Serien

Liebe machen Lernen

  • 20.06.2017, 21:42
Wie der Name schon erahnen lässt, geht es in „Make Love“ um Seeex. Das aber weniger spektakulär, sondern eher spießig. Ich kann mich nicht erinnern, über eine Sendung je so zwiegespalten gewesen zu sein.

Wie der Name schon erahnen lässt, geht es in „Make Love“ um Seeex. Das aber weniger spektakulär, sondern eher spießig. Ich kann mich nicht erinnern, über eine Sendung je so zwiegespalten gewesen zu sein.

Zum Plot: Wir begleiten die Sexologin Ann-Marlene Henning bei ihrer Arbeit, das heißt vor allem in Beratungsgesprächen mit Paaren. Wir begleiten sie aber auch in Caféhäuser, auf Baustellen oder Biker-Treffen, wo sie alle möglichen Leute über ihr Sexualleben ausfragt. Soweit entspricht das Format gängigen Sozialdokumentationen, folgt aber keiner Skandalisierungslogik. Wir sollen ja etwas dazulernen. Sex erscheint als Thema, über das brave BürgerInnen besser informiert werden müssen. Wobei wir hier von klassischen heterogepaarten BürgerInnen sprechen. LGBTIQA und Disability werden nur peripher oder überhaupt nicht thematisiert. Die Thematisierung von Geschlecht fand ich dafür größtenteils angenehm: Frauen werden beim Sex aktiv gezeigt, Schönheitsideale häufig ignoriert und Henning holt bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, ihre Stoff-Vagina heraus, weil es besonders wichtig ist, dass ALLE nach einer Begegnung mit ihr wissen, wie „das da unten“ funktioniert. Diese Bezeichnung für Vagina wird zwar durchgehend problematisiert, aber kaum durch eine andere ausgetauscht.

Etwas trashig, ist jede Folge mit Expert_inneninterviews und anatomischen Bildern gespickt, die in Landschaftsaufnahmen eingeblendet oder an Hauswände projiziert werden. Über weitläufige Sequenzen ist Klaviermusik gelegt, die eine Atmosphäre rührender Tierschicksals-Reportagen erzeugt, was meiner Meinung nach nicht ganz zum Thema passt. Trotz aller Skurrilitäten ist „Make Love“ sehr informativ: Ein bisschen wie die Sendung mit der Maus, wo erklärt wird, wie ein Geschirrspüler funktioniert. Eine Sachgeschichte über Sex, zwischen spießig, trashig und lehrreich. Zum Fremdschämen ist auch immer was dabei, weil Henning sehr schrill wird, wenn sie nicht recht weiß, wie sie reagieren soll. Wer willens ist, das hinzunehmen, kann aus der Sendung durchaus was mitnehmen. Aber eher nicht alles!

„Make Love“ läuft seit 2013 auf MDR, SWR und ZDF. Für die kommende Staffel werden noch Paare gesucht. ;-)

Carina Brestian studiert Soziologie an der Universität Wien.

Fallstudien zur Qualitätsfrage

  • 23.02.2017, 19:50
Ein Gespenst namens „Quality TV“ geht um in Fernsehwissenschaft und Feuilleton.

Ein Gespenst namens „Quality TV“ geht um in Fernsehwissenschaft und Feuilleton. Freudig aufgegriffen wurde dieser Begriff einst von TV-MarketingstrategInnen, um ihre seriellen Waren einem bildungsbürgerlichen Publikum schmackhaft zu machen. Der Plan ging auf und so stehen in den Bücherschränken der herrschenden Klasse neben repräsentativen Werken der Literatur nun immer öfter auch DVD-Boxen, die sämtliche Folgen von „The Wire“, „Mad Men“ oder „The Sopranos“ umfassen. Nach Theater und Kino, die beide lange Zeit als Medien des Pöbels galten, wurde nun auch das Fernsehen in den bürgerlichen Kulturkanon aufgenommen. Das gelang durch die formale Abgrenzung vom Trash- TV: Längere Erzählbögen, komplexere Handlung und ungewöhnliche Formen der Narration lassen unlogische Abläufe und reaktionäre Inhalte weniger schnell ins Auge springen.

Die Herausgeber von „Das andere Fernsehen?!“ lehnen den Begriff „Quality TV“ nicht ab, sondern stellen einmal mehr die Frage, was darunter zu fassen sei. Betrachtet man das Register behandelter Serien, finden sich neben den üblichen Verdächtigen wie „Six Feet Under“, „Breaking Bad“ und „Orange Is the New Black“ auch durchaus Überraschungen: Insbesondere britische Serien wie „Sherlock“ oder „Parade's End“ werden ausführlich behandelt. Nicht zuletzt der britischen Sitcom können einige AutorInnen viel abgewinnen. Aber eben primär den formal avancierten wie „The Office“, „The Thick of It“ oder „Extras“. Zwar scheint – gerade in der Auseinandersetzung mit Sitcoms – immer wieder durch, dass der Qualitätsbegriff eigentlich vollkommen unbrauchbar für einen Auseinandersetzung mit Fernsehen ist. Aber die Konsequenz daraus wird nicht gezogen, nämlich den Begriff „Quality TV“ als Affirmation jenes Sektors der Kulturindustrie, der bei Oberschichtsangehörigen gut ankommt, zu benennen und diesen als Analysekriterium für Fernsehen endlich zu verwerfen.

Dennoch bietet der Sammelband eine durchaus gelungene Darstellung dessen, was ist. Ideologiekritische Perspektiven und eine gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse von Formsprachen kommen allerdings – wie so oft in der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung – zu kurz. Für die LeserInnen sind zumindest ein paar Serienempfehlungen dabei und für die AutorInnen beginnt mit einer überteuerten Publikation in einem renommierten Verlag vielleicht eine wissenschaftliche Karriere.

Text: @fernseherkaputt
fernseherkaputt.blogspot.com

Jonas Nesselhauf/Markus Schleich [Hg.]: Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des „Quality Television“, Bielefeld: transcript 2016, 298 Seiten, 39,99 Euro

Viel Klon um nichts

  • 05.10.2016, 13:47
Kleinkriminelle Waisin findet heraus, dass sie eine von mehreren Klonen ist, tut sich mit den anderen zusammen und macht sich auf, ihren „Schöpfer_innen“ und heimlichen Aufseher_innen in den Hintern zu treten.

Kleinkriminelle Waisin findet heraus, dass sie eine von mehreren Klonen ist, tut sich mit den anderen zusammen und macht sich auf, ihren „Schöpfer_innen“ und heimlichen Aufseher_innen in den Hintern zu treten. Die Details der Story sind wesentlich komplizierter, aber das spielt keine große Rolle: Weder für die Frage, ob die Zuschauer_innen sich in die Serie verlieben (das steht und fällt nämlich mit den hinreißenden Klonen) – noch in Hinblick auf den Comic. Selbiger hat einfach zu wenig Seiten, um sich in Details zu ergehen – dabei ist es genau das, was er verspricht: Mehr Hintergründe zur geliebten Serie sollte er liefern.

Aufgeteilt in fünf Kapitel, eins für jede der Hauptklone, Sarah, Helena, Alison, Cosima und Rachel, liegt die Annahme nah, dass jedes Kapitel einen Strang aus dem Leben der jeweiligen Frau näher beleuchtet, der in der Serie zu kurz kam. Statt sich auf dieses Ziel zu konzentrieren, bemüht sich der Comic jedoch gleichzeitig, die erste Staffel zusammenzufassen. Er scheitert an beiden Zielen. Wer die Serie nicht gesehen hat, wird mit dem Comic überfordert sein, den Plot nicht nachvollziehen können und sich nicht in die Charaktere verlieben, die unerträglich flach bleiben. Wer hingegen bereits Fan ist, wird sich mit dem Comic langweilen und sich die Frage stellen, warum 99 Prozent des Inhalts nur wiederkäuen, was bereits bekannt war. Allein in Rachels Kapitel ist ein Teil ihrer Kindheit zu sehen, der in der Serie kürzer dargestellt wurde, neue Einsichten ergeben sich daraus aber nicht. Zudem hat es einen schalen Beigeschmack, wenn aus einer dermaßen queeren Fernsehserie ein Comic hervorgeht, in dem auf mehrere Hetensexszenen sage und schreibe ein lesbischer Kuss kommt – und Obertucke Felix nicht als queer zu erkennen ist.

Auch der Zeichenstil vermag es nicht, zu überzeugen. Wann immer Bilder aus der Serie direkt „geklont“ wurden – es wurde vermutlich direkt über Screenshots gemalt – sind die Charaktere mitunter atemberaubend gut zu erkennen, die Bildkomposition beeindruckend. Sobald die Künstler_innen jedoch frei zeichnen mussten, wird es sogar schwer, die einzelnen Personen auseinander zu halten. Die am Ende des Bandes angehängten Variant-Cover verschiedener Zeichner_innen sind vielfältig und würden wunderschöne Poster ergeben, doch als einzig wirklich innovativer Teil des Comics sind sie einfach den Kaufpreis nicht wert.

Der einzige Hoffnungsschimmer ist der zweite Band: „Helsinki“. Er soll vor allem die Geschehnisse in Finnland erläutern, die in der Serie bis einschließlich Staffel drei nur angedeutet wurden und erst in Staffel vier ansatzweise ans Licht kommen. Damit würde der Comic wirkliche Lücken füllen, was Band eins mit dem bisschen Extrainformationen pro Klon wahrlich nicht halten konnte. Leider ist dieser zweite Sammelband, obwohl bereits im März 2016 in den USA erschienen, erst im Oktober auf Deutsch zu bekommen.

Die vierte Staffel der Fernsehserie gibt es seit dem 6. August auch im deutschsprachigen Netflix, die fünfte und letzte Staffel wird 2017 in den USA anlaufen.

Non Chérie macht queeren Krempel, feministisches Gedöns und stolpert mitunter versehentlich auf dem Campus der Uni Wien umher.
 

„Hinfort mit den Serienstereotypen, her mit den Klonen“

  • 05.10.2016, 13:37
Teilzeitkleinkriminelle Waise aus armen Verhältnissen findet zufällig heraus, dass sie unzählige Klone hat …

Teilzeitkleinkriminelle Waise aus armen Verhältnissen findet zufällig heraus, dass sie unzählige Klone hat, tut sich mit ihnen zusammen und kämpft gegen jene, die sie geklont haben und deren finstere Machenschaften. Gut, das klingt nicht annähernd so spannend und komplex, wie die Serie tatsächlich ist – doch ihr werdet Orphan Black eh nicht wegen des Plots schauen.

Es ist der Klon-Club, also ihre verschiedenen Klone, die Protagonistin Sarah Manning nach und nach kennenlernt, die euch das Herz rauben werden. Schon Alison, die Soccer-Mum mit Vorliebe für Basteln, Geschenkeverpacken, Drogendealen und Mord, hat mehr Witz und Finesse als alle Staffeln Breaking Bad zusammen. Zudem kommt jede Menge Queeres: Nicht nur sind einige Hauptcharaktere lesbisch, bi, schwul, trans* und intergeschlechtlich, darunter auch Klone, nein, vor allem bricht die Seriengestaltung grandios mit Traditionen. Andauernd sprechen Frauen, die ebenso Hintergründe wie eigene Handlungsstränge haben, miteinander – und definitiv über etwas anderes als Männer. Männliche Charaktere hingegen haben nahezu ausnahmslos Nebenrollen, die die Protagonistinnen und deren Plot unterstützen (Bösewichte ausgenommen).

Und das fetzt. So richtig. Die Klone machen einfach Spaß. Sie können ihr ganzes Potential entfalten, weil sie nicht, wie es sonst in Serien passiert, durch irgendwelche Typen, deren Plot vorangetrieben werden muss, ausgebremst werden. Alle werden von Tatiana Maslany dargestellt, die derart überzeugend spielt, dass sie nicht mal Perücken und Accessoires bräuchte, um die Klone trennscharf voneinander abzugrenzen.

Eine weitere auffallende Besonderheit der Serie ist, dass es nicht ständig Vorwände gibt, um die Protagonistinnen nackt zu zeigen – dafür sind es öfters mal Männer, die in Dusch- und Umkleideszenen Haut zeigen. Allen voran Schnuckel Felix, Sarahs Adoptiv-Bruder, Künstler (was sonst), Make-Up-Fan und Vollzeit-Tunte. Nicht nur seine Outfits, sein Witz und sein Charme bereichern die Serie ungemein – dass er auch keine Berührungsängste gegenüber einem trans* Mann hat, ist im Mainstream-TV vermutlich einmalig.

Ein großer Makel der Serie: Sie ist weißer als Magerquark. Nicht-weiße Charaktere gibt es allein in Nebenrollen. Durchgehend dabei ist allein ein Schwarzer Cop – also genau die eine Schwarze Rolle, die gerade bei so vielen Serien neben einem ansonsten komplett weißen Cast steht.

Die vierte Staffel der Fernsehserie gibt es seit dem 6. August auch im deutschsprachigen Netflix, die fünfte und letzte Staffel wird 2017 in den USA anlaufen.

 

Non Chérie studiert mitunter versehentlich in Wien und macht sonst so queeren Kram und trans*aktivistisches Gedöns.

Die Serie zum Pferdestehlen

  • 02.09.2016, 19:17
Vergesst Mad Men, Breaking Bad und Game of Thrones. Das wahre Juwel unter den Serien ist eine animierte Trickfilmserie mit Menschen und anthropomorphen Tieren gleichermaßen.

[Dieser Text enthält im dritten Absatz unzählige Spoiler]
Vergesst Mad Men, Breaking Bad und Game of Thrones. Das wahre Juwel unter den Serien ist eine animierte Trickfilmserie mit Menschen und anthropomorphen Tieren gleichermaßen.

Ihr Held ist ein Pferd, BoJack Horseman, der in den 90ern eine erfolgreiche Sitcom hatte und nun, 20 Jahre später, immer noch verklärt nostalgisch auf diese Zeit zurückblickt. So begann BoJack Horseman 2014 –seit Ende Juni gibt es die mittlerweile dritte Staffel auf Netflix zu sehen und auch wenn es unwahrscheinlich klingt: Es ist die beste Serie der Welt.

Schon lange zeichnet sich ein Comeback der Zeichentrickserien für Erwachsene ab. Lange gab es nur die Simpsons, aber mit South Park, Bob’s Burgers und Family Guy wurden die Möglichkeiten dieses Unterhaltungssektors nach und nach ausgeforscht. Der Humor dieser Serien wurde im Laufe der Zeit aber bald platt und teilweise sogar ärgerlich, als hätten die Macher*innen versucht, so politically incorrect wie möglich zu sein. Auch BoJack Horseman enthält am Anfang nur wenig jugendfreie Szenen, denn BoJacks Leben in Hollywoo (so heißt Hollywood in der Serie) dreht sich vor allem ’Drogen, Alkohol und Sex. Er möchte seine Karriere wieder in Schwung bringen, scheitert aber regelmäßig daran, für sein eigenes Frühstück verantwortlich zu sein. Durch seine Biografie, geschrieben von Ghostwriterin Diane Nguyen, ist sein Name in Staffel 1 wieder etwas wert. Durch eine ernste Rolle in einem ernsten Film wird in Staffel 2 auch sein Gesicht wieder in die kollektive Erinnerung Hollywoos gerufen. Nun geht es in der dritten Staffel vorrangig um einen möglichen Oscar für ihn.

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Nebenbei passieren die wirklich wichtigen, tagesaktuellen, schmerzhaft ehrlichen und herzzerfetzenden Stories. BoJacks Mitbewohner Todd muss sich gegenüber seinem Highschool Crush Emily als asexuell outen, seine Agentin Princess Carolyn scheint endlich emotional in einer Beziehung angekommen zu sein, bevor sie erkennt, dass sie sich doch wieder in die Arbeit stürzen sollte und eine Karriere als Managerin angeht. Besagte Ghostwriterin Diane und ihr Mann Mister Peanutbutter (ein sehr friedfertiger und lebensfroher Labrador) begegnen in ihrer Ehe immer neuen Problemen und entscheiden sich mitten in der Staffel sogar für eine Abtreibung. Alle Nebencharaktere durchleben ihre kleinen und großen Krisen in einer enormen Geschwindigkeit, denn jede Episode dauert weniger als eine halbe Stunde. Jede Szene ist gespickt mit Hintergrund- und Vordergrundwitz, intertextuellen Zitaten, bildlichen und metaphorischen Vorahnungen oder Rückblenden. Die Serie ist eine einzige vielschichtige Medienkritik, die dennoch an Humor und Emotionen absolut nichts vermissen lässt.

Kritiker*innen bemerken immer wieder, dass BoJack Horseman als Serie und Charakter eine sehr akkurate Darstellung von Depression auszeichnet. Direkt thematisiert wird dies aber nie. BoJack trinkt sehr viel und ist oft erzürnt über alles Mögliche, aber am ehesten ist er doch antriebslos, unmotiviert und desillusioniert. Warum man sich so sehr mit einem Pferd verbunden fühlt, das in den 90ern eine erfolgreiche Fernsehserie hatte und bis heute davon zehren könnte, aber von Grund auf unzufrieden mit sich ist? Vielleicht weil wir alle manchmal denken, dass der Höhepunkt unseres Lebens und Schaffens schon hinter uns liegt und wir deswegen ein bisschen sauer sind? Weil man beim Anschauen der Nachrichten eigentlich merkt, wie unwichtig das eigene Leben ist und dass sich alles im Kreis dreht?

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BoJack muss am Ende einsehen, dass ein potentieller Oscar ihn auch nicht glücklich machen würde. Er hangelt sich von Strohhalm zu Strohhalm und wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Suche nach einer einfachen Lösung für einfach Alles verpufft durch ein simples „Then what?“ – er weiß es nicht. Man weiß beim Zusehen auch nicht, ob man Bojack lieber umarmen oder ohrfeigen möchte. Aber das weiß man bei sich selbst ja meistens auch nicht.

Die dritte Staffel streamt seit 22. Juli 2016 auf Netflix. Die erste und zweite Staffel ebenso.

 

Katja Krüger-Schöller reitet gern und studiert Gender Studies.

Fans of Thrones

  • 18.06.2016, 15:32
SPOILERS – The Game of Fans. Nie mehr „Wenn du das nicht machst, sag ich dir wie es bei Game of Thrones weitergeht“. – das Wissensmonopol der Bücherkenner_innen wurde mit der neuen Staffel ausgehebelt.

SPOILERS – The Game of Fans. Nie mehr „Wenn du das nicht machst, sag ich dir wie es bei Game of Thrones weitergeht“. – das Wissensmonopol der Bücherkenner_innen wurde mit der neuen Staffel ausgehebelt.

Am 24. April startete die sechste Staffel Game of Thrones des amerikanischen Privatsenders HBO. Die fantastische Actionserie zeichnet sich nicht nur durch ihre hohen Produktionskosten aus – ca. zehn Millionen Dollar pro Folge, sondern punktet besonders mit einer hypnotisierenden Mischung aus Drama, Sex und Gewalt. Dabei steht sie der Romanvorlage des amerikanischen Autors Georg R.R. Martin um nichts nach, doch die um sich greifende Popularität der Serie hat die Reichweite der Bücher bei weitem überholt. Die visuelle Adaption des Textmaterials schockiert und fesselt wöchentlich Millionen von Menschen an die Empfangsgeräte. Doch die Romanreihe wurde mit der nun angelaufenen sechsten Staffel eingeholt. Fans der Bücher beschwören den schwergewichtigen Autor deshalb schneller zu arbeiten und einen gesünderen Lebensweg einzuschlagen, um nicht vor Beendigung der Romanreihe, wie viele seiner Charaktere, einen plötzlichen Tod zu erleiden. Ein Vorschlag, dem der Autor und notorische Mörder seiner (Haupt)Charaktere mit einem „Fuck you to those people“ begegnete.

Trotzdem stellt sich für eingefleischte Fans eine Frage: Inwieweit ist die neueste Staffel der Buchreihe treu? Obwohl die Serienschöpfer David Benioff und Daniel B. Weiss von G.R.R. Martin in ihrem weiteren Vorgehen beraten werden, zweifeln viele Fans der Buchreihe die Authentizität der Storyline in der Serie an. Ohne die Buchvorlage zu kennen geht somit für viele der Reiz an der Serie verloren. Nicht umsonst existieren im Internet zahlreiche „reaction videos“, in denen wissende BücherleserInnen schockierte Serienfans filmen, wenn wieder einmal überraschend ein Charakter geköpft, vergiftet oder kastriert wird. Obwohl die Serie auch schon in den letzten Staffeln von der Romanvorlage abgewichen ist, scheint dieses Wissen einen besonderen Reiz auszumachen. Das Wissen der Bücherfans wird dabei zum Joker. Ist eine Handlung verändert oder ein Charakter in der Serie umgedeutet, erkennen dies die Fans und können so mit ihren Bücherfakten punkten. Ganz zu schweigen von der Machtposition die mit dem Ausspruch „SPOILERS“ einhergeht. Mit der neuen Staffel der Serie geht dieser Spaß verloren.

Alena Brunner studiert im Masterstudiengang CREOLE an der Universität Wien.

Die Id Girls kommen

  • 08.03.2016, 19:06
Was hat Freuds „Es“ mit der Comedy-Serie „Broad City“ zu tun?

Das Magazin The New Yorker hat den Begriff „Id Girls“ für die Macherinnen und Hauptdarstellerinnen der Comedy-Serie „Broad City“ erfunden. Id ist Englisch für Freuds Es, den unbewussten, triebhaften Teil einer Person. Mit Amy Poehler als ausführender Produzentin begann Mitte Februar die dritte Staffel der lustig verstörenden Fernsehserie über das Leben zweier Twentysomethings in New York. Die zwei auf sonderbare Weise sympathischen Frauen verkörpern die zwei Hauptambitionen der Hipster- Generation – sie wollen kreativ sein und Hedonismus leben. Illana versucht so wenig wie möglich zu arbeiten und so viel wie möglich zu kiffen, wobei ihr Lieblingsversteck für ihre Rauchwaren ihre Vagina ist. Abbi möchte als Graphikdesignerin arbeiten. Sie finanzieren sich über Jobs im Fitnessstudio und im Marketing.

Eine einfache Rechnung geht auf: Da die zwei Hauptdarstellerinnen weiblich sind und quasi alle Witze über sie laufen, ist feministische Subversion in fast jeder Szene aufzufinden. Unsicherheit und Laissez-faire sind hier auch in weiblicher Gestalt sympathisch, nicht mal Körperflüssigkeitshumor braucht ein männliches Pendant.

„Broad City“ macht die Diversität New Yorks sichtbar und der bizzare Humor ist radikaler als in der Schwesternserie „Girls“. Die Protagonistinnen sind sich ihrer Position als weiße Frauen in der Gesellschaft zumindest teilweise bewusst, vor allem Illana spricht Themen wie White Supremacy, Prekarität und Transfeminismus manchmal an. Die Freundinnen propagieren ein wenig am Mainstream orientiertes Körperselbstbild, obwohl Selbstzweifel auch hier nicht zu kurz kommen.

Der Titelsong Latino N’Proud passt perfekt in die Collage aus dem Big Apple. Die Comediennes nehmen hin und wieder gestische Anleihen im Hip Hop. Sie kopieren übertriebene Männlichkeitsposen und Machtdemonstrationen und verwenden dies als Kritik am weißen Patriarchat. Fraglich bleibt, ob damit nicht eine unwillkürliche Allianz mit eben jenem hergestellt wird, da über schwarze Kultur und vor allem Körper gelacht werden darf.

Sarah Binder hat an der Akademie der Bildenden Künste Wien Konzeptkunst studiert.

 

Mommy's in the KGB

  • 11.05.2015, 08:00

Skurrile Perücken, aufgeklebte Bärte, zwielichtige Doppelagent*innen und viel Verführung: „The Americans“ hat wirklich alles, was eins sich von einem klassischen Spion*innenstück erwartet. Allerdings ist die von einem ehemaligen CIA-Agenten kreierte Show viel mehr als ein (Polit-)Krimi. Wir haben es hier mit einem bedacht schreitenden Epos über Überzeugung, Vertrauen, das Erbringen von Opfern und dem Kalten Krieg zu tun. Die in den frühen 80ern angesiedelte Story handelt vom Leben der Jennings, eines Ehepaars, das zwar oberflächlich ein unschein- bares Vorstadtleben nahe Washington führt, des nächtens aber zu den absoluten Top-Spion*innen der Sowjetunion zählt. Als sich der neue Nachbar der Jennings als FBI-Agent vorstellt, schauen wir als Zuseher*innen ganz genau auf die Gesichtszüge des Spion*innenpaares: Lassen sie sich etwas anmerken? Sind sie in Gefahr? Was nun? Die Kinder wissen schließlich auch nichts vom geheimen Leben ihrer Eltern.

Bei Schauplatzwechseln in Büros des FBI und des russischen Konsulats wird schnell klar: „The Americans“ geht es nicht darum, die Spion*innen als kaltblütige Überleichengeher*innen darzustellen. Vielmehr haben alle Charaktere – ob Amerikaner*innen oder Russ*innen – ihre Stärken und, vor allem, Schwächen. Diese balancierte Darstellungsweise bei einem derart aufgeladenen Thema ist gerade für eine amerikanische Produktion beachtlich. Hinzu kommt eine unglaubliche Liebe zum Detail; Mode und Kulissen sind hypnotisierend glaubwürdig. Die Russ*innen sprechen echtes Russisch und die Einbettung in historische Ereignisse ist immer realistisch. Keri Russel (bekannt aus „Felicity“) brilliert in der Rolle als Mutter, unerschütterliche Kämpferin für ihre Sache und, naja, allen anderen Rollen, die sie zwischendurch spielen muss – und führt damit schauspielerisch einen Cast voller Badass-Frauen an. Wie weit sind sie bereit zu gehen, um ihre Ziele zu erreichen?

Wegen der feingliedrigen Mischung aus Spannung, Zwischenmenschlichem, Politik und Moral ist „The Americans“ jedenfalls ein absolutes Muss. I’ll just say it: Es ist besser als „House of Cards“. Verdammt, es ist das Beste seit „Breaking Bad“.

Joe Weisberg: „The Americans“
Twentieth Century Fox
erste Staffel auf Netflix/DVD (15,99 Euro), zweite Staffel ab 19.5. um 20:15 Uhr auf Sat.1, dritte Staffel auf Amazon Instant Video (2,49 bzw. 2,99 Euro pro Folge)

 

Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Universität Wien. 

 

Prime Time Forever

  • 05.02.2015, 08:00

Alle reden über Serien. Aber warum machen sie eigentlich so süchtig und wie hat sich unser Schauverhalten in den letzten 15 Jahren verändert? progress hat mit dem Medienexperten Christian Stiegler über den Boom gesprochen.

Alle reden über Serien. Aber warum machen sie eigentlich so süchtig und wie hat sich unser Schauverhalten in den letzten 15 Jahren verändert? progress hat mit dem Medienexperten Christian Stiegler über den Boom gesprochen.

progress: Warum machen Serien so süchtig?
Christian Stiegler: Es sind vor allem die dramaturgischen Elemente, die süchtig machen. Wenn eine Episode mit einem Cliffhanger aufhört, dann bleibt man dabei. Außerdem mögen wir die Wiederholung und episodenhaftes Erzählen. Es gibt uns eine gewisse Sicherheit, die Charaktere zu kennen, wir entwickeln eine Beziehung zu ihnen.

Was für einen Stellenwert nehmen Serien im Leben der Rezipient_innen ein? 
Ich sage immer, im besten Fall schaffen sie eine eigene Medienrealität. Baudrillard hat Hyperrealität dazu gesagt, also eine Realität, die wichtiger ist als die eigene Wirklichkeit.So funktioniert Disneyland, so funktioniert Fußball, so funktionieren all diese Geschichten, die für uns wichtig bleiben, obwohl wir schon ausgeschaltet haben. Wenn Serien gut gemacht sind, dann leisten sie genau das, entweder weil sie Themen bearbeiten, die so weit weg von uns sind, dass sie zu einer Realitätsflucht werden, oder weil sie uns persönlich ansprechen.

Funktioniert die Serie als Fluchtmittel besser als ein Kinofilm?
Natürlich! Es ist viel mehr Zeit zu erzählen, das eröffnet Möglichkeiten, stärker in die Charaktere einzusteigen und ihnen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Außerdem kann man sie daheim ansehen und kann so gleich eine ganze Staffel, die mehrere Stunden dauert, anschauen. Das ist das perfekte Mittel zur Alltagsflucht.

Das ist dann das berühmte Bingewatching.
Der Begriff bezieht sich darauf, dass man den üblichen Episoden-Ablauf zerstört, indem man individuell entscheidet, wann man eine Serie ansieht und wie viel davon. Wir sind nicht mehr abhängig davon, dass eine Serie zu einer gewissen Uhrzeit auf einem bestimmten Sender läuft. Genau das hat Netflix mit „House of Cards“ so populär gemacht: Es war revolutionär, als sie gleich die ganze Staffel auf einmal online gestellt haben.

Wie hat sich die Serienkultur in den letzten 15 Jahren verändert?
Schon in den 70er Jahren gab es die ganz großen TV-Serien wie „Dallas“ und danach in den 90ern „Seinfeld“, „Friends“ oder „Beverly Hills 90210“. Heute sind jedoch die sogenannten „Qualitäts-TV-Serien“ im Gespräch. Man nimmt immer das Wort „Quality“ dazu und versucht so die neuen Serien von den herkömmlichen abzugrenzen. Die Entstehung der „Quality-TV-Series“ hat vor allem einen wirtschaftlichen Hintergrund. Als man gemerkt hat, dass das Blockbuster-Kino nicht mehr so rentabel ist, haben die großen US-Medienkonglomerate, zu denen sowohl Filmstudios als auch Fernsehsender zählen, stärker in Serienformate investiert. Dadurch sind qualitätsvollere Produkte und die Möglichkeitim Fernsehen mehr auszuprobieren entstanden.

Ich will das nicht rein wirtschaftlich erklären, aber man darf den Aspekt nicht aussparen. Dass man mehr Geld investiert, bewirkt auch, dass Serien mit größeren Stars besetzt werden. Da sich die aber nie für eine längere Zeit verpflichten lassen, hat sich auch die Serien-Machart verändert und neue Formate sind entstanden, wie die Mini-Series oder Serien wie „True Detective“, in der jede Staffel für sich alleine steht. Durch Formate wie Netflix und die Möglichkeit, Serien in einem selbstbestimmten Rhythmus anzusehen, hat sich auch das serielle Erzählen verändert und so etwas wie der Cliffhanger hat immer weniger Bedeutung.

Der Serientrend kommt aus den USA und ist dann nach Europa übergelaufen. Sind diese Qualitätsserien nun auch bei uns im Fernsehen zu sehen oder hat sich hier lediglich verändert, wo und wie wir Serien schauen?
Vor allem dem deutschsprachigen Publikum traut man das leider nicht zu, deshalb laufen diese ganzen Qualitätsserien auch hauptsächlich in Sparten-Kanälen oder zu günstigen Sendeplätzen spät nachts.

Das heißt, wir sind umso mehr auf neue Medien angewiesen, wenn wir Qualitätsserien schauen wollen?
Auf jeden Fall. Im deutschsprachigen Raum musste man dank dem Internet nicht mehr warten und konntedort auf (semi-)illegalen Portalen alle Serien finden, sobald sie in den USA liefen. Gerade so etwas wie Netflix funktioniert hauptsächlich deshalb, weil es nun legale Anbieter_innen für unsere Serien-Bedürfnisse gibt, die wir bisher hauptsächlich auf (halb-) illegale Weise gestillt haben.

Früher sind am Samstagabend alle vor dem Fernseher gesessen und haben dieselbe Show gesehen. Haben Netflix und das Internet das kollektive Fernseherleben zerstört?
Ich glaube, das ist eher eine Antwort auf eine gesellschaftliche Entwicklung. „Wetten, dass...“ ist ein gutes Beispiel dafür, das kommt aus einer Zeit, in der sich Familien vor dem Fernseher versammelt haben. Aber irgendwann gab es nicht mehr nur einen Fernseher im Haushalt, sondern auch einen im Schlafzimmer und einenim Kinderzimmer, weil verschiedene Familienmitglieder eben verschiedene Präferenzen haben. Früher hat man sich auch nicht am Samstag Abend vor den Fernseher gesetzt, um Zeit miteinander zu verbringen, sondern um etwas Bestimmtes am einzigen TV-Gerät im Haushalt anzuschauen. Die Digitalisierung ist also nicht die Ursache für die Individualisierung des Fernseherlebens, sondern vielmehr Resultat davon.

Stimmt das Prinzip: Sag mir, was du schaust und ich sag dir, wer du bist?
Absolut. Aber das gilt ja nicht nur bei TV-Serien, sondern auch bei Musik oder Filmen. Medieninhalte sind stark identitätsstiftend. Und es mag Schubladendenken sein, aber ich bin mir sicher, dass Menschen, die hauptsächlich Quality-TV-Serien anschauen, anders beurteilt werden als Menschen, die „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ sehen.
 

Christian Stiegler lehrt an der Universität Wien und ist Professor für Medienmanagement, Consumer Culture und New Media an der Karlshochschule in Karlsruhe.

Sara Schausberger ist freie Journalistin und hat in Wien Germanistik studiert.

Familienprobleme

  • 20.03.2014, 17:16

 

Die Familie gab stets Anlass zum Kopfzerbrechen, im Leben wie in der Literatur. Sie fordert dazu heraus über das Verhältnis von Generationen, Einzelnen und Gesellschaft nachzudenken.

Familien sind überall. Im Fernsehen sind sie himmlisch und schrecklich, haben kleine Farmen und Anwesen in Bel Air. Auch jenseits der Fiktion sind sie nicht unterrepräsentiert, es gibt ein Ministerium für Familie und Jugend sowie eigene Familiensprecherinnen und -sprecher bei den großen Parteien. Die ersten Assoziationen zu Familie betreffen das traute Heim, die (verlogene) Idylle und die (erzwungene) Harmonie. Eigentlich steht die Familie aber im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte und ist Austragungsort zahlreicher Kämpfe. Sie nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Privatem und Öffentlichem ein.

Sozialtümpel. Die Familie bildet deshalb ein äußerst reizvolles Experimentierfeld für die Literatur. In ihr verdichtet sich Gesellschaft, sie ist Kulminationspunkt abstrakter Verhältnisse und macht diese greifbar. Darüber hinaus ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Eltern einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Das motivierte etwa die sogenannten „Väterbücher“, in denen sich, beginnend mit den 1970er-Jahren, eine ganze Reihe von Autoren und einige Autorinnen mit ihren gestorbenen Vätern auseinandersetzten. Peter Henischs „Die kleine Figur meines Vaters“ und Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ sind Beispiele für diese Art der Vergangenheitsbewältigung. Bis heute erfreut sich diese Form der Kontaktaufnahme mit den toten Ahnen gewisser Beliebtheit. So legte Erich Hackl gerade einen Band voll dichter Prosa vor, die sich vorsichtig dem Leben seiner Mutter im Waldviertel annähert. Charakteristisch für diese Art der Literatur ist ein einfühlsamer Stil, der sich Wertungen enthält. Dennoch idealisiert Hackl das Landleben keinesfalls, sondern schildert verhältnismäßig nüchtern auch dessen Grausamkeiten; etwa wenn es um den Umgang mit Abtreibung geht.

Pars pro toto. Bereits 2010 hatte Hackl einen anderen Familienroman vorgelegt. Er beschreibt die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. So behutsam das Buch mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ die individuelle und genau recherchierte Geschichte der Figuren erzählt, so sehr ist es auch ein Buch über gesellschaftliche Kontinuität und das Fortleben von Antisemitismus und autoritärem Charakter. Es ist ein Buch über eine Familie, aber auch ein Buch über Postnazismus. Noch der Enkel des Kommunisten und Widerstandskämpfers Hugo Salzmann und der in Ravensbrück ermordeten Juliana Salzmann wird an seinem Arbeitsplatz bei der Grazer Gebietskrankenkasse antisemitisch gemobbt und 1997 schließlich entlassen.

Diese Verbindung des Erzählens über einzelne Personen und Familien auf der einen Seite und über eine Gesellschaft als Ganze auf der anderen Seite könnte als widersprüchlich verstanden werden. Schließlich hat das Leben einer eingewanderten Hilfsarbeiterin mit dem einer erfolgreichen Anwältin aus eingesessener Familie zunächst scheinbar wenig zu tun. Aber kreuzen sich die Wege dieser Bewohnerinnen unterschiedlicher Welten nicht dennoch, und sind ihre Positionen nicht im Grunde voneinander abhängig?

Solche Zusammenhänge kann ein Roman in einer Situation zuspitzen. Die Herausforderung liegt darin, Beispiele auszuwählen, die nicht einfach als Einzelfälle abgetan werden können. Dazu müssen sie mehr sein, als ein Beleg für ein Problem. Sie müssen etwas Zwingendes erhalten, das es ihnen erlaubt, sich ein Stück weit zu verselbstständigen. Solche Geschichten sind wahr, ohne dafür auf historischer Wahrheit beruhen zu müssen.

Verwandtes. Die Probleme, die der Familien- und Generationenroman aufwirft, gehen somit über die Sphäre der Verwandtschaft hinaus. Zentral ist dabei der Gegensatz zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Dieses Verhältnis kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Auch über völkischrechte Kreise hinaus ist die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus, dessen Zellen die einzelnen Menschen seien, weit verbreitet. In dieser Vorstellung wird das Ganze hoch bewertet, die Einzelnen werden jedoch zu funktionalen Rädchen und Schrauben herabgesetzt.

In einer anderen Sicht, die mitunter von Teilen der modernen Sozialwissenschaft vertreten wird, stellt sich Gesellschaft als die Summe ihrer Teile vor. Auf eine Gesellschaftstheorie verzichten VertreterInnen dieses Weltbilds. Die Forschung beschränkt sich dann darauf, die Reaktionen der Menschen auf gewisse Impulse aufzuzeichnen und Prognosen für zukünftiges Verhalten zu treffen. Aussagen über ein gesellschaftliches Ganzes scheinen aus dieser Perspektive spekulativ und unseriös.

Gesellschaft ist jedoch weder ein für sich selbst existierendes Wesen, noch einfach ein Sammelbegriff für einen Haufen unzusammenhängender Einzelteile. Eher müsste sie als das Verhältnis der Menschen zueinander gedacht werden. Sie ist zwar als eigenständige Dynamik beschreibbar, aber nicht als von einzelnen Menschen und Geschichten unabhängig existierende Wesenheit. Walter Benjamin hat einmal das Bild der Sternenkonstellation bemüht, um seine Theorie von Wahrheit zu erklären. Die Analogie funktioniert auch hier. So wie der „Große Wagen“ eine bestimmte Anordnung von Sternen ist, so ist Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von handelnden und denkenden Menschen. Eine Konstellation übrigens, die sich durchaus ändern ließe, würde der Wagen nicht allzu tief im Schlamm stecken.

Vielleicht besteht aber Hoffnung. Schließlich ist das Verhältnis zur Elterngeneration zunächst rebellisch und unangepasst. Deutet der Umstand, dass sich Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, der sich um einen jugendlichen Ausreißer dreht, beständig auf den Bestsellerlisten hält, auf die Lebendigkeit dieses Potentials hin? Oder mündet die Rebellion der Jungen am Ende doch in der Anpassung an die Werte der Eltern?

 

Simon Sailer studiert im Master Art and Science an der Universität für angewandte Kunst Wien

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