Wissenschaft

Einfach zu brauchbar

  • 12.05.2017, 21:36
Mediale Angriffe auf die Gender Studies.

Mediale Angriffe auf die Gender Studies.

Was die Gender Studies so machen, sei nicht nachvollziehbar für die Durchschnittsbevölkerung: eine beliebte Beschwerde in Mainstreammedien. Forschungsfragen und Ergebnisse seien unverständlich und das Konzept Gender widerstreite „der ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“, wie es der Leiter des Politteils der Frankfurt Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) Volker Zastrow stilbildend auf den Punkt brachte.

UNVERSTÄNDLICH. Was impliziert dieser Vorwurf genau? Kann von einer Wissenschaft verlangt werden, dass man ihre Tätigkeiten ohne jegliches Vorwissen verstehen und beurteilen kann? Gilt das auch für andere Wissenschaften, Baustatik zum Beispiel? Ich würde eher sagen, dass das unrealistisch ist. Wissenschaftliche Disziplinen haben notgedrungen ihre eigene Sprache, mit der Phänomene analytisch genauer gefasst werden als mit Alltagssprache. Es bleibt wünschenswert, ihre Ergebnisse in geeigneter Weise an Lai_innen zu kommunizieren. Doch gerade hier kann man den Gender Studies kaum ein Versäumnis unterstellen. Denn es gibt unzählige einführende Texte in Flyer-, Buch- und digitaler Form, die alltagsweltlich bestens verständlich sind. Hätte sich Volker Zastrow den einen oder anderen davon zu Gemüte geführt, könnte er kaum behaupten, das Konzept Gender würde in Widerspruch zur „ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“ stehen, denn diese Wahrnehmung und Empfindung ist zentraler Bestandteil dessen, was mit Gender gefasst werden soll. Und auch wenn es in den Gender Studies unterschiedliche Sichtweisen zum Verhältnis von Kultur und Natur gibt, ist mir noch nie die Behauptung untergekommen, diese „Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“, sich als Mann oder Frau zu fühlen, würde schlicht nicht existieren. Wobei man Zastrow ja fast dankbar sein muss, dass er hier von den „meisten“ und nicht von allen Menschen schreibt. Denn das trägt dem Umstand Rechnung, dass es sehr wohl Menschen gibt, die sich nicht in das Mann- Frau-Zweierschema einordnen lassen, oder deren „ursprünglichster Empfindung“ das zugewiesene Geschlecht nicht entspricht. Folgerichtig müsste das als abnormal abgestempelt werden – aber was wäre damit gewonnen? Das widerstrebt mir als Privatperson und auch als Wissenschaftlerin ist es illegitim, ein System für Analysen zu benutzen, das biologisch und in seinen sozialen Konsequenzen nicht treffsicher ist. Spannend ist hier eher, woher der Wunsch kommt, diese strikte Trennung zu erhalten. Ja, die Leute sollen sich fühlen, wie sie sich fühlen. Gerade bei „ursprünglichsten“ Gefühlen sollte die Gefahr, dass sie einem weggenommen werden, ja eigentlich absurd erscheinen. Woher rührt also die Angst, das Genderkonzept würde Menschen zu geschlechtslosen Wesen umerziehen? Und was ist das überhaupt für ein Argument? Ist wissenschaftliche Forschung nur dann wissenschaftlich, wenn sie mit der „Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“ übereinstimmt? Gilt das auch für Baustatik?

WIDERSTREITEND. Folgt man Zastrow weiter, widerstreitet Gender nicht nur „der ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“, sondern auch „den Religionen und naturwissenschaftlicher Forschung“. Auf den vermeintlichen Widerspruch zu naturwissenschaftlicher Forschung bin ich in der letzten progress-Ausgabe („Genderwahn an Hochschulen“) schon eingegangen und möchte hier nur einwerfen, dass die Gender Studies interdisziplinär sind und naturwissenschaftliche Forschung daher ein wesentlicher Bestandteil ist. Bleibt noch der Widerspruch zur Religion und da muss man Zastrow ehrlich zu Gute halten: Das stimmt! Das Konzept Gender widerspricht zumindest in weiten Teilen religiösen Vorstellungen von Mann und Frau. Das ist wahr und das Argument gefällt mir nicht nur so gut, weil es wahr ist, sondern auch weil Zastrow keinen Genierer hat, es im selben Satz mit naturwissenschaftlicher Forschung zu bringen. Die Frage, ob naturwissenschaftliche Forschung nicht auch den Religionen in dem einen oder anderen Punkt „widerstreitet“, könnte ich mir jetzt vielleicht sparen. Aber „widerstreitet“ Religion nicht häufig auch der „ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung der meisten Menschen“? Stichwort Sexualmoral.

Andere Leute hätten vielleicht Bedenken, diese drei Aspekte so nebeneinanderzustellen. Zastrow hingegen formt diesen Widerspruch um zu einer praktikablen Lösung für den Umgang mit Gender: Du kannst dir aussuchen, wem Gender widerspricht, ob deinem Bauchgefühl, deinem religiösen Glauben oder dem was du als „echte“ Wissenschaft gelten lässt.

NUTZLOS. Naheliegend ist dann auch der medial populäre Vorwurf, die Gender Studies würden keine nützlichen Ergebnisse liefern. Und damit sind wir paradoxerweise genau dort angelangt, wo wir in der letzten progress-Ausgabe stehengeblieben sind: bei dem Vorwurf, dass die Gender Studies zu nahe an politischen Interessen und Vorgängen angesiedelt, also gewissermaßen zu nützlich sind (wie es Villa und Hark in ihrem „Anti-Genderismus“-Buch beschreiben). An dieser Stelle stellt sich für mich schon die Frage, wie eine Wissenschaft, die gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen untersucht, ihre Nützlichkeit anders beweisen sollte, als gesellschaftlich relevantes Wissen über Ungleichheit zu erzeugen. Also wie könnte dieses Wissen nützlich sein, wenn es gleichzeitig keinen Einfluss haben darf? Nutzlos ist das erzeugte Wissen nicht, es ist nur wenig hilfreich für die Argumentation gegen gesellschaftliche und sexuelle Vielfalt. Und das scheint eher das Problem zu sein.

Carina Brestian studiert Soziologie an der Universität Wien.

Genderwahn an Hochschulen

  • 23.02.2017, 19:36
Die Besorgnis, Wissenschaft würde durch die Gender Studies für die Umsetzung einer politischen Ideologie missbraucht werden, ist ein präsentes Thema im medialen Diskurs. Aber was ist dran an den Vorwürfen der Unwissenschaftlichkeit und fehlenden Objektivität?

Die Besorgnis, Wissenschaft würde durch die Gender Studies für die Umsetzung einer politischen Ideologie missbraucht werden, ist ein präsentes Thema im medialen Diskurs. Aber was ist dran an den Vorwürfen der Unwissenschaftlichkeit und fehlenden Objektivität?

Bedenken bezüglich der Wissenschaftlichkeit der Gender Studies werden von unterschiedlichen Personengruppen geäußert. Von journalistischen GendergegnerInnen über AntifeministInnen hin zu christlichen FundamentalistInnen (Ja, auch die machen sich Sorgen um den Verfall der Wissenschaft). Eine kritische Reflexion von Forschung ist grundsätzlich durchaus wünschenswert, allerdings muss sie auf einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand fußen, um einen konstruktiven Beitrag zu leisten. In der Gendergegnerschaft ist dies nun nicht ganz der Fall; die Gender Studies werden ohne tiefergehende Kenntnis pauschal als „pseudowissenschaftlicher Hokuspokus“ abgelehnt. Das macht es nicht ganz einfach, sich mit Argumenten der GendergegnerInnen auseinanderzusetzen. Versuchen wir es trotzdem, indem wir uns einen Kernvorwurf genauer ansehen: jenen der fehlenden Objektivität der Gender Studies aufgrund ihres politischen Gehaltes.

FEMINISTISCHE INVASION? Es ist kein großes Geheimnis, dass die Gender Studies einer politischen Bewegung entstammen und dass Gender ein höchst politischer Begriff ist. Hinter ihm steht die analytische Beobachtung, dass Menschen nach ihrer Geburt aufgrund ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale einer Kategorie (männlich oder weiblich) zugeordnet werden und diese Zuordnung ihren weiteren Lebenslauf bestimmt. Begonnen bei der Sozialisation von Jungen und Mädchen werden sehr unterschiedliche gesellschaftliche Vorstellungen und Anforderungen an Männer und Frauen herangetragen. Das Konzept Gender problematisiert das ungleiche Geschlechterverhältnis, das auf dieser Trennung fußt. Es geht also nicht darum, Menschen umzuerziehen und ihnen ein bestimmtes Verhalten aufzudrängen, sondern darum, den Rahmen für mögliches Verhalten zu erweitern. Männer sollen Gefühle zeigen dürfen und Frauen technische Berufe ergreifen können – wenn ihnen das entspricht – ohne dabei Schwierigkeiten zu bekommen. Es handelt sich also um eine Idee, die, wenn auch nicht unter dem Vorzeichen „Gender“, in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert und bejaht wird. Aus einer bestimmten Blickrichtung ist es damit durchaus plausibel, Gender als eine Bedrohung wahrzunehmen. Eine Bedrohung für sehr fundamentale gesellschaftliche Strukturen, die trotz des Fortschrittes der letzten 100 Jahre noch bestehen. So sind auch in der westlichen Gegenwartsgesellschaft Frauen diejenigen, die den Großteil von schlechtoder unbezahlter Versorgungsarbeit leisten, häufiger von Gewalt und Armut betroffen sind, weniger in Führungspositionen aufsteigen und Männer diejenigen, die misstrauisch beäugt werden, wenn sie mit Kindern arbeiten wollen. Dass das Infragestellen so fundamentaler gesellschaftlicher Prinzipien Anlass für emotionale Auseinandersetzungen gibt, ist wenig überraschend.

OBJEKTIV ODER DOCH POLEMISCH? Die Gender- KritikerInnen sprechen von einer „Genderisierung“ der Hochschulen, als ob es sich um eine staatlich verordnete „Invasion“ handle, die Unmengen an Steuergeldern verschlingen würde. Diese Behauptung hält einem Blick in die Realität jedoch nicht Stand. So sind beispielsweise an österreichischen Hochschulen 2.420 ProfessorInnen tätig, wobei sechs Professuren eine Volldenomination für Geschlechterforschung haben. Das Bild der Invasion ist, wenn auch wenig plausibel, dennoch wirkungsmächtig und nur ein Beispiel für den fast durchgängig polemischen Stil genderkritischer Beiträge, die den „Genderwahn“ als Gefahr für die Wissenschaft darstellen. Die Soziologinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa weisen darauf hin, dass dabei meist, ohne weitere Erörterung, von einem alltagsweltlichen Verständnis von Wissenschaft ausgegangen wird, das an positivistische Maßstäbe der Naturwissenschaften angelehnt ist. Dies ist aus mindestens zwei Gründen problematisch: Erstens delegitimiert ein derartiges Wissenschaftsverständnis jegliche Erkenntnismethoden der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Zweitens ist ein alltagsweltliches Wissenschaftsverständnis bestenfalls für den Alltag geeignet, eine vermeintlich wissenschaftliche Kritik darauf zu stützen, ist aber alles andere als passend. Widersprüchlich ist weiters, dass der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, trotz des engen Wissenschaftsbegriffes, nur an die Gender Studies gerichtet wird (übrigens auch an ihre naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten). Es werden weder ganze wissenschaftliche Disziplinen noch sozialwissenschaftliche Forschungen von Gleichgesinnten angegriffen. All das spricht dafür, dass die Abwertung der Gender Studies nicht einer bloßen Besorgnis um Wissenschaftlichkeit geschuldet ist, sondern eher den Bedenken und Feindseligkeiten jener, die an den alten Strukturen hängen und eigene Privilegien gefährdet sehen. Es handelt sich um eine politische Motivation genau jener Art, wie sie den Gender Studies vorgeworfen wird und die wissenschaftlicher Objektivität vermeintlich im Weg steht.

POLITISCHE OBJEKTIVITÄT? In diesem Zusammenhang ist zu fragen, was wissenschaftliche Objektivität überhaupt sein kann. Das Bild eines isolierten Wissenschaftlers, der im Labor kulturunabhängige Ergebnisse produziert, ist in der Realität nicht haltbar. Jede forschende Person ist auch Teil der Gesellschaft, hat Vorstellungen und Wertehaltungen, die in den Forschungsprozess miteinfließen. Alleine die Wahl eines Forschungsgegenstandes ist schon von gesellschaftlichen Umständen geprägt. Denn was als erforschenswert angesehen wird, ist keine Frage, die objektiv beantwortet werden kann, sondern das Ergebnis von gesellschaftlichen Diskursen und Kräfteverhältnissen. Objektivität ist im Sinne einer völligen Unabhängigkeit von Gesellschaft undenkbar, egal in welcher wissenschaftlichen Disziplin. Dies bedeutet allerdings nicht, dass keine nachvollziehbare wissenschaftliche Erkenntnis möglich wäre, sondern nur, dass es einen bedachten Umgang mit der eigenen Rolle als forschende Person und dem Entstehungszusammenhang der Ergebnisse geben muss. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich in den Sozialwissenschaften ein reger Diskurs darüber etabliert, wie solch ein Umgang Teil des Forschungsprozesses selbst werden kann. Gerade die Gender Studies haben hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Carina Brestian hat Soziologie und Gender Studies an der Universität Wien studiert.

Illusionen in der Wissenschaft

  • 21.06.2016, 22:34
Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

In der Philosophie wird Wissen und Information vornehmlich über Wort und Text weitergegeben. Es gibt ein lange gehegtes, ja traditionelles Misstrauen gegenüber anderen Medien, vor allem gegenüber Bildern und ihren Mischformen.

Für dieses schlechte Verhältnis der Philosophie zum Bild als Informationsmedium wird oft Plato zur Verantwortung gezogen.

SCHATTEN AN DER WAND. Für ihn zeigt sich die Wirklichkeit nur durch Schatten in der Höhle, in der wir Menschen uns metaphorisch befinden. Nur durch das Denken in Form eines inneren Dialogs könne die Wirklichkeit erkannt werden. Obwohl Plato auch dem geschriebenen Wort als billigem Ersatz für Erinnerung und wahres dialektisches Verstehen misstrauisch gegenüberstand, billigte er es als notwendiges Übel, ganz im Gegensatz zu Bildern und optischen Wahrnehmungen, die für ihn nichts anderes waren als trügerische Illusionen, Schatten von Schatten.

Die Philosophen des Rationalismus im 17. Jahrhundert übernahmen Platos Misstrauen gegenüber Bildern und Sinneswahrnehmungen und versuchten, die Welt zu verstehen, indem sie Phänomene isoliert von diesen trügerischen Wahrnehmungen betrachteten. Dieser Ansatz führte zunächst zu großen Entdeckungen, bestärkte jedoch auch das darauffolgende Aufteilen und Abstecken der Wissenschaften in Teilgebiete. In manchen dieser Teildisziplinen scheint es dieser Tage vor allem darum zu gehen, die für die jeweilige Disziplin reklamierten Methoden und Ideen zu verfeinern und Beobachtetes als „richtig“ zu klassifizieren.

In der Physik etwa, dem Teilgebiet der Wissenschaft, in dem ich mich Expertin nennen darf, scheint es zur Zeit nur noch darum zu gehen die „theory of everything“ zu finden, in der endlich alle Kräfte, alle Phänomene mit einer Kraft, einer Formel beschrieben werden können. Überraschenderweise sind wir mit diesem Ansatz noch nicht so weit gekommen.

SEEING DOUBLE. Viele tausend Jahre nach Plato legt Nick Sousanis in seiner Dissertation „Unflattening“ dar, wie Bilder und Comics neue Perspektiven des Denkens und Verstehens eröffnen. Verfasst in Form eines Comics kann „Unflattening“ auch als Abhandlung über unsere Wahrnehmung verstanden werden. Der Sehprozess, zeichnet und schreibt Sousanis, involviert beide Augen – also zwei Perspektiven – gleichermaßen: „Our stereoscopic vision is the creation and integration of two views. Seeing, much like walking on two feet, is a constant negotiation between two distinct sources.”

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Unseren Augen gleich, ermöglichen uns Comics, aus Text wie Bild bestehend, zwei verschiedene Sichtweisen ineinanderfließen zu lassen. Denn Text ist, seiner Natur gemäß, sequentiell und linear, eine diskrete Abfolge von Wörtern. Ein Bild andererseits präsentiert alles Gezeigte auf einmal, es gibt weder Anfangs- noch Endpunkt. Wie Michael Baxandall schreibt, gibt es keine direkte Entsprechung von Text und Bild. Jede textliche Beschreibung eines Bildes presst dieses in ihre textliche, also lineare und hierarchische Form. Das bedeutet, dass Erkenntnisse und Wahrnehmungen, die sich nicht textlich ausdrücken lassen, weil sie außerhalb dieses sequentiellen Paradigmas stehen, ausgeklammert werden. In Comics aber verschmelzen der textlich sequenzielle und der bildlich simultane Charakter und bilden so eine neue Form des Verstehens, in der nun auch das zuvor Außenstehende einen Platz findet.

Kritische Stimmen mögen an dieser Stelle anmerken, dass zum Beispiel in den empirischen Wissenschaften die Verwendung von Abbildungen gängige Praxis ist, also die Comic-Idee ohnehin schon Praxis sei. Nun stimmt es zwar, dass man beim Durchschauen einer Publikation aus den Naturwissenschaften auf viele Diagramme und Graphen stößt. Es ergibt sich jedoch nicht der dialektische Text-Bild-Zusammenhang, den Sousanis meint. In einem klassischen Graphen wird eine Größe als Funktion der anderen dargestellt, zum Beispiel die Anziehungskraft zweier massiver Körper als Funktion ihres Abstandes oder das Wahlverhalten einer Bevölkerungsgruppe als Funktion ihres Alters.

Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, besitzen Graphen ein sehr hohes Abstraktionsniveau. Graphen beantworten eine spezielle und isolierte Frage. So werden sie sogar zum Gegenspieler von Bildern, die alles Beobachtete ungeordnet und simultan preisgeben. Zudem haben Graphen in unserer heutigen Gesellschaft, ganz im Gegensatz zu Bildern, eine extreme Überzeugungskraft. Ihr reduktionistischer Charakter strahlt eine Objektivität aus, der man sich schwer entziehen kann, aber häufiger sollte.

GRAPH 4.3 ZEIGT GAR NICHTS. In den Geisteswissenschaften hingegen, und zwar vor allem in der Philosophie, wird auf Bilder jeder Art verzichtet. Es gibt zwar Philosophiecomics, diese sind allerdings entweder für Kinder oder als Infotainment gedacht. Seriöse akademische Diskussionen werden selbst in Philosophieschulen, die dem Rationalismus kritisch gegenüberstehen, ausschließlich mit Wörtern geführt. Zu sehr riechen Comics nach Anti-Intellektualismus und Reduktionismus.

Nun, wenn es um simple Graphen oder Comics zum Notfallverhalten in Flugzeugen geht, mag der Reduktionismusvorwurf, wie oben besprochen, berechtigt sein. Doch die Textversion des Flugzeugnotfallverhalten- Comics ist auch kein literarisches Meisterwerk. Die Verwendung von Comics in der Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen. Doch Versuche wie Sousanis Doktorarbeit zeigen, dass das Medium mehr als geeignet ist, komplexe Themen zu bearbeiten und neue Sichtweisen, und zwar solche die einer rein textlichen Darstellung verschlossen bleiben, zu eröffnen.

Carina Karner studiert Physik im Doktorat und baut Computermodelle für die Kristallisation von Kolloiden – Schatten von Schatten.

Wollen schon – Ein Kollektivroman

  • 02.03.2016, 18:56

„wollen schon“ ist kein Roman im klassischen Sinne. Denn geschrieben wurden die kurzweiligen 268 Seiten im Kollektiv. Elf Autor_innen, von Natalie Deewan bis Kurto Wendt, arbeiteten zusammen über drei Jahre an der Geschichte.

„wollen schon“ ist kein Roman im klassischen Sinne. Denn geschrieben wurden die kurzweiligen 268 Seiten im Kollektiv. Elf Autor_innen, von Natalie Deewan bis Kurto Wendt, arbeiteten zusammen über drei Jahre an der Geschichte.

Der Alt-68er und Universitätsprofessor Manfred Mewald hinterlässt ein beträchtliches Erbe. Doch zur Überraschung seiner Nachkommen vermacht er ein Großteil seines Vermögens der jungen Wissenschaftlerin Hannah Wolmut. Darunter ein Seminarschlösschen im noblen Wiener Cottageviertel und gut zwei Millionen Euro für die Gründung eines „Freien Instituts“. Mit so einer Zuwendung hat Hannah nicht gerechnet. Denn ihre letzte und einzige Begegnung mit Mewald endete mit einem Glas Rotwein im Gesicht des Professors. „Wisst ihr, was euer Problem ist?“, fragte Mewald Hannah, stellvertretend für eine ganze Generation prekarisierter Wissensarbeiter_innen, die von Publikation zu Publikation und von Konferenz zu Konferenz hetzen: „Freiheit ist für euch doch nur ein Propaganda-Begriff. Eine leere Hülse! Ihr wollt in Wirklichkeit gar nicht frei sein, keiner von euch!“

Mit seinem Testament wollte Mewald auch über seinen Tod hinaus recht behalten. Durch sein Erbe soll Hannah eingestehen müssen, dass ihre Generation unfähig ist, abseits vom allgegenwärtigen Verwertungszwang zu forschen und zu leben. Doch für Hannah ist die Wette mit einem Toten trotz vieler Zweifel eine unglaubliche Chance. 20 Leute darf sie auf das Seminarschlösschen einladen. Jeder von ihnen würde über drei Jahre hinweg 3.000 Euro im Monat bekommen. Eine Art bedingungsloses Grundeinkommen. Forschen und Leben in Kollektiv des Freien Instituts. Doch was bedeutet das eigentlich? Wenn du dich nicht länger verkaufen musst und deine Zeit wirklich dir gehört, was machst du dann?

Genau diese Frage wirft „wollen schon“ auf. Anhand neun verschiedener Charaktere, die mit und ohne Begleitung aus allen möglichen Teilen der Welt Hannahs Einladung nach Wien folgen, spinnt der Roman ein heiteres literarisches Kaleidoskop mit viel Raum für Phantasien und Selbstzweifel. Innere Monologe wechseln sich ab mit auktorialen Erzählformen; manche Handlungsstränge treffen sich, andere stehen für sich alleine. Und dann ist da noch die „kleine Figur“: ein nicht fassbarer, übermenschlicher Charakter, der einzelne Versatzstücke der Protagonist_innen in sich vereint oder sich in dadaistischer Manier dem Verständnis des Lesers_der Leserin gänzlich zu entziehen versucht.

Wer mit der teilweise extravaganten Erzählform, deren Verwirrungspotential sich irgendwo zwischen „Pulp Fiction“ und „Memento“ ansiedelt, zurechtkommt, den erwartet ein Leseerlebnis mit viel Liebe zum Detail. Etwa Miša, die es fertig macht, wenn die Person ihr gegenüber genüsslich eine Semmel mit Ei-Aufstrich verspeist und sie dabei zusehen muss „wie diese stinkende, gelbe Masse auf allen Seiten gleichzeitig aus der Semmel herausquillt“. Oder das Stoffeichhörnchen namens Niemand, das mit seinen Klettverschlusshänden Dinge und Körperteile umarmen kann.

„wollen schon“ prangert nicht nur den Wissenschafts- und Universitätsbetrieb an, der sich zunehmend entlang Kriterien kapitalistischer Verwertbarkeit ausrichtet. Die Geschichte wirft auch die Frage auf, ob und wie wir uns eine Welt außerhalb dieser gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt noch vorstellen können. Die Autor_innen regen zum Nachdenken an: Was würde ich machen, wenn ich auf das Freie Institut eingeladen werde? Sie schaffen es damit, die Ambivalenz vor Augen zu führen, welche sich zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung und der Angst vor der Lücke im Lebenslauf verbirgt.

Veranstaltungshinweis:
Releaseparty mit Lesung und musikalischer Unterhalung: Samstag, 05.03, 19:00 Mo.ë Vienna, Thelemanngasse 4, 1170 Wien
Link zum FB-Event
Link zum Buch beim Verlag

Achtung, Gewinnspiel!
Wir verlosen ein Exemplar von „wollen schon“ unter allen, die uns bis 9. März 2016 eine E-Mail mit dem Betreff "Gewinnspiel wollen schon" an progress@oeh.ac.at schicken!

Grundkurs kritische Wissenschaft: A wie … Aufklärung, D wie … Dialektik

  • 05.12.2015, 18:46

Oft sind kritische Theorien schwer zugänglich, was den komplizierten Verhältnissen, die sie zu beschreiben versuchen, geschuldet sein kann. Aber manchmal geht es auch einfacher. Der folgende Text will den Begriff der Dialektik der Aufklärung einfach, aber nicht vereinfachend erklären.

Oft sind kritische Theorien schwer zugänglich, was den komplizierten Verhältnissen, die sie zu beschreiben versuchen, geschuldet sein kann. Aber manchmal geht es auch einfacher. Der folgende Text will den Begriff der Dialektik der Aufklärung einfach, aber nicht vereinfachend erklären.

Was ist die Aufklärung und was ist das Problem mit der Aufklärung? Mit diesen Fragen haben sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in einem Buch namens „Dialektik der Aufklärung“ beschäftigt. Die beiden gelten als Vertreter der Frankfurter Schule beziehungsweise der Kritischen Theorie – einem Forschungszusammenhang von Wissenschafter_innen, die sich im 20. Jahrhundert mit verschiedenen Aspekten der Ideologieund Gesellschaftskritik beschäftigten. Die „Dialektik der Aufklärung“ schrieben Adorno und Horkheimer in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil. Das Buch versucht vor dem Hintergrund der Shoah zu verstehen, wie die Ziele der Aufklärung zu der industriell organisierten Vernichtung von Millionen von Menschen führen konnten.

Die „Dialektik der Aufklärung“ gilt als ein äußerst kompliziertes Werk und viele schrecken davor zurück. Der folgende Text ist ein Versuch, die darin enthaltenen komplexen Zusammenhänge möglichst verständlich zu erklären. Ich möchte hier keine Zusammenfassung geben, sondern einen Einblick in manche Gedanken, die für mich besonders wichtig wurden. Dabei orientiere ich mich zwar am Buch, erzähle aber meine Version der Geschichte, die mit anderen Theorien und Erfahrungen verwoben ist. Ich konzentriere mich vor allem auf die Rolle der Vernunft im Spannungsfeld von Herrschaft und Befreiung.

DIE VERNUNFT. Ein zentrales Prinzip der Aufklärung ist, dass der Mensch durch Vernunft zur Befreiung gelangen kann. Immanuel Kant prägte den Wahlspruch der Aufklärung: Befreie dich aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – mit Hilfe deines Verstandes kannst du selbstbestimmt Entscheidungen treffen. Es brauche mündige, vernünftige Bürger_innen, um eine Demokratie zu gestalten. Vernunft ist also wichtig für die demokratische Idee und wird als etwas verstanden, das jedem Menschen inne wohnt – so das Ideal. Doch praktisch wurde diese Vernunftfähigkeit nicht allen zugeschrieben. Frauen, „psychisch Kranke“, Kinder, Kriminelle – verschiedene Gruppen wurden als unvernünftig abgestempelt, und so wurde ihnen auch die Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen verwehrt. Das geschah oft ganz offen und konkret, z.B. hatten Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein kein Wahlrecht. Mit abstrusen, anthropologischen und biologischen Beweisen erklärten Wissenschaftler, dass Frauen nicht vernunftfähig seien. Frauen seien vielmehr zu einem Leben als Hausfrauen und Mütter bestimmt, wofür offenbar keine Vernunft notwendig sei.

Mit der Aufklärung sollte Vernunft Religion als strukturierendes Prinzip von Gesellschaft ersetzen. Fakten treten an die Stelle des Mythos. So ist es nicht mehr Gott, der dir deinen Platz in der Gesellschaft zuschreibt, sondern die Vernunft bzw. die Wissenschaft. Und so legitimierte die vernünftige, scheinbar objektive Wissenschaft die herrschende Ordnung und die Positionen von herrschenden und beherrschten Gruppen. Vernunftfähigkeit wurde auch allen Opfern des Kolonialismus abgesprochen, was so weit ging, dass ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob die kolonisierten Subjekte überhaupt Menschen seien.

INSTRUMENTELLE VERNUNFT. Um dies zu fassen, prägten Horkheimer und Adorno den Begriff der ,,Instrumentellen Vernunft“. Dieser besagt, dass alles unter dem Prinzip des Nutzens steht und der Durchsetzung der eigenen Interessen dient. Die Vernunft ist geleitet von Profit- und Konkurrenzdenken. Vernünftig ist demnach, wer Kosten-Nutzen-Rechnungen macht und sich dafür entscheidet, zu tun, was am meisten individuellen Nutzen verspricht. Wer sich dagegen entscheidet, gilt als unvernünftig.

In diesem Sinn gelten auch Menschlichkeit und Solidarität als unvernünftig. Der weit verbreitete Begriff des Gutmenschen entstammt dieser Logik: Wer das Wohl anderer Menschen zum Maßstab seines Handelns macht, ist unvernünftig. Menschlichkeit ist ein anderes Prinzip, das manchmal in unserer Gesellschaft zur Geltung kommt, das aber immer wieder unterdrückt und beiseitegeschoben wird. Was wirklich gilt, ist die Instrumentelle Vernunft, die einer kapitalistischen, profitorientierten Logik gehorcht.

Trotzdem verweist die Idee der Vernunft, die allen Menschen innewohnt, auf eine emanzipatorische Idee – nämlich dass Vernunft ein universales menschliches Prinzip ist, auf dessen Basis eine demokratische Gesellschaft erst verwirklicht werden kann.


NATURBEHERRSCHUNG. Ein weiteres wichtiges Moment der Aufklärung ist die Veränderung des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Beim Projekt der Zivilisation geht es darum, die Angst vor der Natur und ihrer Unberechenbarkeit in den Griff zu kriegen. So dient der technologische Fortschritt dem besseren Umgang mit Naturgewalten und auch der Nutzung der Natur für menschliche Zwecke. Das Motiv dahinter ist ein durchaus positives – die Welt soll besser bewohnbar für die Menschen sein. Beschwerlichkeiten wie extreme Wetterverhältnisse oder harte Arbeit sollen erleichtert werden, damit ein gutes Leben für alle möglich ist.

Das Problem dabei ist, dass dies in Form von Naturbeherrschung passiert. Beherrschung bedeutet, Gewalt über die Natur zu haben. Es bedeutet auch, dass der Mensch sich von der Natur entfremdet und sich als Subjekt setzt, das dann die Natur als Objekt beherrscht. Die Natur wird zum Objekt des Menschen, wird mess- und nutzbar gemacht. Alles – auch die anderen Menschen und die eigene, innere Natur.Die ganze Welt wird ein Feld, das der Mensch bzw. das Subjekt beherrschen kann.

Und so werden auch Menschen zu Objekten, die beherrscht und nutzbar gemacht werden können; zu Objekten, die in kapitalistischen Produktionsverhältnissen funktionieren; zu Objekten, die verwertet, bearbeitet und im schlimmsten Fall auch vernichtet werden können. Die Beziehungen der Menschen zu den Dingen – aber auch zu anderen Menschen – stehen unter dem Vorzeichen der Nutzbarkeit und der Verwertung. Die Beziehungen werden so in der Logik der instrumentellen Vernunft entfremdet.



BILDUNG UND EMANZIPATION. Die Vernunft hat beide Momente in sich – sie ist von Gewalt und Herrschaft geleitet, aber sie enthält immer auch die Möglichkeit der Emanzipation. Tatsächlich kann mensch gerade mit Wissen und Vernunft die eigene Position reflektieren, Herrschaftsverhältnisse hinterfragen und die Gesellschaft kritisieren. Vernunft kann selbstermächtigend und befreiend sein.

Unwissenheit und Unbildung sind Herrschaftsinstrumente, mit denen Menschen in unterdrückenden Verhältnissen gehalten werden. Nicht umsonst waren Lesen und Schreiben in verschiedenen Phasen der Geschichte widerständige Akte. Im 19. Jahrhundert war es beispielsweise in den amerikanischen Südstaaten verboten, Sklav_innen das Schreiben beizubringen. Alphabetisierung kann eine befreiende Praxis sein. Mit der Fähigkeit zu lesen wächst das Bewusstsein für unterdrückende Verhältnisse und auch die Möglichkeit, die Welt zu verändern.

Aber Bildung ist nicht nur auf die üblichen Orte der Wissensproduktion – Schule, Universität, Forschungsstätten – beschränkt. Es gibt auch andere Orte, an denen kritische Wissensproduktion und Bildung stattfinden, insbesondere auch soziale Bewegungen. Gerade schwarze Feministinnen wie bell hooks betonen die Bedeutung von Wissen für Veränderung und Befreiung aus unterdrückenden Verhältnissen. Wissen kann auch ein Mittel sein, um die herrschende Wissenschaft zu hinterfragen.

Es geht nicht darum, dass wir uns von der Vernunft verabschieden, sondern darum, ihre problematischen Anteile zu erkennen und zu kritisieren. Das Ideal der Aufklärung will, dass alle Menschen sich ihres Verstandes bedienen können, um so in die Lage zu kommen, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Das will eine kritische Pädagogik auch. Aber sie will darüber hinaus die Menschen zur Freiheit und zur Kritik erziehen; sie also dazu bringen, dass sie selbst die Herrschaft hinterfragen.

 

Aber können Menschen zur Freiheit erzogen werden? Erziehung ist das Gegenteil von Freiheit. Die Orte und die Formen des Lernens in unserer Gesellschaft sind von Zwang und Autorität gekennzeichnet – die Schule ist Pflicht und Lehrer_innen sind Autoritätspersonen, die die Macht haben, Schüler_innen Noten zu geben. Darüber hinaus hat Bildung in unserer Gesellschaft den Zweck, Schüler_innen zu guten Konsument_innen und Arbeiter_innen zu machen. Sie sollen in den kapitalistischen Verhältnissen funktionieren und dazu müssen sie die instrumentelle Vernunft erlernen. Auch die Universität ist nicht frei von diesen Verwertungsstrukturen, sondern bewegt sich in der gleichen instrumentellen Logik. Bildung fördert so nicht mehr kritisches Denken und Freiheit, sondern Anpassung an die herrschenden Verhältnisse.

DIALEKTIK. Es gibt Momente, die nicht den Prinzipien der instrumentellen Vernunft entsprechen. Diese Impulse kommen immer wieder durch, aber werden auch immer wieder unterdrückt oder integriert. So haben auch soziale Bewegungen, die emanzipatorischen Prinzipien der Solidarität folgen stets auch eine instrumentelle Logik in sich, die sich mehr oder weniger stark durchsetzt.

Auch Gefühle sind kein Gegensatz zur instrumentellen Vernunft. Selbst wenn sie manchmal im Widerspruch zur Vernunft stehen, sind Gefühle nicht außerhalb oder unabhängig von den herrschenden Verhältnissen. Es gibt viele Gefühle, die auch eine stabilisierende Funktion in Herrschaftsstrukturen einnehmen, aber manchmal können Gefühle auch befreiend sein. Dieser dialektische Moment ist wichtig: Gefühle, wie auch die Vernunft bringen Befreiung und Emanzipation – aber auch Herrschaft und Unterdrückung. Es geht darum, diese Dialektik an sich zu verstehen und zu erkennen, dass ein und dasselbe Ding gleichzeitig unterdrückend und befreiend sein kann.

Im Wissen ist dieses dialektische Moment auch enthalten: An Schule und Universität wird gelernt, sich an die herrschenden Verhältnisse anzupassen. Trotzdem gibt es immer wieder Augenblicke, in denen Kritik möglich ist und die befreienden Aspekte von Vernunft und Bildung zu Tage treten. Diese Spuren der Befreiung im Wissen gilt es zu finden und zu stärken.

Rosa Costa arbeitet an einem Sparkling-Science-Projekt zu Critical Science Literacy an der Universität Wien.

Literaturverweise:
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer, Frankfurt 1969.
bell hooks: Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom. New York, London: Routledge. 1994.

Leintuchwissenschaft

  • 11.05.2015, 08:00

6.000 Euro für die Masterarbeit, 80.000 Euro für die Dissertation. Vom lukrativen Geschäft mit akademischen Leistungen und der Frage nach authentischer wissenschaftlicher Arbeit.

6.000 Euro für die Masterarbeit, 80.000 Euro für die Dissertation. Vom lukrativen Geschäft mit akademischen Leistungen und der Frage nach authentischer wissenschaftlicher Arbeit.

„Genügend Geld und kein Bock.“ Mit dieser Begründung hat sich eine Mitstudentin mit einer Ghostwritinganfrage an Anna*, eine Studentin aus Innsbruck, gewandt. Anna verfasst Arbeiten für andere Studierende – gegen Bezahlung. „Insgesamt habe ich rund 15 Seminararbeiten für andere Student*innen geschrieben“, sagt Anna. Für sie war es ein guter Nebenverdienst. „Je nachdem wie vertraut ich mit dem Thema war, musste ich mehr oder weniger Zeit für die Recherche investieren und daraus haben sich dann auch die Preise ergeben. Es waren allerdings mindestens 20 Euro pro geschriebener Seite“, sagt Anna. Pro Auftrag kamen rund 300 Euro zusammen.

Angefangen habe alles mit ihrer Mitbewohnerin. „Sie hat gewusst, dass ich mir beim Schreiben leicht tue und mich gefragt, ob ich ihre Seminararbeit verfassen kann“, erzählt Anna. Danach sei alles über Mundpropaganda gelaufen. Die Leute hätten die Studentin per Mail oder Facebook kontaktiert. „Persönlich kannte ich fast niemanden und ein schlechtes Gewissen hatte ich auch nie“, sagt Anna. Anstrengend sei es trotzdem gewesen, denn viele Leute hätten sich erst zwei Tage vor dem Abgabetermin gemeldet. „Bei manchen war die Deadline auch schon verstrichen und dann musste die Arbeit sehr rasch fertig sein“, sagt Anna.

Wie die Arbeiten beurteilt wurden, hat Anna nie erfahren. Sie hatte auch das Gefühl, dass die Studierenden, die die Arbeiten in Auftrag gegeben haben, kein großes Interesse an einem guten Studienerfolg hatten: „Sie wollten einfach, dass es erledigt ist.“ Über die Hintergründe der Student*innen habe Anna nie viele Fragen gestellt. „Ich weiß, dass sich manche nicht im Stande sehen, eine Seminararbeit oder einen Essay zu schreiben. Andere waren einfach zu faul und konnten es sich leisten, jemanden dafür zu bezahlen“, meint Anna: „Aber die Nachfrage war echt groß.“

MAMI UND PAPI KAUFEN EINEN TITEL. Wie lukrativ das Geschäft ist, weiß auch Thomas Nemet, Leiter einer Ghostwriting-Agentur in Salzburg. „Jedes Jahr haben wir zwischen 150 und 200 Aufträge von österreichischen Student*innen. Viele kommen von der Universität Wien, aber auch Salzburger und Grazer Studierende melden sich“, sagt Nemet. Am gefragtesten seien Arbeiten aus BWL, dann kämen geisteswissenschaftliche Fächer und die Medizin, die sich mit den Rechtswissenschaften den dritten Platz teile.

Er selbst habe am Ende seines Studiums rund zehn Arbeiten im Rahmen des Unternehmens geschrieben. Angeboten wird alles. Von Proseminararbeiten über Bachelor- und Masterarbeiten bis hin zu Dissertationen und gerichtlichen Gutachten können sich Studierende durchs Studium schummeln und Leistungen kaufen. Zumindest die, die das Geld dafür haben. Denn der Preis ist hoch. „Eine 20-seitige Arbeit mit Literaturrecherche ohne empirischen Teil kostet rund 1.600 Euro. Wir rechnen mit 300 Wörtern pro Seite und eine Seite kostet 80 Euro“, sagt Nemet. Eine Masterarbeit mit Expert*inneninterviews kommt auf eine Rechnung von 5.000 bis 6.000 Euro.

„Nachdem ein erstes Angebot bei uns eingeholt wurde, hören wir schon häufig, dass die Finanzierung zuerst mit den Eltern abgeklärt werden muss. Viele Studierende, die uns kontaktieren, haben einen guten finanziellen Background“, sagt Nemet. Ab einem Auftrag von mindestens 1.000 Euro kann in Raten gezahlt werden. „Dann liefern wir auch die Arbeit in Teilen. Geld gegen Leistung heißt unser Prinzip“, sagt der Unternehmensleiter.

Der Großteil der Auftraggeber*innen sei unter 30 Jahren. „Da sind von der Studienanfängerin mit Versagensängsten bis zum berufstätigen Student, der am Ende seines Studiums steht, alle vertreten“, sagt Nemet. Bevor die Student*innen die Arbeit ausgehändigt bekommen, müssen sie schriftlich versichern, dass sie damit nichts Illegales vorhaben, wie zum Beispiel die Arbeit als ihre eigene auszugeben. Somit ist die Ghostwriting-Agentur rechtlich aus dem Schneider. Auf die Frage, was das für die Wissenschaft bedeutet, wenn sich immer mehr Studierende Arbeiten schreiben lassen, antwortet Nemet: „Eigentlich nichts. Ein Uniabschluss heißt nicht, dass man Manager*in wird. Unsere Kund*innen müssen sich der Wirklichkeit im Berufsleben stellen und zeigen, was sie können.“ Thomas Nemet führt einen Doktortitel, den er sich laut eigenen Angaben selbst erarbeitet hat.

SCHULDGEFÜHLE. „Seminararbeiten zu schreiben ist mir immer leicht gefallen“, sagt Daniel*, ein Student der Geisteswissenschaften an der Universität Innsbruck. Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass er oft von Studienkolleg*innen angesprochen wurde, ob er ihre Arbeiten gegen Bezahlung für sie erledigen würde. Meistens habe er abgelehnt, weil er die Faulheit anderer nicht unterstützen wollte. Zweimal hatte er aber zugesagt und die Bachelorarbeiten von Freunden geschrieben. „Zum Freundschaftspreis von 15 Euro pro Stunde habe ich für die erste Arbeit 20 bis 30 Stunden investiert“, sagt Daniel. Die zweite Arbeit ging schneller, denn da sei die Recherche schon erledigt gewesen und Daniel musste sie lediglich in Worte fassen. „Die Person hatte Probleme beim Formulieren und wollte sich auch nicht damit auseinandersetzen. Da war dann schon viel Faulheit dabei und das Geld in diesem Fall auch kein Problem“, behauptet Daniel. Er ist sich sicher, dass er viel Geld mit Ghostwriting verdienen hätte können, aber im Grunde finde er das unvertretbar. „Ich habe das zwei Mal gemacht, um Freunden zu helfen und das waren Ausnahmefälle. Aber Uni-Arbeiten für andere Student*innen zu schreiben, um Geld zu verdienen, das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren“, so Daniel.

Das schlechte Gewissen plagt auch Petra*. Sie studiert im dritten Semester an einer Fachhochschule und würde sich gern die Bachelorarbeit von jemandem schreiben lassen. „Die Versuchung ist groß, aber dafür bin ich zu ehrlich“, sagt Petra. Kleinere Arbeiten seien da schon weniger ein Problem, denn im vergangenen Semester hat ihr ein Freund eine Seminararbeit geschrieben. „Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als ich die Arbeit abgegeben habe, aber es war für ihn einfach viel weniger Aufwand, als es für mich gewesen wäre.“ Im Gegenzug für seine Arbeit habe sie ihm auch eine Arbeit verfasst. „Der Grund dafür war sicher die Bequemlichkeit. Ich hätte für die Recherche vieles heraussuchen müssen, das er parat hatte“, verteidigt sich Petra. Halbherzig habe sie sich vor der Abgabe noch einmal die Arbeit durchgelesen, um ein paar Formulierungen zu ändern, weil sie „ein bisschen paranoid geworden“ sei. „Ich habe schon irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil es mir extrem peinlich wäre, ertappt zu werden, obwohl das ja gar nicht möglich ist“, sagt Petra.

SANKTIONEN. „Sollten die Studierenden während des Studiums erwischt werden, gilt das als klassische Leistungserschleichung“, sagt Manfred Novak vom Institut für Universitätsrecht in Linz. Die Konsequenzen waren in den letzten Jahren relativ milde. Denn es wurde lediglich ein Prüfungsantritt oder ein Abgabetermin gestrichen. Die Arbeit musste also noch einmal geschrieben werden. Das Bewusstsein, dass sich viele Akademiker*innen ihren Titel nicht ehrlich erarbeiten, sei in den letzten Jahren gestiegen und daher wurde im Jänner eine Gesetzesnovelle verabschiedet, die zusätzliche Sanktionen erlaubt. „Die Gesetzesnovelle besagt, dass bei Vortäuschen von geistigem Wissen oder schwerwiegendem Plagiieren – darunter fällt auch Ghostwriting – von den jeweiligen Universitäten ein Ausschluss vom Studium von bis zu zwei Semestern verhängt werden kann“, sagt Novak. Das schließe alle Arbeiten, die während des Studiums verfasst werden müssen, mit ein. Das seien schon sehr drastische Maßnahmen, erklärt Novak, zumal die zeitliche Verzögerung auch zu einem Verlust von Studienbeihilfe und Stipendien führen könne. „Wenn der akademische Grad bereits geführt wird, dann wird er aberkannt und es droht eine Verwaltungsstrafe von bis zu 15.000 Euro“, erläutert Novak. Laut ihm gibt es insgesamt zwischen 5.000 bis 6.000 gefälschte Doktor*innentitel in Österreich.

„Natürlich ist es sehr schwer den Studierenden nachzuweisen, dass sie die Arbeiten nicht selbst verfasst haben“, sagt Nicole Föger von der Agentur für wissenschaftliche Integrität. Sie stellt sich die Frage, was ein wissenschaftlicher Titel überhaupt noch Wert ist, wenn vermeintliche Leistungen gekauft werden. „Die Karriere beruht dann auf einer oder mehreren Arbeiten, die man nicht selbst geschrieben hat. Das ist Betrug, zumal die Studierenden unterschreiben, dass sie die Arbeiten selbst verfasst haben“, sagt Föger.

Die Gründe, aus denen Studierende eine*n Ghostwriter*in engagieren, seien vielfältig. „Ich denke, dass in manchen Studienrichtungen die Masterarbeiten als nicht so wichtig angesehen werden und die Studierenden nicht das Bewusstsein haben, dass dies der Abschluss des Studiums ist. Sie wollen es nur schnell hinter sich bringen“, sagt Föger. Sie sieht auch Versagensängste als Motiv. Die Universität Graz versuche dem mit Projekten wie „Die Nacht der unvollendeten Arbeiten“ entgegenzuwirken. „Viele Studierende haben Angst vor dem leeren Blatt. Sie bekommen dort die Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Studienkolleg*innen zu schreiben. Außerdem wird auch eine psychische Unterstützung angeboten, um eventuelle Schreibblockaden lösen zu können“, sagt Föger. Die Universitäten würden also das Problem des Ghostwritings erkennen und versuchen, ihm entgegenzuwirken und den Studierenden Unterstützung zu bieten.

„Auch die Agentur für wissenschaftliche Integrität versucht mit Vorträgen im Sinne des guten wissenschaftlichen Arbeitens Bewusstseinsbildung zu betreiben. Dabei sprechen wir auch das Ghostwriting an“, sagt Föger. Das Augenmerk liege darauf, den Studierenden die Bedeutung der Arbeiten nahe zu legen. „Die Abschlussarbeiten sollen nicht als etwas gesehen werden, das halt noch gemacht werden muss. Es kann auch Spaß machen, selbst ein Thema und eine*n Betreuer*in auszuwählen und dann in der schriftlichen Arbeit zu zeigen, was in den letzten Jahren gelernt wurde“, sagt Föger.

Wenn man sich das Ausmaß des Ghostwritings in Österreich ansieht, dürften die Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung und die Androhung schärferer Sanktionen noch nicht wirklich im titelverliebten Österreich gegriffen haben.

* Namen von der Redaktion geändert

 

Julia Beirer studiert Journalismus und Neue Medien an der FH der Wirtschaftskammer Wien. 

 

Kollektivierung und Organisierung: Die Frauen_Ideen_Fabrik 2015

  • 07.05.2015, 12:47

Am 25. 4. hat zum zweiten Mal die Frauen_Ideen_Fabrik der Österreichischen Hochschüler*innenschaft stattgefunden. Im Rahmen von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops sollte jungen Wissenschaftlerinnen* die Möglichkeit geboten werden, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen.

Am 25. 4. hat zum zweiten Mal die Frauen_Ideen_Fabrik der Österreichischen Hochschüler*innenschaft stattgefunden. Im Rahmen von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops sollte jungen Wissenschaftlerinnen* die Möglichkeit geboten werden, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen.

Das Stimmengewirr im Hörsaal verstummt, als Dagmar Fink sich setzt und ihre Unterlagen ordnet. „Ich arbeite seit 20 Jahren in der feministischen Wissenschaft“, beginnt sie zu erzählen. „Doch Frauen bekommen oft die Botschaft, dass sie in den höheren wissenschaftlichen Rängen nichts zu suchen haben.“ Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin im Bereich der Gender Studies unterrichtet an mehreren Universitäten in Österreich und Deutschland. „Wissenschaft hat sich als Metier des männlich, weißen, heterosexuellen Europäers etabliert“, erklärt sie den etwa 30 Frauen*, die an den U-förmig angeordneten blauen Tischen sitzen. Die Studentinnen* hören interessiert zu, manche machen sich Notizen, als säßen sie tatsächlich in einer Vorlesung. Den Rahmen für Finks Vortrag bietet jedoch die Frauen_Ideen_Fabrik, eine von der ÖH organisierte Veranstaltung.

Trotz des schönen Wetters an diesem Samstag haben sich einige Frauen* im Teaching Center der Wirtschaftsuniversität Wien eingefunden, um an den Vorträgen und Workshops teilzunehmen. Birgit studiert IBWL an der WU. „Schon allein aus Network-Gründen ist es sehr förderlich, hierher zu kommen und mehr über Frauen in der Wissenschaft zu erfahren“, erklärt sie. Außerdem hofft sie, dass das Bewusstsein für genderbezogene Themen an der WU durch die Veranstaltung gefördert wird – jetzt, wo die Frauen_Ideen_Fabrik dort stattfindet.

Foto: Mafalda Rakoš

Auch die Veranstalterinnen* betonen die Wichtigkeit, sich als Wissenschaftlerin* in einem Kollektiv zu organisieren: Ziel der Frauen_Ideen_Fabrik sei es, jungen Wissenschaftlerinnen* einen Raum zu bieten, sich zu vernetzen. „Nur sieben Prozent der Professor_innen an österreichischen Hochschulen sind Frauen. Und das, obwohl Frauen mit einem Anteil von 54 Prozent mehr als die Hälfte aller Studierenden in Österreich darstellen“, erklärt Julia Freidl in ihrer Willkommensrede. Gegen diese Strukturen wollen sich die Organisatorinnen der Frauen_Ideen_Fabrik einsetzen.

WISSENSCHAFTLICHES KAFFEEHAUS. Nach der Begrüßung und dem Vortrag von Dagmar Fink bekommen die Studentinnen* im Rahmen eines „Wissenschaftlichen Kaffeehauses“ die Möglichkeit, eigene Erfahrungen auszutauschen. In Kleingruppen von ca. zehn Personen und mit Kaffee und Kuchen ausgerüstet erzählen sich die Studentinnen* von eigenen wissenschaftlichen Arbeiten, ihren Forschungsvorhaben und den Problemen, mit denen sie dabei konfrontiert sind. Die Themen und Disziplinen der Arbeiten sind so vielfältig wie die Teilnehmerinnen* selbst: Von einer Konfliktanalyse rund um die Privatisierung einer rumänischen Goldmine bis zum Entwurf einer Computersteuerung in Form eines Quietschballs – ob nun in Form einer Seminararbeit oder einer Dissertation – sind verschiedenste Forschungsthemen vertreten. Obwohl die Teilnehmerinnen* meist aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen kommen, geben sie sich gegenseitig Tipps zum weiteren Schreib- und Forschungsprozess ihrer Arbeiten.

Foto: Mafalda Rakoš

SCHREIB-OUTFIT. Nach einer einstündigen Mittagspause werden die Teilnehmerinnen* in verschiedene Workshops eingeteilt. Zwei davon konzentrieren sich auf Geistes- und Sozialwissenschaften sowie auf den Schreibprozess selbst, andere Workshopleiterinnen* beschäftigen sich mit Ökonomie, Naturwissenschaften, technischen Studien, Sprachwissenschaften und pädagogischen Studien. Auf diese Weise sollen möglichst viele Studienrichtungen abgedeckt werden, sodass sich die Teilnehmerinnen* Unterstützung von Workshopleiterinnen* und Peers aus Fachrichtungen holen können, die ihrer eigenen möglichst entsprechen. Meist werden Themen behandelt, die mit Gender-Themen an sich gar nichts zu tun haben: So werden Lesetechniken, Arbeitsziele, Schreibblockaden oder Zitationsprogramme behandelt. „Muss ich zum Schreiben spezielle Kleidung anhaben?“ ist beispielsweise eine der Fragen, die im Workshop zum wissenschaftlichen Schreiben besprochen werden.  

Foto: Mafalda Rakoš

BANDEN BILDEN! „Something will go wrong“, betont Mirah Gary, Workshopleiterin im Bereich technische Studien. Man dürfe sich vor Fehlern und Schwächen nicht fürchten und auch nicht davor, um Unterstützung zu bitten. Im Gegenteil. Man solle sich trauen, viele Fehler zu begehen. Alyssa Schneebaum, Ökonomie-Workshopleiterin, meint, dass man nicht ständig nur über Frauen in der Wissenschaft reden dürfe, sondern hauptsächlich und vor allem Wissenschaft betreiben solle. Einen Anstoß dazu hat die Frauen_Ideen_Fabrik in den Augen der meisten Teilnehmerinnen gegeben. Ein weiterer wichtiger Aspekt für viele war jener der Vernetzung und des Bandenbildens. „Um als freie Wissenschaftlerin existieren zu können, brauche ich Kollektivierung und Organisierung“, sagt Dagmar Fink in ihrem Vortrag. Unser momentanes Verständnis von Wissenschaft und die daraus resultierenden sexistischen Strukturen seien situativ und veränderbar. „Es lohnt sich, sich dafür einzusetzen. Und das kann man nicht alleine.“

 

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik an der Universität Wien.

Sich dem Glück in den Weg stellen

  • 10.03.2014, 23:50

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich ein steigendes Interesse an den Themen Emotion und Affekt innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften beobachten. Während Emotionen zuvor primär der Privatsphäre zugeordnet wurden, rückte nun die Wechselwirkung mit sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren in den Vordergrund. Aber der sogenannte affective turn übersieht oft ein wichtiges Vermächtnis: die Arbeiten von queeren, feministischen, postkolonialen und Schwarzen Theoretiker_innen und Aktivist_innen. Sara Ahmed schließt diese Lücken und leistet gleichzeitig durch ihre eigenen Forschungen einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Themenbereichs. Zurzeit unterrichtet sie an der Goldsmith University (UK) und ist dort Direktorin des Centre for Feminist Research.

progress traf Ahmed während ihres Besuchs in Wien, wo sie im Rahmen des Workshops „Emotionen als Regierungstechnik“ und der „Gender Talks“-Reihe einen Vortrag zu „Diversity Work as Emotional Work“ hielt.

progress: Beschäftigt man sich mit Emotionen, zählen Ihre Publikationen zum Standardrepertoire. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Ahmed: Als ich angefangen habe über die Figur des Fremden – „the body out of place“ – nachzudenken, wollte ich auch meine eigenen Erfahrungen verarbeiten. Ich bin als Person of Colour in einer sehr weißen Nachbar_innenschaft in Australien aufgewachsen. Diese Umstände haben mich zu der Frage geführt, wie Emotionen in sozialen Interaktionen wirken und welche Rolle sie für die Konstruktion von einem „Wir“ spielen. Ein „Wir“, das begrenzt wird durch die Vorstellung, dass bestimmte Körper Quellen der Gefahr oder schlechter Gefühle seien. Meine Arbeit beschäftigt sich also mit der Frage, wie Emotionen auf bestimmte Objekte gerichtet werden. In meinen Untersuchungen zu Rassismus hat mich besonders die Beziehung zwischen der Figur des_der Asylwerber_ in und des_der potentiellen Terrorist_in interessiert. Und die Frage, wie diese Figuren „zusammengeklebt“ werden.

Sie verwenden den Begriff „affektive Ökonomien“, um diese Beziehungen und ihre Zirkulation in Gemeinschaften zu beschreiben.

Ja. Das ökonomische Vokabular erleichtert es, diese Bewegungen zu verstehen. Man kann sehen, wie verschiedene Emotionen als Technologien angewendet werden, um Menschen zu regieren. Im australischen Kontext ist das Gefühl der Scham sehr interessant, denn sich gegenüber der indigenen Bevölkerung für die Vergangenheit zu schämen, erzeugt ein neues nationales „Wir“. Diese Emotion wird so „performed“, als sei die Geschichte schon überwunden. Sie verdeckt eine Wunde, die aber bis heute präsent ist.

Eine von Europas Figuren des Fremden ist der Flüchtling. Wie beurteilen Sie die Diskussionen rund um den Tod so vieler Refugees im Mittelmeer, zum Beispiel im Kontext des tragischen Bootsunglücks vor Lampedusa im Oktober 2013?

Ich finde Judith Butlers Arbeiten hier sehr hilfreich. In ihrem Buch „Gefährdetes Leben“ fragt sie danach, was ein Leben „grievable“ – also betrauerbar – macht, welche menschlichen Verluste betrauert werden und welche vom politischen Horizont verschwinden. Das bleibt eine der dringendsten politischen Fragen. Aktivismus spielt hiereine wichtige Rolle, denn er macht diese Verluste sichtbar und stellt gleichzeitig die Art und Weise in Frage, wie der nationale Körper imaginiert wird. Im britischen Kontext steht das Thema Anti-Immigration momentan in engem Zusammenhang mit David Camerons „muscular liberalism“. Dieser Begriff geht von der Notwendigkeit körperlicher Stärke aus, um sich der Bedrohung durch die „Anderen“ entgegenstellen zu können. Und das hängt eindeutig mit der vermehrten Praxis der Inhaftierung von Flüchtlingen und der Ablehnung von Trauer zusammen.

Manche Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen argumentieren, es habe in Bezug auf Themen wie Armut und Flucht eine Verschiebung von einem Menschenrechtsdiskurs hin zu einem emotionaleren Diskurs gegeben, der von Konzepten der Wohltätigkeit und des Humanitarismus geprägt ist. Würden Sie dem zustimmen?

Es lässt sich sicher argumentieren, dass es eine solche Verschiebung gibt. Wir brauchen dringend postkoloniale Kritiken von Wohltätigkeit und Humanitarismus. Die Idee der Wohltätigkeit ist sehr komplex. Sie kann bestehende soziale und ökonomische Beziehungen reproduzieren, weil der Akt des Gebens auf Großzügigkeit beruht. Das verschleiert oft die Geschichte des Diebstahls, der es manchen Personen überhaupt erst ermöglicht zu geben. Aber es gibt auch sehr viele Probleme in Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs. Man müsste sich die Geschichte der Gewalt anschauen, die seine spezifischen Konzepte der Freiheit und des Individuums geschaffen hat. Das müssen wir im Rahmen einer Kritik des globalen Kapitalismus denken. Wenn wir also eine Verschiebung zu einem humanitären oder wohltätigen Modell identifizieren, sollten wir den Menschenrechtsdiskurs nicht nostalgisch glorifizieren.

Seit August 2013 betreiben Sie den Blog „Feminist Killjoys – Killing joy as a world making project“. Wie lässt sich dieser Titel verstehen?

Als ich anfing mein Buch über Glück zu schreiben, fiel mir auf, dass Glück immer als etwas Gutes imaginiert wird. Wenn man aber auf die Geschich te des Feminismus zurückblickt, zum Beispiel auf die Arbeiten von Simone de Beauvoir, Shulamith Firestone oder Audre Lorde, findet sich oft eine sehr starke Kritik an dieser Idee. Das habe ich als die „unglücklichen Archive des Feminismus“ bezeichnet. Die Figur des feminist killjoy sehe ich als Teil davon. Ich trage sie schon mein Leben lang mit mir herum. Ich bin häufig mit meiner Familie um den Esstisch gesessen und war dabei immer diejenige, die auf problematische Aussagen hingewiesen hat und dadurch selbst zum Problem wurde. Das war sehr anstrengend. Aber ich habe verstanden, dass es in solchen Situationen darum geht, dass sich jemand scheinbar dem Glück in den Weg stellt, in diesem Fall in Bezug auf die Familie, die sich als glücklich imaginiert. Und diese Zuschreibung der Rolle als killjoy ist eine klare Zurückweisung. Es ist also meist eine recht schmerzvolle Erfahrung. Aber viele Personen haben sich zu dieser Figur hingezogen gefühlt. Alle schienen eine killjoy-Geschichte zu haben. Das hat mir gezeigt, wie eine Figur, in der sich so viel Verletzung verdichtet, auch ein Ort des Potentials sein kann.

Sie sprechen von einer allgemeinen Hinwendung zum Glück auf gesellschaftlicher Ebene – Therapien und der Selbsthilfediskurs sind im Aufstieg begriffen, die Feel-good-Industrie wächst und wächst. Nichtsdestotrotz treten Sie für das Recht ein, unglücklich zu sein. Was meinen Sie mit dieser provokanten Forderung?
Ich folge hier einer langen feministischen Tradition. Meine Lieblingskritik am Glück sind Audre Lordes autobiografische „Cancer Journals“, das ist ein sehr starkes Buch. Lorde kritisiert die Betonung des positiven Denkens, quasi die Pflicht des_der Kranken, auf die heitere Seite zu schauen. Sie sieht das als Technik, die Ungleichheiten verdeckt, weil die Menschen für ihre Lebensumstände selbst verantwortlich gemacht werden. Das ist ein sehr moralisierender Diskurs, der bestimmte soziale Normen als Voraussetzung für ein gutes Leben definiert. Ein Sprechakt, der mich immer sehr interessiert hat, war der Ausspruch: „Ich will ja nur, dass du glücklich bist.“ Früher hörte ich das oft, meist wenn ich etwas gemacht hatte, was meinen Eltern nicht gefallen hat. Diese Idee, dass man den Weg verlässt, der einen zum Glück führen würde, findet sich überall in der queeren Literatur. Die Figur der unglücklichen queeren Person wurde daher sehr wichtig für mich. Wenn ich also von der Freiheit zum Unglücklichsein spreche, meine ich die Freiheit, nicht den vorgeschrieben Weg zu gehen.

Allen Warnungen zum Trotz haben Sie den queerfeministischen Weg gewählt. Von einer emotionalen Perspektive aus betrachtet, welche Gefühle haben Sie zum Feminismus bewogen?

Was mich bewegt hat, war sicher ein Gefühl der Ungerechtigkeit und der Wut, aber eine Wut, die auch eine Richtung hatte – denn wenn Wut keine Richtung hat, wird sie oft zu Frustration und das kann sehr entmächtigend sein. Auch das habe ich vor allem aus Audre Lordes Arbeiten gelernt; sie ist meine größte Inspiration. Aber es gab auch ein Wundern, eine Neugier sowie die Hoffnung, dass es Alternativen gibt. Einen großen Teil meiner positiven feministischen Energie habe ich von der pakistanischen Seite meiner Familie. Meine Tanten, die während der Teilung Indiens aufwuchsen, haben mein Verständnis von Feminismus als Selbstbestimmung sehr geprägt. Damit verbinde ich sehr viele positive Gefühle.

Nächstes Jahr erscheinen einige Monographien von Ihnen. Welche Themen beschäftigen Sie in letzter Zeit?

Jedes Buch ist eine Art Sprungbrett zum nächsten. „Willful Subjects“, das gerade in Druck ist, ist aus „The Promise of Happiness“ entstanden. Mich hat hier die Frage beschäftigt, wie Weiblichkeit mit dem Aufgeben von Willen verbunden wird. Mich interessiert daran auch die Vorstellung von Eigensinn als Problem, als Ursache dafür unglücklich zu sein. Außerdem arbeite ich an einem weiteren Projekt über die Geschichte des Konzepts des Nutzens. Was bedeutet es, wenn Nutzen eine Anforderung wird, zum Beispiel im Kontext von citizenship? Vor allem in der britischen Geschichte von citizenship gibt es einen sehr starken Diskurs über Arbeitsfähigkeit. Bürger_innen sollen eine angemessene Beschäftigung haben. Mein drittes Projekt – „Living a feminist life“ – wird auf ein größeres Publikum ausgerichtet sein. Ich möchte dafür einige Texte zu Sexismus, lesbischem Feminismus, killjoys und Eigensinn überarbeiten und in diesem Buch primär auf Alltagssituationen und Erfahrungen aufbauen. Obwohl ich die Philosophie liebe, erkenne ich an, dass sich nicht alle in ihr zuhause fühlen. Es sind also einige Projekte im Entstehen, das Schreiben belebt mich – es gibt mir Kraft gegen die Reproduktion von Machtstrukturen anzukämpfen.

Veronika Siegl hat in Wien Kultur- und Sozialanthropologie sowie Internationale Entwicklung studiert und ist Redakteurin von „PARADIGMATA. Zeitschrift fürMenschen und Diskurse“.

„Der Gewöhnungseffekt ist ein Hund“

  • 10.03.2014, 21:51

Die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums war zwar ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen, fügt sich aber dennoch in einen Wandlungsprozess der österreichischen Hochschullandschaft ein, der bereits vor mehr als zehn Jahren seinen Anfang genommen hat. Eine Chronologie der Bildungsökonomisierung.

Die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums war zwar ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen, fügt sich aber dennoch in einen Wandlungsprozess der österreichischen Hochschullandschaft ein, der bereits vor mehr als zehn Jahren seinen Anfang genommen hat. Eine Chronologie der Bildungsökonomisierung.

Die Bestürzung war groß, als am Abend des 12. Dezember 2013 bekannt wurde, dass das Wissenschaftsministerium die Koalitionsverhandlungen nicht überlebt hat und die Agenden des bisherigen Ministers Karlheinz Töchterle (ÖVP) in das Wirtschaftsministerium unter der Führung von Reinhold Mitterlehner (ÖVP) wandern. Als „schäbig, armselig und dumm“ bezeichnete etwa Spitzen-Forscherin Renée Schroeder dieses Ergebnis gegenüber dem Nachrichtenmagazin profil. RektorInnen, Uni-Personal, ForscherInnen, Studierende und selbst große Teile der ÖVP waren entsetzt über die Entscheidung von Parteiobmann Michael Spindelegger, das Wissenschaftsministerium zugunsten eines neu geschaffenen Familienministeriums aufzulösen. Eine Unterordnung der Wissenschaft unter das „Diktat der Wirtschaft“ war und ist eine der zentralen Befürchtungen der KritikerInnen dieser Entscheidung. Vor einem „Aushungern der Grundlagenforschung“ warnen zahlreiche namhafte WissenschaftlerInnen, RektorInnen-Chef Heinrich Schmidinger forderte Bundespräsident Heinz Fischer auf, die Regierung nicht anzugeloben, die Universitäten wurden kurzzeitig schwarz beflaggt und StudierendenvertreterInnen aller Fraktionen riefen zu Protest- und Trauerkundgebungen auf. Sie warnten auf Transparenten und in Aussendungen vor einer weiteren „Ökonomisierung der Bildung“.

Und dennoch: Nach ein paar Tagen der Empörung war die Aufregung auch schon wieder vorbei. Für Sigi Maurer, ehemalige ÖH-Vorsitzende, inzwischen Wissenschaftssprecherin der Grünen, zeigt das, „wie weit wir schon sind. Das Wissenschaftsministerium arbeitet seit vielen Jahren auf eine stärkere Integration in die Wirtschaft hin. Jetzt sind die Wissenschaftsagenden dort angesiedelt – das macht für viele keinen Unterschied mehr. Ein Stück weit ist so etwas wie informierte Resignation eingetreten“, analysiert Maurer.

Mangelnde Wertschätzung. Offensichtlich war die Eingliederung der Wissenschaftsagenden in das Wirtschaftsministerium aber kein von langer Hand geplanter Schritt, sondern ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen. „Dennoch zeigt diese Entscheidung klar, welches Bild die ÖVP von Wissenschaft hat und welche Wertigkeit sie ihr beimisst“, sagt Maurer. Damit ist sie ausnahmsweise einer Meinung mit Karlheinz Töchterle. „Die Einführung eines neuen Familienministeriums soll ein Zeichen sein, dass der ÖVP dieser Bereich besonders wichtig ist. Im Umkehrschluss sind ihr demnach Wissenschaft und Forschung nicht so wichtig. Das ist für mich angesichts der Bedeutung dieses Bereichs nicht plausibel“, so Karlheinz Töchterle gegenüber progress. Der Ex-Minister teilt die Sorgen der KritikerInnen: „Neben der symbolischen Wirkung sind auch faktische zu befürchten. Wissenschaft und Forschung bekommen schlicht weniger Zuwendung.“ Das vielzitierte „Diktat der Wirtschaft“ befürchtet der ehemalige Minister zwar weniger, ganz auszuschließen sei es aber dennoch nicht, so Töchterle.

Pacman frisst die Bildung. Die Jagd nach ECTS-Punkten erinnert Studierende an das Computerspiel Foto: Martin Juen

Nicht erst seit der Übersiedelung der Wissenschaft ins Wirtschaftsministerium ist eine immer stärkere Verstrickung von Wirtschaft und Bildung in Österreich Thema, denn die Universitäten befinden sich seit Langem in einem Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter europapolitischen Vorzeichen begann. Einerseits durch den Bologna-Prozess, der europäische Mobilität und einheitliche Abschlüsse bringen sollte, andererseits durch die Lissabon-Strategie, mit der Europa bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ werden sollte, begann spätestens ab dem Jahr 2000 auch in Österreich ein drastischer, struktureller Umbau der Universitäten. Zentral war dabei das Universitätsgesetz 2002 (UG 02, inzwischen wird es nur mehr UG genannt), mit dem die Universitäten in die seither vielbeschworene „Autonomie“ entlassen wurden. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und seit den 80er- Jahren im Wissenschaftsbetrieb tätig, konstatiert, dass rund um das Jahr 2000 ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der bis heute andauert und vor allem durch eine „Übernahme des Vokabulars, der Denkweise und der Organisationsform“ aus der gewinnorientierten Wirtschaft geprägt sei. Unter dem Dogma des „New Public Managements“ wurden unternehmensähnliche Strukturen geschaffen und marktwirtschaftliche Bewertungskriterien eingeführt: Evaluierung, Kennzahlen, quantifizierbare Leistungs- und Zielvereinbarungen, Wissensbilanzen und Rankings – all das sollte „outputorientierte“ Arbeit ermöglichen. RektorInnen wurden als UniversitätsmanagerInnen mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet.

Dahinter stecke eine „industrielle Vorstellung“ der Institution Universität, so Gubitzer: Sie werde als Betrieb gesehen, der Waren produziert und stets seinen Output zu steigern hat – mehr Publikationen, mehr AbsolventInnen, etc. „Dabei handelt es sich aber nicht um einen fruchtbaren Forschungswettbewerb, sondern im Grunde um einen Statuswettbewerb. Es ist nicht die Konkurrenz darum, wer den besseren Master anbietet, sondern wer besser dafür wirbt“, kritisiert sie.

Entdemokratisierung. Darüber hinaus brachte das UG 02 große Einschnitte in die demokratischen Strukturen der Universitäten: Die Möglichkeiten der Mitbestimmung von Studierenden und des wissenschaftlichen Personals wurden massiv eingeschränkt. Ihre Stimmen im Senat, dem einzig verbliebenen Uni-Gremium, das gewählt wird, wurden zugunsten des Stimmanteils der ProfessorInnen verringert. Das und die hierarchischen Organisationsstrukturen, die auf allen Ebenen sichtbar wurden, führten damals zu Protesten. Nicht nur Studierende gingen auf die Straße, auch viele progressive Lehrende solidarisierten sich mit den Studierenden, erinnert sich Barbara Blaha, die ein paar Jahre später als ÖH-Vorsitzende eine neue Protestwelle anführen sollte. „Aber es ist auch erstaunlich, wie schnell das wieder vorbei war. Zehn Jahre später kann sich keiner mehr vorstellen, dass Unis anders funktionieren können als heute. Das Gedächtnis der Institutionen ist offenbar sehr kurz“, sagt Blaha.

Aber auch die Proteste gegen das Universitätsgesetz waren nicht die ersten, die sich gegen den Einzug von Verwertungslogiken in den Hochschulbereich richteten. Nach den Sparpaketen der 90er-Jahre und der in diesem Kontext beschlossenen Senkung der Familienbeihilfe gingen auch im Jahr 2000 Studierende auf die Straße, um gegen die erstmalige Einführung von Studiengebühren unter der damaligen Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) zu protestieren. In den folgenden Jahren sollten die Studiengebühren wieder abgeschafft, eingeführt, doch nicht abgeschafft, autonom eingehoben und wieder rückerstattet werden. Luise Gubitzer sieht Studiengebühren als einen Schritt der Verankerung einer marktwirtschaftlichen Logik im Bildungssystem: Mit ihnen kommt das Element „Preis“ ins Spiel. „Als öffentliches Gut muss Bildung aber allen zugänglich sein und darf keinen Preis haben“, so Gubitzer.  

Liberalisierung und Protest. Zu den Protesten gegen Studiengebühren und gegen das umstrittene UG kam außerdem bald ein weiteres Thema hinzu, das weit über die Grenzen der Universität hinaus ein breites Bündnis von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen auf den Plan rief: das GATS-Abkommen – das „General Agreement on Trade in Services“ der Welthandelsorganisation (WTO), das den weltweiten Handel mit Dienstleistungen und dessen Liberalisierung zum Ziel hatte.

Bildung, Gesundheit, Energie- und Wasserversorgung sollten dem freien Markt zugänglich gemacht und staatliche Regulierung in diesen Bereichen eingeschränkt werden. „Bildung ist dann nicht mehr Aufgabe des Wissenschaftsministeriums, sondern des Wirtschaftsministeriums“, warnte im Studienjahr 2002/03 die Fakultätsvertretung für Geistes- und Kulturwissenschaften der Uni Wien – ironischerweise auf einer Informationsseite, die heute noch online ist. Unter dem Motto „Education not Profit“ startete die ÖH eine groß angelegte Kampagne gegen das Handelsabkommen und war damit Teil eines breiten Bündnisses, das unter dem Slogan „Stopp GATS“ zahlreiche Organisationen unter einem Dach vereinte: von den Gewerkschaften bis zu ATTAC, von SchülerInnenorganisationen über die Armutskonferenz bis hin zu Umweltorganisationen. Die WTO wollte die Verhandlungen zum GATS bis zur Doha-Runde 2005 abschließen. Aufgrund von Uneinigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten ist das aber bis heute nicht gelungen.

Nach sechs Jahren schwarz-blauer Regierungspolitik, die unter anderem das UG02 und die Einführung von Studiengebühren gebracht hatten, keimte bei vielen Studierenden ein kleiner Hoffnungsschimmer, als die SPÖ 2006 als Wahlsiegerin aus den Nationalratswahlen hervorging und Alfred Gusenbauer Bundeskanzler wurde. Denkbar groß waren die Wut und die Enttäuschung, als klar wurde, dass auch diese Regierung, entgegen aller Ankündigungen, die Studiengebühren nicht abschaffen würde. Dieser Umstand und die Unzufriedenheit mit dem Gesamtergebnis der Koalitionsverhandlungen veranlassten die damalige ÖH-Vorsitzende Barbara Blaha aus der SPÖ auszutreten. Blaha sieht die damaligen Protesten, durchaus als Erfolg: „Wenn die Studierenden dieses Thema 2007 nicht so skandalisiert hätten und mein Partei-Austritt nicht so ein großes Thema gewesen wäre, wäre Werner Faymann nicht gezwungen, das Thema Studiengebühren als Symbolfrage zu behandeln. Mit dem Ergebnis, dass die Studiengebühren heute für einen Großteil der Studierenden Geschichte sind. Und solange Faymann Kanzler ist, werden sie das auch bleiben.“ Die Studierenden, die 2007 auf der Straße waren, sehen das aber nicht als ihren Erfolg, weil es zur geforderten Abschaffung der Studiengebühren erst Jahre später kam, so Blaha.

Schon im Jahr 2009 sollte es zu neuen Protesten kommen, die unter dem Titel #unibrennt – jedenfalls der medialen Rezeption nach – als die größten Bildungsproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen sollten. „Die Proteste waren, abgesehen von der Besetzung als Protestform, weit nicht so radikal, wie sie nach außen vielleicht gewirkt haben“, erinnert sich Sigi Maurer, die damals ÖH-Vorsitzende war. „Der Fokus vieler Arbeitskreise war die Verbesserung der individuellen Situation an der Universität, mit der Zusatzforderung nach ECTS-Punkten für den Aktivismus im Audimax. Auch daran zeigt sich, wie weit die Durchdringung der Gesellschaft, auch der Studierenden, mit ökonomischen Prinzipien vorangeschritten ist“, stellt Maurer fest und ergänzt: „Das wäre eine Möglichkeit gewesen, darüber nachzudenken, was das Ziel von Lehre und Studium sein sollte – das haben die meisten Universitäten aber verabsäumt.“

Von Österreichs Universitäten bleibt nur noch ein Skelett. So sahen es Demonstrierende im Dezember 2013  Foto: Martin Juen

Neben der individuellen Unzufriedenheit mit dem Studium sei aber auch ein kollektives Unbehagen mit dem Wandel der Hochschullandschaft durch diese Proteste ersichtlich geworden, sagt Barbara Blaha: „Der Funke in der #unibrennt-Bewegung war dieses dumpfe Gefühl, dass die Unis derzeit in die falsche Richtung laufen.“ Das habe sich für die Studierenden an vielen Kleinigkeiten des Studienalltags bemerkbar gemacht: Voraussetzungsketten, verschulte Lehrpläne, eine möglichst effiziente Verwertbarkeit der Lehrinhalte und „Employability“. Nicht umsonst wird mit der Protestbewegung rund um das Audimax der Spruch „Bildung statt Ausbildung“ verbunden. Gefordert wurden unter anderem eine Demokratisierung der Universitäten, der freie Hochschulzugang, die Abschaffung bzw. Nicht-Einführung von Studiengebühren und nicht zuletzt die Ausfinanzierung der österreichischen Universitäten. Ob #unibrennt ein paar Jahre später auch noch funktionieren würde, ist sich Blaha nicht sicher. „Der Gewöhnungseffekt ist ein Hund. Und inzwischen ist der ökonomische Druck – etwa durch die weitere Verringerung der Familienbeihilfe und die Nicht-Anpassung der Studienbeihilfe – so hoch, dass ich von niemandem verlangen kann, links oder rechts zu schauen. Die Menschen rennen durch ihr Studium – weil sie müssen.“

In wessen Auftrag? Längst hat also eine ganze Reihe von Mechanismen dazu geführt, dass marktwirtschaftliche Logiken Einzug in das Hochschulwesen gehalten haben. Laut Luise Gubitzer wird eine Ökonomisierung von Bildung und Bildungsinstitutionen auf mehreren Ebenen sichtbar. Nicht zuletzt hat auch die chronische Unterfinanzierung der Universitäten durch den Staat zunehmend private AkteurInnen auf den Plan gerufen. Dass die erste Ankündigung Mitterlehners war, die Finanzierung von Forschung durch Drittmittel noch stärker ausbauen zu wollen, sieht Gubitzer als Problem: „Das bedeutet, dass der Staat sich zunehmend aus seiner Aufgabe, universitäre Bildung zu finanzieren, zurückzieht und sie immer mehr auf eine Basisfinanzierung reduziert. Den Rest müssen sich die Unis dann anderswo holen. Das halte ich für eine riesige Gefahr.“ Die komplette Ausfinanzierung der öffentlichen Universitäten ist aus Gubitzers Sicht nämlich Aufgabe des österreichischen Staates. Warum? „Weil öffentliche Bildung vielfach positive, multiplikative Effekte hat“, so Gubitzer – etwa das Reflektieren von gesellschaftlichen Prozessen, aus denen sich wiederum Forschungsaufgaben und Lehrgegenstände für die Universität ergeben. „Die öffentliche Uni muss sich immer wieder mit den Aufgaben, die sie gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen muss, in Beziehung setzen“, so Gubitzer.

Auch die Rolle von Sponsoring gelte es kritisch zu beobachten. Nirgendwo wird die wachsende Bedeutung von privaten Geldern so gut sichtbar wie bei einem Spaziergang durch den neuen WU-Campus mit seinem OMV Library Center und seinem Red Bull-Hörsaal. Die ständige Präsenz der Firmennamen mache ein kritisches Hinterfragen dieser Unternehmen schwieriger, so Gubitzer. Außerdem sei problematisch, dass es zunehmend zur Selbstverständlichkeit werde, dass sich Universitäten auf diese Weise finanzieren. „Die WU wurde ja mit öffentlichen Mitteln gebaut. Die Frage ist, wofür das Hörsaalsponsoring eigentlich verwendet wird.“ Wenn damit etwa ein Kongress finanziert wird, werde dorthin wohl niemand eingeladen, der dem sponsernden Unternehmen kritisch gegenübersteht, befürchtet Gubitzer.

Keine Studierendendemo ohne Popkultur – gegen die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums 2013 demonstierten die Space Invaders mit. Foto: Luiza Puiu

Über die Konsequenzen dieser Entwicklungen gelte es nicht nur innerhalb der Universitäten, sondern auch als Gesellschaft nachzudenken. „Die Unternehmen wissen ganz genau, was sie von der Uni verlangen, während die gesellschaftlichen Gruppen viel zu wenig fordern“, sagt Gubitzer. Statt die Unis zunehmend darauf zu reduzieren, dass sie Studierende ausbilden, müsse sich die Gesellschaft bewusst machen, was sie von einer Universität, die aus Steuermitteln finanziert wird, erwartet. Eine öffentliche Universität habe nämlich komplett andere Aufgaben als ein gewinnorientiertes Unternehmen, so Gubitzer. Statt die Universitäten also dem Wettbewerb um gutes Abschneiden bei Rankings zu überlassen, müsse die Öffentlichkeit fragen, was sie eigentlich von der Forschung hat. „Menschen, die in den Universitäten sind und noch etwas anderes wollen, als Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden, müssen gestärkt werden, um Lehre und Forschung voranzubringen.“ Das und eine Wiederaufwertung der internen Mitbestimmung an den Universitäten wären laut Gubitzer erste dringende Voraussetzungen, um die Unis wieder auf einen anderen Kurs zu bringen.

Theresa Aigner ist freie Journalistin in Wien. Ein ausführliches Interview mit der Ökonomin Luise Gubitzer findest du hier: „Die öffentliche Uni hat der Gesellschaft etwas zurückzugeben“.

„Die öffentliche Uni hat der Gesellschaft etwas zurückzugeben“

  • 07.03.2014, 11:13

Die österreichischen Hochschulen befinden sich seit 15 Jahren in einem massiven Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter dem Schlagwort „Bildungsökonomisierung“ diskutiert wird. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität, erklärt im Gespräch mit progress, warum diese Tendenzen die Forschung verengen und die Gesellschaft viel mehr von der öffentlichen Universität fordern müsste.

Die österreichischen Hochschulen befinden sich seit 15 Jahren in einem massiven Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter dem Schlagwort „Bildungsökonomisierung“ diskutiert wird. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität, erklärt im Gespräch mit progress, warum diese Tendenzen die Forschung verengen und die Gesellschaft viel mehr von der öffentlichen Universität fordern müsste.

progress: Welche Aufgabe haben die Universitäten heute aus ihrer Sicht?

Luise Gubitzer: Es ist immer noch die „alte“ Aufgabe: junge Menschen zum Denken anzuregen. Diese Rolle des Denkens diskutiert auch Horkheimer in seiner Antrittsrede 1952 an der Universität Frankfurt. Er sagt, die jungen Menschen müssen darin bestärkt werden und wir müssen ihnen Möglichkeiten und Werkzeuge geben, um zu einem eigenständigen Denken zu finden. Philosophen dieser Zeit sind durch die Nazi-Herrschaft darin geschult, dass eine Massengesellschaft Mitläufertum heißen kann. Ich halte es für unsere unmittelbarste Aufgabe, zum Reflektieren anzuregen und eine gewisse Distanz zu realen Prozessen aufzubauen. Aus entsprechenden Beobachtungen ergeben sich wiederum Forschungsaufgaben und Lehrgegenstände für die Universität. Die öffentliche Uni muss sich immer wieder mit den Aufgaben, die sie gegenüber der Gesellschaft wahrzunehmen hat, in Beziehung setzen.

Gerade im Fall der Wirtschaftsuniversität (WU) halte ich es für zentral, nicht nur Ausbildung zu bieten, sondern darüber zu reflektieren, welche Aufgabe bzw. Rolle ein Unternehmen in der Gesellschaft hat. Auch wir sind eine öffentliche Uni, die der Gesellschaft etwas zurückzugeben hat. Und das heißt nicht, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, der gewinnorientierten Wirtschaft qualifizierte ManagerInnen zu liefern. Es braucht ein breiteres Verständnis.

Was erwarten sich aber die Studierenden, wenn sie an die Uni kommen: im Reflektieren geschult zu werden oder eine Berufsausbildung?

Es gibt die Erwartung, die Persönlichkeit weiter zu entwickeln und sich mit der eigenen Aufgabe, dem eigenen Standing in der Gesellschaft zu befassen. Das ist vorhanden und daraus können wir etwas machen. Aber wir müssen das bewusster wahrnehmen. Denn mit der Studieneingangsphase machen wir an der WU das Gegenteil: Massenprüfungen, bei denen die Studierenden nicht mehr als eine Matrikelnummer sind. Und darüber melden die Studierenden tiefe Betroffenheit, sie wollen mehr sein als eine Nummer.

Die jungen Menschen brauchen eine „Ich-Stärkung“. Aber die richtet sich dann eben danach, was ihnen die Universität bietet. Wenn es ein Jahr lang Massenveranstaltungen gibt, dann sozialisieren sie sich im Kontext von Konkurrenz und Egoismus und letztlich entsteht bei denen, die durchkommen, ein elitäres Bild davon, wer man jetzt ist. Es gibt auch andere Fähigkeiten, die bei den Studierenden angelegt sind, etwa Reflexions- oder Kritikfähigkeit – aber die können sie nicht weiterentwickeln, wenn die Rahmenbedingungen es nicht zulassen.

Diese Rahmenbedingungen sind nicht zuletzt durch Tendenzen entstanden, die immer wieder als „Bildungsökonomisierung“ bezeichnet werden. Was verbinden Sie mit diesem Begriff?

Ich sehe verschiedene Ebenen der Bildungsökonomisierung. Es gab an den Universitäten eine Übernahme des Vokabulars, der Denkweise und der Organisationsform aus der gewinnorientierten Wirtschaft. Das drückt sich in quantitativen Auswertungen und im Statuswettbewerb aus – Wissensbilanzen und Rankings spielen hier eine Rolle. Obwohl die öffentliche Universität komplett andere Aufgaben hätte als ein gewinnorientiertes Unternehmen. Aber es herrscht eine industrielle Sichtweise von der Uni vor. Sie wird als Betrieb gesehen, der Waren produziert und seinen Output stets zu steigern hat: mehr Publikationen, mehr AbsolventInnen, etc.

Diese Übernahme der marktwirtschaftlichen Kategorien geht bis zur „Filetierung“, die ja auch ein Element neoliberaler Entwicklungen im Unternehmensbereich ist: also Unternehmen zu teilen und die einzelnen Teile bestmöglich zu vermarkten. An den Unis bedeutet das, dass Monografien als Habilitation nicht mehr gerne gesehen werden. Bereits Dissertationen sollen in drei Artikel filetiert werden und das setzt sich im Forschungsprozess fort. Da stellt sich dann die Frage, wo Grundlagenforschung und ein längerfristiger Denkprozess noch Platz haben.

Sie haben Rankings erwähnt – inwiefern führt dieser Wettbewerb unter den Universitäten zu einer Veränderung dessen, was innerhalb der einzelnen Unis passiert?

An der WU ist Vieles in diese Richtung umgestellt worden. Das äußert sich vor allem darin, dass ProfessorInnen berufen werden, die bereits in Ranking-Journals publiziert haben. Aber dadurch entstehen keine neuen Forschungsrichtungen, weil es für solche eben keine gerankten Journals gibt. Rankings begrenzen die Forschung und auch die Gehirne. Eine Möglichkeit dem entgegen zu wirken wäre, dass man im Rahmen des Hochschulbudgets einen Topf zur Verfügung stellt, der nur dazu da ist, völlig unorthodox zu forschen. Es muss Platz für freie Forschung geben.

Eine andere Entwicklung, die in Zusammenhang mit „Bildungsökonomisierung“ immer wieder genannt wird, sind Privatisierungen. Wie sehen Sie das?

Das kann man an der WU deutlich beobachten: Es gibt einen privaten Sicherheitsdienst, einen privaten Putzdienst – neuerdings werden sogar Prüfungserstellung und Prüfungsvorbereitung outgesourct. Gleichzeitig gibt es starke Bestrebungen die Drittmittelforschung auszubauen. Das halte ich für ein großes Problem. Es gibt Stiftungsprofessuren, die von Unternehmen gesponsert werden. Das heißt nicht nur, dass die Person die Inhalte beeinflusst, sondern sie kann auch ihre Sichtweise von der Institution Universität und deren Aufgaben in die Gremien hineintragen. Denn im Rahmen der Ökonomisierung sind die Universitäten ja auch stark hierarchisiert worden – Stichwort: Universitätsgesetz.

Ein aktuelles Thema ist in dem Zusammenhang auch das Sponsoring. Wenn Sie durch den WU-Campus gehen, sehen Sie die OMV Library, den Redbull Hörsaal und so weiter. Durch die ständige Präsenz der Unternehmen wird es schwieriger, diese kritisch zu hinterfragen. Aus Sicht der Unternehmen ist das eine sehr gute Werbemaßnahme. Es wäre interessant zu wissen, was in diesen Sponsoringverträgen steht.

Zynisch formuliert könnte man ja sagen, dass die Unis in Anbetracht der chronischen Unterfinanzierung froh sein können, wenn sie Geld von Privaten erhalten.

Das Problem daran ist, dass es zunehmend zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass sich Universitäten so finanzieren. Auch die Ankündigung von Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner, die Drittmittelforschung noch weiter ausbauen zu wollen, zeigt, dass sich der Staat zunehmend auf eine Art Basisfinanzierung zurückzieht. Den Rest müssen sich die Unis dann anderswo herholen. Für mich ist die Aufgabe des Staates aber nach wie vor die volle Ausfinanzierung der öffentlichen Bildung – für alle, die studieren wollen und zwar ohne Studiengebühren. Öffentliche Bildung hat nämlich vielfache positive, multiplikative Effekte.

Aber entspricht das noch dem Selbstbild der Politik? Ist nicht der Sachzwang, dass es zu wenig Geld gibt und alle sparen müssen, hegemonial geworden, weshalb der Rückzug der Politik aus der Finanzierung legitim erscheint?

Mit der Ökonomisierung der Bildung ist auch eine Ökonomisierung der PoltikerInnen und der RektorInnen einhergegangen. Sie verstehen sich als ManagerInnen und zu managen bedeutet auch, weitere Drittmittel zu lukrieren. Grundsatzentscheidungen über die Ausrichtung der Universitäten  dürfen ihnen aber nicht alleine überlassen werden. Auch die Regierung soll nicht alleine bestimmen können. Für mich müsste diesbezüglich die Rolle des Parlaments, als zentrale Institution einer Demokratie, gestärkt werden. Auch die Studierenden und die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen an den Unis müssten stärker eingebunden werden. Und nicht zuletzt muss sich auch die Öffentlichkeit für ihre Interessen stark machen.

Inwiefern?

Das öffentliche Bild der Universitäten hat sich in den letzten zehn Jahren massiv verschlechtert. Wir werden darauf reduziert, Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden. Dabei müsste sich die Gesellschaft viel stärker fragen, was sie von einer öffentlichen Universität erwartet und was sie von einer Forschung haben will, die aus Steuermitteln finanziert wird. Die Unternehmen wissen ganz genau, was sie von den Unis erwarten. Aber andere  gesellschaftliche Gruppen verlangen viel zu wenig von den Unis. Menschen, die in den Universitäten sind und noch etwas anderes wollen, als Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden, müssen gestärkt werden, um Lehre und Forschung voranzubringen. Das und eine Wiederaufwertung der internen Mitbestimmung sind erste, dringende Voraussetzungen, um die Unis wieder auf einen anderen Kurs zu bringen.

 

Interview: Theresa Aigner

 

 

 

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