Rezension

Haarige Welten

  • 16.06.2016, 20:23
Die tschechischen Spieleentwickler_ innen Amanita Designs haben sich, was die Gestaltung des Computerspiels Samorost 3 angeht, viel angetan.

Die tschechischen Spieleentwickler_ innen Amanita Designs haben sich, was die Gestaltung des Computerspiels Samorost 3 angeht, viel angetan. Die eigenwillige Computerspielkreation legt ihren Schwerpunkt nicht auf die spieltechnische Herausforderung, sondern konzentriert sich auf das ästhetische Empfinden der Spieler_innen. Gefordert sind vor allem Augen und Ohren. Als weißer Gnom in einem reinweißen Ganzkörperanzug mit Zipfelmütze bewegt eins sich v ia Point-and-Click durch neun haarige, hölzerne, steinige oder bewaldete Welten: Planeten und Asteroiden, die von magischen Klängen bewohnt sind. Mittels einer Flöte interagiert der Gnom mit seiner Umwelt.

Die perfekte Gestaltung der Welten stellt auch die Herausforderung von Samorost 3 dar. Vom Bau eines primitiven Raumschiffs bis hin zur Vernichtung des Endgegners; die Struktur der Welten gibt selten einen Hinweis darauf, wo die Lösung der Rätsel liegt. Die vorherrschende Methode, um in Samorost 3 voranzukommen, ist Trial-and-Error. Selbst nachdem ein Rätsel gelöst wurde, ist nicht immer ganz klar, wie es dazu kam. Die Extra-Achievements lassen ebenfalls zu wünschen übrig: Meist lassen sie sich nur durch zufälliges Anklicken von irgendwelchen Gegenständen oder Tieren freischalten. Da Samorost 3 vollkommen auf die sprachliche Ebene verzichtet, sind die meisten Probleme im besten Fall bildlich dargestellt. Sonst zieht sich ein roter Faden durch das Spiel: Die Findung des Problems ist Teil des Rätsels. Deeep!

Das ist jedoch auch das große Manko von Samorost 3. Trotz der wunderschönen Welten wird die Spielfreude durch ein langsames Tempo und unnachvollziehbare, teilweise sogar frustrierende Spielerfahrung getrübt. Ungeduldige Spieler_innen werden, obwohl Samorost 3 ein kurzes Spiel ist, nicht ohne einen Blick in die Komplettlösung auskommen. Die Stärke von Samorost 3 liegt in der Wirkung von lebendigen Bildern, die von seltsamen Klarinettentönen begleitet werden. Anders als in herkömmlichen Spielen, stellt die Vernichtung des Endgegners, eines Mönchs mit schwarzer Rüsselnase, nicht den Höhepunkt dar, sondern ist ein Moment des Zurücklehnens. Wem das reicht, hat mit Samorost 3 eine Freude. An alle anderen: meh!

Amanita Designs: Samorost 3
Einzelspieler_in für Mac und Windows
19,99 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Cyberpunk-Schnitzeljagd

  • 10.03.2016, 18:25
Read Only Memories entführt uns in eine retrofuturistische Cyberpunk-Welt. Ein Review.

Neo-San-Francisco, wenige Tage vor Weihnachten 2064. Ich schreibe ein lange aufgeschobenes Review über besonders intelligente Kopfhörer. Danach genieße ich endlich den gerechten Schlaf freischaffender Journalist_ innen. Aber nur kurz: Ein kleiner Roboter namens Turing ist in meine Wohnung eingedrungen. Schlaftrunken höre ich seine Erklärungen: Mein Wohnungsschloss ist unsicher, er ist die erste künstliche Intelligenz mit richtigem Bewusstsein und Emotionen, und außerdem ist mein Bekannter Hayden Webber, der Turing gebaut hat, entführt worden.

Meine Fähigkeiten als investigative_r Journalist_in werden also gebraucht, um Hayden wiederzufinden. Schnell erfahre ich, dass neben den großen Technologiekonzernen, die einen Großteil der staatlichen Funktionen wie Polizei oder Telekommunikationszugang übernommen haben, auch die Protestgruppe „Human Revolution“ zu den Verdächtigen zählt. Die Gruppe ist gegen jede Art von cybernetischen oder genetischen Veränderungen von Menschen, die 2064 an der Tagesordnung stehen. Ebenso wie die Konzerne sind sie wohl hinter Turings künstlicher Intelligenz her. Es beginnt ein Krimi, der mich und Turing in Nachtclubs, Medienunternehmen, Hinterhofkliniken führt. Allerdings scheint uns bei der Suche nach Hayden irgendwer immer einen Schritt voraus zu sein …

Read Only Memories ist ein klassisches „Point and Click“-Adventure in wunderschöner neonleuchtender Retro-Pixelgrafik mit passendem Soundtrack. Auch die dargestellte Zukunftsvision mit alles kontrollierenden Großkonzernen, genetisch modifizierten Katzenmenschen und sprechenden Robotern könnte aus den 1980er Jahren stammen. Aufgelockert wird die düstere Atmosphäre durch Turings naiven Humor. Die nicht-lineare, vielschichtige Story ist intelligent und beleuchtet nicht nur das Thema künstliche Intelligenz, sondern auch ethische Fragestellungen zu Transhumanismus und Gentechnik am Menschen. Ein besonderes Lob gibt es neben dem äußerst stimmigen Erscheinungsbild auch für die Möglichkeit, die Pronomen der Spielfigur am Anfang des Spiels selbst auszuwählen. Einziges Manko: Die hervorragende Sprachausgabe ist nur im Intro und Outro zu hören.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Links:
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Die Id Girls kommen

  • 08.03.2016, 19:06
Was hat Freuds „Es“ mit der Comedy-Serie „Broad City“ zu tun?

Das Magazin The New Yorker hat den Begriff „Id Girls“ für die Macherinnen und Hauptdarstellerinnen der Comedy-Serie „Broad City“ erfunden. Id ist Englisch für Freuds Es, den unbewussten, triebhaften Teil einer Person. Mit Amy Poehler als ausführender Produzentin begann Mitte Februar die dritte Staffel der lustig verstörenden Fernsehserie über das Leben zweier Twentysomethings in New York. Die zwei auf sonderbare Weise sympathischen Frauen verkörpern die zwei Hauptambitionen der Hipster- Generation – sie wollen kreativ sein und Hedonismus leben. Illana versucht so wenig wie möglich zu arbeiten und so viel wie möglich zu kiffen, wobei ihr Lieblingsversteck für ihre Rauchwaren ihre Vagina ist. Abbi möchte als Graphikdesignerin arbeiten. Sie finanzieren sich über Jobs im Fitnessstudio und im Marketing.

Eine einfache Rechnung geht auf: Da die zwei Hauptdarstellerinnen weiblich sind und quasi alle Witze über sie laufen, ist feministische Subversion in fast jeder Szene aufzufinden. Unsicherheit und Laissez-faire sind hier auch in weiblicher Gestalt sympathisch, nicht mal Körperflüssigkeitshumor braucht ein männliches Pendant.

„Broad City“ macht die Diversität New Yorks sichtbar und der bizzare Humor ist radikaler als in der Schwesternserie „Girls“. Die Protagonistinnen sind sich ihrer Position als weiße Frauen in der Gesellschaft zumindest teilweise bewusst, vor allem Illana spricht Themen wie White Supremacy, Prekarität und Transfeminismus manchmal an. Die Freundinnen propagieren ein wenig am Mainstream orientiertes Körperselbstbild, obwohl Selbstzweifel auch hier nicht zu kurz kommen.

Der Titelsong Latino N’Proud passt perfekt in die Collage aus dem Big Apple. Die Comediennes nehmen hin und wieder gestische Anleihen im Hip Hop. Sie kopieren übertriebene Männlichkeitsposen und Machtdemonstrationen und verwenden dies als Kritik am weißen Patriarchat. Fraglich bleibt, ob damit nicht eine unwillkürliche Allianz mit eben jenem hergestellt wird, da über schwarze Kultur und vor allem Körper gelacht werden darf.

Sarah Binder hat an der Akademie der Bildenden Künste Wien Konzeptkunst studiert.

 

Annenmaykantereit – Wird schon irgendwie gehen

  • 05.12.2015, 18:14

KATJA: Einen kleinen Warnhinweis möchte ich vorwegschicken: Wer Probleme mit einer Reibeisenstimme à la Hafenarbeiter um fünf Uhr früh nach zehn Jägermeistern und mindestens drei Schachteln Zigaretten hat, wird sich wohl nie mit dem Sound von AnnenMayKantereit anfreunden können. Denn Henning May (ein Name wie eine Explosion!) dominiert mit seinem Gesang auf den Tracks genau genommen alles. Der Rest an Gitarre und Schlagzeug (Typ: direkt aus der Garage) kommt ebenso kantig daher, auch wenn May manchmal sein Klavier anstrengt und eine Ballade geschmettert wird. Ganz unerwartet kommt die Band aus Köln und nicht aus Hamburg, auch wenn alles nach Küste und schneidend kaltem Wind klingt. Nun darf man bei diesem Vergleich aber nicht an die Hamburger Schule denken, denn damit haben die drei nichts am Hut. Eigentlich schreit alles in einer Tour: Männlichkeit, Fäuste, Bier und Bartstoppeln. Inhaltlich ist es sehr rührselig, aber das geht im Sound total unter. Apropos Tour: Alle ihre Konzerte für 2016 sind ausverkauft, außer der Auftritt im republic in Salzburg. Liebe Salzburger*innen, das sieht komisch aus, besorgt euch schnell noch ein, zwei Karten!

MARIE LUISE: Nicht mehr ganz so neu, aber trotzdem noch in aller Munde, ist das Album dieser Band, die mit Straßenmusik angefangen hat. Ein bübisch aussehender junger Mann singt mit einer rauchigen tiefen Stimme, zu der schweißüberströmt getanzt werden kann. In der Zwischenzeit haben die drei Kölner schon mit KIZ zusammengearbeitet. Das Album „Wird schon irgendwie gehen“ läuft im Radio auf und ab, die Klickzahlen ihrer selbstgedrehten Videos vervielfachen sich und sie spielen nur noch in ausverkauften Clubs. Die deutschen Lyrics berühren hart, dazu Indie-Folk vom Feinsten. Der auf Konzerten beliebteste Titel der neuen Platte, „Oft Gefragt“, ist eine Liebeserklärung des Sängers Henning May an seinen Vater. Der reißt sich dabei musikalisch das Herz aus der Brust und reißt mich mit. Die ganze Platte macht Sinn und die Musik funktioniert durch und durch!

 

Katja Krüger ist Einzelpersonenunternehmerin und studiert Gender Studies an der Uni Wien.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Tocotronic „das rote Album"

  • 25.06.2015, 11:51

MARIE: Am 1. Mai erschienen, ist es nicht nur aus politischen Gründen rot. Tocotronis neuestes Album verschreibt sich der Liebe. Schon im ersten Song „Prolog“ verspricht uns Sänger Dirk von Lowtzow:-„Liebe wird das Ereignis sein“. Ein wenig später, mit Samtstimme: „Ich öffne mich und lasse dich in mein Leben“. Ohne dem üblichen bisschen Bisschen Melancholie geht’s nicht. Die Platte ist insgesamt ruhiger geworden, als wir Tocotronic kennen. Es stellt sich die allgemeine Frage zu Texten über Liebe: Wie weit kann man gehen? Wo beginnt der Kitsch? Zum Song „Die Erwachsenen“ gibt es ein Video. Es sind wunderschöne Teenager darin zu sehen, die durch Berlin turnen, Fertigpizza essen und knutschen. Cut. Closeup: Dirk mit grauem Haar: „Wir wollen (…) knutschen bis wir müde sind“. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen  nicht  die  Band  ist  22  alt,  sondern ihre  Musiker. Ich höre ihnen trotz aller Zärtlichkeit - die zum Beispiel in dem  berufsjugendlichen  Titel „Rebel Boy“ vorkommt,  -gerne  zu.  Aus Rock ist nun endgültig Pop geworden. Die Songs bleiben im Kopf hängen. Mein Lieblingszitat: „..und du schriebst die Diplomarbeit, über Empfindlichkeit". Seit dem ersten Hören kann ich die Texte auswendig mitsummen. Bei so viel Liebe fühle ich mich ein wenig dümmlich, aber es ist so (verdammt) schön.

KATJA: Älter werden ist schwer und nicht immer so glamourös wie bei, sagen wir, David Bowie. Wenn man eine Lieblingsband hat, die diesen Prozess quasi parallel zu einem selbst durchlebt und man sich ein auf Platte gepresstes Beweisstück dazu anhören muss, mag man sich zeitweise aus dem Fenster werfen. Älterwerden heißt in diesem Falle Langeweile, geistiger Abbau, Einfalt und sinnlose Lieblich- und Zufriedenheit. Vielleicht projiziere ich ein wenig zu viel in diese Band  und ihre Musik hinein, jedoch begleiten sie mich wie meine erste Adidastrainingsjacke und daher erlaube mir eine strenge und liebevolle Kritik: Alle Texte sind Nonsens („Wir sind Babys“). Alle Melodien sind beliebig. Manche Kombinationen davon sind so- gar  irgendwie  peinlich („Rebel Boy“): „Check dich mit mir ein, du wirst mich befreien“. Es tut mir viel mehr weh, diese Platte so zu zerreißen als sie anzuhören; Das sei hiermit festgehalten. Die Nostalgie ist jedoch das einzig noch relevante an dieser Band, daher werde ich auch für immer ihre Konzerte besuchen, ihre alten Songs zitieren und  ihre Shirts tragen,  daran besteht kein Zweifel. Das rote Album aber  ein zweites  Mal  anhören?  Eher nicht. 

 

Katja Krüger ist Einzelpersonunternehmerin und studiert in Wien Gender Studies.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst.

Conchita Wurst ,,Conchita"

  • 25.06.2015, 11:45

Seit dem 15. Mai, pünktlich zum Songcontest, gibt es endlich das erste Album von Conchita Wurst, „Conchita“.

MARIE: Conchita wirbt an jeder Plakatwand für irgendetwas, gerade  ist eine Biographie mit dem Untertitel „We are unstoppable“ herausgekommen. Seit  dem 15. Mai, pünktlich zum Songcontest, gibt es auch endlich das erste Album, „Conchita“. Vielleicht sollte man gar nicht darüber sprechen was da so drauf ist, es sind nämlich Schlager geworden. Eingängige Hooklines mit musical-ähnlicher Stimme und fetten Synthesizersounds. Hinter dem Album stehen massig KomponistInnen und TexterInnen.

Für die meisten gerade kommerziell gut verwertbaren Musikrichtungen scheint etwas dabei  zu  sein. Inhaltlich ist das Spektrum allerdings nicht sonderlich abwechslungsreich. „ Other Side of Me“ und „Pure“ drücken mit viel  Schmalz auf die Tränendrüse, „Heroes“ erinnert manchmal phasenweise an Lana del Rey. Mein persönlicher Favorit ist „Where have all the good men gone“, das nach Electroswing klingt. Für dieses Album wurde tief in die Taschen gegriffen, leider umsonst. Entschuldige, wir lieben dich trotzdem Conchita.

KATJA: Bei der Auswahl des zweiten Albums für diese Rubrik mussten wir uns nicht besonders anstrengen. Conchita war das Thema Nummer Eins in den österreichischen Medien – zumindest bis zum ESC in Wien und keine Sekunde länger – und hatte sogar zu unser aller Verwunderung ein Album herausgebracht. Mit Musik drauf. Fast hätte man vergessen, dass die Botschafterin für Toleranz und Frieden auf Erden eigentlich Entertainerin ist. Doch hier haben wir es nun, ihre erste Veröffentlichung in voller Länge.

Beim ersten Durchhören könnte man meinen, dass alles genau so wie erwartet ist: Popsongs, die ihre wunderschöne Stimme ins Zentrum rücken und perfekt ins massentaugliche Radioprogramm passen. Dazu gehören hauptsächlich  Powerballaden und die „Bond-Songs“, pathosgeladene Befreiungsschmachtfetzen. Ich muss zugeben, dass ich hinter „Sombody to Love“ eine Coverversion von Justin Biebers erstem Dancehit erwartet habe und ein wenig enttäuscht war. Doch alles in allem tut ein Zuhören gar nicht weh, es gibt tatsächlich viel Qualität in den Songs, gute Produktion und Songauswahl inklusive. Statt einem Ritt durch alle Genres gibt es hier ein stabiles Niveau und ein sicheres Auftreten von Frau Wurst. Für die österreichische Musikwelt ein großer Gewinn.

 

Katja Krüger ist Einzelpersonunternehmerin und studiert in Wien Gender Studies.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst.

Der Weltuntergang, eine grausame Idylle

  • 25.06.2015, 11:40

Die Katastrophe bahnt sich langsam ihren Weg in „Winters Garten“. Valerie Fritschs Roman beginnt mit Antons Kindheit, die er in einer Idylle von Haus- und Gartengemeinschaft verbringt.

Die Katastrophe bahnt sich langsam ihren Weg in „Winters Garten“. Valerie Fritschs Roman beginnt mit Antons Kindheit, die er in einer Idylle von Haus- und Gartengemeinschaft verbringt.

Die Großeltern sind ihm näher als die Eltern, die Erwachsenen kümmern sich gemeinschaftlich um die vielen Kinder und auch mit den Toten wird mit einer Selbstverständlichkeit umgegangen, die es nur in einer Gesellschaft geben kann, die mit den Gesetzen der Natur sehr vertraut ist. Selbst die Fehlgeburten der Großmutter stehen in  großen  Einmachgläsern in  der Speisekammer.

Fritschs Roman ist wie ein Stillleben in Worten. Etwas Entrücktes haftet den Orten und Ereignissen an, die keine zeitliche  und  örtliche Einordnung erfahren. Anton verschwindet nach dem Tod der Großmutter wortlos. Er zieht in die Stadt am Meer, wo er exotische Vögel am Dach eines Hochhauses züchtet. Die Stadt ist der Kontrast zur Kindheitsidylle. Die Gemeinschaft ist dem Alleinsein gewichen, Anton ist einsam und er hat noch nie  geliebt.

Es dauert bis man das Untergangsszenario begreift. Weitgehend poetisch sind Fritschs Formulierungen, wenn sie die Welt beschreibt, in der alles aus den Fugen gerät. Wilde Tiere, Elefanten und Giraffen, haben sich in die Stadt verirrt, Kinder bringen den Erwachsenen das Schießen bei und im Radio heißt es, man solle sich nicht an den Massenselbstmorden im  Park beteiligen.

Kurz bevor die Welt untergeht, verliebt sich Anton in Friederike, die als Freiwillige in einer Geburtenklinik arbeitet. Hier tauchen zwischen all den schönen Worten interessante Fragestellungen auf: Was ist Liebe, wenn man weiß, dass in wenigen Wochen alles zu Ende ist? Und wie soll man dann noch ein Kind in diese Welt bringen?

Manchmal rückt die geschönte Sprache  zu sehr in den Vordergrund und man sehnt sich nach ein bisschen weniger Sprach-Idylle. Stellenweise verliert sich der Text in Stereotypen, wie zum Schluss, wenn die Brüder Anton und Leander mit ihren Frauen in den Garten ihrer Kindheit zurückkehren: Die Männer heizen den Ofen mit trockenen Ästen an, während die Frauen sich mit großer Selbstverständlichkeit um das Kind kümmern. Insgesamt aber ist der 1989 geborenen Valerie Fritsch ein interessantes Debüt gelungen. Zurecht wird sie dieses Jahr beim Bachmann-Wettbewerb  lesen.

Valerie Fritsch: „Winters Garten“
Suhrkamp,  154 Seiten
17,50  Euro, E-Book 14,99  Euro
 

Sara Schausberger ist freie Journalistin und hat  in Wien  Germanistik studiert.

Romeo und Romeo

  • 25.06.2015, 11:35

Eine große Liebe, die sich über mehrere Jahrzehnte und Länder, verschiedene Karrierestufen und Lebensverhältnisse hinweg zieht, lebensbestimmend ist, ewig Sehnsucht nach ihrer Erfüllung produziert und doch nie wirklich sein kann. Denn die zwei, die sich in „Herrlichkeit“ lieben, sind zwei Männer.

Eine große Liebe, die sich über mehrere Jahrzehnte und Länder, verschiedene Karrierestufen und Lebensverhältnisse hinweg zieht, lebensbestimmend ist, ewig Sehnsucht nach ihrer Erfüllung produziert und doch nie wirklich sein kann. Denn die zwei, die sich in „Herrlichkeit“ lieben, sind zwei Männer.

Die Verhältnisse stehen gegen sie, wie das nun mal bei jedem großen Liebespaar der Fall ist. Dazu passt, dass „Herrlichkeit“ von Margaret Mazzantini ein ungemein klassischer, fast schon konventioneller Roman ist. Guido als Ich-Erzähler breitet sein Leben aus, geradlinig ohne formale Auffälligkeiten und Ausbrüche. Beeindruckend zurückhaltend, könnte man das nennen. 

Guido wächst Mitte des 20. Jahrhunderts in einem akademischen Haushalt ohne elterlichen Halt in einem Palazzo in Rom auf, Constantino in dessen Keller als Sohn des Pförtners. Nach einer sehr innigen Begegnung der beiden auf einer Klassenfahrt kreist Guidos ganzes Leben um seine Liebe zu Konstantin, manchmal in weiten, manchmal in engen Bögen. Ob in Rom oder London, ob verheiratet, mit Kind, als Student, als Professor der Kunstgeschichte, in Krankheit und Gesundheit.

Das macht es diesem Leben natürlich schwer, sich als reine Freude zu präsentieren. Dass Constantino dabei etwas blass bleibt und sein Leben als Koch und Restaurantbesitzer (und ebenfalls Ehemann) vor allem das Gegenstück zu Guidos akademischer Karriere markiert, mag der Erzählform geschuldet sein, ein unbekanntes Muster ist es aber nicht. Hier ist alles aus einem Guss: die lückenlose Erzählweise, das runde Sprachbild, dessen Metaphern nur vereinzelt leicht ins Kitschige kippen und die Zeitbezüge, die immer wieder eingeflochten werden, beispielsweise das U-Bahn-Attentat in London. Bücher und Lieder werden auf eine Art und Weise erwähnt, die diese Methode nicht zum Selbstzweck machen, sondern eine Art von Realitätsnähe beim Lesen kreieren, die man schätzt oder auch nicht.

Eine melancholische Liebesgeschichte, deren teilweise durchaus kreischende Tragik gedämpft wird durch den ruhigen, reflektierenden Erzählton.

Margaret Mazzantini: „Herrlichkeit“
DuMont, 500 Seiten, 23,70 Euro, eBook 17,99  Euro

 

Dorothea Studthoff studierte Germanistik und Skandinavistik in Freiburg und betreibt das Blog ,,Hauptsache: fadengeheftet“.

Eis(Bären)Erlebnis!

  • 25.06.2015, 11:31

Schneesturm, der Kunuuksaayuka, in der arktischen Eiswüste: Die junge Iñupiat Nuna hat sich verlaufen und versucht zurück zu ihrer Familie zu finden. Ausgestattet mit einer Bola, einem Wurfzeug, begibt man sich als Nuna und/oder ihr treuer Freund, ein weißer Polarfuchs, auf eine Odysse durch Schnee, Eis und Wind und erlebt pulssteigernde Abenteuer.

Schneesturm, der Kunuuksaayuka, in der arktischen Eiswüste: Die junge Iñupiat Nuna hat sich verlaufen und versucht zurück zu ihrer Familie zu finden. Ausgestattet mit einer Bola, einem Wurfzeug, begibt man sich als Nuna und/oder ihr treuer Freund, ein weißer Polarfuchs, auf eine  Odysse durch Schnee, Eis und Wind und erlebt pulssteigernde Abenteuer.

Mal überlistet man das kleine Volk, um dem Eulenmann, eine Art Shamanen aus Nunas Dorf, seine Trommel zurückzubringen, dann schwimmt man im wassergefüllten Magen-Labyrinth eines Wals oder stellt sich dem grusligen Menschentöter. Bei allen Abenteuern hilft Nuna Sila, das Wetter: Gezeichnet in schön geschwungen, geisterähnliche Tierformen hält sich Nuna daran fest oder wird über Wasser und Abgründe getragen. Auch der Polarfuchs gehört diesen Naturkräften an und kann mit ihnen kommunizieren. Später in Gestalt eines Peter Pan mit Öhrchenkapuze, der durch die Lüfte flitzt, kann er sie  sogar lenken.

Ohne die anderen geht hier gar nichts. Das legt auch der Zwei-Spieler_innen-Modus nahe, in dem der die Mitspieler in in die gleichberechtigte Rolle des Fuchs schlüpfen kann. „Never Alone“ steht ganz im Zeichen der Gemeinschaft und des Respekts. Es ist bestechender Ausdruck der engen Zusammenarbeit mit 40 Iñupiat, den indigenen Bewohner_innen Alaskas, aus der das Videospiel entstanden ist.

In 24 in das Spiel integrierten, kurzen aber hochwertig produzierten Videoclips erzählen sie ihre Geschichten über das Leben im Schnee, Mythen über Polarlichter und ihr Wissen über die Natur. Letzteres schlägt sich auch in dem weichen, liebevoll gestalteten Artwork nieder, das eine Schneelandschaft nicht einfach weiß, sondern in differenzierten Eis- und Schneeformen und mit wechselnden Windstärken darstellt.

Die Macher_innen von „Never Alone" haben aus einem simplen Jump-and-Run eine epische Geschichte entwickelt, die man nur gemeinsam zu Ende bringen kann. „Never Alone“ beweist, dass es, ohne ins Kitschige, Verherrlichende oder belächelnd Herablassende zu verfallen, Spieler_innen spannend und lehrreich in das Leben der Iñupiat involvieren kann – auch im Sommer!

„Never Alone“ (Kisima Ingitchuna) Upper One Games
Einzel- oder Mehrspieler_innen für Windows, Mac,
PlayStation 4, Xbox One, (demnächst) Wii U 14,99 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

In Hitlers Badewanne

  • 25.06.2015, 11:23

„Mein Name ist Lee Miller, und ich bin Ihre neue Schülerin.“ Mit diesen an Man Ray gerichteten Worten begann Lee Miller ihre Karriere als Fotografin im Jahr 1929 in Paris.

„Mein Name ist Lee Miller, und ich bin Ihre neue Schülerin.“ Mit diesen an Man Ray gerichteten Worten begann Lee Miller ihre Karriere als Fotografin im Jahr 1929 in Paris.

Zuvor war die damals 22-Jährige in New York vor den Kameras renommierter Fotografen wie Edward Steichen gestanden. Das Werk der Amerikanerin ist untrennbar mit ihrer legendären Biografie verbunden. In der Albertina wird nun anhand von 100 Fotos aus den Jahren 1929 bis 1945 Lee Millers Entwicklung von der surrealistischen Fotokünstlerin zur fotografierenden Kriegskorrespondentin nachvollzogen. In den 1930ern schuf sie gemeinsam mit Man Ray ikonische Bilder des Surrealismus; als Statue in Jean Cocteaus Film „Le

Sang d’un Poète“ wurde Lee Miller zum steinernen Mythos. Ironisch gebrochen wird die Reihe weiblicher Akte durch ihre Fotos von amputierten Brüsten, arrangiert auf Tellern mit Messer, Gabel und Dessertlöffel. Ab 1940 inszenierte die Fotografin Mode und Mannequins – etwa mit Brandschutzmasken am Eingang zu Schutzkellern – für die englische Vogue. Der leicht(fertig)e Schritt an diesen vom Surrealismus geprägten Bildwelten vorbei wird im hinteren Raum  der  thematisch  angeordneten Ausstellung dann abrupt unterbrochen.

1945 fotografierte Lee Miller als Kriegsreporterin in Deutschland. Einschneidend ist bei diesen Aufnahmen nicht nur die Brutalität der Sujets selbst – der tote, im Kanal treibende SS-Mann oder die befreiten Häftlinge in Lageruniform, aufgereiht vor einem Leichenberg – sondern auch deren Inszenierung durch die Fotografin. Die ganze Wucht von Lee Millers „ungeheurer" Persönlichkeit  offenbart sich in jenen berühmten Aufnahmen, die ihr Kollege David E. Scherman am 30. April 1945 von ihr machte. Während sich Hitler im sogenannten Führerbunker mit der Pistole der Verantwortung entzog, wusch sich Lee Miller den Staub der Konzentrationslager in der Badewanne dessen Münchner Wohnung vom Körper und legte sich in legerer Pose mit Zigarette in Eva Brauns Bett. Der Gang aus der Wiener Albertina nach draußen ist kein lässiger, hingehen und um eine beeindruckende Erzählung reicher werden, ist trotzdem empfehlenswert.

„Lee Miller“ Kurator: Walter Moser
Albertina Wien
bis 16.8.2015


Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

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