Rechtsextremismus

Alternativen für Deutschland und Österreich

  • 21.06.2017, 17:58
Ein neuer Sammelband von Stephan Grigat untersucht AfD und FPÖ auf Rechtspopulismus, völkischen Nationalismus, Geschlechterbilder und Antisemitismus.

Ein neuer Sammelband von Stephan Grigat untersucht AfD und FPÖ auf Rechtspopulismus, völkischen Nationalismus, Geschlechterbilder und Antisemitismus.

Blau und erfolgreich sind beide. Doch auch inhaltlich nähern sich die Alternative für Deutschland (AfD) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) einander an, wie der Sammelband konstatiert, ohne die Unterschiede in Geschichte und Gegenwart der beiden Parteien und das „Potenzial für zukünftige Konflikte“ zu vernachlässigen. Die FPÖ könnte sich heute, wie Gerhard Scheit schreibt, auch „‚Alternative für Österreich‘“ nennen, weil sie den Deutschnationalismus der ehemaligen „PLO von Österreich“ (Jörg Haider) weitgehend aufgegeben hat. Wie die AfD zieht sie sich unter dem Primat der Innenpolitik immer mehr auf „die Frage der Souveränität des eigenen Landes“ zurück. Im rassistischen „Kampf gegen die Islamisierung Ottakrings“, und eben nicht gegen Islamisierung per se, betreiben deshalb die „lautstark als ‚Kritiker‘ des Islam Auftretenden dessen Verharmlosung am entschiedensten“. Derweil die Linke auf antiisraelischem Kurs bleibt, können sie innenpolitisch Erfolge einfahren, indem sie „Israelsolidarität simulieren“.

Ein weiterer Fokus des Buches ist Geschlecht: Während Juliane Lang zur „Familien- und Geschlechterpolitik der AfD“ leider kaum über den Befund hinauskommt, dass die sich „immer weiter in Richtung völkischer Entwürfe“ entwickelt, arbeitet Karin Stögner die Korrespondenz des mutterschaftsbetonten „Differenzfeminismus nationalistisch-völkischer Prägung“ der FPÖ mit dem Ethnopluralismus heraus und erhellt, wie die „Welterklärung“ Antisemitismus sich vertretungsweise auch in Nationalismus, Sexismus oder Homophobie äußert. Bei aller „Transformation des Antisemitismus“, die Heribert Schiedel analysiert, heißt das aber nicht, dass „das Feindbild ‚Jude‘ durch das Feindbild ‚Moslem‘ ersetzt“ worden wäre. Deshalb sind im Buch mehrfach gut begründete Absagen an den Kampfbegriff „Islamophobie“ zu finden.

Insgesamt löst der Band, mit wenigen Schwachstellen, vor allem politisch ein, was der Herausgeber verspricht: neue Impulse in einer dringend notwendigen Diskussion.

Stephan Grigat (Hg.): AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder.
Nomos 2017, 205 Seiten, 28,80 Euro.

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

From Russia with hate

  • 21.06.2017, 17:40
Das kürzlich im Falterverlag erschienene Buch Putins rechte Freunde beleuchtet, wie Russlands Autokrat und Europas Rechtspopulisten sich zusammentun – und auf nichts Geringeres als die Zerschlagung der EU hinarbeiten.

Das kürzlich im Falterverlag erschienene Buch Putins rechte Freunde beleuchtet, wie Russlands Autokrat und Europas Rechtspopulisten sich zusammentun – und auf nichts Geringeres als die Zerschlagung der EU hinarbeiten. Das Ziel: zurück zu einem uneinigen Europa der Nationalstaaten. Eine konspirative Konferenz Rechtsextremer in Wien? Finanzielle Unterstützung für den Front National? Desinformationskampagnen? Nein, das ist nicht der Inhalt eines Groschenromans, das ist die Realität.

Die Autor_innen stützen sich dabei auf geleakte Kommunikation zwischen russischen Funktionären und öffentlich gewordene Vereinbarungen, wie zum Beispiel ein Abkommen zwischen der Putin-Partei „Einiges Russland“ und der FPÖ, aber auch bekanntgewordene Fälle von finanziellen Zuwendungen und Inhalte von Vernetzungstreffen. In Anbetracht der Fülle von kompromittierenden Fakten entpuppen sich Europas „starke Männer“ als gedungene Hampelmänner, die sich aus machtpolitischem Opportunismus zu den willfährigen Helfern eines Autokraten machen lassen und dabei ihre Nationen verkaufen.

Ein weiterer Aspekt, den das Buch untersucht, ist der Propagandafeldzug des Kreml: Mit gezielten Desinformationskampagnen, ausgeführt von den Staatsmedien und -agenturen RT und Sputnik, wird versucht, auf die politischen Meinungsbildungsprozesse in den EU-Staaten Einfluss zu nehmen, „die westlichen Werte von Offenheit und Pluralität als Schwächen umzudeuten“ und „ein Narrativ des Untergangs des Westens“ zu propagieren. Das stilisierte Bild eines starken Russlands fungiert dabei als Fluchtpunkt.

Die Recherche ist sehr gut fundiert, informativ und aufgrund der Aktualität ein Muss für alle politisch interessierten Personen. Einziges Manko: Nur ganz am Rand wird darauf eingegangen, dass sich mitunter auch Vertreter des linken Spektrums im Zuge „antiimperialistischer“ Kritik in die Rolle von Putin-Herolden verrennen. Und dabei – welch Ironie – einem homophoben, sexistischen, nationalistischen Autokraten mit imperialen Ambitionen das Wort reden.

Michel Reimon, Eva Zelechowski: „Putins recht Freunde – Wie Europas Populisten ihre Nationen verkaufen“.
Falterverlag 2017, 128 Seiten, 16,90 Euro (E-Book: 9,90 Euro).

Livio Hoch studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien.

Nicht länger wegsehen

  • 11.05.2017, 20:37
Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Seit zwölf Jahren steigt die Zahl rechtsextremer Straftaten rapide an. Linke Aktivist_innen und Künstler_innen geraten zunehmend ins Visier. Die Polizei bleibt tatenlos.

Rechtsextreme Gewalt nimmt rasant zu. Verzeichnete das Innenministerium im gesamten Jahr 2004 noch 322 Anzeigen wegen Verbrechen oder Vergehen mit rechtsextremem Tathintergrund, waren es 2015 bereits 1.691. Statistisch gesehen wird alle fünf Stunden eine solche Straftat verübt – von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.

Dieses Erstarken der militanten extremen Rechten manifestierte sich in den letzten Monaten in einer ganzen Serie an rechtsextremen Angriffen, Drohungen und Sachbeschädigungen gegen linke Strukturen, Räume und Personen. So wurden Tür und Fassade des linken Raumkollektivs w23 innerhalb weniger Monate gleich sechs Mal beschädigt. Zwei Mal versuchten die Täter dabei, sich Zugang zum Raum zu verschaffen. Auch die Anarchistische Buchhandlung im 15. Bezirk, das Ernst-Kirchweger-Haus sowie die Rosa-Lila-Türkis-Villa wurden in jüngster Vergangenheit Ziel rechtsextremer Sachbeschädigungen und Angriffe. Vor rund einem Jahr waren Personen auf dem Heimweg nach einer Kundgebung in Graz von bewaffneten Kadern der rechtsextremen „Identitären“ überfallen und verletzt worden. Ebenso ist 2014 einer Antifaschistin das Fenster eingeschossen worden, kurz nachdem sie ein Buch über die neofaschistische Gruppe veröffentlicht hatte. Nach einem Fernsehauftritt erhielt sie außerdem einen Drohbrief per Mail. Im Jahr 2012 wurde der betagte Antifaschist Albrecht Konecny am Rande der Proteste gegen den WKR-Ball von Neonazis mit einem Schlagring niedergeschlagen.

RECHTSEXTREMISMUS AN DER UNI. Auch vor der Universität machen rechtsextreme Umtriebe nicht Halt. Die Räumlichkeiten der Fakultätsvertretung Human- und Sozialwissenschaften (HUS) wurden mehrfach Ziel von Sachbeschädigungen, neben eingeschlagenen Fenstern hinterließen die Täter auch rassistische Botschaften an der Fassade. Erst im Jänner wurde eine Podiumsdiskussion der autonomen antifa [w] an der Universität Wien gestört, einschlägig bekannte rechtsextreme Hooligans stellten den Schutz für die Störaktion. Die Bühnenstürmung der „Identitären“ während der Aufführung von Jelineks „Schutzbefohlenen“ im Audimax ist nun schon ein Jahr her. Obwohl die Beteiligten zweifelsfrei identifiziert und auf ÖHInitiative auch wegen Besitzstörung rechtskräftig verurteilt wurden, gibt es nach wie vor keine Anklage wegen der im Zuge der Stürmung verübten Körperverletzungen.

Diese Aufzählung rechtsextremer Straftaten gegen linke Aktivist_innen, Künstler_innen und Räume ist keineswegs vollständig, macht aber die Bedrohung durch steigende rechtsextreme Gewalt deutlich. Außerparlamentarisch aktive Rechtsextreme werden derzeit selbstbewusster, organisieren sich verstärkt, bauen neue finanzstarke Strukturen und eigene Medienkanäle auf – das alles im Windschatten der FPÖ. Die steigende Reichweite und der bedeutend höhere Organisationsgrad eröffnen ihnen neuen Handlungsspielraum. Dieses Erstarken bringt nicht zuletzt eine merklich höhere Gefahr für politische Gegner_innen mit sich, ins Visier von Angriffen – von öffentlicher Diffamierung bis hin zu körperlicher Gewalt – zu geraten.

OPFERSCHUTZ FEHLANZEIGE! Bestärkt werden militante Rechtsextreme nicht zuletzt auch durch die Untätigkeit der Polizei, denn neben dem rechtsextremen Hintergrund haben all die genannten Fälle vor allem eines gemein: Die Täter_innen wurden nie verurteilt. Keine einzige der im Artikel erwähnten Straftaten wurde bisher aufgeklärt, keine Anklage erhoben, in den meisten Fällen wurden nicht einmal konkrete Beschuldigte ermittelt. Das sendet den Täter_innen ein fatales Signal: Dass ihnen nichts passiert, wenn sie politische Gegner_innen angreifen – dass der Staat wegsieht, solange die Betroffenen keinen Promistatus haben. Was den Schutz der Betroffenen von rechtsextremer Gewalt angeht, haben sich Polizei und Verfassungsschutz bisher nicht gerade als leuchtendes Vorbild hervorgetan.

Auf die Spitze trieb es dabei die Grazer Polizei, die nach dem erwähnten Angriff „Identitärer“ Kader im Jänner 2016 die Adressen und Telefonnummern der Betroffenen an die Täter_innen weitergab. Ein Antrag auf Schwärzung solcher personenbezogenen Daten der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“, der die Betroffenen juristisch vertrat und betreute, wurde abgelehnt.

Wenig überraschend: Die Ermittlungen wurden kurz darauf eingestellt. In einem anderen Verfahren wurde dem Opfer einer Nötigung durch Neonazis in der Vernehmung zur Tat ein Aktenauszug einer ganz anderen Anzeige – nämlich einer von Rechtsextremen gegen Unbekannt – vorgelegt und es wurde mehrfach versucht, sie nach einer Tatbeteiligung zu befragen. Ein weiterer Fall solch einer Täter-Opfer- Umkehr war der Umgang mit dem Angriff auf eine Gewerkschaftssitzung im Ernst-Kirchweger-Haus. Am Ende dieses Prozesses wurden Gewerkschafter verurteilt, während die angreifenden Hooligans aus dem Umfeld von „Eisern Wien“ und „Unsterblich Wien“ freigesprochen wurden.

IN DIE OFFENSIVE. Mit diesem Verhalten gefährdet die Polizei Betroffene rechtsextremer Gewalt noch zusätzlich, statt sie zu schützen. Dieser Umstand führt uns die Notwendigkeit antifaschistischen Selbstschutzes einmal mehr vor Augen. Die Bedrohung durch rechtsextreme Umtriebe und deren steigende Gewaltbereitschaft ernst zu nehmen, aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Vielmehr sollte sie zum Anlass genommen werden, antifaschistische Arbeit auf allen Ebenen weiterzuführen, Rechtsextremen das Selbstvertrauen, die Straße und jeglichen öffentlichen Raum konsequent streitig zu machen.

Julia Spacil studiert Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien.

„2017 entscheidet sich das Schicksal Europas!“

  • 16.03.2017, 19:29
In seiner Jugend war er eurasischer Nationalist und glorifizierte autoritäre Ideale. Heute forscht er am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) zu Rechtsextremismus und engagiert sich gegen russische Propaganda. progress hat mit Anton Shekhovtsov über den Ausstieg aus der Szene, Donald Trump und die Flüchtlingskrise gesprochen.

In seiner Jugend war er eurasischer Nationalist und glorifizierte autoritäre Ideale. Mittlerweile forscht er über Rechtsextremismus und untersucht zudem die Beziehungen zwischen der extremen Rechten Europas und Putins Russland am Institut für die Wissenschaft vom Menschen. progress hat mit Anton Shekhovtsov über den Ausstieg aus der Szene, Donald Trump und die Flüchtlingskrise gesprochen.


progress: Anton, du hast ein sehr persönliches Verhältnis zu deinem Forschungsgegenstand. Du warst früher selbst in der eurasischen Szene unterwegs. Woraus setzt sich diese Ideologie zusammen und wie bist du da hineingeraten?
Anton S.: Ich bin in Sewastopol, der größten Stadt der Halbinsel Krim aufgewachsen. Die Krim war damals in zwei politische Lager gespalten. Eines davon setzte sich aus AnhängerInnen der „Partei der Regionen“ zusammen, welche innenpolitisch und außenpolitisch pro-russisch ausgerichtet war und eine eher liberalere Wirtschaftspolitik verfolgte. Das kleinere Lager setzte sich aus großrussischen NationalistInnen zusammen. Dadurch, dass die Krim vom Rest der Ukraine isoliert worden war, galt russischer Nationalismus als „Common-Sense“. Im Jahr 2000 machte ich Bekanntschaft mit dem Eurasismus und wurde zu einem Verfechter dieser imperialistischen Ideologie. Als ich im Zuge meines späteren Studiums der Politikwissenschaft bemerkte, wie faschistoid und autoritär diese Bewegung ist, reflektierte ich meine politischen Ansichten. Seitdem schreibe ich Artikel über Alexander Dugin, einer der GründerInnen der eurasischen Bewegung, und forsche über Rechtsextremismus in Russland und der Ukraine – auch auf Basis meiner persönlichen Erfahrungen mit der Szene.

Vielen Jugendlichen fällt der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene oftmals sehr schwer. Wie erging es dir dabei? Und wie kann man Jugendlichen dabei helfen?
Mir persönlich fiel es relativ leicht, da sich mein Engagement auf kleinere Demonstrationen und Internet-Aktivismus beschränkte und ich nicht viele FreundInnen in der Szene hatte. Ich war also kein vollkommen überzeugter Aktivist. Die eurasische Bewegung liebäugelt mit einer Spielart des nationalen Bolschewismus: Auch mein Interesse galt primär den sozialistischen Ideen, welche ich sympathisch fand. Zudem spielt der Antiamerikanismus hier eine große Rolle. Seit 2007 ist die eurasische Bewegung in der Ukraine ziemlich schwach, da die großrussische Agenda für viele junge UkrainerInnen zu offensichtlich wurde. Seit der 2014 stattgefundenen russischen Invasion auf der Krim hat die eurasische Bewegung aufgrund der anti-ukrainischen Doktrin weiter an Popularität eingebüßt. Konträr dazu finden rechtsextreme Weltbilder in Österreich oder Deutschland immer mehr Zuspruch. Daran tragen auch die etablierten Parteien eine Teilschuld, welche keine attraktiven Krisenlösungsmodelle mehr anbieten können und die Probleme der Jugendlichen, aber auch der Mehrheitsgesellschaft aus den Augen verloren haben. Grundsätzlich befindet sich die liberale Demokratie heute in einer schweren Krise, da sie primär mit Bürokratie assoziiert wird. Der Rechtsextremismus gewinnt an Zulauf, weil demokratische Kräfte schwächer werden, nicht weil rechtsextreme Kräfte so überzeugend sind.

Vor ein paar Wochen hast du bei einer Buchpräsentation über „Putins rechte Freunde“ mitgewirkt. Wer zählt zu Putins Verbündeten in Europa?
In Frankreich ist es der Front National, in Italien die Lega Nord, in Ungarn die Jobbik, Bulgarien hat die Ataka und in Österreich die FPÖ. Es ist auch die FPÖ, welche seit der Unterzeichnung des Kooperationsübereinkommens mit Putins Partei „Einiges Russland“ über die intensivsten Kontakte nach Russland verfügt. Die FPÖ verbindet mit Russland vor allem ein ideologisches Interesse. Die Freiheitlichen sehen in Putins Russland einen natürlichen Verbündeten: Putin erscheint als Vertreter eines traditionalistischen, konservativen Bollwerks gegen Globalisierung und Überfremdung. Putin strebt danach, sich als Staatsoberhaupt eines konservativen Volks zu porträtieren: Soziologische Untersuchungen beweisen jedoch das Gegenteil. Die Mehrheit der RussInnen ist weder besonders religiös, noch besonders konservativ. Die russische Elite hingegen versucht die Bevölkerung durch die vom Kreml kontrollierten Medien verstärkt zum Traditionalismus zu bewegen. Mit mäßigem Erfolg. Russland wird von den Rechtsextremen als konservative Einheit gesehen, tatsächlich ist die Zahl der RussInnen, die sonntags in die Kirche gehen, sehr gering. Die Elite gibt sich konservativ und anti-amerikanisch, gleichzeitig führt man ein Leben in Luxus und Hedonismus und schickt die Kinder auf US-amerikanische Schulen. Das russische Interesse an rechtsextremen Parteien in Europa ist dahingehend eher pragmatischer Natur. Russland kann gegen ein geeintes Europa nicht konkurrieren, weder ökonomisch, noch militärisch. Man ist daher auf europäische Verbündete, die ich „Putin-VersteherInnen“ nenne, angewiesen, um liberale Diskurse und transatlantische Ideen in Europa zu schwächen und die europäischen Einzelstaaten gegeneinander ausspielen zu können. Dies geschieht auch über Desinformation und das Verbreiten von „Fake-News“, was durch soziale Medien einfacher denn je geworden ist.

Seit dem Wahlsieg des US-Republikaners Donald J. Trump wird sehr viel über sein Verhältnis zu Putin diskutiert. Gehört auch Trump zum Lager der „Putin-Versteher“?
Hier muss man differenzieren. Einerseits gibt es in der Trump-Administration mehrere MinisterInnen, die ein ökonomisches Interesse an Russland haben – dazu gehört der Außenminister Rex Tillerson. Andererseits denken einige, dass Russland ein Bündnispartner im Kampf gegen den Islamismus sein könne. Ein Blick auf die russischen Aktivitäten in Syrien zeigen jedoch, dass Putin selbst eine Schuld am Erstarken des jihadistischen Terrors hat. Russland kämpft nicht gegen den Islamischen Staat, sondern hat Assad geholfen, die syrische Opposition niederzuschlagen. Momentan ist Trump gezwungen, sich von seinem pro-russischen Image zu distanzieren. Das zeigt sich etwa daran, dass sein Nationaler Sicherheitsberater Michael Flynn zurücktreten musste. Entgegen weitverbreiteter Meinungen denke ich übrigens nicht, dass Trumps Administration faschistisch ist. Bei seinem wichtigsten Berater, Steve Bannon, bin ich mir allerdings nicht so sicher. Zwar hat Bannon Putin als „Kleptokraten“ bezeichnet. Jedoch begreift auch er ihn als taktischen Bündnispartner gegen den Islamischen Staat. Putin, Trump und Bannon vereint letztlich der isolationistische Wunsch nach einem Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und Europa.

Wie werden sich Trumps Pläne auf Europa auswirken?
2017 entscheidet sich das Schicksal Europas. Wenn sich liberale Kräfte in Deutschland und Frankreich durchsetzen können, hat Europa noch eine Chance. Trumps Administration könnte auch dazu führen, dass die EU wieder zueinander findet. Die momentan stattfindenden Debatten über den Aufbau einer europäischen Armee werden zu einem interessanten Faktor werden, sollte sich die USA aus der NATO zurückziehen. Grundsätzlich wird Europa eine proaktivere Rolle spielen müssen. Als Assad begann, seinen Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen, hat die EU tatenlos zugesehen. Als Präsident Obama seine „roten Linien“ gezogen hat, musste sich Europa darauf verlassen. Auch als Russland in Syrien intervenierte, hat die EU keine glaubwürdigen Schritte unternommen. Die ultimative Konsequenz bekam Europa am eigenen Leibe zu spüren: der bis heute andauernde syrische Massenexodus. Auch der Türkei-Deal stellt keine langfristige Lösung der Flüchtlingskrise dar. Wir müssen begreifen, dass Konflikte im Nahen Osten unmittelbare Implikationen für Europa mit sich bringen. Stell dir vor, du wohnst in einer Wohnung und hörst, wie der Nachbar seine Frau verprügelt. Hörst du dann einfach zu? Tolerierst du dieses Verhalten? Nein. Du musst zumindest an seine Tür klopfen und androhen, dass du die Polizei rufst. Wenn du dieses Verhalten ignorierst, trägst du eine Mitschuld an diesem Verbrechen und den Konsequenzen.

David Kirsch studiert Politikwissenschaften und Rechtswissenschaften in Wien und Linz und veröffentlicht auf seinem Blog exsuperabilis.blogspot.com regelmäßig Analysen und Interviews zu Migration, Naher Osten und Europa.

Rechte Klagen

  • 23.02.2017, 20:58
Wie Rechtsextreme die „Lügenpresse“ durch Klagen mundtot machen wollen.

Wie Rechtsextreme die „Lügenpresse“ durch Klagen mundtot machen wollen.

Die Ablehnung von gesellschaftskritischem Engagement Andersdenkender verdeutlicht sich in vielen rechtsextremen Kreisen nicht zuletzt in ihrem Umgang mit (linken und alternativen) Medien. Durch Vorwürfe wie jenem der „Lügenpresse“ wird dabei versucht, sich gegen Kritik zu immunisieren und politische Gegner_innen durch finanziell aufwändige Klagen einzuschüchtern.

„SYSTEMHANDLANGER“. Journalist_innen scheinen es aktuell angesichts des sinkenden gesellschaftlichen Vertrauens in Medien und der steigenden Angriffe nicht leicht zu haben. So zeigte 2016 eine repräsentative Umfrage für den Bayerischen Rundfunk, dass die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Menschen die Medien für gelenkt hält. Bedient und verstärkt wurde das Ressentiment der „gleichgeschalteten“, „Meinungsbildung betreibenden“ Berichterstattung unter anderem auf den von antimuslimischem Rassismus geprägten Pegida- Demonstrationen. Im Skandieren von Begriffen wie „Lügen-“ oder auch „Systempresse“ bei derartigen Events verdeutlicht sich, dass von weit rechts Außen bis zur gesellschaftlichen Mitte Medien pauschal als „Handlanger des Systems“ und manipulierende Propaganda imaginiert werden, gegen die sich die vermeintliche Rebellion des Volks zur Wehr setzen müsse. So wird zwar nach Meinungsfreiheit oder -vielfalt gerufen, ohne diese jedoch selbst zu vertreten, da die eigene Perspektive als die einzig wahre inszeniert und der Rest als Lügen verunglimpft wird. Dieser Vorwurf trifft somit vor allem jene, die versuchen, differenziert, kritisch und sachlich zu berichten. Obgleich der Begriff „Lügenpresse“ sogar zum Unwort des Jahres 2014 gewählt wurde, blieb eine weiter reichende Diskussion über die verantwortungsvolle Aufgabe der Medien aus. Dennoch liefern diese Entwicklungen ein anschauliches Beispiel für die tiefe Verankerung rechtsextremer Logiken in der gesellschaftlichen Mitte.

BILDRECHTE UND GEGENKLAGEN. Während manche Journalist_innen in vorauseilendem Gehorsam und gemäß des gesellschaftlichen Klimas ohnehin bereits nach rechts geschwenkt sind, versuchen insbesondere linke Medien nach wie vor ungeschönt über rechtsextreme Entwicklungen und Aktivitäten in Österreich aufzuklären. Immer öfter sind sie in dieser Arbeit mit Klagen von rechten/ rechtsextremen Einzelpersonen, Gruppen und Parteien konfrontiert. Egal, ob gegen den Tiroler SPÖ-Chef, der Norbert Hofer (FPÖ) als „Nazi“ bezeichnet hatte, die Betreiberin des Cafés „Fett und Zucker“, die mittels eines Schildes Hofer-Wähler_ innen aufgefordert hatte, ihren Betrieb nicht zu besuchen. Aber auch die Anfechtung der Bundespräsidentschaftswahl zeigt, wie gerne die FPÖ klagt. Aus diesem Grund versuchte die Initiative „Heimat ohne Hass“, die mittels eines Internetblogs rechtsextreme Vorfälle in Österreich dokumentiert, vorletztes Jahr bei einer Pressekonferenz gemeinsam mit anderen darauf aufmerksam zu machen, dass die FPÖ seit geraumer Zeit versuche, antifaschistische Projekte auf diese Weise mundtot zu machen.

„Heimat ohne Hass“ muss sich nämlich mit einer Urheber_innenrechtsklage wegen der Veröffentlichung eines Fotos auseinandersetzen. Im Zuge der polizeilichen Räumung des linken Projekts „Pizzeria Anarchia“ in Wien, hatte der Blog über einen freiheitlichen Personalvertreter berichtet, der vor Ort bewaffnet und mit einem eisernen Kreuz aufgetreten war. Geklagt hatte in diesem Fall die freiheitliche Gewerkschaft AUF. Eine Gegenklage der FPÖ beschäftigte auch das linke Kollektiv „Filmpirat_innen“. Nachdem die FPÖ widerrechtlich Materialien des Filmkollektivs verwendet hatte, schlug die Partei mit einer Gegenklage wegen „falscher Behauptungen“, die „die Meinungsfreiheit der FPÖ behindern“ würden, zurück. Auch gegen das Urteil, das den „Filmpirat_innen“ Recht gab, legte die Partei Berufung ein. Bedrohlich wirken auch Fälle staatlicher Angriffe auf Jounalist_innen und Medien. So wurden beispielsweise 2007 in Berlin mehrere Fotografen vom Landeskriminalamt (LKA) wegen „Fotografieren von Neonazis bei Naziaufmärschen“ überwacht. Ermittelt wurde vom Berliner LKA (Abteilung Linksextremismus) auch gegen das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz), weil sie in einem Dossier über einen Neonaziaufmarsch einen Teil eines indizierten Aufruftexts zur Demo zitiert hatten.

EINSCHÜCHTERUNGSSTRATEGIEN. Wie die beiden Beispiele aus Österreich verdeutlichen, geht es oftmals nicht um politische Inhalte, die vor Gericht zur Diskussion gestellt werden sollen. Rechte bedienen sich dem Mittel der Klage vor allem, um öffentliche Kritik durch mit Rechtsstreiten verbundene Einschüchterungen oder große finanzielle Belastungen zu delegitimieren und zum Schweigen zu bringen. Nicht selten sind die Klagswerte im fünfstelligen Bereich angesiedelt, was bedeutet, dass zumeist das nötige Kleingeld fehlt, um dagegen vorzugehen. Die Anzahl derartiger Klagen und Klagsdrohungen ist zudem weitaus höher als öffentlich bekannt. Dass selbst von betroffenen Medien selten darüber berichtet wird, liegt nicht zuletzt daran, dass Rechtsextreme damit in erster Linie versuchen, linke/kritische Strukturen einzuschüchtern und die Klagsdrohungen selbst meist wenig Gehalt haben. Vielmehr ist es Teil der Einschüchterungsstrategie, unabhängig vom erwarteten Erfolg zeitraubend und belastend viele Ressourcen der Betroffenen zu binden.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (fipu.at).

Befähigung zur Gesellschaftskritik als Präventionsarbeit

  • 13.08.2016, 20:01
Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung.

Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung. In der Schule, in der außerschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und in der Sozialen Arbeit stellt sich die Frage nach sinnvoller Prävention, aber auch nach einem adäquaten Umgang mit rechtsextremen Einstellungsmustern. Die Stärke des Bandes liegt in der Vielfalt der Zugänge zum Thema, da viele der Autor_innen sowohl in der Rechtsextremismusforschung verankert sind, als auch über Praxiswissen aus dem Schulalltag und der Sozialarbeit verfügen.

Die Bedeutung der Erziehung zur Mündigkeit – oder anders ausgedrückt: der Befähigung zur Ideologiekritik – zieht sich als roter Faden durch den Sammelband. So argumentieren etwa Stefanie Mayer und Bernhard Weidinger, dass autoritäre Denkweisen und die Vorstellung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung durch eine Gesellschaft begünstigt werden, in der alles einem kapitalistischen Konkurrenzprinzip unterworfen ist. An diese Denklogiken könnten rechtsextreme Ideologien leicht anknüpfen. Mayer und Weidinger plädieren dafür, die Projektionsmechanismen des Rechtsextremismus zum Thema zu machen und die Reflexion der eigenen Abwertung anderer in den Mittelpunkt zu stellen. Ziel davon sei es, „äußere Zumutungen und innere Konflikte in einer Weise zu bearbeiten, die ohne Projektion auf andere und Verfolgen des Projizierten an diesen auskommt.“ Einem ähnlichen Ansatz folgen Elke Rajal und Heribert Schiedel, die der Frage nachgehen, was diese Überlegungen für die rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Schule bedeuten. Eine Schwierigkeit der Selbstreflexion sehen sie darin, dass rechtsextreme Vorstellungen nicht einfach aufgelöst werden können, weil sie oft von grundlegender Bedeutung für das Selbstbild sind und als Problemlösungsstrategien in den Lebenswelten vieler Jugendlicher verankert sind. Die kritische Analysefähigkeit von Kindern und Jugendlichen müsse nach Rajal und Schiedel ebenso gestärkt werden wie ihre Handlungskompetenz. Dadurch werden Ohnmachtsgefühle, die den Rechtsextremismus begünstigen, gemindert.

Neben Selbstermächtigung und Ideologiekritik ist ein zentraler Begriff des Bandes jener der Anerkennung. Da gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oft auf einem Anerkennungsdefizit fuße, sei es wichtig den Jugendlichen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen und sich verstehend auf sie einzulassen. Erst wenn ein Vertrauen hergestellt sei, könne sinnvoll an problematischen Einstellungen gearbeitet werden. Politische Sozialisation erfolge, so Fabian Reicher in seinem Beitrag, durch das Erlernen anhand von dem, was vorgelebt wird. Werden Jugendliche als Problemfälle identifiziert und behandelt, wird ihnen undemokratisches Verhalten vorgelebt. Insofern ist das Buch auch sehr bereichernd für alle, die sinnvolle Reflexionsanregungen für die eigene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Link zur Buchbeschreibung beim Verlag.

„Drogenfreier Volkskörper“

  • 22.06.2016, 14:02

Rechtsextreme Drogenpolitiken, rechtsextremer Drogenkonsum.

Wenngleich FPÖ-Politiker_innen sich tagesaktuell immer wieder zu drogenpolitischen Themen positionieren, bleibt die Thematik im Parteiprogramm der FPÖ jedoch weitgehend ausgespart. Anders verhält es sich bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in deren Parteiprogramm Drogenkriminalität „hohe Priorität“ zugeschrieben wird, die „härter zu ahnden“ wäre. Die Alternative für Deutschland (AfD) wiederum fordert „Süchtigen […] im Wege der kontrollierten Abgabe“ Zugang zu Drogen zu ermöglichen und glaubt, damit Kriminalität und „Schwarzmarkt“ bekämpfen zu können. Als gemeinsamer Nenner dieser durchwegs unterschiedlichen Positionen fungieren im rechtsextremen Parteienspektrum vor allem die Ablehnung liberaler Drogenpolitiken sowie die rassistische Aufladung damit verbundener Diskurse. Dabei werden Feindbilder geschaffen, die den Vertrieb von Drogen ausschließlich bei vermeintlich „Fremden“ orten. Es handle sich, so die Konstruktion, um organisierte „ausländische“ Banden, die versuchen würden, den „Volkskörper“ sprichwörtlich zu vergiften. National Gesinnte hingegen würden und müssten jegliche Form der Verbreitung von Drogen aus selbigem Grund ablehnen. Das „eigene Volk“ müsse „sauber“, „rein“ beziehungsweise „drogenfrei“ gehalten werden. Die tiefe Verankerung des Feinbildes des „ausländischen Drogendealers“ in Gesellschaft, Politik und Medien ermöglicht es Vertreter_innen der extremen Rechten, sich als „Saubermacher_ innen“ und „Beschützer_innen des Volks“, insbesondere der angeblich bedrohten Jugend zu inszenieren. Zudem eignet sich das Drogenthema, als vermeintlich politisch wenig belastetes, um in der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu punkten.

WIDERSPRÜCHLICH. Dennoch spiegeln sich die prohibitionistischen Forderungen rechtsextremer Parteien nicht unbedingt im Verhalten ihrer Anhänger_innen wider, da in regelmäßigen Abständen gegen Angehörige rechtsextremer und neonazistischer Szenen nicht nur wegen Konsums von, sondern auch Handel mit Drogen ermittelt wird. So war beispielsweise der 2010 aufgeflogene neonazistische Kulturverein Objekt 21 nahe Attnang- Puchheim in Drogen- und Waffenhandel involviert. Auch in Deutschland lag im Zuge von Ermittlungen immer wieder die Vermutung nahe, dass sich neonazistische Szenen über Drogenhandel finanzieren. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Rechtsextreme ihre Taten, wie das Zeigen des Hitlergrußes oder auch Gewalt gegen Menschen, (vor Gericht) mit vorangegangenem Drogenkonsum zu entschuldigen versuchten.

Auch in den Reihen der FPÖ selbst kommt es immer wieder zu „Skandalen“ im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. So standen zum Beispiel letztes Jahr eine Polizeibeamtin und FPÖ-Bezirksfunktionärin sowie ein Mitglied der Polizeigewerkschaft Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) in Innsbruck im Visier von Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Widersprüchlichkeiten in rechtsextremen Drogenpolitiken werden auch in Bezug auf die Haltungen rechtsextremer Parteien zu Tabak und Alkohol evident. Abgesehen davon, dass die „Volksdroge“ Alkohol in den meisten rechtsextremen Kreisen ohnehin nicht als Suchtmittel anerkannt wird, inszeniert sich die FPÖ in Abgrenzung zur Regierung als „Raucher_ innenpartei“. Während in Bezug auf andere Suchtmittel selbstbestimmte Konsummöglichkeiten gänzlich abgelehnt werden, tritt die FPÖ in der von ihr ins Leben gerufenen Petition „Nein zum absoluten Rauchverbot“ für „die Wahlfreiheit der Konsumenten und Gastronomen“ ein.

PANZERSCHOKOLADE. Bereits im Zweiten Weltkrieg dürfte die Haltung der Nationalsozialist_innen gegenüber Drogen alles andere als ablehnend gewesen sein. Adolf Hitler selbst soll mit sogenannten Nachtschattendrogen und Strychnin experimentiert, Josef Goebbels Morphium und Hermann Göring Kokain konsumiert haben. In der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe wurde vor allem im Blitzkrieg gegen Polen Pervitin, heute bekannt als Crystal Meth, eingesetzt, um einerseits die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und andererseits ihre Angstgefühle einzudämmen. Über 200 Millionen „Stuka-Tabletten“, „Hermann-Göring- Pillen“, „Panzerschokolade“ und „Fliegermarzipan“, wie die entsprechenden „Aufputscher“ genannt wurden, sollen zwischen 1939 und 1945 eingesetzt worden sein.

STRAFEN STATT HELFEN. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass rechtsextreme Ideologie, anstelle von Prävention und Ursachenbekämpfung oder der Förderung eines selbstbestimmten, verantwortungsvollen Konsumverhaltens, auf Repression, härtere Strafen und Ausbau von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen setzt. Von vielen rechten und rechtsextremen Parteien sowie ihren Anhänger_innen werden jedoch nicht nur liberale Drogenpolitiken abgelehnt, sondern auch Unterstützungsprogramme für Suchterkrankte. Die Forderung nach „Zwangstherapie für Drogenabhängige“, wie sie von der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Dagmar Belakowitsch- Jenewein aufgestellt wurde, ignoriert beispielsweise, dass nicht jeder Konsum mit einer Suchterkrankung gleichzusetzen ist und die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch (freiwillige) Bereitschaft der Betroffenen erreicht werden kann.

Auch Waldarbeit oder landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie es die FPÖ begleitend zum Entzug vorgeschlagen hat, zielen nicht notwendigerweise auf die Heilung ab. Vielmehr wird deutlich, dass sich hinter der Ablehnung von Suchthilfe auch gängige Muster menschenfeindlicher, sozialdarwinistischer Politiken verbergen, in denen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil als Last für die Allgemeinheit erachtet werden. Die AfD fordert in ihrem Parteiprogramm beispielsweise, „nicht therapierbare Alkohol- und Drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter […] nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen“. Hinzu kommt außerdem, dass sich rechtsextreme und neonazistische Gewalt auch immer wieder gegen soziale Randgruppen wie Konsument_innen von Drogen und Suchterkrankte richtet.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Geschichtsrevisionismus auf Jugoslawisch

  • 21.06.2016, 21:17
Die Rechte wird nicht nur in Österreich offensiver, auch in Serbien und Kroatien kommt es zu einer stärkeren Mobilisierung. Dies zeigt sich mitunter an vermehrten Übergriffen gegen Linke und Homosexuelle. Eine Analyse nationalistisch-religiöser Hegemonie in zwei Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

Die Rechte wird nicht nur in Österreich offensiver, auch in Serbien und Kroatien kommt es zu einer stärkeren Mobilisierung. Dies zeigt sich mitunter an vermehrten Übergriffen gegen Linke und Homosexuelle. Eine Analyse nationalistisch-religiöser Hegemonie in zwei Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

Am 31. März 2016 drangen sieben bewaffnete Männer in die Zadruga Oktobar, ein linkes Kulturzentrum in Belgrad, ein, verwüsteten das Lokal und verletzten Antifaschist*innen. Immer wieder liest man von gewaltvollen Übergriffen durch Rechtsextreme in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens: Ein weiteres, Beispiel hierfür ist die erste Pride Parade in Split, die 2011 abgebrochen werden musste, als rund 10.000 Menschen – mitunter bewaffnet – auf etwa 300 Teilnehmer*innen losgingen. Doch davon hört und liest man in Österreich kaum – und das, obwohl auch in Wien immer wieder rechtsextreme Botschaften aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawiens im öffentlichen Raum sichtbar sind. Ustascha-Symbole beispielsweise, also Verweise auf jene faschistischen Brigaden, die im Zweiten Weltkrieg mit dem NS-Regime kooperiert hatten, sind in österreichischen Städten keine Seltenheit.

SERBIEN. Was aber alle Staaten des ehemaligen Jugoslawiens gemein haben ist, dass eine rechte Hegemonie zu beobachten ist." Rechte Kräfte haben es geschafft, „eine politische und ideologische Vormachstellung einzunehmen, die sich nicht zuletzt am bedeutenden Einfluss der Kirchen zeigt“, so Luka Matić, Doktorand am Institut für Philosophie der Universität Zagreb, der sich mit (neo-)faschistischen Bewegungen in Kroatien und Serbien auseinandersetzt. Die Situation in Serbien unterscheidet sich jedoch etwas von jener in Kroatien: Rechtsextreme Gruppierungen scheinen organisierter zu sein und offener mit staatlichen Behörden – vor allem der Polizei – zu kooperieren. „Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Angriff auf das Kulturzentrum Zadruga Oktobar von einer neofaschistischen und relativ neuen Gruppierung ausging, die sich aus Personen zusammensetzt, die in kämpferischen Konflikten zwischen Russland und der Ukraine aktiv waren“.

„Wir gehen davon aus, dass dieser Angriff eine Reaktion auf eine antifaschistische Gegendemonstration zu einem nationalistischen Marsch war – wobei wir uns hierbei nicht sicher sein können“, deuten Antifaschist*innen aus Belgrad, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden wollen, die Attacke. Parallel dazu hat die rechtsextreme Partei Dveri – übersetzt bedeutet das „Die Türen“, ein Verweis auf die christlich-orthodoxe Kirche – bei den kürzlich stattgefundenen Wahlen den Einzug ins Parlament geschafft. Bei Dveri handelt es sich nicht bloß um eine Partei, sondern um eine rechtsextreme Plattform, die seit knapp einem Jahrzehnt bestens mit anderen nationalistischen Kräften vernetzt ist. Der Rechtsruck in Serbien wird auch auf einer anderen Ebene deutlich: Es kommt vermehrt zur Rehabilitation von Kriegsverbrechern durch serbische Gerichte. So wurde beispielsweise Dragoljub „Draža“ Mihailović, dessen Truppen an Kriegsverbrechen gegen Muslim*innen beteiligt waren, rehabilitiert und auch Milan Nedić, ein Kollaborateur mit dem NS-Regime und serbischer Nationalist, soll rehabilitiert werden.

KROATIEN. Auch in Kroatien ist eine enge Verflechtung rechtsextremer Positionen mit der Vormachtstellung der Kirche zu beobachten. Während es in Serbien die orthodoxe Kirche ist, ist es in Kroatien die katholische Kirche, die gesellschaftspolitisch eine wichtige Rolle spielt. Was immer wieder in Angriffen gegen LGBTQI-Personen gipfelt, ist das Ergebnis einer religiösnationalistischen Hegemonie. Das zeigt sich unter anderem in der Popularität der Band Thompson, im Speziellen ihres Frontmanns Marko Perković. Perković selbst ist bekannt dafür, immer wieder öffentlich Ante Pavelić, den kroatischen faschistischen Diktator und Führer der Ustascha-Bewegung, zu huldigen; auch besang er des Öfteren – und zwar nicht gerade kritisch – die beiden kroatischen Konzentrationslager Jasenovac und Stara Gradiška, in denen zehntausende Menschen ermordet wurden.

Die kroatische rechtsextreme Szene setzt sich aus vielfältigen Subszenen zusammen. Zum einen sind Veteranenorganisationen, die eine geschichtsrevisionistische Ideologie vertreten und kroatische Kriegsverbrechen leugnen, dominierend, zum anderen gibt es lose Verbindungen zu Fangemeinden verschiedener Fußballclubs und den Jugendorganisationen verschiedener rechter Parteien. Seit einigen Jahren kommt es innerhalb dieser Szene zu Verschiebungen, deren Resultat Parallelen zur Identitären Bewegung Österreichs aufweisen: Die NGO Urbana Desnica – „Urbane Rechte“ – aus dem Raum Split, also jener Region, in der es 2011 zu massiven Gewaltakten während der Pride Parade kam, wird immer größer. Diese Gruppe ist auch auf Facebook sehr aktiv und versucht, dem Rechtsextremismus eine moderne Fassade zu verleihen: Mit Hashtags, Memes und jugendlichem Slang wird Hetze gegen Antifaschist*innen, Homosexuelle und all jene, die nicht in das Bild eines katholisch-nationalistischen Kroatiens passen, betrieben. Der Generationenkonflikt innerhalb verschiedener rechtsextremer Gruppierungen wurde im Rahmen der Mobilisierung von U ime obitelji („Im Namen der Familie“), die ein Referendum gegen gleichgeschlechtliche Ehen initiierte, etwas aufgelöst.

RECHTE HEGEMONIE BRECHEN. „Es sind nicht bloß militante Gruppierungen, welche die rechtsextreme Szene ausmachen: In Kroatien gibt es viele lokale Fernsehsender, die von verschiedenen privaten Organisationen betrieben werden und größtenteils rechte Propaganda betreiben: etwa Hetze gegen Linke und Personen, die das Recht auf Abtreibung verteidigen“, so Mira L., Geschichtelehrerin aus Zagreb. Sowohl in Serbien als auch in Kroatien sind es nicht bloß rechtsextreme Gruppierungen, sondern auch die Vormachtstellung der ihnen zugrunde liegenden Ideologien, die Repression gegen Linke ermöglichT. „Wenn es in Kroatien relativ wenig Übergriffe gegen Linke gibt, liegt das vor allem daran, dass es der Linken nicht mehr möglich ist, offensiv und breit öffentlich aufzutreten“, heißt es von Mitgliedern verschiedener antifaschistischer Organisationen. Was also bleibt, ist zunächst die notwendige Offenlegung rechtsextremer Ideologien und die Hoffnung auf linke Organisation und Gegenhegemonie, die sich gegen Geschichtsrevisionismus und Nationalismus stellt. Diese Bewegungen müssen unterstützt werden – das bedeutet „fremden“ Nationalismus auch in Österreich, wo Thompson-Konzerte massenhaft besucht werden und nicht-österreichische Nationalismen selten thematisiert werden, anzusprechen.

Nora Zism hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

Retter_innen der Kernfamilie

  • 10.03.2016, 17:17

Stärker denn je nehmen Rechtsextreme (staatliche) Gleichstellungspolitiken und sexualpädagogische Maßnahmen ins Visier. Besondere Bedeutung kommt dabei den Debatten rund um vermeintliche „Frühsexualisierung“ zu.

Obgleich die Bedeutung des Schlagworts „Frühsexualisierung“ in rechtskonservativen und rechtsextremen Diskursen zumeist nicht näher ausgeführt wird, scheint sich der Terminus in den letzten Jahren zu einem Kampfbegriff entwickelt zu haben. Er wird dabei vor allem zur Abwehr zeitgemäßer pädagogischer Ansätze der Sexualerziehung im frühen Kindesalter zum Einsatz gebracht, die Kindern ein positives Körpergefühl, Abbau von Schamgefühlen und die Entwicklung einer verantwortungsvollen, selbstbestimmten Sexualität ermöglichen sollen. Die Bestrebungen zielen unter anderem auf die Befähigung ab, (sexualisierte) Gewalt zu erkennen und sich gegen diese zur Wehr zu setzen.

In kindergerechter Weise werden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nur als eine von vielen gleichberechtigten Möglichkeiten geschlechtlicher und sexueller Lebens- und Begehrensformen präsentiert, von „natürlichen“ Vorstellungen von Sexualität wird Abstand genommen. Grund genug für konservative und rechte Kräfte, Sturm zu laufen. Anlass für Diskussionen lieferten in Deutschland ein Methodenbuch zur „Sexualpädagogik der Vielfalt“ sowie Bestrebungen, „Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten“ in Sexualkunde-Unterrichtspläne zu integrieren.

In Österreich wiederum stand vor allem die 2012 vom Verein Selbstlaut herausgegebene sexualpädagogische Broschüre „Ganz schön intim“, die Lehrer_innen Anregungen für die Thematisierung von Liebe und Sexualität im Unterricht liefert und unter anderem Selbstbefriedigung, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Intersexualität selbstverständlich behandelt, im Fokus eines vermeintlichen Skandals. Sowohl von ÖVP, FPÖ, BZÖ als auch (rechts-)katholischen Organisationen wurde die in den Medien als „Sex- Fibel“ (Kurier) oder „Sex-Unterlagen“ (Krone) betitelte Broschüre als „verstörend“ kritisiert, da sie homosexuelle Paare heterosexuellen gleichstellt. Dadurch würde, so die homophobe Argumentation, die „Kernfamilie bedroht“ und „Kindern ein irritierendes Bild von Familie und Sexualität“ (Barbara Rosenkranz) vermittelt.

ALTBEKANNTE MUSTER. In der Diskreditierung derartiger pädagogischer Ansätze bedienen sich Rechtsextreme bekannter Methoden, die von selektiven Darstellungen über die Umdeutung von Diskursen bis hin zur Verbreitung von Unwahrheiten reichen. So ist in einschlägigen Veröffentlichungen und Wortbeiträgen von „ideologischer Stimmungsmache“, „staatlicher Umerziehung“, „Indoktrination“, „Manipulation“ oder der „Trans- und Homosexualisierung“ der Kinder und Schulen zu lesen und zu hören.

Nicht selten inszenieren sich die selbsternannten Retter_innen der „Kernfamilien“ dabei als die eigentlichen Diskriminierten, da „Berufsschwule“ und „Genderbeauftragte“, so die beinahe wahnhaften Vorstellungen, bis in die Klassenzimmer die Erziehung ihrer Kinder bestimmen könnten, während die Rechte der Eltern ausgehebelt würden. Der Diskurs fixiere sich zudem zu stark auf „Diskriminierungen, die in der sexuellen Identität begründet sind“, wohingegen andere Benachteiligungen außer Acht gelassen würden. So wird „Frühsexualisierung“ von der Auflösung der Familie bis hin zum Niedergang des Bildungssystems und des (deutschen) Volkes für so ziemlich alles verantwortlich gemacht. Wenig verwunderlich auch, dass in antifeministischer Manier Vaterlosigkeit als schwerwiegenderes Problem in Stellung gebracht und in weiterer Folge bejammert wird, dass (frauenfeindliche) Väterrechtsorganisationen nicht in gleicher Weise an Schulen dürften wie Sexualpädagog_innen. Umschreibungen wie „unnatürlich“, „pervers“ oder gar „pädophil“ zielen zudem nicht nur darauf ab, Homosexualität damit in Verbindung zu bringen, sondern alles von Heterosexualität Abweichende zu stigmatisieren.

BESORGTE ELTERN. Inszenierte Angst- und Bedrohungsszenarien ermöglichen es der extremen Rechten, ihre Positionen als notwendige, legitime Kritik in öffentlichen und medialen Debatten zu präsentieren. Durch die ohnehin tiefe Verankerung derartiger Denkmuster in der Mitte der Gesellschaft, gelingt es ihnen zudem, ihre antifeministische und homophobe Agenda als mainstreamfähig darzustellen.

Die Hartnäckigkeit, mit der Rechtsextreme hierzulande versuchen, sexualpädagogische Debatten zu beeinflussen, zeigte sich zuletzt auch an Hand einer auf progress-online.at erschienenen Rezension zweier Kinderbücher, „die darauf verzichten, die Mär von Zweigeschlechtlichkeit und Vater- Mutter-Kind-Familien zu zementieren“. Grund genug für manche sowohl auf Facebook wie auch der rechtsextremen, von Martin Graf gegründeten, Internetplattform unzensuriert.at heiß zu laufen und mit biologistischen Argumenten die heterosexuelle Kleinfamilie als einzige zur Reproduktion fähige, „natürliche“ Instanz zu verteidigen.

Der Grund für das unglaubliche Mobilisierungspotential derartiger Diskurse kann vor allem darin gefunden werden, dass durch Sexualerziehung im frühen Kindesalter tatsächlich die Möglichkeit besteht, sexistischen, homo- und transfeindlichen Denkmustern präventiv vorzubeugen. In Aufruhr scheinen Rechtsextreme und ihre Verbündeten jedoch vor allem deswegen zu sein, weil durch derartige Bestrebungen nicht nur dichotome Geschlechtervorstellungen ins Wanken geraten, sondern auch die traditionelle heteronormative, bürgerliche Kleinfamilie. Die Familie wird als „Keimzelle, Rückgrat und Leistungsträger“ der Gesellschaft dagegen in Stellung gebracht, um vermeintlich natürliche Geschlechterordnungen und die damit verbundenen Privilegien aufrechtzuerhalten und abzusichern. Das vermeintliche Wohl der Kinder wird für die eigenen Interessen instrumentalisiert.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at).

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