine Frau einerseits in der eigenen Gemeinschaft zwar unterdrückt, jedoch andererseits durch das rechte Engagement belohnt wird, indem diese Frauen eben andere unterdrücken können. Ein psychischer Gewinn ist für jene Frauen auch die Flucht vor Widersprüchlichkeiten, da rechtes bzw. rechtsextremes Gedankengut sehr oft einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Fragestellungen bietet. Und durch die klar hierarchischen Strukturen und Symboliken von rechten Organisationen können sie den widersprüchlichen Zumutungen der Gesellschaft entkommen.

NPD Aktivistin Maria Frank. Foto: apabiz Berlin

Haben rechte Frauen dieselben Vorurteile wie Männer?
Bei der Einstellungsebene sind Frauen genauso rassistisch, antisemitisch und nationalistisch wie Männer. Statistisch betrachtet waren jedoch Anfang der 1990er Jahre nur ein Drittel der rechten WählerInnen Frauen. Dieser Anteil ist seitdem beständig angestiegen. Heute liegen wir meistens bei knapp 50 Prozent rechten bis rechtsextremen Wählerinnen. Zuletzt bei der EU-Wahl stimmten jedoch wieder deutlich weniger Frauen für die FPÖ.  Aber auch auf allen anderen Hierarchieebenen ist ein Zuwachs von Frauen zu verzeichnen. Insofern würde ich den zuvor erwähnten Aufstieg von Frauen in rechten bis rechtsextremen Parteien – auch ohne den familiären Background einer Marine Le Pen oder Alessandra Mussolini – nicht ausschließen.

Womit hängt der Anstieg von Frauen in rechten bis rechtsextremen Organisationen zusammen?

Ich denke, dass dies durch das sich wandelnde gesellschaftliche Klima entstanden ist. Heute ist es kein Tabu mehr eine rechte bis rechtsextreme Partei zu wählen. Und ich denke auch, dass sich die Partizipationsfelder von Frauen in rechten und rechtsextremen Kreisen erweitert haben. Es ist nicht mehr so, dass es ausschließlich das „Heimchen am Herd“ ist, das in rechtsextremen Kreisen propagiert wird. Das wäre eine Homogenitätsunterstellung, die der Realität gar nicht mehr entspricht. Denn der Rechtsextremismus bietet den Frauen eine Vielfalt an Betätigungsfeldern. Vereinfacht gesagt: Rechte Frauen können sich heute dafür entscheiden eine Politkarriere anzustreben oder Hausfrau zu werden. Und das ist gerade eben auch in Zeiten von Wirtschaftskrise und zunehmender Ellbogenpolitik am Arbeitsmarkt für manche Frauen eine attraktive Alternative. Prinzipiell kann auch gesagt werden, dass je mehr Organisationen sich sozial oder karitativ betätigen, desto mehr Frauen lassen sich auch antreffen.

Welche Art von rechten „sozialen“ Organisationen gibt es?

Damit meine ich vor allem BürgerInneninitiativen, Elternschaftsvereine oder auch Vereine, die sich für sogenannte „Auslandsdeutsche“ – wie beispielsweise die Sudetendeutschen – einsetzen. Diese bieten für rechte Frauen, eine Möglichkeit, sich politisch zu engagieren.  

Das bedeutet, dass rechte Frauen sich eine Bandbreite an Betätigungsfeldern aussuchen können,  von Skinheadorganisationen, über Mädelschaften bis hin zu rechten Parteien?

Es gibt viele verschiedene Spektren des Neonazismus und Rechtsextremismus. Und in all diesen Spektren sind Frauen aktiv. Natürlich ist eine FPÖ-Parteikarriere etwas ganz Anderes als sich in einer BürgerInneninitative zu engagieren oder etwa rechtsextremes Gedankengut in Elternvereinen umzusetzen. In Bezug auf Burschen- und Mädelschaften muss erwähnt werden, dass in diesen Organisationen die Geschlechtersegregation und das biologistische Ordnungsprinzip sicher am Stärksten zu Tage tritt. Denn deutschnationale Burschenschaften sind nach wie vor exklusive Männerbünde, in denen Frauen nur an bestimmten Tagen bei Veranstaltungen auf die Bude kommen dürfen. In den Mädelschaften gilt selbiges nur anders rum. Interessant ist auch die Tatsache, dass man bei deutschnationalen Burschenschaften von sinkenden Mitgliederzahlen und mangelndem Nachwuchs spricht, während die Mädelschaften an Zulauf gewinnen. In Österreich haben sich in den letzten Jahren drei neue Mädelschaften gegründet: die „Pennale Mädelschaft Sigrid zu Wien“, die „Akademische Mädelschaft Iduna zu Linz“ und die „Mädelschaft Nike“ in Wien. 

Kommt es nicht zu Konflikten zwischen dem Frauenengagement und dem ebenso in der politisch Rechten verankerten Antifeminismus? 

Das Verhältnis der beiden Positionen zueinander kann als ambivalent bezeichnet werden. Auf der einen Seite existiert in der Rechten ein klar antifeministisches Engagement und auf der anderen Seite gibt es auch Adaptionen und Bezugnahmen auf feministische Themen. Und es existieren innerhalb des rechten Politspektrums unterschiedliche Auslegungen davon. Dennoch würde ich meinen, dass durch die Bank Gendermainstreaming, Quoten und sämtliche Bevorzugungen von Frauen komplett abgelehnt werden. In rechtsextremen Kreisen gilt in Bezug auf die Geschlechter noch immer „gleichwertig aber nicht gleichartig“.

Foto: apabiz Berlin

Beim laufenden Gerichtsprozess rund um den NSU (Nationalsozialistischen Untergrunds) steht die rechtsextreme Terroristin Beate Zschäpe im Mittelpunkt des medialen Interesses. Wie ist deine Meinung zu der Berichterstattung über Zschäpe?

In Bezug auf Beate Zschäpe ist zu beobachten, dass sie seitens der Medien einerseits extrem verharmlost und andererseits sexualisiert wird. Die „Bild“ berichtete beispielsweise über die Kleidung von Beate Zschäpe während des Prozesses und titelte „Wo hat die Zschäpe ihre Klamotten her?“ Und auch in anderen deutschen Zeitungen – abseits des Boulevards - wurde sie nur auf reproduktive Tätigkeiten wie beispielsweise Hausarbeit reduziert. Ihr politisches Engagement wurde außen vor gelassen. Das ist ein Diskurs, der die Thematisierung von rechten bis rechtsextremen Frauen medial immer wieder begleitet hat. Es wird seitens der Medien versucht, sensationsorientierte Berichte zu formulieren, um vermeintliche Tabus zu brechen, obwohl die Berichterstattung überhaupt nicht mit den Realitäten im Rechtsextremismus übereinstimmt.

Diese Problematik kann man auch in Österreich in der Berichterstattung über Mädelschaften beobachten. Anfang der 2000er Jahre hatte es im „Kurier“ einen Artikel gegeben, bei dem die Rede davon war, dass die Frauen „statt Säbeln Designertaschen tragen würden“ und dass diese „Sekt statt Bier trinken würden“ und an anderen Stellen lassen sich spitze Formulierungen finden wie: „Die einzigen spitzen Gegenstände, die sie in die Hand nehmen sind Messer und Stricknadeln“ dazu. In diesen Formulierungen wird der verharmlosende, sexistische und belustigende Umgang mit diesen Frauen deutlich. Als Trägerinnen von menschenverachtendem Gedankengut werden sie jedoch nicht ernst genommen.

Birgt diese öffentliche Verharmlosung von rechten Frauen nicht eine Gefahr in sich?

Frauen werden von rechtsextremen Organisationen oftmals auch gezielt für bestimmte Tätigkeiten eingesetzt, weil diese genau wissen, dass rechte Frauen in der Öffentlichkeit nicht ernst genommen werden. Dies ist beispielsweise bei Anti-Antifa-Recherchen der Fall. Denn Frauen fallen in linken Kreisen nicht so auf. Oder bei informelleren Strukturen wie Elternvereinigungen und Kindertagesstätten, die in Deutschland bewusst von rechten Frauen unterwandert werden. Zuerst nehmen die Frauen über die Kinder Kontakt zu anderen Familien auf und dann werden die neuen Bekannten zu einem Dorffest eingeladen, dass sich dann beispielsweise als NPD-Fest herausstellt.

Bis heute wird von linken Feministinnen die Rolle von Frauen im NS verharmlost. In deren Perspektive stellen Frauen als gesamte Geschlechterkategorie Opfer des sogenannten „patriarchalen männlichen Systems NS“ dar. Ist das nicht eine sehr vereinfachende Sicht?

Es ist auf jeden Fall vereinfachend. Allerdings muss man sagen, dass es in der feministischen Diskussion auch drei Phasen gegeben hat. In den 1970ern herrschte das Bild vor, dass die Frauen als Ganzes ein Opfer des patriarchalen Systems Nationalsozialismus gewesen wären und Frauen in ihrer Gesamtheit vom NS-System unterdrückt worden sind. Ende der 1980er Jahre hat Christina Thürmer-Rohr den Begriff der Mittäterinnenschaft eingeführt, womit damals gemeint war, dass Frauen sich an dem industriellen Massenmord von Männern zumindest mitbeteiligt hätten. Bei dieser Sichtweise wurden Frauen jedoch nicht als Täterinnen betrachtet. Real waren Frauen jedoch in den unterschiedlichsten Bereichen des Nationalsozialismus beteiligt. Beispielsweise in der NS-Bürokratie, die einen wichtigen Beitrag zum industriell betriebenen Massen morden geliefert hat, jedoch oftmals von der verharmlosenden Sicht begleitet wird, dass Frauen nur als Stenographinnen und Sekretärinnen tätig waren und in Büros gesessen sind. Ab Ende der 1980er Jahre wurden Frauen sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Frauenforschung und damit verbunden in der feministischen Diskussion als Täterinnen anerkannt und entsprechende Schlüsse daraus gezogen.

Welche Rolle spielten Frauen als TäterInnen in der Shoah?

Die nationalsozialistischen Frauen waren auch an der Vernichtungsmaschinerie und dem Vernichtungsprozess beteiligt. Und sie haben natürlich auch ganz genau gewusst, was in den KZs passiert ist und waren wichtige Rädchen im Getriebe des Systems NS. Etwa 10 Prozent des KZ-Personals waren Frauen. Das reicht von Aufseherinnen – insbesondere auch in den Frauen-KZs – bis hin zu SS-Ehefrauen, die in den Lagern mit ihren Männern gewohnt haben und nicht selten KZ-Häftlinge als HaussklavInnen hatten. Nebenbei haben sich diese Frauen auch an dem geraubten Gut bereichert und sich eine gesellschaftliche Besserstellung durch den Aufstieg ihrer Männer erhofft. Aber auch in den Polizeiregimentern, im Sicherheitsdienst und in der Ghettoverwaltung waren Frauen aktiv. Selbst innerhalb der Waffen-SS hatte es eigene SS-Frauenkorps gegeben, diese Frauen waren überzeugte Anhängerinnen der NS-Ideologie.

SS-Helferinnen. Foto: Wikipedia

Wir erleben derzeit einen Aufstieg von rechten Parteien und Organisationen in Europa. Was kann präventiv in der Jugendarbeit mit jungen Frauen getan werden, um sie über rechtsextreme Organisationen aufzuklären?

Das grundlegende Problem an der Präventionsarbeit ist jenes, dass diese vorrangig auf männliche Jugendliche fokussiert ist. Ein Großteil der Präventionsarbeit passiert an öffentlichen Plätzen, wie Parks und Jugendtreffpunkten. Nach wie vor sind bei diesen Treffpunkten primär männliche Jugendliche präsent. Die zweite große Schnittstelle ist Gefängnisarbeit, da es viele Jugendliche gibt, die wegen NS-Wiederbetätigung und Straftaten im Gefängnis sitzen. Dabei wird kaum darüber reflektiert, dass an diesen Orten deutlich weniger junge Frauen anzutreffen sind. Es müssten also Konzepte entwickelt werden junge Frauen zu erreichen.

Da stellt sich in Österreich natürlich die Schwierigkeit, dass es hierzulande kaum Präventionsarbeit gibt. Anders als in Deutschland gibt es abseits des DÖWs keine Anlaufstellen, die beispielsweise in Schulen eingeladen werden können um Sensibilisierungs-Workshops durchzuführen. Die Präventionsarbeit beschränkt sich nicht selten auf den Besuch von KZ-Gedenkstätten. Und es findet oftmals nur eine historisierende Auseinandersetzung mit der Thematik statt. Meiner Meinung nach sollte nicht erst dort angesetzt werden, wo rechtsextreme Straftaten stattfinden, sondern dort wo menschenfeindliche Ideologien gesellschaftliches Zusammenleben beeinflussen. Es müsste vor allem in den Schulen sowie in der Jugendarbeit angesetzt werden. Zudem müsste beides – sowohl ein geschlechterreflektierter Blick, als auch eine verstärkte Sensibilität für rechtsextremes Gedankengut -  gleichermaßen in einen solchen Ansatz integriert werden. Gerade der Blick auf Männlichkeits- wie auch Weiblichkeitskonstruktionen im Rechtsextremismus sowie ihre Funktionsweisen könnte dabei ein wichtiges Instrument im Kampf dagegen sein.

 

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaft im Doktorat an der Uni Wien.

Demonstration gegen das "Fest der Freiheit" - eine Fotostrecke

  • 05.06.2014, 16:13

Christopher Glanzl war für progress online auf der Demonstration gegen das von Burschenschaften organisierte "Fest der Freiheit" am 4.6.2014. Seine Eindrücke in Bildern:

 

Christopher Glanzl war für progress online auf der Demonstration gegen das von Burschenschaften organisierte "Fest der Freiheit" am 4.6.2014. Seine Eindrücke in Bildern:

Die Offensive gegen Rechts rief dazu auf, sich gegen das von Burschenschaften organisierte „Fest der Freieheit“ zu stellen.

 

Schon lang vor Demonstrationsbeginn gab es in der Innenstadt Kundgebungen, die Polizei war im Straßenbild der Stadt...

 

...mehr als nur präsent und schuf eine zum Teil absurde Szenerie.

 

Startpunkt der Gegendemonstration war um 17:00 Uhr vor der Uni Wien.

 

Ca. 2000 Menschen versammelten sich dort, um ein Zeichen gegen Faschismus zu setzen.

 

Redebeiträge wiesen auf den Zusammenhang zwischen Armut und dem Zulauf rechter Gruppierungen hin.

 

Die Polizei blieb diesmal ruhig und war mehr durch ihre schiere Präsenz als durch ihren Einsatz im Weg.

 

Auch der KZ-Überlebende Rudolf Gelbard marschierte mit, um mit seinem Schicksal auf die Gefahren rechter Umtriebe hinzuweisen.

 

PassantInnen sahen eine laute und friedvolle Demonstration.

 

„Siamo tutti antifascisti“ oder „Lieber ein Abszess am After als ein deutscher Burschenschafter“ wurden dabei skandiert.

 

Die Clown-Army trieb ihr Unwesen und malte Herzen um Polizisten...

 

... und lockerten die ohnehin gute Stimmung noch weiter auf.

 

- ohne Worte -

 

Auch in der Luft war die Exekutive stark hörbar unterwegs.

 

Immer wieder blieb der Demonstrationszug für Redebeiträge stehen und erlaubte Stehpausen.

 

Gegen 20:00 Uhr erreichte die Demo ihren Endpunkt vor der Universität Wien.

 

Im Anschluss kam es noch zu unschönen Szenen in der U-Bahnstation Schottentor als die Polizei dort eine Festnahme durchführte.

 

Ein Mann wurde tumultartig festgenommen und dabei auch verletzt.

 

Draußen wurde es ruhiger, der Zugang zu den Burschenschaftern war von der Polizei massiv gesperrt.

 

- ohne Worte -

Querfront für den Frieden: Österreich schließt sich an

  • 02.06.2014, 12:00

Die neue Friedensbewegung wächst so schnell wie sie gefährlich ist. Unter dem Label „Montagsmahnwachen für den Frieden“ versammeln sich allmontäglich friedensbewegte, rechtsesoterische, verschwörungstheoretische und antisemitische Ideolog_innen, Nazis und Rechtsextreme auf deutschen und österreichischen Straßen. Eine Reportage von Nikolai Schreiter.

Die neue Friedensbewegung wächst so schnell wie sie gefährlich ist. Unter dem Label „Montagsmahnwachen für den Frieden“ versammeln sich allmontäglich friedensbewegte, rechtsesoterische, verschwörungstheoretische und antisemitische Ideolog_innen, Nazis und Rechtsextreme auf deutschen und österreichischen Straßen. Eine Reportage von Nikolai Schreiter.

Montags erfährt man, wer schuld ist. Am Ersten und am Zweiten Weltkrieg, an verhungerten Kindern und vielleicht bald an amerikanischem Chlorhühnchen auf deutschem Boden - und österreichischem. Das Interesse an den einfachen Antworten auf die Schuldfrage ist groß, die Veranstaltungen in Deutschland sind gut besucht. Und auch in Österreich wächst die selbsternannte Friedensbewegung schnell.

Im März haben die „Montagsmahnwachen für den Frieden“ ihren Anfang in Berlin genommen. Ihr dortiger Organisator ist Lars Mährholz. Er hat sich nach eigener Aussage „Anfang des Jahres ein bisschen intensiver mit der Geschichte beschäftigt und mit dem Finanzsystem“. Dann hat er zu einer „Mahnwache für den Frieden auf der Welt und in Europa, für eine ehrliche Presse und gegen die tödliche Politik der Federal Reserve, der amerikanischen Notenbank, einer privaten Bank“ auf Facebook eingeladen. Mährholz muss das Federal Reserve System meinen, dessen wichtigstes Gremium, das Board of Governors, vom amerikanischen Präsidenten ernannt und vom Senat bestätigt wird, das der Gesetzgebung durch den Kongress unterliegt und also nicht privat ist. Aber egal: „Die“ FED nämlich sei „der Anfang allen Übels, mit dem Zinseszinssystem, mit dem Fiat Money, was wir auf diesem Planeten haben.“ Auch schuld sei sie an „allen Kriegen der letzten hundert Jahre“, weil sie „die Fäden auf diesem Planeten zieht.“ Mittlerweile meint er, das sei eine Provokation gewesen, und er werde dieses Zitat einfach nicht mehr los. Zurecht: Er hat kürzlich die Warburgbank als neues Feindbild entdeckt. Die Warburgs sind eine jüdische Familie. Dass die Bank zwischendurch von den Nazis arisiert wurde und sie fliehen mussten, erwähnt Mährholz hingegen nicht. Tut man, was Verschwörungstheoretiker_innen immer tun und wozu Mährholz aufruft und googelt also „Warburg Zinseszins“, findet man etwa das Youtube-Video „Das Wirken der global zionistischen Banken Satanisten Das Zinseszins Banken und Geldsystem“ und „Paul Warburg ist der 'Vater' der Federal Reserve Bank“. Zu den Mahnwachen von Mährholz kommen viele Leute, weil Frieden ist ja was Gutes, oder so. „Ey“,wie er sagt.

Wahnmache auf facebook

Diese Wahnmachen, wie die Facebook-Seite Friedensdemo-Watch sie treffend nennt, bewegen das Volk, das sich gern als solches versteht. Das deutsche Volk, das österreichische und das schweizerische ein bisschen. Mittlerweile finden die Wahnmachen in über 80 Städten statt, die Zahl der Beteiligten soll in Berlin schon bald bei über 1400 Menschen gelegen haben. In Wien gibt es seit Ende März eine kleine mit maximal 150 Personen, die entsprechende facebookgruppe aber hat schon über 1000 Mitglieder. Es folgten Graz, Innsbruck, Salzburg, Dornbirn und Klagenfurt. Und es steht zu befürchten, dass es noch mehr werden.

Als klar war, dass diese Demos zu großen Veranstaltungen werden, ist in Berlin das Who-is-who der Wahrheitsverkünder des Volkes eingestiegen. Allen voran spricht nun Ken Jebsen zu den wissbegierigen Massen mit der Lust am Feindbild. Jebsen heißt mit bürgerlichem Namen Moustafa Kashefi und ist beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) wegen Antisemitismusvorwürfen rausgeflogen, weil er zum Beispiel „weis wer den holocaust als PR erfunden hat. der neffe freuds. [Edward] bernays“ [sic!]. Bernays war Jude und gilt als Begründer von PR. Jebsen hetzt gegen „zionistischen Rassismus“ und die „mediale Massenvernichtungswaffe“, die im Auftrag einer radikalen zionistischen Lobby dafür sorge, dass „wir seit über 40 Jahren die Fresse halten, wenn im Auftrag des Staates Israel andere Menschen in Massen vernichtet werden“. „Palästinenser“ nämlich. Laut Jebsen am Fressehalten außerdem schuld: die deutsche Geschichte. Aktuell betreibt Jebsen den Internetsender kenFM und raunzt regelmäßig empörte Vorträge ins Open Mic am Brandenburger Tor, die in erster Linie aus Fragen nach dem Prinzip des „Cui bono? - Wem nützt es?“ und Handlungsanweisungen an das gehorsam folgende Volk bestehen.

Foto: Nikolai Schreiter

„Rothschild böse – Ahmadinedschad gut“

Außerdem vorne mit dabei ist Jürgen Elsässer, ein Exlinker, der heute das rassistische und verschwörungstheoretische Compact-Magazin herausgibt, die homophobe Compact-Konferenz veranstaltet und 2009 die „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“ gegründet hat. Er verteidigt Thilo Sarrazin, hat dem Holocaustleugner Mahmoud Ahmadinedschad 2009 zum Sieg der iranischen Präsidentschaftswahlen gratuliert und eine Privataudienz bei ihm bekommen. Er findet, „das Verbrechen hat Name und Anschrift und Telefonnummer“, um sogleich solche Namen zu nennen: „Die Herren Rockefeller, Rothschild, Soros“ fallen ihm als erste ein.

Für Elsässers Compact-Magazin hat auch Hannes Hofbauer, der Chef des Wiener Promedia-Verlags, wiederholt geschrieben. Promedia verlegt Lehrbücher, die etwa auf der Geschichte oder der Internationalen Entwicklung an der Uni Wien Pflichtlektüre sind, aber auch Titel wie „Apartheit und ethnische Säuberungen in Palästina“, die antisemitische Ressentiments bedienen oder das laut Homepage vergriffene antisemitische Machwerk „Blumen aus Galiläa“.

Eine andere wichtige Figur in Berlin ist Andreas Popp. Er hat 2011 auf der Konferenz der „Anti-Zensur-Koalition“ des unter anderem homophoben Abtreibungsgegners und Chefs der Sekte „Organische Christus-Generation“ Ivo Sasek in der Schweiz gesprochen. Bei dieser treten auch immer wieder Holocaustleugner_innen auf. Er warnt zwar einerseits vor dem Feindbild Banker, ist aber auch „wissenschaftlich“ für wissensmanufaktur.net verantwortlich. Dort vertritt er seinen „Plan B. Revolution des Systems für eine tatsächliche Neuordnung“, in dem er sich positiv auf die antisemitische Hetzschrift „Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft“ von Gottfried Feder bezieht, dessen Thesen auch Adolf Hitler nach eigener Auskunft in „Mein Kampf“ geprägt haben.

Positiven Bezug auf „die Nationalsozialisten“ gibt es aber auf den Wiener „Wahnmachen“. Einer der regelmäßigen Besucher_innen der Wahnmachen, ein Herr mit langem Bart und Haar, will unbedingt über Zins und Zinseszins sprechen. Der nämlich sei „das Problem in der Welt“, das „Übel, an dem die ganze Welt krankt“, was die Nationalsozialisten richtig erkannt hätten. Bevor „sie uns auch verkauft“ hätten, als sie „an die Macht gekommen sind“ - treffender: gebracht wurden - hätten sie nämlich im Programm gehabt, die Zinsknachtschaft zu brechen. Dass die Montagsdemos wegen dieser Bezugnahme als rechts „verunglimpft werden“, habe den Zweck, das eigentliche Thema, eben die Zinsknechtschaft, nicht zur Sprache kommen zu lassen. Wer das tut, bleibt unklar, die Verschwörungstheorie und der strukturelle Antisemitismus sind perfekt vereint.

In Österreich gibt es weniger institutionalisierte Plattformen für Verschwörungstheorien als in Deutschland, über die hiesigen Köpfe der Bewegung ist kaum einschlägiges bekannt. Doch es reicht aus, um zu wissen, dass hier der gleiche Wahn wie in Deutschland am Werk ist. Die Wiener Köpfe beziehen sich positiv auf die Wahrheitsverkünder aus Berlin und Verschwörungstheorie: Felix Abegg, Wiener Organisator der Montagsmahnwache heißt auf Facebook „Pro Peacer“. Unter seinen „Gefällt mir-Angaben“ findet sich der KOPP-Verlag, der für rechtsesoterische und verschwörungstheoretische Inhalte und seine antisemitischen und rechtsextremen Verbindungen bekannt ist, außerdem kenFM, der „Sender“ von Ken Jebsen. Die Seite friedensmahnwachen.at verlinkt auf das Video von Lars Mährholz, aus dem viele seiner Zitate in diesem Artikel entnommen sind.

Wiener Organisator der Mahnwachen Felix Abegg am Heldenplatz. Foto: Nikolai Schreiter

Wiener Organisator der Mahnwachen Felix Abegg am Heldenplatz. Foto: Nikolai Schreiter

„Keine Führer, sondern Helden“

Der Grazer Organisator Tom Exel warnt vor der Ostküste: „Glaubt nichts. Nehmt euch die Zeit und recherchiert. Schaut euch viel im Internet an. Und dann zählt eins und eins zusammen. Wenn ihr dann eine Meinung habt, dann ist das definitiv eure Meinung und nicht die Meinung von … ich will jetzt keine Namen nennen ... aber Leute die weit weg sitzen über dem Atlantik, die da Sachen verbreiten.“ (hier auf Youtube achzuschauen)

Stephan Bartunek, regelmäßiger Redner in Wien, verkündete am 12. Mai 2014 am Heldenplatz vor dem Führerbalkon: „Wir brauchen keine Führer. Wir brauchen Helden.“ Weiter: „Jebsen und Mährholz sind meine Helden.“ In Reaktion auf Kritik an ihnen gibt er sich kritisch: „Sollten Ken Jebsen und Lars Mährholz sich irgendwann demaskieren und plötzlich stehen ein wiedergeborener Mussolini und ein wiedergeborener Göbbels vor mir – dann stoß ich sie vom Podest.“ (hier auf Youtube achzuschauen)

Doch Mussolini und Göbbels wird Bartunek in den beiden wohl niemals finden – noch mehr Belege für strukturellem und offenem Antisemitismus in deren Weltbild allerdings auch nicht. Und deshalb bleiben die, geht es nach Bartunek, wohl auf ihrem Podest. Als er zu Anfang seiner Rede berichtet, dass Jebsen ihn angerufen habe, weil er seine Rede aus der Vorwoche so toll gefunden habe und wohl nun bald nach Wien komme, erntet er dafür den größten Applaus des Tages. Die kleine Masse steht hinter ihm. Vor allem aber steht sie hinter Jebsen.

Die falsche Frage

Die Wahnmachen inszenieren sich als Sprachrohr des kleinen Menschen gegen die Eliten. „Der Mensch“ nimmt eine zentrale Stellung ein: „Mein Name ist Ken Jebsen, meine Zielgruppe bleibt der Mensch“ kläfft Jebsen als ersten Satz. Transparente und Facebookposts sagen: „Meine Nationalität: Mensch“. Die denunzierten BankerInnen, Amis, Regierungen, ZionistInnen, Illuminaten oder gleich die Jüdinnen und Juden sind von diesem „Wir“ der „Menschen“ ausgeschlossen. Es geht um die repressive, zwanghafte Gemeinschaft gegen die bösen Machenschaften der die „Menschen“ spaltenden Eliten. Diese würden mit allerlei Mitteln „das Volk“, das übrigens „wir sind“, spalten. In ihrem Dienst sollen die „gleichgeschalteten Massenmedien“, die NATO und die Parteien stehen. Deshalb will die Bewegung auch als unpolitisch verstanden werden, Mährholz sagt: „Jeder Extremismus ist nicht gerne gesehen“. Alle dürfen ihre Meinung sagen. Diese Haltung führt regelmäßig dazu, dass Linke, die Antisemitismus kritisieren, ausgebuht werden. Sebastian Schmidtke und andere Recken der Berliner NPD oder Karl Richter, der für die Bürgerinitiative Ausländerstopp im Münchener Stadtrat sitzt und stellvertretender Vorsitzender der NPD ist, aber bleiben unbehelligt, dürfen auf den Wahnmachen teilweise sprechen und werden – FREE HUGS! – umarmt.

Die ewig zu kurz Gekommenen, die sich versammeln, haben die gleiche, wahnhafte, unumstößliche Meinung. Wer sie kritisiert, wird der Spaltung bezichtigt, manchmal auch der Spaltung im Auftrag irgendeines Teils der ins Visier genommenen „Elite“. So ergibt sich ein flexibles, aber doch geschlossenes Weltbild: Die Verschwörung kann immer noch einen Schritt weiter gedacht werden, die Kritik immer als ihr Teil gelten. So verdrängt die „Wahrheit“ des Ressentiments irgendwann gänzlich das Streben nach Wahrheit durch Analyse.

Popp, Mährholz und ihre Gefolgschaft behaupten, die „Systemfrage“ zu stellen. Das System, das sie meinen, heißt aber nicht, wie es müsste, Kapitalismus - sondern „Zinseszinssystem“. Ihre Frage lautet nicht, wie der Kapitalismus uns alle zum konkurrenzhaften Verhalten als vereinzelte Einzelne, zum Hauen und Stechen zwingt, sondern: „Wer profitiert davon?“ und also: „Wer hat es eingesetzt?“ . Die Vermitteltheit von Herrschaft im Kapitalismus ist unbegriffen, die Komplexität offenbar zu hoch, vor allem aber liefern die korrekten Fragen eben keine Schuldigen, die Volk und Gemeinschaft - wollen sie als solche bestehen - doch so dringend brauchen. Darin liegt die Gefahr: Selbst wenn sich die meisten bei den Wahnmachen als noch so friedlich und gewaltfrei verstehen – gegen wen sich der deutsche Mob, denn das Potential dazu haben die Versammlungen, richten würde, ist von vornherein klar.

 

Nikolai Schreiter studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

„Ein Monster namens Europa“

  • 27.05.2014, 12:55

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Seit Ende letzten Jahres wird in der Berichterstattung über die kommenden EU-Wahlen immer wieder die Befürchtung eines beträchtlichen Stimmenzuwachses für rechtsextreme Parteien geäußert. Das Potential der rechten und rechtsextremen Parteien, Wähler_innenstimmen für sich zu gewinnen, wird dabei oft überschätzt. Allerdings wurden deren Programmatiken und Forderungen mittlerweile von Parteien der Mitte teilweise übernommen und umgesetzt.

Geeinte Untergangsphantasien. Rund 380 Millionen Stimmberechtigte können von 22. bis 25. Mai über die neue Zusammensetzung des Europaparlaments entscheiden. Aktuellen Umfragen zufolge werden rechte und rechtsextreme Parteien aus 13 Mitgliedstaaten (wieder) ins Parlament ein- ziehen. Diese eint vor allem ihre EU- und eurokritische beziehungsweise -feindliche Haltung sowie ihr/ ein antimuslimischer Rassismus. Zentrale Themen dieser Parteien sind demnach nicht nur die EU samt ihrer Bürokratie, „Bonzen“ und Rettungspakete für „die faulen Südländer“, sondern vor allem auch die Mobilisierung gegen das Feindbild „Islam“, die Forderung nach einem „Einwanderungsstopp“ sowie Hetze gegen andere Minderheiten wie Roma oder homosexuelle Menschen. Insbesondere der in den Parteien propagierte Nationalismus mitsamt Phantasien vom Untergang des „christlichen Abendlands“ verfestigen sich in einer Ausgrenzungsideologie gegenüber allen vermeintlich „Anderen“ oder „Fremden“.

Der große Widerspruch: Diese Parteien, die aktuell mit 55 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sind, geben sich europakritisch oder gar EU-feindlich, trotzdem wollen sie ins EU-Parlament. Zu verlockend scheint die Möglichkeit, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen sowie bei der Geldvergabe berücksichtigt zu werden. Kaum verwunderlich also, dass VertreterInnen europäischer rechtsextremer Parteien erneut einen Versuch starteten, ein Bündnis der Gleichgesinnten, die Europäische Allianz für Freiheit (EAF) zu gründen. Um eine Fraktion zu bilden, die finanzielle Zuwendungen bekommt, benötigt ein solches Bündnis nämlich mindestens 25 Abgeordnete aus sieben Ländern.

Rechtsextreme Allianzen. Bereits im November 2013 trafen sich die FPÖ, der französische Front National (FN), die italienische Lega Nord (LN), der belgische Vlaams Belang (VB), die Schwedendemokraten (SD) sowie die slowakische Nationalpartei (SNS) in Wien um ein rechtes beziehungsweise rechtsextremes Wahlbündnis zu beschließen. In einem gemeinsamen Kommuniqué wird als Ziel „die Bewahrung der kulturellen Identitäten der europäischen Völker“ genannt, „Masseneinwanderung und eine Islamisierung Europas“ gelte es zu verhindern. Wenngleich Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV), bei der Zusammenkunft in Wien nicht vertreten war, soll auch seine Partei mit an Bord sein. Bisherige Bündnisversuche der Europa-Rechten waren aufgrund von internen politischen Differenzen gescheitert. So führte beispielsweise der Austritt der Abgeordneten der Groß-Rumänien-Partei nach antiziganistischen Äußerungen von Alessandra Mussolini 2007 zum Ende der rechten Fraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) im EU-Parlament. Auch nach den jüngsten rassistischen Aussagen von Andreas Mölzer, der inzwischen als Spitzenkandidat der FPÖ zurück- getreten ist, scheint das Bündnis erneut zu wackeln. Nicht nur Marine Le Pen, Vorsitzende des FN, auch die SD haben angedroht aus dem Bündnis auszusteigen, sollte Mölzer im Vorstand bleiben. Weitere Differenzen ergeben sich darüber hinausmit Parteien wie der PVV. Geert Wilders sticht nicht nur als „Islamkritiker“ hervor, weil er den Koran als „faschistisches Buch“ bezeichnet hat und gegen den „Tsunami der Islamisierung“ vorgehen möchte. Er hat sich in der Vergangenheit öfters pro-israelisch und offen gegenüber der Ausweitung von Homosexuellen-Rechten gezeigt – ein Widerspruch zum Antisemitismus und der Homophobie der meisten anderen Parteien. Die Heterogenität der involvierten Parteien sowie ihr nationalistischer Charakter dürften das geplante Bündnis zusätzlich destabilisieren.

KrisengewInnerinnen? Mitte März 2014 widmete sich die Konferenz Europa auf der Kippe? der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln dem „Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Vorfeld der Europawahlen“. Im Rahmen des Eröffnungsvortrags analysierte der Politikwissenschaftler Cas Mudde die zwei Hauptbotschaften der Berichterstattung über die Europa-Wahlen: „Die Wirtschaftskrise hat zum Aufstieg von Rechtsaußen geführt, und die Rechtsaußenparteien werden bei den Europawahlen im Mai 2014 große Stimmenzuwächse erzielen.“ Trotz des breiten diesbezüglichen Medienkonsenses hält er den ersten Punkt für faktisch falsch und den zweiten für höchst unwahrscheinlich. Wirtschaftskrisen hätten in den seltensten Fällen zu Wahlerfolgen für rechtsextreme Parteien geführt; dies sei auch aktuell nur in Griechenland der Fall. In anderen europäischen Krisenländern seien keine vergleichbaren Tendenzen zu erkennen. Stattdessen würden Rechtsextreme gerade in Ländern, die wenig von der Krise betroffen sind, Erfolge feiern. Zudem prognostiziert Mudde der extremen Rechten im Europaparlament lediglich sechs Prozent der Sitze. Da eine Zusammenarbeit mit linken EU-KritikerInnen unwahrscheinlich bleibt, bleibe die Mehrheit nach wie vor bei pro-europäischen Kräften.

Damit versucht Mudde Übertreibungen in Bezug auf die Gefahr rechtsextremer Parteien entgegenzuwirken, verharmlost diese jedoch auch, da rechtsextremes Gedankengut keineswegs ein gesellschaftliches Randphänomen darstellt. Der gesellschaftliche Rechtsruck, der sich beispielsweise in weit verbreitetem Rassismus und Antiziganismus äußert, findet in seinen Ausführungen keine Erwähnung. Dieser lässt sich nicht ausschließlich an Wahlerfolgen messen, schließlich sind es in den wenigsten Ländern rechtsextreme Parteien gewesen, die Asylgesetze verschärft haben oder gegen Roma vorgehen. Parteien der Mitte haben die Forderungen rechtsextremer Parteien längst in ihre Politiken aufgenommen. Auch dafür, welche Gewalt von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie ausgeht, herrscht kaum Bewusstsein. Gerade die tiefe Verankerung dieser Ideologien in der Mitte der Gesellschaft sollte endlich im öffentlichen Diskurs thematisiert werden – ohne dabei die Gefahr, die rechtsextreme Parteien darstellen, zu verkennen.

 

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at) und studiert Politikwissenschaft im Doktorat an der Uni Wien.

Foto: Front National cc-by Blandine Le Cain

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