Migration

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer

  • 18.06.2016, 15:36
Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Die Problematiken, mit denen Drittstaatsangehörige konfrontiert sind, die in Österreich studieren wollen, geraten kaum in den Blick öffentlicher Debatten. Selten werden Betroffene gefragt, welche bürokratischen Hürden sie zu überwinden haben, um hier studieren zu können. Täglich sind wir als Referat für ausländische Studierende der Bundesvertretung der ÖH mit dieser Problematik konfrontiert und versuchen künftige und gegenwärtige Studierende dabei zu unterstützen, ein Studium in Österreich zu beginnen, oder ein bereits begonnenes Studium abzuschließen.

BÜROKRATIE. Der Weg durch die Bürokratie ist lang und entsprechend aufwändig. Zunächst erfolgt die Anmeldung auf einer österreichischen Universität mit Reifeprüfungszeugnis und Studienplatznachweis. Im Falle eines positiven Zulassungsbescheids (die zuständigen Stellen benötigen etwa 12 Wochen für die Bearbeitung) müssen die angehenden Studierenden einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel stellen. Den Antrag für Studierende stellt man, sofern man visumfrei nach Österreich anreisen darf, in der MA 35, wenn nicht, muss der erste Antrag in einer österreichischen Botschaft gestellt werden. Zu erwähnen ist, dass es in manchen Ländern keine österreichische Botschaft gibt und Betroffene daher in benachbarte Länder einreisen müssen, um einen Antrag auf ein Visum für Österreich zu stellen. Auch in den Behörden der Herkunftsländer beträgt die Wartezeit einige Wochen. Erst wenn von der Botschaft ein sogenanntes „Visum D“ ausgestellt wird, ist die Einreise nach Österreich und die persönliche Inskription an der Universität möglich. Man kann sich vorstellen, dass das alles enorm viel Geld und Zeit kostet, zumal dieser steile bürokratische Weg nicht mit der Ankunft in Österreich endet. Nachdem man bereits im Herkunftsland von einem Magistrat ins andere gegangen ist, die erforderlichen Dokumente besorgt hat, übersetzen, abstempeln und beglaubigen ließ, setzen sich diese Strapazen in Österreich in ähnlicher Weise fort. Anträge für die Verlängerung von Visa und ständige Besuche in der MA 35 stehen auf der Tagesordnung. Unsicherheiten entstehen häufig durch die vielen unterschiedlichen Nachweise, die Drittstaatsangehörige erbringen müssen, um an einer österreichischen Hochschule studieren zu dürfen. Auf Unverständnis trifft beispielsweise der sogenannte Studienplatznachweis; eine Bestätigung dafür, dass die betreffende Person, die ein Studium in Österreich anstrebt, das gewünschte Studienfach auch auf einer anerkannten Hochschule in ihrem Herkunftsland studieren könnte.

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Ausländische Studierende, besonders jene aus Drittstaaten, haben einen langen Weg hinter sich und kommen meist aus Ländern, in denen das durchschnittliche Monatseinkommen unter 500 Euro liegt. Im Vergleich zu Studierenden aus EU Ländern müssen sie Studiengebühren in der Höhe von 380-740 Euro pro Semester zahlen, dürfen aber gleichzeitig nicht mehr als zehn Stunden pro Woche arbeiten. Vom Bezug von Studienbeihilfe sind sie ausgeschlossen. Ausländische Studierende müssen jährliche Leistungsnachweise bei der MA 35 in der Höhe von 16 ECTS Punkten erbringen, sonst dürfen sie nicht in Österreich bleiben. Der finanzielle Aufwand ist also um ein vielfaches Höher, als für österreichische Studierende und hier sprechen wir noch nicht einmal von Lebensunterhaltskosten, die wir ja alle zahlen müssen. Im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, dass nur Personen für ein Studium nach Österreich kommen können, deren Eltern die hohen Kosten dafür decken können.

SPRACHE MACHT INTEGRATION AUS. Das Bundesministerium für Äußeres betont im Bereich Integration die Notwendigkeit der Beherrschung der deutschen Sprache, ohne die eine Teilhabe an der Gesellschaft beinahe unmöglich scheint: „Das Erlernen der deutschen Sprache und die Akzeptanz unserer demokratischen Werte und Rechtsordnung sind zentrale Eckpunkte einer erfolgreichen Integration. Diese Grundpfeiler der Integration sind unabdingbare Voraussetzungen für die aktive Teilhabe an unserer Gesellschaft – ohne dabei die eigenen Wurzeln leugnen zu müssen“. Kurz gesagt sind wir ohne Sprache, mit der wir uns in einem bestimmten Raum, Land, in einer bestimmten Gruppe verständigen können, VERLOREN, NICHT ZUGEHÖRIG, NICHT FÄHIG. Sprache macht uns zu Menschen, bietet uns die Möglichkeit unser Denken zu erweitern, Fragen zu stellen und diese analytisch zu beantworten, die Möglichkeit weiter zu lernen und uns weiter zu entwickeln. Wenn ihr es so wollt, bietet uns auch die Möglichkeit, uns in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Da die Sprache enorm wichtig ist, sollten nicht-deutschsprachige Studierende die Möglichkeit haben, finanziell tragbare Deutschkurse zu besuchen, um sich damit auf ihr Studium vorbereiten zu können.

Der Vorstudienlehrgang der Wiener Hochschulen (VWU), welcher mit der Vorbereitung ausländischer Studierender auf ein Studium in Österreich beauftragt ist, existiert schon sehr lange, genau gesagt seit 1962. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen den sechs größten Hochschulen in Wien (Uni Wien, TU, WU, BOKU, MedUni, VetMedUni) und dem ÖAD (Österreichischer Austausch Dienst). Ziel ist es, für die Studierenden, die aus nicht deutschsprachigen Ländern kommen, unter anderem auch Deutschkurse anzubieten. An sich ist das Projekt sehr gut und hilfreich.

Wien ist eine Stadt, die durch Migration wächst. Diese Tatsache ist schon seit vielen Jahren bekannt. Auch an Wiener Hochschulen steigt die Zahl ausländischer Studierender von Jahr zu Jahr. Aus diesem Grund hat sich der VWU mit den Wiener Hochschulen zusammengesetzt und beschlossen, die bisherige Arbeitsweise zu reformieren.

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VWU NEU. Die Überlegungen, den VWU neu zu gestalten, gehen auf das Jahr 2013 zurück, in dem eine Diskussion zwischen dem VWU-Komitee und den Wiener Hochschulen stattfand. Es ging darum, die Vorstudienlehrgänge vor allem im Hinblick auf die Qualität zu verbessern, wie zum Beispiel einheitliche Inskriptionsfristen für alle DeutschkursanbieterInnen festzulegen, die Qualität der Unterrichtseinheiten zu verbessern, oder die Übungseinheiten aller KursanbieterInnen zu vereinheitlichen. Der VWU benötigte außerdem neue KooperationspartnerInnen, da zusammen mit der Österreichischen Orientgesellschaft (ÖOG) nicht genügend Kursplätze für alle Studierenden zu Verfügung gestellt werden konnten. Ende 2015 kamen zwei DeutschkursanbieterInnen hinzu: das Sprachzentrum der Uni Wien und „die Berater“.

Theoretisch klingt das Projekt VWU Neu gut und hilfreich für alle, die zum Studieren nach Österreich kommen wollen. Es stellt sich bei diesen Umstrukturierungen jedoch auch die Frage, wie die Qualitätsverbesserung finanziert werden soll und ob die für Drittstaatsangehörige existenziellen Deutschkurse erschwinglich bleiben.

Finanziert wird der VWU zum einen vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zum anderen durch die Kursgebühren der TeilnehmerInnen, die sich bis jetzt auf 460 Euro pro Person und Semester beliefen. Im Zuge der geplanten Umstrukturierung des VWU, werden die Preise nun auf 1.150 Euro pro Semester erhöht, also fast das Dreifache. Das ist natürlich ein Schock für diejenigen, die jetzt schon am Existenzlimit leben.

WAS BETROFFENE DARÜBER DENKEN. Um auch die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen, haben wir Statements von jenen Drittstaatsangehörigen gesammelt, die den VWU besuchen. Über die künftige Verteuerung herrscht Unmut. „Viele Leute könnten es sich dann nicht leisten, in Österreich zu studieren“ bringt Muhamed aus dem Iran die Problematik auf den Punkt. Asaf aus Aserbaidschan meint “Wir haben keine Alternative, wir müssen jetzt zahlen, wir können nirgendwo anders hingehen“. Auch über die Gründe der steigenden Preise stellen unsere GesprächspartnerInnen Vermutungen an. Mirela aus Bosnien und Herzegowina sagt: “Die wollen uns hier nicht haben, ich fühle mich nicht willkommen. Sie wollen damit die Einwanderung stoppen”. Ein türkischer Student in Wien kommentiert: “Wenn die FPÖ in der Regierung ist, werden sie dieses Problem sowieso von den Wurzeln an lösen. Dann wird es weit und breit keine Kurse geben”. Ein anderer Gesprächspartner meint: „Das ist eine traurige Nachricht. Ich hoffe der Grund dafür ist nicht, dass sie eine höhere Bildung für ausländische Studierende in Österreich unmöglich machen wollen”.

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Personen, die zum Studieren nach Österreich kommen und den VWU besuchen, befinden sich bereits in einer prekären Situation, was das Arbeitsrecht und das Studienbeihilferecht betrifft. Eva aus Österreich, die eine amerikanische Matura hat und noch einige Ergänzungsprüfungen absolvieren muss, findet die Situation „ziemlich frustrierend“ und weiter: „Auch jetzt sind VWU-Kurse teuer. Die Leute bekommen wenig Geld von den Eltern, müssen arbeiten. Ich arbeite auch, um mir den VWU zu leisten.“ Firas aus dem Iran erinnert sich: “Ich kenne Leute aus dem Iran, die nach ein oder zwei Jahren zurück mussten, weil sie kein Geld von ihren Eltern bekommen. Es gibt viele Personen, die sich in den Unterrichtsstunden nicht konzentrieren können, weil sie sich um andere Sachen kümmern müssen und andere Probleme haben, Probleme mit Geld zum Beispiel“.

UNLEISTBAR: VIELE KONSEQUENZEN. Aufklärung und die Bereitschaft die Studierenden genauer darüber zu informieren, warum die Deutschkurspreise dermaßen erhöht werden, ist kaum bis gar nicht vorhanden. Die betroffenen Studierenden an die VWUWebseite zu verweisen, führt vor allem zu Verwirrung und Unsicherheit.

Die VWU-Kommission beteuert natürlich, dass sich das Geld auszahlen wird und behauptet, dass man die Deutschkurse von nun an in zwei Semestern schaffen kann. Daran zweifeln Studierende wie Aman aus Ägypten, den wir bei der Vorbereitung auf die VWUPrüfungen mit unseren Fragen gestört haben: “Man kann es nicht in zwei Semestern schaffen, es ist zu wenig Zeit”. Noch schlimmer wird es wohl werden, wenn Studierende das Gefühl haben, dass sie nicht erwünscht sind.

Sprache ist eine wichtige, existenzielle Ressource für jeden Menschen. Diese Ressource ist notwendig für ausländische Studierende, die nach Österreich kommen, weil sie die Türen zu einer höheren Bildung öffnet. Schließen wir die Türen, machen wir die Deutschkurse unerschwinglich, dann schließen wir gleichzeitig den Zugang zu den Hochschulen und damit den Zugang zur freien Bildung.

Aylin Bademsoy studiert Germanistik und Philosophie, Kanita Halkic studiert Soziologie an der Universität Wien. Beide sind im Referat für ausländische Studierende auf der ÖH-Bundesvertretung tätig.
Kontakt:
auref@oeh.ac.at
oeh.ac.at/referate/referat-fuer-auslaendische-studierende

ONLY RIGHTS CAN STOP THE WRONGS!

  • 02.06.2016, 13:54
Anlässlich des Internationalen Hurentages am 2. Juni 2016 erklärt LEFÖ / TAMPEP ein paar grundsätzliche Begrifflichkeiten und stellt die Positionierung von SexarbeiterInnenselbstorganisationen und deren UnterstützerInnen vor.

Anlässlich des Internationalen Hurentages am 2. Juni 2016 erklärt LEFÖ / TAMPEP ein paar grundsätzliche Begrifflichkeiten und stellt die Positionierung von SexarbeiterInnenselbstorganisationen und deren UnterstützerInnen vor.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und leicht veränderte Version des Briefing Papers der TAMPEP International Foundation, die vollständige Version ist unter diesem Link abrufbar.


Was genau bedeutet Entkriminalisierung? Wenn man alle Forderungen von Sexarbeiter_innen mit einem Wort zusammenfassen könnte, wäre dieses Entkriminalisierung. Progressive Regierungen in Neuseeland und New South Wales in Australien haben ein legislatives Entkriminalisierungsmodell eingeführt, um die Situation von Sexarbeiter_innen zu verbessern. Vor kurzem wurde dieses Modell von der neuseeländischen Regierung und dem New Zealand Prostitutes Collective positiv evaluiert. Die Ergebnisse dieser Evaluation zeigen eine signifikante Reduktion der Vulnerabilität von Sexarbeiter_innen und belegen einen verbesserten Zugang zu Menschenrechten.Unter Entkriminalisierung versteht man die Abschaffung aller strafrechtlichen Maßnahmen, die Sexarbeit betreffen und gleichzeitig einen Weg, um sicherzustellen, dass Regierungen die Menschenrechte von Sexarbeiter_innen achten. Die Forderung nach Entkriminalisierung beinhaltet auch die Aufhebung strafrechtlicher Maßnahmen, die in die Sexarbeit involvierte Dritte betreffen. Außerdem soll so sichergestellt werden, dass Sexarbeiter_innen unabhängig oder in Kooperativen arbeiten können. Selbstbestimmung und Autonomie von Sexarbeiter_innen gehören maßgeblich zum Verständnis des Entkriminalisierungsmodells.

Sexarbeiter_innen und ihre Unterstützer_innen treten häufig für die vollständige Entkriminalisierung im Rahmen eines Rechtssystems ein, das auch anderweitige Hürden beseitigt, die gerade migrantische Sexarbeiter_innen vulnerabel gegenüber Gewalt und Menschenhandel machen und gleichen Zugang zu Menschenrechten erschweren. Der Leitgedanke hinter diesem Ansatz ist, dass Regierungen zur Bekämpfung der Vulnerabilität von Sexarbeiter_innen den vollständigen Schutz ihrer Menschenrechte gewährleisten müssen, unabhängig von ihrer Nationalität oder ihrem aufenthaltsrechtlichen Status im Gastland. Diese zu schützenden Rechte umfassen unter anderem das Recht auf Leben, Gesundheit, Migration, Arbeit, Privatsphäre, Vereinigung, Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht, frei von Menschenhandel und sklavereiähnlichen Praktiken zu sein.

Trotz der Forderungen nach Entkriminalisierung werden die Gesetze zu Sexarbeit im europäischen Raum immer strenger und repressiver. Sexarbeit wird von Regierungen und der Gesellschaft kaum als Arbeit anerkannt. Das liegt vor allem an dem Stigma, mit dem Sexarbeit behaftet ist, das die mächtigste Waffe gegen die Anerkennung von Sexarbeit als Arbeit darstellt. In der Praxis bedeutet das, dass Entscheidungsträger_innen Maßnahmen entwickeln und einführen, die Würde und Menschenrechte von Sexarbeiter_innen untergraben. So wird weder die Selbstbestimmung und Autonomie von Sexarbeiter_innen gefördert, noch werden ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessert.

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Besonderer Fokus: Migration. Es bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen diesem repressiven Trend und der aktuellen Debatte um Menschenhandel. Anti-Prostitutionsgruppen benutzen diese, um auf die Abschaffung der Prostitution zu drängen. Die Anti-Immigrationslobby benutzt den Menschenhandelsdiskurs, um strengere Einwanderungsbeschränkungen zu fordern. Die Stimmen von Sexarbeiter_innen werden dabei von Entscheidungsträger_innen und Massenmedien häufig ignoriert oder missbraucht. Durch diese Unsichtbarkeit und Isolation sind migrantische Sexarbeiter_innen besonders von repressiven Maßnahmen und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit betroffen.

Die Kriminalisierung von Sexarbeit, Sexarbeiter_innen und ihren Kund_innen wird häufig von Anti-Migrationsgesetzen begleitet, die darauf abzielen, undokumentierte Migrant_innen zu verhaften und abzuschieben. Das führt dazu, dass migrantische Sexarbeiter_innen in den Untergrund und versteckte Arbeitsbereiche gedrängt werden, um der Verfolgung und dem Risiko einer Abschiebung zu entgehen. Dieser Trend verschärft die Gefahr für Sexarbeiter_innen, Opfer von Menschenhandel zu werden, und verringert ihre Zugangsmöglichkeiten zu Unterstützung und Gesundheitsleistungen sowie zu Rechten und Justiz.

Migration muss als entscheidender Faktor für die Analyse von Sexarbeit in Europa berücksichtigt werden. Migrant_innen machen bei Weitem die größte Gruppe von Sexarbeiter_innen in der Region aus. Undokumentierte migrantische Sexarbeiter_innen sind besonders von Strafverfolgungen betroffen und erleben ein hohes Ausmaß an Gewalt und Ausbeutung. Diese Problemlage hat sich durch die Folgen der Finanzkrise, die die EU und den Rest der Welt seit 2008 prägen, durch im Zuge der Terrorismusbekämpfung spontan beschlossene Gesetze zur Bewahrung der nationalen Sicherheit sowie durch Gesetze zur öffentlichen Sicherheit verschlechtert.

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Menschenhandel vs. Sexarbeit. Um gegen Rechtsverstöße und Missbrauch in der Sexindustrie vorzugehen, haben die EU-Mitgliedsstaaten den Kampf gegen den Menschenhandel dazu genutzt, Prostitution und Migration zu bekämpfen. Ein sicheres Umfeld, in dem Sexarbeiter_innen arbeiten und sich selbst organisieren können und in dem gute Arbeitsbedingungen gewährleistet werden, wurde hingegen nicht geschafft. Die Sexindustrie hingegen zu zerstören, bedeutet für Sexarbeiter_innen einen schwerwiegenden Eingriff in ihren Lebens- und Arbeitsalltag und zwingt sie in die Illegalität und Isolation. Gleichzeitig werden Menschenhandelsopfer selten gefunden – und wenn sie gefunden werden, werden ihre Bedürfnisse kaum adäquat gehandhabt. Entscheidungsträger_innen setzen Sexarbeit mit Menschenhandel gleich, was einerseits zu ineffektiven und alle Sexarbeiter_innen betreffenden Gesetzen führt, während andererseits die Bedürfnisse derjenigen Sexarbeiter_innen, die nicht von Menschenhandel betroffen sind, ignoriert werden.

Zieht man eine breite Definition von Menschenhandel heran, wird deutlich, dass Maßnahmen und Gesetze zur Bekämpfung von Menschenhandel das breite Spektrum, in denen Menschen von Menschenhandel betroffen sein können, wie z.B. in der Bauwirtschaft, Landwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie, Haus- und Pflegearbeit, widerspiegeln müssen. Obwohl belegt ist, dass Menschenhandel und Zwangsarbeit dadurch angetrieben werden, dass eine steigende Nachfrage nach billigen, unqualifizierten und einfach entbehrlichen Arbeitskräften mit immer restriktiver werdenden Einwanderungsbestimmungen und einem Mangel an arbeitsrechtlichen Absicherungen für migrantische Arbeitskräfte kombiniert wird, wird im Rahmen von Gesetzgebungen gegen diese strukturellen Determinanten von Menschenhandel und Zwangsarbeit nicht vorgegangen.

 

Die Interpretation von Menschenhandel, die die EU Strategien beeinflusst hat, verschleiert sowohl die Verbindungen zwischen Migrationspolitik und „Menschenhandel“ - also auch die Verbindungen zwischen Prostitutionspolitik und Zwangsarbeit in der Sexindustrie. Die Gleichsetzung von Sexarbeit und Menschenhandel hat sowohl in der politischen Debatte als auch in den Medien übertriebene Ausmaße erreicht. Eine verstärkte Sichtbarkeit von Sexarbeiter_innen in diesen Debatten könnte einen Weg darstellen, um Opfermythen zu bekämpfen und ein Bewusstsein für die Situation von Sexarbeiter_innen in Europa zu schaffen. Außerdem ist TAMPEP davon überzeugt, dass Sexarbeiter_innen gute Verbündete im Kampf gegen Menschenhandel sein können, da sie auf tatsächliche Opfer hinweisen könnten, sofern sie nicht selbst häufig kriminalisiert und unterbunden werden würden.

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Das Schwedische Modell. Abolitionistische feministische Lobbygruppen wie die European Women’s Lobby und Equality Now werden immer stärker und einflussreicher. Im Zuge der momentanen Debatten und der damit zusammenhängenden politischen Interessen zum Thema Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Prostitution haben diese Gruppen finanzielle Unterstützung bekommen. Abolitionistische Feminst_innen und Organisationen unterstützen häufig das sogenannte Schwedische Modell, was sich inzwischen zu einem gefährlichen europäischen und globalen Trend entwickelt hat.

Das Schwedische Modell – ein 1999 in Schweden entwickeltes Gesetzesmodell – zielt darauf ab, das Auftreten der Prostitution zu reduzieren, nicht aber darauf, sichere Arbeitsbedingungen für Sexarbeiter_innen zu gewährleisten. Diese rechtliche Initiative kriminalisiert Kund_innen von Sexarbeiter_innen und begreift alle Menschen in der Sexindustrie als Opfer. In Europa haben mehrere Staaten (Norwegen, Island und Nordirland, zuletzt auch Frankreich) Gesetze eingeführt, die Sexarbeiter_innen oder den Kauf sexueller Dienstleistungen kriminalisieren, ohne dabei Rücksicht auf die negativen Konsequenzen zu nehmen, die das für Sexarbeiter_innen hat. Schwedische Sexarbeiter_innen beobachten, dass ihnen nun weniger Zeit zur Verfügung steht, Arbeitsbedingungen oder sichere Arbeitsplätze auszuhandeln. Sexarbeiter_innen, die in privaten Räumlichkeiten arbeiten, können nicht länger Informationen wie z.B. Name und Telefonnummer ihrer Kund_innen verlangen und haben keine Zeit zu verhandeln, welche Leistungen angeboten werden können, wodurch ihre Sicherheit beeinträchtigt wird.

Sexarbeiterinnen, die im öffentlichen Raum auf der Straße arbeiten, sind am stärksten betroffen: Sie sind gezwungen, an den Rändern der Städte zu arbeiten, in kaum sichtbaren und schlecht zugänglichen Gebieten, in denen die Polizei ihre Kund_innen nicht verhaften kann. Es wird dadurch immer unwahrscheinlicher, dass sie Kontakt zu Beratungsstellen haben. Das Schwedische Modell basiert auf Ideologie und nicht auf Fakten. Wenn Kund_innen sich in der Gefahr sehen, verhaftet zu werden, wird Prostitution automatisch in den Untergrund gedrängt. Die Kriminalisierung von Kund_innen untergräbt die Selbstbestimmung von Sexarbeiter_innen, zwingt sie zudem in den Untergrund und verstärkt außerdem die Stigmatisierung und Diskriminierung, die bereits jetzt zur Marginalisierung von Sexarbeiter_innen führt.

Obwohl die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen in Ländern wie den Niederlanden und Deutschland nicht frei von Problemen sind, delegitimieren die Ansätze zur Regulierung der Sexindustrie die Sexarbeit nicht und versuchen nicht wie das Schwedische Modell, Sexarbeit abzuschaffen. Befürworter_innen der Kriminalisierung von Kund_innen oder Sexarbeit insgesamt sind bereit, unter dem Vorwand des Schutzes von Frauen die Ansichten und Meinungen derjenigen außer Acht zu lassen, die direkt von dieser Kriminalisierung betroffen sind: Sexarbeiter_innen selbst.

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Verein LEFÖ – Beratung, Bildung und Begleitung für Migrantinnen
Kettenbrückengasse 15/II/4,
A-1050 Wien
Mail: info@lefoe.at
Web: www.lefoe.at

„They don't see people, they see numbers“

  • 25.06.2015, 16:38

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war.

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war. 

Mit Burka gegen das Böse

  • 25.06.2015, 10:58

Superheld*innen des Marvel-Verlags haben nun auch Migrationshintergrund und tragen Kopftuch. Die multikulturellen Hero*ines spielen in der Comicwelt eine genauso wichtige Rolle wie Wolverine, Thor und Iron Man.

Superheld*innen des Marvel-Verlags haben nun auch Migrationshintergrund und tragen Kopftuch. Die multikulturellen Hero*ines spielen in der Comicwelt eine genauso wichtige Rolle wie Wolverine, Thor und Iron Man.

Sie hat eine blonde, wallende Mähne, Kurven wohin das Auge reicht und zeigt  dem  männlichem  Geschlecht, wo der Hammer hängt. So kannten Comic-Fans die bisherige Ms. Marvel. Weibliche Figuren wurden stets maß- los anzüglich gezeichnet. „Mich hat bis dato die übertrieben sexualisierte Dar- stellung der Frau in Comics gestört“, kritisiert die muslimische Feministin Dudu Kücükgöl. Die idealisierte weibli- che Frau sei nicht realitätsgetreu, die Körper stets normiert. „Da ist mir eine Spidermanfigur lieber als eine Heroine mit unrealistischen Körpermaßen“, so die Wirtschaftspädagogin. Das Comic- Imperium Marvel beschloss jedoch, mit der Zeit zu gehen und realitätsna- here Charaktere zu schaffen. Dunkle Haare und Teint, eine geballte Faust verziert mit Ringen, ein Teenie in seiner Blütezeit – die neue Ms. Marvel ist rebellisch  unterwegs.

PAKISTANI-PUNK. Eine Heldin mehr im Marvel-Kosmos – was ist schon dabei? Viel, denn die inter- nationale mediale Aufmerksamkeit war groß. Grund dafür war Kamala Khan. Kamala aka Ms. Marvel ist eine US-Amerikanerin mit pakistanischen Wurzeln. Interessant ist, dass die neue Ms. Marvel Muslima ist. Bei keinem*r bekannten Superhelden*in stand das Thema Religion bisher im Vordergrund – ob  Iron Man dem Christentum oder Buddhismus zugeneigt ist, davon war nie die Rede.

Fäuste mit einer Power, die dich ins Nirvana befördern können – und längere Beine als Heidi Klum. Kamalas Skill ist  es, ihren Körper nach Lust  und Laune zu formen. Die Macherinnen* der neuen Ms. Marvel, G. Willow Wilson und Sanaa Amanat, wollten eine Figur kreieren, mit der sich viele Mädchen identifizieren können - Migrationshintergrund hin oder her.

Sanaa Amanat ist selbst US-Amerikanerin mit pakistanischen Wurzeln und hat viele eigene Erlebnisse in die Figur einfließen lassen. Somit ist Kamala ein Vorzeigemädchen des amerikanisch-muslimischen Lifestyles. „Die Comicwelt reflektiert oft gesellschaftspolitische Entwicklungen. Man kann aber auch sagen, dass der Anstieg der muslimischen Charaktere etwas mit dem modernen muslimischen Lifestyle zu tun hat“, meint Medienmanager Karim Saad.

DIE ZERISSENEN. Kamala ist übrigens nicht die erste Muslima in amerikanischen Comics, die mit traditionellen Stereotypen und Geschlechternormen konfrontiert wird. 2002 widmete Marvel einer Burkaträgerin eine komplette Serie. Sooraya Qadir, alias Dust, kann sich in einen tödlichen Sandsturm verwandeln. Durch Wolverines Hilfe kommt die Afghanin nach New York, wo sie in den Kreis der Young X-Men aufgenommen wird. Im Land der unbegrenzten Freiheit und Demokratie ist die Burka jedoch ein No-Go! Neben emanzipierten Superheldinnen muss Dust auch mit anderen Outlaws fertig werden.  Erstaunlich ist, dass Dust im kompletten Comic kein einziges Mal enthüllt wird: , Ninja-Feeling pur! Weniger Arbeit für uns, dachten sich die Zeichner"'innen. Dass es sogar Sequenzen gibt, in denen Sooraya betet, fasziniert nicht nur muslimische Comicleser*innen. Hier werden tiefe Einblicke in das Leben einer Super-Muslima gewährt, aber ebenso wird gezeigt, was es heißt, zwischen zwei Kulturen und Identitäten leben zu müssen.

Neben Marvel Comics ist auch DC Comics auf die Diversitätsschiene aufgesprungen. Bilal Asselah ist ein Franzose mit algerischen Wurzeln und Student  in  Paris. Sein Wohngebiet  liegt in Clichy-Sous-Bois, einem Pariser Vorort, in dem es 2005 tatsächlich zu Revolten kam. Nachdem Bilals Freund bei einem Feuer in einer Polizeistation umkommt, widmet sich Bilal dem Parkour und wird zu „Nightrunner“, um Chaos und Bürger*innenkriegen in der Stadt vorzubeugen. Kurze Zeit später wird Batman auf ihn aufmerksam und kürt ihn zum „Batman von  Paris“.

INTEGRATIONSLEKTÜRE 2.0. „Seine Community repräsentiert zu sehen, prägt mehr als man glaubt“, sagt Comiczeichnerin Soufeina Hamed. Das Erscheinen in Massenmedien ist ein Zeichen dafür, dass  man als aktiver und selbstverständlicher Teil der Gesellschaft angesehen wird. Saad ist derselben Meinung: „Gerade die Film- und Serienindustrie könnte hier  unglaublich viel in  den Köpfen  der jungen Menschen verändern. Man denke etwa an die massiven Erfolge der X-Men Serie, die mehr als drei Milliarden Dollar eingespielt hat.“ Leser*innen sollen sich in den Figuren wiedererkennen können. „Vielfalt in Herkunft und Aussehen machen die Figuren lebendiger und spannender“, erklärt Hamed. Außerdem werden neue Perspektiven auf brisante gesellschaftliche Themen wie Kinder aus Migrationsfamilien eröffnet.

Superheld*innen wie Bilal entsprechen dem heutigen Zeitgeist, Identität spielt hier eine große Rolle. Marvel greift damit ein heikles Thema auf. Sooraya oder Kamala sind der Inbegriff einer modernen muslimischen Frau,  die ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten will, aber auf Granit stößt. Integrationslektüre vom Feinsten, wenn man so will.

Ob die Verlage mit Vorurteilen in unserer Epoche aufräumen möchten, da sie sich ihrer immensen Reichweite bewusst sind, oder die ethnische Diversität bloß der kapitalistischen Maschinerie in die Hände gefallen ist? Die Illustratorin Hamed tendiert eher zu letzterem. „Ich würde gerne an eine sozialkritische Absicht glauben. Ich persönlich habe mir aber meinen ersten Comic wegen der pakistanischen Ms. Marvel gekauft“,  meint Hamed.

 

Nour Khelifi studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und Biologie an der Universität Wien und ist als  freie  Journalistin  tätig.

Die österreichische Bevölkerung ist integrationsunwillig

  • 25.03.2015, 18:50

Seit IS und den Anschlägen in Paris kommt auch in Österreich immer wieder der Vorwurf der „Integrationsunwilligkeit“ von MigrantInnen auf. progress sprach mit Politikwissenschaftler Gerd Valchars über schwammige Begriffe, Demokratie und Unwissenschaftlichkeit.

Seit IS und den Anschlägen in Paris kommt auch in Österreich immer wieder der Vorwurf der „Integrationsunwilligkeit“ von MigrantInnen auf. progress sprach mit Politikwissenschaftler Gerd Valchars über schwammige Begriffe, Demokratie und Unwissenschaftlichkeit.

progress: Herr Valchars, wie würden Sie „Integrationsunwilligkeit“ definieren?
Gerd Valchars: Keine Ahnung. Ich hab dieses Wort nicht geprägt. Da muss man die Leute fragen, die diesen Begriff in die politische Debatte eingebracht haben.

Das heißt, es gibt gar keine wissenschaftliche Definition?
Nein, als Wissenschaftler kann ich mit diesem Begriff nichts anfangen.

Was ist dann die Funktion dieses Begriffes?
Ich denke, dass der Begriff „Integrationsunwilligkeit“ so attraktiv ist, weil er von unterschiedlichen Seiten eingesetzt werden kann. Er ist inhaltlich offen, genau wie der Imperativ der Integration an sich. Integration selbst hat ja eine interessante Begriffskarriere hinter sich: Ursprünglich bezeichnete sie die Forderung der MigrantInnen auf gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Wohnraum, Arbeit und dergleichen, die dann zu einem Imperativ umgewandelt wurde. Eine emanzipative Forderung wurde zum Befehl, sich zu integrieren. Damals wie heute ist alles, was mit „Integration“ zu tun hat, sehr offen. Es ist nicht klar, was mit der Forderung nach Integration überhaupt gemeint ist.

Wenn man will, kann man auch der österreichischen Bevölkerung und Politik Integrationsunwilligkeit konstatieren, weil sie sich weigern, Migrantinnen und Migranten gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Die hohen Anforderungen für den Erwerb einer österreichischen StaatsbürgerInnenschaft, die einen großen Anteil der MigrantInnen ausschließen, sind nur eines von vielen Beispielen hierfür.

Was erwarten sich Politik und Medien also von dem Integrationsunwilligkeitsmantra?
Sowohl in der Forderung nach Integration als auch in dem Vorwurf der Integrationsunwilligkeit steckt eine klare Statuszuweisung. Und zwar von Seiten derjenigen, die Integration fordern gegenüber denjenigen, von denen sie gefordert wird. Damit wird eine gesellschaftliche Hierarchie etabliert. Beziehungsweise wird sie aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft wieder „zurechtgerückt“. Integration als emanzipative Forderung der MigrantInnen hatte diese Hierarchie ursprünglich ein Stück weit in Frage gestellt.

Integration wie auch „Integrationsunwilligkeit“ sind politische Kampfbegriffe. Bestimmte vage Vorstellungen können in der Bevölkerung abgerufen und Vorurteile mobilisiert werden, ohne dass sie genau benannt und ausgesprochen werden müssen. Im Kopf einer Leserin oder eines Hörers geht möglicherweise sehr Unterschiedliches ab, wenn sie oder er das Wort „Integrationsunwilligkeit“ hört. Für die einen mag es um das Tragen eines Kopftuches gehen. Für anderen geht’s um unterstellte Ablehnungen nicht klar definierter Werte, die angeblich in der Mehrheitsgesellschaft verbreitet seien. Und die Dritten denken dabei an eine Selbstradikalisierung bis zum Dschihad.

Und wegen dieser Unschärfe ist der Begriff so beliebt?
Genau. Nur das macht es möglich, dass die Diskussion unmittelbar im Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris aufgekommen ist. Ebenso wird es dadurch möglich, dass Schulschwänzen und Bekleidungsvorschriften im Unterricht im Bezug mit den terroristischen Anschlägen von Paris genannt werden. Nur dieser extrem weite und undefinierte Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ kann eine Klammer um diese Dinge schließen, die nichts miteinander zu tun haben.

Kommt von wissenschaftlicher Seite Kritik an dem Begriff der Integrationsunwilligkeit?
Der Begriff kann schwer wissenschaftlich kritisiert werden, da er keinerlei wissenschaftliche Basis hat, weder in der Auseinandersetzung mit Migrationspolitik noch mit Gesellschaftspolitik. Man kann aber analysieren, wie er im Diskurs eingesetzt wird. Der Grund, warum er von Personen am rechten Rand über die politischen Mitte bis zu Personen, die sich selbst möglicherweise der politischen Linken zurechnen, verwendet wird, ist eben, dass er derart inhaltsleer ist.

Ich würde ja statt über vermeintliche „Integrationsunwilligkeit“ lieber über Inhalte und über demokratische Teilhabe in der Gesellschaft sprechen: im Bereich Bildung, am Arbeitsmarkt, im Bereich Wohnen, im Bereich politische Partizipation.

Das wäre Integration?
Das wäre Inklusion. Ich selbst verwende auch den Begriff der Integration nicht, da ich ihn nicht für brauchbar halte.

Warum?
Weil im Begriff der Integration per se immer schon die angesprochene Hierarchie und Platzanweisung drinnen stecken. Eine bestimmte Leistung muss erbracht werden, um Zugang zu bestimmten Rechten zu erhalten und gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Das ist nicht das eigentliche Konzept der Demokratie, die ja auf gleichberechtigtem Zugang für alle beruht, ohne dass manchen Teilen der Bevölkerung abverlangt wird, sich zunächst bewähren zu müssen.

 

Gerd Valchars ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien mit Forschungsschwerpunkten auf österreichische Regimelehre, Citizenship und Migrationsforschung.

Laura Porak studiert Soziologie und Volkswirtschaft an der Universität Wien.

Kein Asyl ohne Erektion

  • 25.03.2015, 18:42

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

LGBTI-Personen begegnen im Zuge ihres Asylverfahrens Klischees, Stereotypen und verschiedenste Grenzüberschreitungen.  Der Mord an der Türkin Hande Öncü, die vor Gewalt gegen Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen nach Österreich geflüchtet ist, ist ein Beispiel dafür, dass die Gewalt an LGBTI-Flüchtlingen in Österreich leider weitergeht.

MISGENDERN IST GEWALT. Ein anderer bekannter Fall spielte sich 2011 ab: Die Trans*Frau Yasar Ö. wurde in der Türkei aufgrund ihrer Transsexualität mehrmals verprügelt, ihre Familie setzte einen Mörder auf sie an. Ihr Asylantrag in Österreich wurde trotzdem abgelehnt. Der Grund: Sie wurde von den Asylbehörden nicht als Trans*Frau, sondern als homosexueller Mann, dem keine Verfolgung in der Türkei drohe, behandelt.

„Klare Themenverfehlung“, fasst Judith Ruderstaller das Urteil zusammen. Sie war damals beim Verein Asyl in Not tätig und betreute Yasars Fall. Nachdem NGOs wie Asyl in Not oder transX die Sachlage klarstellten, konnte das Urteil doch noch aufgehoben werden. Yasar wurde aus der Schubhaft entlassen und ein neues Verfahren wurde eingeleitet. Für Judith Ruderstaller war der Fall ein Wendepunkt, was den Umgang der österreichischen Asylbehörden mit LGBTI-Flüchtlingen betrifft: „Durch diesen Fall ist sehr viel Sensibilisierung reingekommen.“ Generell habe sich in den letzten fünf Jahren vieles verbessert: „2010 habe ich die Judikatur in Österreich im Bezug auf LGBTI-FLüchtlinge analysiert. Ich habe viele Asylbescheide gelesen und das waren grauenhafte Interviews, voller Stereotypen, die auch in intime Details der Sexualität hineinreichten“, erinnert sich Ruderstaller, die heute bei der Organisation Helping Hands Rechtsberatung zum Thema Fremdenrecht anbietet. Von Schulungen für Betreuer_innen, Dolmetscher_innen oder Richter_innen war damals noch keine Rede. Die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Österreich konfrontiert waren, konnten daher nur selten miteinbezogen werden.

BLUTFLUSSFRAGEN. Eine 2013 erlassene EU-Richtlinie sieht nun vor, dass Menschen, denen eine Haftstrafe aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung droht, Anspruch auf Asyl haben. In Österreich wurde die EU-Richtlinie noch nicht im staatlichen Gesetz verankert. Hier werden LGBTI-Flüchtlinge zur Kategorie der „sozialen Gruppe“ gezählt. Asylgrund besteht also dann, wenn eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ gegeben ist. Zu einer sozialen Gruppe zählen all jene Menschen, denen von der Gesellschaft in ihrem Heimatland ein gemeinsames Merkmal zugewiesen wird. Damit der Asylantrag positiv ausfällt, muss die Verfolgung jedoch eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten. Was das konkret bedeutet, ist Interpretationssache.

Die Personen müssen den Behörden glaubwürdig machen, dass sie homo-, bi-, trans- oder intersexuell sind. Im Bezug auf die Glaubwürdigkeit treten laut Ewa Dziedzic, Gründerin des Vereins MiGay, jedoch Probleme auf: „Wenn Menschen auf Grund einer Bedrohung flüchten, fällt ihnen in Europa nicht als erstes ein, über ihre Diskriminierungskategorie zu sprechen. Sie können auch zum Teil gar nicht wissen, wie hier mit diesem Thema umgegangen wird.“ Und doch: Über den Fluchtgrund mit geschultem und sensiblem Personal zu sprechen, ist ein weniger gewaltvolles und diskriminierendes Instrument als sogenannte „sexualpsychologische Gutachten.“ Zu diesen gehören die Forderung nach visuellen Beweisen intimer Handlungen oder wie bis vor kurzem in Tschechien noch üblich, phallometrische Messungen ebenso dazu wie indiskrete Fragen über das sexuelle Leben der Flüchtlinge. Gefragt wird zum Beispiel nach Sexstellungen bei gleichgeschlechtlichem Sex, der sexuellen Aktivität und der Anzahl der Partner_innen. Dass all diese „Gutachten“ nicht nur wissenschaftlich fragwürdig sind, sondern vor allem die Menschenwürde verletzen, stellte Anfang Dezember 2014 auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest.

SENSIBILITÄT. Trotz der Gewalterfahrungen, die Flüchtlinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemacht haben, muss wohl über diese Zugehörigkeit gesprochen werden. Denn es gibt kaum andere Instrumente, Fluchtgründe und ihre „Rechtfertigung“ zu ermitteln, als die eines sensiblen Nachfragens. Vereinzelt findet in Österreich noch ein anderes Instrument bereits Anwendung, so Ewa Dziedzic: „Was wir in Österreich auf NGO-Ebene machen, ist den Beweis dadurch zu erbringen, dass wir  den Behörden klarmachen, dass die betroffene Person in der LGBTI-Community aktiv ist. Insofern haben wir hier ein verstärkendes Instrument aus der Zivilgesellschaft.“

Auch wenn die Dolmetscher_innen, Berater_innen und Richter_innen schon etwas sensibler mit dem Thema umgehen als früher, gibt es immer wieder homo- und transphobe Situationen. So erzählt Ruderstaller von einem Gespräch zu einem Asylantrag: „Einmal hat sich ein Klient von einem Dolmetscher verletzt gefühlt. Auch die Vertrauensperson, die dabei war, empfand die Atmosphäre in dem Gespräch als homophob.“ Aufholbedarf sieht Ruderstaller auch bei der Judikatur. LGBTI-Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern zwar nicht mit harten Strafen rechnen müssen, denen es aber unmöglich gemacht wird, ihr Privat- bzw. Familienleben öffentlich auszuüben, haben auch heute noch eher schlechte Chancen auf einen positiven Asylbescheid: „Da sollten die Asylbehörden sensibler werden“, wünscht sich Ruderstaller: „Man sollte das Privatleben überhaupt nicht verbergen müssen, weil man sonst in der Persönlichkeit stark eingeschränkt wird. Das sollten die Asylbehörden gerade bei Ländern, in denen etwa Homosexualität ein Tabu ist, auch einsehen und Asyl gewähren.“

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien.

Elftes Gebot: Du sollst kein Tschuschisch sprechen!

  • 18.03.2015, 13:25

Die Rektorin einer Mödlinger Privatschule verhängte am Montag ein Deutsch-Gebot. Das kommt auch an öffentlichen Schulen vor, ist aber illegal.

Die Rektorin einer Mödlinger Privatschule verhängte am Montag ein Deutsch-Gebot. Das kommt auch an öffentlichen Schulen vor, ist aber illegal.

Am 16. März verschickte OStR Mag. Marina Röhrenbacher einen Brief an die SchülerInnen der Vienna Business School Mödling (VBS). Er ist fett mit „Amtssprache Deutsch“ übertitelt. Darin steht, fortan dürfe – abgesehen vom Fremdsprachen-Unterricht – nur noch Deutsch in der Schule gesprochen werden. Jugendliche, deren Eltern kaum Deutsch beherrschen, sollen sich demnach für Telefonate mit ihren Verwandten einen Bereich suchen, wo sie niemanden stören. Grund sei ein „interkultureller Konflikt“ zwischen einer makedonischen Putzkraft und einem albanischen Schüler. Der Brief wurde in sozialen Medien publik, was der Schule einen Shitstorm einbrachte. Anstatt das Schriftstück zurückzunehmen, wurde es als Missverständnis verkauft. Man stehe eh für Vielfalt, so eine Aussendung.

MELEK ÖT (Name von der Redaktion geändert) ist Lehrerin an einer Wiener Volksschule. Sie unterrichtet Kinder mit Muttersprache Türkisch. In jeder Volksschule haben Kinder nämlich das Recht auf einen gewissen Umfang Unterrichtsstunden in ihrer Muttersprache. Das findet meist während des Regelunterrichts in Kleingruppen statt. Öt meint, die Intention der VBS zu verstehen: „Diese Regelung, dass Deutsch gesprochen werden sollte, kann ich für den Unterricht oder die Kommunikation mit dem Lehrpersonal schon nachvollziehen.“ Die Unterrichtssprache ist auch grundsätzlich auch rechtlich geregelt. Problematisch wird es bei der Freizeitgestaltung.

Die Antirassismus-Meldestelle ZARA veranstaltet Workshops mit Jugendlichen, und dem Verein seien Schulen bekannt, welche immer wieder durch solch „krude interne Policies“ hinsichtlich sprachlicher Ge- und Verbote auffielen. Öt bestätigt, dass die Diskussion nicht abreißt: „In meiner Schule wollte eine Lehrerin auch verordnen, dass zwei Kinder in der Pause aufhören, Albanisch miteinander zu sprechen. Ich denke, die Intention ist eher, zum Deutsch-Üben anzuregen. Trotzdem sind solche Regeln, die in die Freiheiten der Kinder eingreifen, sehr problematisch.“ Das muttersprachliche Telefonieverbot in Mödling hält sie für absurd: „Sollen die Kinder also Dolmetscher für die Telefonate mit Eltern zwischenschalten? Oder jedes Mal vorher die Genehmigung der LehrerInnen einholen?“

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erlaubt Behörden nach §8 (2) den Eingriff in das Privat- und Familienleben nur, wenn dieser gesetzlich vorgesehen ist und etwa den Schutz der Rechte anderer betrifft. ExpertInnen zufolge fällt die Verwendung der Muttersprache darunter. Artikel 66 des Staatsvertrags von St. Germain (StVvStG) erlaubt österreichischen StaatsbürgerInnen den Gebrauch jeder „Sprache im Privat- und Geschäftsverkehr“. Das Schulrecht in Kärnten und dem Burgenland sieht überdies zumindest in der Pflichtschule bilingualen Unterricht für Angehörige autochtoner Minderheiten vor. Der Landesverband NÖ der Elternvertretungen vertritt die Ansicht, "Verhaltensregeln" in der Schule könnten im Rahmen einer erweiterten Hausordnung von allen Schulpartnern gemeinsam (§64 SchUG) zum Thema gemacht und beschlossen werden (§44 SchUG). Landesschulratspräsident Hermann Helm hält dagegen, dass die Pausensprache rechtlich keinen Platz in einer Schulordnung habe.

DIE VBS IST EINE PRIVATSCHULE, was die Handhabe etwas erschwert. Dennoch hält Hermann Helm fest: „Es gibt keine Rechtsgrundlage. Wie in den Pausen gesprochen wird, wie in den Pausen kommuniziert wird, dafür gibt es keine Vorschrift.“ Der Präsident des Landesschulrats Niederösterreich führt aus, dass ein Deutsch-Gebot an öffentlichen Schulen rechtswidrig wäre: „Das müsste ich sofort untersagen. Das hätte disziplinäre Konsequenzen für den Schulleiter.“

Frau Mag. Röhrenbacher war für eine Stellungnahme gegenüber progress ebenso wenig erreichbar wie die zuständige Sektionschefin im Bildungsministerium. Daher ist unklar, welche disziplinären Konsequenzen an der VBS folgen.

 

Zoran Sergievski studiert Publizistik an der Universität Wien.

Links

Ein älteres, aber immer noch spannendes Interview mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität: Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme

 

Ein Spiegel der Gesellschaft?

  • 04.08.2014, 15:09

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Bei seinem ersten Vorsprechen an einer Schauspielschule wurde Markus Subramaniam gesagt, er solle sich auch nach Job-Alternativen umsehen. „Ich finde es in Ordnung, dass man den Leuten, die vorsprechen, realistisch sagt, dass ihr Talent nicht ausreicht. Aber dann haben sie mir noch ein paar Rollen vorgeschlagen, die ich beim nächsten Mal vorsprechen solle und das waren ausschließlich dunkelhäutige Paraderollen, wie zum Beispiel der ‚Mohr‘ bei Shakespeare. Da habe ich mir gedacht: Also groß ist eure Fantasie nicht.“

Subramaniam hat sich nicht nach Job-Alternativen umgesehen und wurde kurz danach am Max Reinhardt Seminar in Wien zum Schauspielstudium aufgenommen. Während seines Studiums war seine Hautfarbe kein Thema, erzählt er: „Aber ich glaube schon, dass sie trotzdem eine Rolle spielt. Allein, weil ich auffalle. Weil es im staatlichen Theaterbereich kaum andere Dunkelhäutige gibt. Und ich spüre schon immer eine besondere Aufmerksamkeit, wenn ich wo vorspreche.“ Direkt nach dem Studium ging der gebürtige Deutsche, dessen Vater aus Sri Lanka kommt, ans Landestheater Linz, wo er vier Jahre lang festes Ensemblemitglied war. „Als ich auf der Schauspielschule war, habe ich mir gedacht, dass ich bestimmte Rollen wahrscheinlich nicht bekommen werde, aber meine zweite Rolle war gleich ‚Karl Moor’ in Schillers ‚Die Räuber‘, wo ich einen weißen Bruder und einen weißen Papa hatte. Die Theaterleiter in Linz haben mich nie in eine Ecke gedrängt, dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“

Ausnahmefälle. Daraus zu schließen, dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft alles eitel Wonne sei, wäre aber zu kurz gegriffen. Immer wieder war das Theater in den letzten Jahren repräsentationspolitischen Debatten ausgesetzt. Unter anderem wird dabei die Frage verhandelt, welche Rolle Rassismus auf den deutschsprachigen Theaterbühnen spielt. Subramaniam ist als dunkelhäutiges Ensemblemitglied an einem österreichischen Theater ein Ausnahmefall. „Das ist schon ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt er. In seinem vierten und letzten Jahr am Landestheater in Linz wurde das von den Theaterleitern genutzt und Markus Subramaniam als „Othello“ besetzt. Als er den Vertrag für Linz unterschrieb, war seine Bedingung, dass er die Paraderolle, die sonst nach wie vor meist mit weißen Schauspielern besetzt wird, spielen dürfe.

Auch Nancy Mensah-Offei hat es wie Markus Subramaniam auf eine staatliche Schauspielschule geschafft. Mensah-Offei, die in Ghana geboren wurde und mit sieben Jahren nach Österreich kam, wird dieses Jahr mit dem Schauspielstudium am Konservatorium der Stadt Wien fertig. Auch ihr wurde ein Festengagement an einem Theater angeboten, das sie aber abgelehnt hat, um erst mal als freie Schauspielerin zu arbeiten. „Bis jetzt hat man mir am Theater oder in der Schauspielschule nie das Gefühl gegeben, dass meine Hautfarbe ein Problem wäre. Bei der Aufnahmeprüfung war nur mein Bein ein Thema, weil ich humple. Die Frage war, ob man darüber hinwegsehen kann oder nicht. Das heißt, es sind insgesamt drei Faktoren, die es in Österreich für mich schwieriger machen: Ich bin eine Frau, ich bin schwarz und ich habe eine körperliche Behinderung.“

Im Theater sei bisher nie ihre Hautfarbe der Grund für ihre Besetzung gewesen, so die Schauspielerin. Im Gegensatz zum Film: „Bei der ORF-Produktion ‚Schlawiner‘ war klar, dass eine dunkelhäutige Schauspielerin gesucht wird.“ Obwohl Nancy Mensah-Offei am Theater durchwegs positive Erfahrungen gemacht hat, kam es in Kritiken auch schon zu fragwürdigen Aussagen aufgrund ihrer Hautfarbe. So schrieb beispielsweise die Wiener Zeitung in einer durchaus begeisterten Kritik über die „Argonauten“ am Rabenhoftheater: „Die Entdeckung des Abends ist Nancy Mensah-Offei. Ihre Medea ist wie eine hoheitsvolle Voodoo-Priesterin.“

Reproduktion von Rassismen. Nicht nur in Theaterkritiken kommt es immer wieder zu (subtilen) Rassismen. Erst kürzlich wurde es um das Thema in der Theaterlandschaft wieder laut, als vor ein paar Monaten die Wiener Festwochen ihr diesjähriges Programm veröffentlichten. Der Verein Pamoja – The Movement of the Young African Diaspora in Austria initiierte via Facebook eine Petition zur Absetzung eines Stücks von Jean Genet, das in der deutschen Übersetzung mit „Die Neger“ betitelt wurde. Die Kritik: Durch den Titel werde eine rassistische Haltung reproduziert, der man entgegenwirken müsse. Der Regisseur Johan Simons schlug eine
Titeländerung zu „The Blacks“, in Anlehnung an die englische Übersetzung, oder zu „Die Weißen“ vor. Der Übersetzer der deutschen Fassung, Peter Stein, lehnte das jedoch ab, da der Titel für die Clownerie aus den 50er-Jahren, die auf gleichnishafte Weise mit Klischees arbeitet, bewusst provokant gewählt sei.

Für Aufregung sorgte auch ein Bild im Programmheft der Festwochen, auf dem schwarz angemalte weiße Gesichter zu sehen waren. Diese Praxis des Blackfacing wird oft mit „Minstrel-Shows“ in den USA des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, in denen weiße Schauspieler_innen schwarz und oft mit grotesken Mienen geschminkt wurden, um sich auf der Bühne mit Hilfe klischeehafter Zuschreibungen über Schwarze lustig zu machen. Blackfacing wird allerdings bereits seit dem Mittelalter auch in Europa betrieben.

Die Prämisse des Autors Jean Genet, „Les nègres“, wie der Titel des Stücks im französischen Original lautet, nur mit schwarzen Schauspieler_innen zu besetzen, wurde von Regisseur Johan Simons in seiner Festwochen-Produktion bis auf eine Ausnahme jedenfalls nicht eingehalten. „Wäre es nicht wenigstens drin gewesen, dass Simons den einzigen Witz des Stoffes nicht kaputtmacht? Genets Regieanweisung, nur schwarze Schauspieler zu besetzen, hatte immerhin verstanden, dass es beim Rassismus im Theater um konkrete Repräsentationsfragen geht. Dass Simons nun weiße Schauspieler schwarze Schauspieler spielen lässt, die weiße Kolonialisten spielen, zeigt dagegen, dass er das Stück überhaupt nicht begriffen hat“, schrieb Die Zeit. Im Endeffekt passierte dann nicht viel. Die Aufführungen von Genets Stück gingen nach den Protesten im Vorfeld still über die Bühne. Beim Salongespräch zur Inszenierung, das ebenfalls im Rahmen der Festwochen unter dem Titel „Political Correctness auf der Bühne. Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit“ stattfand, saßen auf dem Podium ausschließlich Weiße. Im Falter hieß es dazu: „Intendant Hinterhäuser sagt, man habe vergeblich versucht schwarze Diskutanten zu finden.“

Weiße Norm und schwarze Schminke. In den letzten Jahren war es in Zusammenhang mit Blackfacing immer wieder zu heftigen Diskussionen gekommen: In der Inszenierung von „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ 2010 am Schauspielhaus Wien, in dem es um das Schicksal afrikanischer Boat People ging, malten sich die Schauspieler_innen in der Inszenierung von Felicitas Brucker schwarz an und machten sich dann mit Mehl wieder weiß. Die Blackfacing-Debatte wurde damals noch nicht aufgegriffen, die Kritik hob den dadurch verursachten Verfremdungseffekt hervor. Wiederbelebt wurde die Blackfacing-Debatte dann 2011, als in Deutschland gleich zwei Theaterhäuser Premieren mit weißen Schauspielern, die schwarz angemalt werden sollten, ankündigten. Eine hitzige Diskussion entbrannte, die Inszenierung am Deutschen Theater wurde schließlich abgesagt, weil der Autor des Stücks, der Pulitzer-Preisträger Bruce Norris, dem Theater, das die Figuren nicht werkgetreu besetzte, die Aufführungsrechte entzog. Das Deutsche Theater, eines der vier subventionierten Sprechtheater Berlins, scheiterte daran, Schwarze
als Schwarze zu besetzen.

Am Linzer Landestheater wurde 2012 „Lulu“ von Frank Wedekind inszeniert. „Da kommt am Ende eine als ‚Neger‘ bezeichnete Figur mit dicken Lippen und singt Gospels. Genau so ist die Rolle angelegt. Als Reaktion auf die damalige Blackfacing-Debatte hat der Linzer Schauspieldirektor Gerhard Willert einen Kollegen von mir schwarz angemalt und ihn diese Rolle spielen lassen, während ich weiß angemalt wurde und den Weißen gespielt habe“, erzählt Markus Subramaniam.

Nancy Mensah-Offei sagt zu Blackfacing: „Ich finde es schon störend, dass ein ‚Othello‘ fast immer schwarz angemalt wird. Es gibt genug dunkelhäutige Schauspieler hier in Österreich, die das könnten, aber nicht die Chance bekommen.“ Dass es an den deutschsprachigen Theatern nach wie vor kaum Schauspieler_innen gibt, die nicht einer herrschenden Norm entsprechen, die sich nach wie vor als „weiß“ definiert, ist eine Tatsache.

Migrant-Mainstreaming. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum die Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus und Migration bisher fast ausschließlich in einer Nische geschieht. Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist keineswegs neu. Obwohl in Wien mehr als 50 Prozent der Einwohner_innen migrantischen Hintergrund haben, hat die Realität der Einwanderungsgesellschaft noch nicht wirklich auf die großen Bühnen gefunden. Die rot-grünen Kulturpolitiker_innen fordern seit 2010 zwar von den geförderten Kulturbetrieben, dass sie aktiv „Migrant-Mainstreaming“ betreiben, trotzdem sind große gesellschaftliche Gruppen im Sprechtheater noch immer unterrepräsentiert. Postmigrantisches Theater findet nicht an den großen Häusern, sondern vor allem im Off-Bereich und auf den Wiener Mittelbühnen statt. Dass Wien eine Stadt der Eingewanderten ist, spiegle sich auf den Bühnen viel zu wenig wider, meint auch der Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ).

So meint auch Nancy Mensah-Offei, dass sie manche Rollen und an manchen Häusern wahrscheinlich nie spielen werde: „Ich habe mich nicht unbedingt am Burgtheater oder an der Josefstadt beworben. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich im deutschsprachigen Raum als Gretchen besetzt werde, ist gering. Ebenso hält sich die Chance, die Julia zu spielen, in Grenzen. Ich werde wahrscheinlich auch nie in Salzburg im ‚Jedermann’ spielen. Und ich glaube schon, dass meine Hautfarbe der Grund dafür ist. Wenn man mir eine Rolle in einem dieser großen Klassiker anbieten würde, würde ich aber natürlich sofort ja sagen.“

Anne Wiederhold, die künstlerische Leiterin des Kunst- und Sozialraums Brunnenpassage, hält es angesichts dieser Situation für nötig, dass sich die großen Häuser umorientieren: „Die Idee von öffentlicher Kulturförderung ist ja im Prinzip, dass Kunst ein Spiegel für die Gesellschaft sein soll. Wenn sich die Gesellschaft komplett verändert hat, dann muss da was passieren. Alle zahlen Steuern, aber nur ein Bruchteil rezipiert. Im Off-Theater-Bereich zu bleiben, ist aus meiner Perspektive absolut zu wenig.“

Postmigrantisches Theater. Die deutsche Theaterszene ist da vielleicht schon einen Schritt weiter. Seit der Saison 2013/14 wird das staatlich geförderte Maxim Gorki Theater in Berlin als Theater, das sich der kulturellen Vielfalt nicht verschließt, geführt. Man geht davon aus, dass das Leben längst transkulturell ist und bringt das auch auf die Bühne. Das Ensemble ist vielfältig, gespielt wird Neues und Klassisches. Geleitet wird das Maxim Gorki Theater von Jens Hillje und Shermin Langhoff, die den Begriff des postmigrantischen Theaters nach Deutschland gebracht hat. Ihr ehemaliges Theater Ballhaus Naunynstraße wurde unter ihrer Leitung zum Inbegriff eines Theaters für Menschen, die vielleicht nicht selbst migriert sind, aber in diesem Kontext leben, und zum „Kristallisationspunkt für Künstlerinnen und Künstler migrantischer und postmigrantischer Verortung“. Dass die dort uraufgeführte Inszenierung „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje als erstes postmigrantisches Stück zum prestigereichen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, war ein bedeutender Schritt.

Seit ein paar Jahren findet durchaus auch in Wien eine Auseinandersetzung mit postmigrantischem Theater statt. So vergibt etwa das interkulturelle Autorentheaterprojekt der Wiener Wortstätten seit 2007 jährlich einen Preis an Stücke, die sich mit Identität und Interkulturalität auseinandersetzen. Ibrahim Amir wurde 2013 für seine Ehrenmord-Komödie „Habe die Ehre“ mit dem Nestroypreis für die beste Off-Produktion ausgezeichnet und die Theatergruppe daskunst arbeitet seit Jahren unter der Leitung von Asli Kislal zur Hybridisierung der Gesellschaft. Das Wiener Mittelbühnen-Theater Garage X, das sich auf zeitgenössische Dramatik spezialisiert hat, startete 2011 zusammen mit Kislals Theatergruppe eine Schwerpunktreihe zum Thema „Pimp my Integration“. Mit exemplarischen Theateraufführungen und Podiumsdiskussionen wurde der Frage nachgegangen, welche kulturpolitischen Maßnahmen es braucht, damit postmigrantische Positionen und Themen zunehmend auf die Wiener Theaterbühnen finden. Als Fortsetzung der Reihe wurde 2012 das Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ in der Garage X in einer eigenen Wiener Version von Volker Schmidt inszeniert. In dem Stück geht es darum, sich nicht darauf reduzieren zu lassen, Migrant_in oder Postmigrant_in zu sein. Nancy Mensah-Offei hat mitgespielt: „Obwohl es im Stück viel um Herkunftsfragen geht, hat meine Hautfarbe in der Inszenierung keine Rolle gespielt. Es ging hauptsächlich um das Kopftuch, das ich getragen habe“, erzählt sie.

Große Pläne, wenig Geld. Die Garage X, das Kabelwerk und die Theatergruppe daskunst haben sich nun auch zusammengetan und das Werk X gegründet. Dort soll inhaltlich progressives Theater mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auf internationalem Niveau und unter Einbezug der Diversität der Wiener Bevölkerung geboten werden. Teil des neuen Programms ist das DiverCITYLAB von Asli Kislal, das sich der Heranführung migrantischer Publikumsgruppen an das Theater widmet. Es will „dem Gegenwartstheater ein neues, unserer postmigrantischen Gesellschaft angemessenes Gesicht geben, mit neuen Akteur_innen und neuen Theatermacher_innen“ und beinhaltet auch eine eigene Schauspielschule für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Die Budgets von Werk X und DiverCITYLAB werden übrigens separat verwaltet: Während das Werk X mit über 1,5 Millionen Euro von der Stadt Wien gefördert wird, gehen an Asli Kislal und ihr DiverCITYLAB gerade einmal 100.000 Euro jährlich.

Sara Schausberger ist freie Journalistin und hat in Wien Germanistik studiert.

„Warum reden sie über meine Generation?“

  • 05.04.2014, 12:28

Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben.

Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben. 

Seneit blickt in die Kamera und schmunzelt: „Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sag’ ich manchmal aus Spaß, weil ich sie ärgern will: aus Mannheim. Ich mach’ das gerne, so provokativ zu sagen: Wieso? Ich bin auch Deutsche! Das find’ ich total amüsant.“ Dabei ist das keineswegs ein Witz. Die junge Frau, die heute in Berlin lebt, ist tatsächlich in der baden-württembergischen Quadratestadt aufgewachsen. Nichtsdestotrotz provoziert diese biographische Tatsache so manche_n deutsche_n Bürger_in, weil Seneit, die als Kind mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg in Eritrea geflohen ist, eben Seneit heißt und schwarz ist. „Die Deutschen reden zwar über Integration und so, aber letztendlich ist es so: Bei den einzelnen Deutschen ist einfach noch nicht angekommen, dass es auch schwarze Deutsche gibt, oder viele andere Deutsche mit einem anderen sozialen und kulturellen Hintergrund“, konstatiert Seneit und fügt hinzu: „Leben in Deutschland ist ein bisschen so wie auf einer Party zu sein, auf die man eigentlich nicht so richtig eingeladen wurde.“

Die Vielfalt der zweiten Generation. Seneit ist eine von vielen, die ihre Geschichten im Rahmen des Projekts „with wings and roots“ erzählt haben. Vor fünf Jahren begann dessen Gründerin, die in Brooklyn lebende Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace, in Berlin und New York Interviews mit Kindern von Migrant_innen zu führen. „Das hat auch viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun“, erzählt sie im Interview mit progress: „Ich wollte einen Film über meine Altersgenoss_innen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle.“ Antonakos- Wallaces Anspruch war dabei von Anfang an, die Kreativität und die Intelligenz jener Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, über die Mainstream- Medien in Zeiten der Integrationsdebatte zwar viel zu sagen haben, dabei aber allzu oft Stereotype einer orientierungslosen „zweiten Generation“ reproduzieren: geprägt von Bildungsdefiziten, gefangen in Parallelgesellschaften oder zerrissen zwischen scheinbar miteinander unvereinbaren Kulturen. Der tatsächlichen Vielfalt der Stimmen, Perspektiven und Lebensrealitäten von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte wird dabei kaum Raum gegeben.

Angetreten, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine Plattform zu schaffen, die es Kindern von Migrant_innen erlaubt, für sich selbst zu sprechen, ist „with wings and roots“ mittlerweile zu einem vielschichtigen Bildungs- und Multimediaprojekt herangewachsen, an dem mehr als 30 Personen ehrenamtlich mitarbeiten. Zwei Kurzfilme und Bildungsmaterialien, mit denen unter anderem in Schulklassen und Workshops gearbeitet wird, sind entstanden. Noch heuer wird ein abendfüllender Dokumentarfilm veröffentlicht. Außerdem wird Seneits Geschichte gemeinsam mit jenen von über 50 weiteren jungen Menschen auf einer zweisprachigen, interaktiven Webseite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus einer Vielzahl kurzer Videoclips wird im Netz eine umfassende Geschichtensammlung geschaffen, in der ganz unterschiedliche junge Berliner_ innen und New Yorker_innen ihre Positionen und multiplen Zugehörigkeiten in Zusammenhang mit der Migrationserfahrung ihrer Eltern und Großeltern, vor allem aber auch mit den Exklusions- und Inklusionsmechanismen der deutschen und der amerikanischen Gesellschaft reflektieren. Mit Hilfe einer aufwendig gestalteten Zeitleiste der deutschen und amerikanischen Migrationsgeschichte wird dort auch aufgezeigt, wie diese individuellen Geschichten mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen verzahnt sind: von der deutschen Kolonialgeschichte bis zu aktuellen Diskussionen rund um eine Reform der Immigrationsgesetze in den USA. „Damit ist auch der Anspruch verbunden, Wissenslücken zu schließen“, erklärt Olga Gerstenberger, die in den letzten zwei Jahren intensiv an der Erstellung dieser Zeitleiste mitgearbeitet hat: „Die Stereotype in den Köpfen der Menschen haben nämlich einerseits viel mit historischen Prägungen zu tun und gleichzeitig auch mit einem gewissen Nicht-Wissen.“

Christina Antonakos-Wallace, Regisseurin und Produzentin von „with wings and roots“. Foto: with wings and roots

Auch der komparative Zugang soll dazu beitragen, das Thema Migration in ein neues Licht zu rücken, erklärt Christina Antonakos-Wallace: „Das Thema in einem neuen und transnationalen Kontext zu sehen, soll dem Publikum auf beiden Seiten des Atlantiks die Möglichkeit geben, zu erkennen, dass die Dinge nicht unbedingt so sein oder bleiben müssen, wie sie sind. Der Vergleich soll in Frage stellen, dass die jeweiligen Vorstellungen von nationaler Identität und Fremdheit natürlich oder unveränderbar seien.“ Als Vorbild will sie aber weder die deutsche, noch die US-amerikanische Gesellschaft verstanden wissen, denn wie ein roter Faden durchzieht eine Gemeinsamkeit die sonst so heterogenen Geschichten, die junge Menschen auf beiden Seiten des Ozeans erzählen: das Dilemma, in einem Umfeld aufzuwachsen, das sie alltäglich daran erinnert, dass sie nicht „wirklich“ dazu gehören, zugleich aber konstant ihre Verpflichtung betont, sich zu integrieren.

Herkunftsdialoge. Obwohl Dina nicht in Mannheim, sondern in New York aufgewachsen ist, kennt auch sie die von Seneit angesprochene Krux nur allzu gut. Sie blickt ernst in die Kamera: „Wenn die Leute mich fragen, woher ich komme, denke ich, aus New York. Und dann, wenn sie nicht zufrieden sind, mit dieser Antwort, fragen sie: Wo kommst du wirklich her? Als ob das ‚wirklich‘ alles klären würde. Oder: ‚Wo kommen deine Eltern her?’“ Der Migrationsforscher Mark Terkessidis bezeichnet diese „Herkunftsdialoge“ als „subtile Form der Verweisung“, die immer auch kommuniziert: Mit deinem Aussehen und deinem Namen gehörst du eigentlich woanders hin. Die alltägliche Frage nach der „wirklichen Herkunft“ spiegelt wider, „wie eng Zugehörigkeit heute noch immer definiert wird“, erklärt Christina Antonakos-Wallace. Akim, dessen Familie in den 80er-Jahren aus Vietnam geflüchtet ist, fasst das in einem ihrer Kurzfilme so zusammen: „Hier in Deutschland ist man halt noch immer ein Ausländer. Und man ist ja offensichtlich ein Ausländer. Aber das Krasse ist ja auch, wenn man nach Vietnam geht, dass man dann auch ein Ausländer ist.“

Derya, die sich selbst als „Deutsch-Türkin, weder türkisch noch deutsch, eben Deutsch-Türkin“ bezeichnet, sieht die Logik der Deplatzierung auch im deutschen Integrationsdiskurs verankert: „Als es damals im Fernsehen oder in den Zeitungen anfing, dachte ich: ‚Hä? Warum Integration? Warum reden sie von meiner Generation? Ich bin doch integriert. Ich bin doch hier aufgewachsen.‘“ Und sie ergänzt: „Man kennt ja die Straßen in- und auswendig. Und dass man dann nicht akzeptiert wird oder mit irgendwelchen Vorurteilen belastet wird, trifft einen schon sehr oft.“

Sonny erzählt davon, wie es war als Sikh in Charlotte, North Carolina, aufzuwachsen: „Während dieser Zeit hatte ich ein wahres Verlangen, weiß zu sein. Ich wollte nicht diese fremde Gestalt sein, wo immer ich hinging. Ich wollte John heißen, eine gute Frisur haben und Basketball spielen.“ Von Mobbing in der Schule, „Ausländerklassen“ und Hauptschulempfehlungen, „weil für Ausländerkinder eben nicht mehr geht“, wird in der Geschichtensammlung viel erzählt; aber auch davon, wie Juliana, allen Entmutigungen durch LehrerInnen und ihr Umfeld zum Trotz, die Highschool abschließt, wie Ipek in Berlin ihre erste lesbische Gruppe gründet und Sonny heute in New York als Teil der Sikh Coalition gegen rassistische Diskriminierung kämpft.

Sonny ist eines von 50 Kindern von Migrant_innen aus Berlin und New York, die im Rahmen des Projekts „with wings and roots“ ihre Geschichte erzählt haben. Foto: with wings and roots

Welche Rolle für die jungen Protagonist_innen dabei ihre Wurzeln spielen, ist völlig unterschiedlich. „In einer Gesellschaft wie dieser, in der es einen großen Assimilationsdruck gibt, ist es, denke ich, sehr wichtig für uns als zweite Generation von Einwanderer_ innen, uns mit unserer Herkunft zu identifizieren und stolz darauf zu sein,“ sagt Sonny. Zugleich kritisiert er ein Verständnis von Kultur als etwas, das es zu bewahren und konservieren gilt. Akim stellt fest: „Wurzeln? Wenn man die lange genug kocht, werden sie auch weich“ und schenkt Tee ein. Und Dina meint: „Ich denke es ist wichtig für manche Leute, mit ihren Wurzeln verbunden zu bleiben. Aber ich habe das Gefühl, dass mich diese Frage nie betreffen wird.“

Bewegte Zugehörigkeiten. Nicht zuletzt thematisiert „with wings and roots“, welch vielfältige Antworten die Kinder von Migrant_innen auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit und dem Zuhause finden: „Ich glaube, gerade jetzt ist Brooklyn Zuhause, aber ich denk, dass ich ein anderes Zuhause auch woanders kreieren kann“, sagt Sonny dazu. „Heimat ist für mich, wo ich meinen Kopf hinlege“, meint Miman und deutet das Bild vom Leben zwischen den Welten im positiven Sinne um. Statt als Anlass zur Krise sieht er es als Vorteil: „Ich bin halt zwischen zwei Stühlen aufgewachsen, ich durfte zwei Kulturen erleben und ich hab das für mich so geregelt, dass ich mir von beiden das Beste genommen habe.“ Seneit strahlt regelrecht, wenn sie erzählt: „Für mich ist das Beste einfach nur, dass ich die Wahlmöglichkeit habe. Ich kann gerne in Deutschland leben und mich wohlfühlen und ich  kann gerne in Eritrea leben und mich wohlfühlen. Und das find ich toll. Da fühl ich mich reich.“ Eine eindeutige Identität gibt es für sie nicht: „Das ist einfach wie so ein ganzer Blumenstrauß.“ Auch Dina lacht, als sie sagt: „Ich denke, ich bin mehr als alles andere Amerikanerin, da ich sehr verwirrt bin. Denn auch so viele andere Amerikaner_innen, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, sind verwirrt.“ Und schließlich äußert auch sie Zweifel, ob es tatsächlich eindeutiger Antworten auf die Frage der Zugehörigkeit bedarf: „Mag es eine komplizierte Angelegenheit sein! Ehrlich gesagt, mag ich es, dass es schwierig ist, diese Frage zu beantworten.“

Anna Ellmer hat in Wien und Paris Kultur- und Sozialanthropologie studiert.

Für ein ausführliches Interview mit der Regisseurin und Produzentin Christina Antonakos-Wallace lies weiter  unter Bewegte Zugehörigkeiten.

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“: http://withwingsandrootsfilm.com.

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh.

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder einen Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, über Facebook und/oder die Website mit dem Team in Kontakt zu treten.  

Bewegte Zugehörigkeiten

  • 07.03.2014, 12:21

Warum sie Goethe die Worte im Mund umdreht und neue Perspektiven auf Migration sowohl in Europa als auch in den USA dringend nötig sind, erklärt die Dokumentarfilmerin und Gründerin von „with wings and roots“, Christina Antonakos-Wallace, im Interview.

Zwei Kurzfilme wurden im Rahmen des kollaborativen Multimediaprojekts „with wings and roots“ bereits veröffentlicht, noch heuer folgen eine abendfüllende Doku und eine interaktive Website. Dabei entsteht eine umfassende transnationale Sammlung von Geschichten, die sichtbar macht, wie die sogenannte „zweite Generation von Migrant_innen“ in Berlin und New York auf vielfältige Weise Zugehörigkeit neu denkt und lebt – allen Herausforderungen zum Trotz.

progress: Goethe schrieb: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Du hast für den Titel eures Projekts „with wings and roots“ die Reihenfolge der Wurzeln und der Flügel geändert. Warum?

Christina Antonakos-Wallace: Für mich war es wichtig, die Visionen und die Kreativität, die viele Kinder von Migrant_innen aus ihren multiplen Lebenswelten schöpfen, in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht werden diese nämlich kaum thematisiert, wenn über Migration gesprochen und geschrieben wird. Deshalb stehen die Flügel für mich an erster Stelle. Ich sehe auch die Gefahr, dass der Begriff „Wurzeln“ leicht in Zusammenhang mit fixen Ideen von Kultur und Identitäten instrumentalisiert werden kann. Angesichts des Drucks sich zu assimilieren, müssen viele Menschen in der Diaspora zugleich aber auch hart dafür kämpfen, mit ihrem kulturellen Erbe verbunden zu bleiben. Auch die Verbindung der Menschen zu ihren Communities und Familien, oder was auch immer den Menschen Kraft und ein gewisses Fundament gibt, soll deshalb honoriert werden.

Einer der Kurzfilme, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, trägt den Titel „Where are you FROM from?“ Was steckt hinter diesem Titel?

Diese Frage, woher man „wirklich“ kommt, ist so gängig, so alltäglich und spiegelt dabei besonders, wie eng Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft noch immer definiert wird. Daran, dass viele Kinder von Migrant_innen diese Frage täglich mehrmals beantworten müssen, kristallisiert sich ihr Dilemma, wenn es um das Gefühl geht, willkommen zu sein. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung und jener vieler Freund_innen sagen, dass diese Frage gnadenlos ist, auch wenn sie an der Oberfläche so einfach erscheint und sehr ehrlich gemeint sein kann. Aber wenn diese Frage, woher du „wirklich“ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, „hier“ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein dritte Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst. Außerdem mag ich die Ironie, die gewissermaßen in der Frage steckt, weil „Where are you from from“ im Grunde ja ein grammatikalisch inkorrekter Satz ist.

Davon, dass diese Frage ständig widerkehrt, erzählen sowohl ProtagonistInnen in Berlin als auch in New York. Gleichzeitig werden im Rahmen des Projekts auch Unterschiede zwischen der Situation in den beiden Ländern greifbar.

Alleine dass in Deutschland über alle Generationen von Migrant_innen nach wie vor als Migrant_innen gesprochen wird, ist ein großer Unterschied. In den USA beobachtet man meist innerhalb von einer Generation den Übergang von der Bezeichnung als Migrant_in zur Bezeichnung als Amerikaner_in, wenn auch in Zusammenhang mit einer rassifizierten Kategorisierung, zum Beispiel als „Asian-American“. Das ist auch keine großartige Situation, weil du zwar Amerikaner_in wirst, in vielen Fällen aber eine spezielle, nämlich diskriminierte Art von Amerikaner_in. Trotzdem ist der Unterschied von Bedeutung. Es wird in Deutschland auch oft auf sehr generalisierende Weise über Migrant_innen gesprochen, als würden sie alle die gleichen Erfahrungen machen und mit den gleichen Problemen kämpfen. Das ist irreführend: Während manche Migrant_innen sehr gebildet und wohlhabend sind, gehören andere zur Arbeiter_innenklasse, sie decken das gesamte soziale Spektrum ab.

In Deutschland gibt es auch diesen starken Fokus auf Integration. Dazu denke ich mir: Diese jungen Leute sind hier aufgewachsen. Was heißt, sie sind nicht integriert? Diese Leute sind Teil der Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft! Und wenn Integration mit wirtschaftlichen oder bildungsbezogenen Errungenschaften gleichgesetzt wird, müssen wir fragen, welche strukturellen Barrieren es hier gibt. Viele Menschen, die seit Langem hier leben, werden systematisch ausgeschlossen – vor allem durch ein Schulsystem, das Machtverhältnisse stark reproduziert. Darüber wird aber kaum gesprochen. Und schließlich wird auch darüber, dass sich Deutschland selbst in einem Wandlungsprozess befindet, so wie sich alle Länder ständig verändern, nicht nachgedacht. Stattdessen hält man an einer essenzialisierenden Version der Geschichte fest und denkt, dass Deutschland vor 200 Jahren tatsächlich „deutsch“ war.

Welche Rolle spielt das Bild von den USA als Nation der MigrantInnen in diesem Zusammenhang?

Natürlich macht es einen Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen in den USA schon deutlich länger im Gange sind und aus meiner Sicht haben sich Migrant_innen dort über die Generationen mehr institutionelle Macht angeeignet. Dennoch halte ich das Bild von den USA als Nation der Migrant_innen für irreführend. Es blendet eine gewaltsame Geschichte aus, in der immer umstritten war, wer hier leben und bleiben darf und wer nicht, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat und wer nicht. Wir wollen auch keinesfalls die USA als Modell oder Vorbild präsentieren. Heute leben in den USA mindestens 11 Millionen undokumentierte Migrant_innen, viele von ihnen seit Jahrzehnten. Im Fall von Tania, die in unserem Film vorkommt, seit 26 Jahren. Erst heuer hat sie erstmals eine temporäre Arbeitserlaubnis bekommen.

In Deutschland und Österreich ist der Diskurs über Migration stark problemzentriert. Gerade die zweite Generation wird häufig mit Begriffen wie Bildungsdefizit und Identitätskrise assoziiert. Inwiefern geht „with wings and roots“ einen anderen Weg?

Ich starte von einem völlig anderen Punkt, wenn ich den Menschen Fragen stelle, weil sie Einsichten und Wissen haben, und nicht, weil ich denke, dass sie ein Problem haben. Es wird dann möglich über ihre Erfahrungen als gesellschaftliche Problematiken statt als persönliche Probleme zu sprechen. Als ich angefangen habe, an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich W.E.B. Du Bois „The Soul of Black Folk“ gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er darüber, dass das „negro problem“ in den USA in aller Munde war. Und mir ist klar geworden, dass ich heute genau die gleiche Sprache höre, wenn es um das „Integrationsproblem“ und das „Migrationsproblem“ geht – als wären sich alle einig, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Das Problem scheinen dann nicht Diskriminierung oder die Ungleichheit von Bildungschancen zu sein, Migration an sich wird zum Problem erklärt.

Ich denke, es ist knifflig, was wir mit diesem Projekt versuchen, weil wir versuchen über die Stärke und das Wissen von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte zu sprechen.  Zugleich wollen wir auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, thematisieren. Wie kann man denn auch über ihre Stärke sprechen, ohne ihre Kämpfe zu thematisieren? Wir haben aber auch das Feedback bekommen, dass der Kurzfilm „Where are you FROM from“ zu negativ sei. Das gibt mir zu denken, weil es unser Ziel ist, nicht nur über die Tragödien und die Kämpfe zu sprechen, sondern auch die Handlungsmacht der Leute zu zeigen, wie sie Lösungen finden, neue Begriffe eines Zuhause und der Zugehörigkeit schaffen. Der abendfüllende Film, den wir gerade fertigstellen, wird auch die Kreativität der ProtagonistInnen stärker hervorstreichen, weil er mehr von ihrem Alltagsleben zeigt und nicht nur aus Interviews besteht. Dennoch, einen Mittelweg zwischen einem kritischen und einem optimistischen Blick zu finden, ist eine der größten Herausforderungen dieses Projekts.

Inwiefern ist „with wings and roots“ auch eine Sammlung von Familiengeschichten? Wenn es um Zugehörigkeit geht, können schließlich auch Familien- oder Generationenkonflikte eine wichtige Rolle spielen.

Manche Leute teilen mehr von ihrer Familiengeschichte, andere weniger – zum Beispiel, weil ihre Familie keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Auch Traumata können eine Rolle spielen. Mir ist es wichtig, die ProtagonistInnen selbst bestimmen zu lassen, wo sie eine Grenze ziehen. Außerdem denke ich, dass Generationskonflikte in Zusammenhang mit Migration sehr oft im Mainstream-Kino behandelt und teils auch missbraucht werden. Ich wollte etwas Neues machen, weshalb mich die Beziehung der jungen Menschen zur Gesellschaft mehr interessiert hat. Aber Familien können durchaus eine große Rolle spielen und es geht mir nicht darum, das zu ignorieren oder zu verschweigen – auch nicht, dass es Konflikte gibt. Manche erzählen sehr offen davon. Ich möchte auch keinesfalls Communities glorifizieren, weil es durchaus auch oft interne Konflikte rund um bestimmte Traditionen gibt, die eine gewaltsame und bedrückende Dynamik haben können. Jede Kultur hat solche Traditionen.

Warum hast du dich entschieden, einen Film über junge Menschen zu machen?

Das hat viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich wollte einen Film über meine AltersgenossInnen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle. Und natürlich betrifft einen die Frage nach einem neuen und kreativen Verständnis von Zugehörigkeit auf andere Weise, wenn man jung ist, als wenn man 50 ist.

 

Das Interview führte Anna Ellmer.

Zu ihrem Artikel über "with wings and roots": http://www.progress-online.at/artikel/%E2%80%9Ewarum-reden-sie-%C3%BCber...

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“:

http://withwingsandrootsfilm.com/

Der Kurzfilm „Where are you From from?“ / „Wo kommst du ‚wirklich’ her?“ wird vom FWU – Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht vertrieben: http://www.fwu-shop.de/politische-bildung/wo-kommst-du-wirklich-her-wher...

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh – ist hier verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=BWic5hPZfS4

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder eine Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen über Facebook und oder die Website mit dem Team in Kontakt treten.

 

 

 

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