Bewegte Zugehörigkeiten

  • 07.03.2014, 12:21

Warum sie Goethe die Worte im Mund umdreht und neue Perspektiven auf Migration sowohl in Europa als auch in den USA dringend nötig sind, erklärt die Dokumentarfilmerin und Gründerin von „with wings and roots“, Christina Antonakos-Wallace, im Interview.

Zwei Kurzfilme wurden im Rahmen des kollaborativen Multimediaprojekts „with wings and roots“ bereits veröffentlicht, noch heuer folgen eine abendfüllende Doku und eine interaktive Website. Dabei entsteht eine umfassende transnationale Sammlung von Geschichten, die sichtbar macht, wie die sogenannte „zweite Generation von Migrant_innen“ in Berlin und New York auf vielfältige Weise Zugehörigkeit neu denkt und lebt – allen Herausforderungen zum Trotz.

progress: Goethe schrieb: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Du hast für den Titel eures Projekts „with wings and roots“ die Reihenfolge der Wurzeln und der Flügel geändert. Warum?

Christina Antonakos-Wallace: Für mich war es wichtig, die Visionen und die Kreativität, die viele Kinder von Migrant_innen aus ihren multiplen Lebenswelten schöpfen, in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht werden diese nämlich kaum thematisiert, wenn über Migration gesprochen und geschrieben wird. Deshalb stehen die Flügel für mich an erster Stelle. Ich sehe auch die Gefahr, dass der Begriff „Wurzeln“ leicht in Zusammenhang mit fixen Ideen von Kultur und Identitäten instrumentalisiert werden kann. Angesichts des Drucks sich zu assimilieren, müssen viele Menschen in der Diaspora zugleich aber auch hart dafür kämpfen, mit ihrem kulturellen Erbe verbunden zu bleiben. Auch die Verbindung der Menschen zu ihren Communities und Familien, oder was auch immer den Menschen Kraft und ein gewisses Fundament gibt, soll deshalb honoriert werden.

Einer der Kurzfilme, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, trägt den Titel „Where are you FROM from?“ Was steckt hinter diesem Titel?

Diese Frage, woher man „wirklich“ kommt, ist so gängig, so alltäglich und spiegelt dabei besonders, wie eng Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft noch immer definiert wird. Daran, dass viele Kinder von Migrant_innen diese Frage täglich mehrmals beantworten müssen, kristallisiert sich ihr Dilemma, wenn es um das Gefühl geht, willkommen zu sein. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung und jener vieler Freund_innen sagen, dass diese Frage gnadenlos ist, auch wenn sie an der Oberfläche so einfach erscheint und sehr ehrlich gemeint sein kann. Aber wenn diese Frage, woher du „wirklich“ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, „hier“ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein dritte Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst. Außerdem mag ich die Ironie, die gewissermaßen in der Frage steckt, weil „Where are you from from“ im Grunde ja ein grammatikalisch inkorrekter Satz ist.

Davon, dass diese Frage ständig widerkehrt, erzählen sowohl ProtagonistInnen in Berlin als auch in New York. Gleichzeitig werden im Rahmen des Projekts auch Unterschiede zwischen der Situation in den beiden Ländern greifbar.

Alleine dass in Deutschland über alle Generationen von Migrant_innen nach wie vor als Migrant_innen gesprochen wird, ist ein großer Unterschied. In den USA beobachtet man meist innerhalb von einer Generation den Übergang von der Bezeichnung als Migrant_in zur Bezeichnung als Amerikaner_in, wenn auch in Zusammenhang mit einer rassifizierten Kategorisierung, zum Beispiel als „Asian-American“. Das ist auch keine großartige Situation, weil du zwar Amerikaner_in wirst, in vielen Fällen aber eine spezielle, nämlich diskriminierte Art von Amerikaner_in. Trotzdem ist der Unterschied von Bedeutung. Es wird in Deutschland auch oft auf sehr generalisierende Weise über Migrant_innen gesprochen, als würden sie alle die gleichen Erfahrungen machen und mit den gleichen Problemen kämpfen. Das ist irreführend: Während manche Migrant_innen sehr gebildet und wohlhabend sind, gehören andere zur Arbeiter_innenklasse, sie decken das gesamte soziale Spektrum ab.

In Deutschland gibt es auch diesen starken Fokus auf Integration. Dazu denke ich mir: Diese jungen Leute sind hier aufgewachsen. Was heißt, sie sind nicht integriert? Diese Leute sind Teil der Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft! Und wenn Integration mit wirtschaftlichen oder bildungsbezogenen Errungenschaften gleichgesetzt wird, müssen wir fragen, welche strukturellen Barrieren es hier gibt. Viele Menschen, die seit Langem hier leben, werden systematisch ausgeschlossen – vor allem durch ein Schulsystem, das Machtverhältnisse stark reproduziert. Darüber wird aber kaum gesprochen. Und schließlich wird auch darüber, dass sich Deutschland selbst in einem Wandlungsprozess befindet, so wie sich alle Länder ständig verändern, nicht nachgedacht. Stattdessen hält man an einer essenzialisierenden Version der Geschichte fest und denkt, dass Deutschland vor 200 Jahren tatsächlich „deutsch“ war.

Welche Rolle spielt das Bild von den USA als Nation der MigrantInnen in diesem Zusammenhang?

Natürlich macht es einen Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen in den USA schon deutlich länger im Gange sind und aus meiner Sicht haben sich Migrant_innen dort über die Generationen mehr institutionelle Macht angeeignet. Dennoch halte ich das Bild von den USA als Nation der Migrant_innen für irreführend. Es blendet eine gewaltsame Geschichte aus, in der immer umstritten war, wer hier leben und bleiben darf und wer nicht, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat und wer nicht. Wir wollen auch keinesfalls die USA als Modell oder Vorbild präsentieren. Heute leben in den USA mindestens 11 Millionen undokumentierte Migrant_innen, viele von ihnen seit Jahrzehnten. Im Fall von Tania, die in unserem Film vorkommt, seit 26 Jahren. Erst heuer hat sie erstmals eine temporäre Arbeitserlaubnis bekommen.

In Deutschland und Österreich ist der Diskurs über Migration stark problemzentriert. Gerade die zweite Generation wird häufig mit Begriffen wie Bildungsdefizit und Identitätskrise assoziiert. Inwiefern geht „with wings and roots“ einen anderen Weg?

Ich starte von einem völlig anderen Punkt, wenn ich den Menschen Fragen stelle, weil sie Einsichten und Wissen haben, und nicht, weil ich denke, dass sie ein Problem haben. Es wird dann möglich über ihre Erfahrungen als gesellschaftliche Problematiken statt als persönliche Probleme zu sprechen. Als ich angefangen habe, an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich W.E.B. Du Bois „The Soul of Black Folk“ gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er darüber, dass das „negro problem“ in den USA in aller Munde war. Und mir ist klar geworden, dass ich heute genau die gleiche Sprache höre, wenn es um das „Integrationsproblem“ und das „Migrationsproblem“ geht – als wären sich alle einig, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Das Problem scheinen dann nicht Diskriminierung oder die Ungleichheit von Bildungschancen zu sein, Migration an sich wird zum Problem erklärt.

Ich denke, es ist knifflig, was wir mit diesem Projekt versuchen, weil wir versuchen über die Stärke und das Wissen von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte zu sprechen.  Zugleich wollen wir auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, thematisieren. Wie kann man denn auch über ihre Stärke sprechen, ohne ihre Kämpfe zu thematisieren? Wir haben aber auch das Feedback bekommen, dass der Kurzfilm „Where are you FROM from“ zu negativ sei. Das gibt mir zu denken, weil es unser Ziel ist, nicht nur über die Tragödien und die Kämpfe zu sprechen, sondern auch die Handlungsmacht der Leute zu zeigen, wie sie Lösungen finden, neue Begriffe eines Zuhause und der Zugehörigkeit schaffen. Der abendfüllende Film, den wir gerade fertigstellen, wird auch die Kreativität der ProtagonistInnen stärker hervorstreichen, weil er mehr von ihrem Alltagsleben zeigt und nicht nur aus Interviews besteht. Dennoch, einen Mittelweg zwischen einem kritischen und einem optimistischen Blick zu finden, ist eine der größten Herausforderungen dieses Projekts.

Inwiefern ist „with wings and roots“ auch eine Sammlung von Familiengeschichten? Wenn es um Zugehörigkeit geht, können schließlich auch Familien- oder Generationenkonflikte eine wichtige Rolle spielen.

Manche Leute teilen mehr von ihrer Familiengeschichte, andere weniger – zum Beispiel, weil ihre Familie keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Auch Traumata können eine Rolle spielen. Mir ist es wichtig, die ProtagonistInnen selbst bestimmen zu lassen, wo sie eine Grenze ziehen. Außerdem denke ich, dass Generationskonflikte in Zusammenhang mit Migration sehr oft im Mainstream-Kino behandelt und teils auch missbraucht werden. Ich wollte etwas Neues machen, weshalb mich die Beziehung der jungen Menschen zur Gesellschaft mehr interessiert hat. Aber Familien können durchaus eine große Rolle spielen und es geht mir nicht darum, das zu ignorieren oder zu verschweigen – auch nicht, dass es Konflikte gibt. Manche erzählen sehr offen davon. Ich möchte auch keinesfalls Communities glorifizieren, weil es durchaus auch oft interne Konflikte rund um bestimmte Traditionen gibt, die eine gewaltsame und bedrückende Dynamik haben können. Jede Kultur hat solche Traditionen.

Warum hast du dich entschieden, einen Film über junge Menschen zu machen?

Das hat viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich wollte einen Film über meine AltersgenossInnen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle. Und natürlich betrifft einen die Frage nach einem neuen und kreativen Verständnis von Zugehörigkeit auf andere Weise, wenn man jung ist, als wenn man 50 ist.

 

Das Interview führte Anna Ellmer.

Zu ihrem Artikel über "with wings and roots": http://www.progress-online.at/artikel/%E2%80%9Ewarum-reden-sie-%C3%BCber...

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“:

http://withwingsandrootsfilm.com/

Der Kurzfilm „Where are you From from?“ / „Wo kommst du ‚wirklich’ her?“ wird vom FWU – Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht vertrieben: http://www.fwu-shop.de/politische-bildung/wo-kommst-du-wirklich-her-wher...

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh – ist hier verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=BWic5hPZfS4

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder eine Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen über Facebook und oder die Website mit dem Team in Kontakt treten.

 

 

 

AutorInnen: Anna Ellmer