Literatur schafft eine neue Wirklichkeit

  • 13.07.2012, 18:18

Andreas Gelz, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg, und Heinz Ickstadt, Professor emeritus für Amerikanische Literatur an der Freien Universität Berlin, sprechen darüber, wie literarischer Realismus den Alltag verändern kann.

PROGRESS: Sie beschäftigen sich mit Realismus in der Erzählliteratur. Wie viel Kraft hat der Realismus über die Literatur hinaus?

Gelz: Dass realistische Literatur eine solche Kraft besitzt, kann man an den zum Teil heftigen Reaktionen in der Gesellschaft erkennen, die realistische Texte immer wieder hervorgerufen haben. Gegen zahlreiche Autoren hat man im 19. Jahrhundert Prozesse wegen Untergrabung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft angestrengt. Das zeigt, dass Texte auch eine politische Wirkung haben.
Ickstadt: Natürlich sind nicht alle realistischen Texte skandalös, aber der Realismus kann radikal werden, wenn er eine bestehende gesellschaftliche Konvention hinterfragt oder durchbricht.
Gelz: Wenn ein bestimmtes Wirklichkeitsbild zur Ideologie geworden ist, dann kann es der Realismus entweder bestätigen oder hinterfragen. Wirklichkeitsbilder sind immer Konstruktionen, die andere Realitäten ausblenden.
Ickstadt: Der Realismus hat einen emanzipatorischen Anspruch, wenn er eine Wahrheit für sich reklamiert, die in der Gesellschaft geleugnet wird.

Würden Sie von einem politisch rechten Realismus sprechen, der Bestehendes bestätigt, und von einem linken, der neue Wahrheiten sucht?

Gelz: Diese Sichtweise würde unterstellen, dass ein Autor beim Verfassen eines Werkes eine bestimmte Intention hat. So einfach ist es aber nicht. Nehmen wir das Beispiel Honoré de Balzac. Er bezeichnete sich immer wieder als Monarchisten und konservativen Katholiken. Seine Texte werden aber als Streitschrift für eine bürgerliche Gesellschaft gelesen.

Was, würden Sie sagen, macht den Kern des Realismus aus?

Ickstadt: Realismus hat fast immer mit dem Alltag zu tun. Das hängt damit zusammen, dass wir die Wirklichkeit über den Alltag erfahren. Etwa in der Familie oder im Beruf. Abgesehen davon ist aber das Interessante am Realismus, dass seine Spannweite so groß ist. Wenn ich Realist bin, versuche ich einerseits, die Wirklichkeit nicht zu idealisieren. Andererseits gibt es den Realismus als Form einer politisch gewollten Idealisierung. Die bedient sich bis zu einem gewissen Grad der realistischen Darstellungsweise, die die Form des Realen schon längst verlassen hat. Ich denke da zum Beispiel an den sozialistischen Realismus, der das Leben im Realsozialismus verherrlicht hat.

Der Begriff der Wirklichkeit wurde im Zuge der Postmoderne als ideologische Konstruktion dargestellt. Wie geht der Realismus damit um?

Gelz: Gerade das macht doch die Virulenz des Realismus aus, dass sie als mediale oder virtuelle Wirklichkeit paradoxerweise aus dem Blick gerät. Umso wichtiger ist es, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Erinnern Sie sich an den Golfkrieg von 1990? Damals hatte man den Eindruck, der Krieg sei ein reines Computerspiel, bis Monate später Bilder der ausgebombten Straßen zirkulierten und Berichte Überlebender auftauchten.

Der französische Philosoph Roland Barthes bezeichnete den Neorealismus als „moralischen Begriff“, der „genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen“. Wie würden Sie das verstehen?

Gelz: Die bürgerliche Gesellschaft versucht, ihre Konstruktion von Wirklichkeit als einen naturhaft gegebenen Zustand darzustellen, nicht mehr als Geschichte. Der Neorealismus will diese „Naturalisierung“ durchbrechen und darauf hinweisen, dass die Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft mit bestimmten Konstellationen von Macht zu tun hat.

Würden Sie sagen, dass der Realismus eine bestimmte Aufgabe hat?


Ickstadt: Wenn man von so etwas wie einer Aufgabe sprechen kann, dann ist es die, Widersprüche und neue Möglichkeiten aufzudecken, die uns nicht bewusst sind. In fast allen Formen der realistischen Darstellung kommt etwas zutage, das geleugnet wird, das hässlich ist, das unterdrückt wird, und so weiter. Die Aufgabe des Realismus ist es, das zu thematisieren.
Gelz: Ich wäre vorsichtig mit dem Wort „Aufgabe“. Was die realistischen Künstler antreibt, ist eine Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit, die dazu führt, neue Wirklichkeiten zu erfinden. Das kann dann eine gewisse Dynamik erzeugen, die auf eine Veränderung der bestehenden Wirklichkeit hinausläuft.

Warum stellt sich der Realismus so oft auf die Seite der sozial Schwachen?

Ickstadt: Das macht er ja nur zum Teil. Aber Sie haben schon recht, ursprünglich ist der Realismus eine Allianz mit denen eingegangen, die bis dahin nicht gesellschaftsfähig oder literarisch darstellbar waren.
Gelz: Ich glaube, das hängt mehr mit ästhetischen als mit politischen Vorstellungen zusammen. Wenn es darum geht, eine neue Wirklichkeit zu entwerfen, dann kommt man schnell – und vielleicht zwangsläufig – auf die Bilder, die aus der dominanten Konstruktion von Wirklichkeit ausgeblendet sind.
Ickstadt: Der Schriftsteller Henry James sprach in diesem Zusammenhang von der Freiheit der Künstler. Damit meinte er, der Künstler müsse der Tabuisierung das Tabuisierte entreißen, um in seinem Werk eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Literatur kann das, sie verändert das Denken der Menschen. Die Grenze zwischen dem, was wir gelesen haben, und dem, was wir erlebt haben, die verschwimmt in unserer Erinnerung. So entsteht ein Rückkoppelungsprozess von der Wirklichkeit des Künstlers zur Wirklichkeit des Lesers.
Gelz:

Die Imagination ist ja das Mittel schlechthin, mit dem die Wirklichkeit verändert oder reformiert werden kann. Das beste Beispiel dafür ist die Liebe. Unser Verständnis von Liebe wird bis heute von literarischen Bildern der Romantik geprägt.

Welche Grenzen sind dem Realismus gesetzt?

Ickstadt: Der Realismus trägt immer Welthaltigkeit in sich, das begrenzt ihn im Vergleich zur Lyrik. Realisten können nicht so stark experimentieren.
Gelz:

Aber weil sich unsere Gesellschaft – im Großen betrachtet – immer verändert, wird der Realismus auch immer wieder eine Renaissance erleben.


Das Gespräch führte Wolfgang Zwander.