Filmfestival

„Fuck White Tears“

  • 13.05.2017, 13:48
Ein Film, der eigentlich nicht existieren kann. Interview mit der Filmemacherin Annelie Boros.

„Ich denke, du solltest diese Frage dir selbst stellen. Ich kann sie nicht für dich beantworten.“ Kopfschütteln. Kurze Pause. „Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht fähig wäre in deine Welt zu kommen, um einen Film über dein Leben zu machen.“ Die südafrikanische Dozentin, Aktivistin und Filmemacherin Zethu Matebeni beantwortet die Frage der deutschen, weißen Filmemacherin Annelie Boros sehr ehrlich: Was die Dozentin denn davon halte, dass sie als Weiße einen Film über die Studierendenproteste in Südafrika macht? Die Antwort Matebenis ist nur ein Beispiel der Kritik, mit der die junge Filmemacherin in Südafrika konfrontiert war. Boros wurde gezwungen, sich mit ihrem „white privilege“ auseinanderzusetzen und gleichzeitig Protagonistin ihres eigenen Films zu werden. Auf dem diesjährigen Ethnocineca-Filmfestival erhielt sie dafür den „Ethnocineca Students Shorts Award“. progress sprach mit ihr über ihre Erfahrungen.

Du bist nach Südafrika gefahren, um einen Film über die dortigen Studierendenproteste zu machen. Von mehreren deiner Protagonist*innen kommt die Kritik, dass diese „Art von Geschichten nicht von weißen Menschen erzählt werden sollten“. Wieso wolltest du gerade diese Geschichte erzählen?
Ich studiere in München Dokumentarfilm, Regie und Fernsehjournalismus. Den Film machte ich im Rahmen eines Seminars. Die Universität wählt jedes Mal ein Land aus. In diesem Fall Südafrika. Als ich angefangen habe zu recherchieren, bin ich auf die Studierendenproteste gestoßen, auf eine junge Generation Südafrikas, die Anfang der 1990er geboren wurde, also nach der Freilassung Nelson Mandelas und seiner Ernennung zum Präsidenten. Diese Generation wird auch „Born Frees“ genannt. Es ist eine Generation, die angeblich frei ist und die gleichen Rechte wie Weiße haben sollte. Das Problem ist allerdings, dass sie diese Freiheit nicht wirklich erfahren. Viele sind täglich mit Gewalt konfrontiert, wohnen mit ihrer Familie auf engstem Raum, merken wie Weiße bei der Job- und Wohnungssuche bevorzugt werden. Sie sind tagtäglich mit Rassismus konfrontiert. Wenn man angeblich frei ist, das aber nicht so erlebt, ist es klar, dass die Frustration steigt. Schließlich hat man nur dieses eine Leben, diese eine Jugend, um Bildung zu erlangen, um zur Schule, zur Uni zu gehen.

[[{"fid":"2463","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Wie kam es dann zu diesen Protesten und wie entwickelten sie sich weiter?
Die Studierendenproteste gehen schon länger, aber es gab mehrere Kampagnen, die sich parallel entwickelten. In meinem Film behandle ich den Beginn der Kampagne #RhodesMustFall. Rhodes war ein großer Kolonialherr, dessen Statuen noch in ganz Südafrika stehen. Das ist so, als ob man in Deutschland die Hitler-Statuen nicht abgerissen hätte. Darüber wurde noch nicht genug geredet, die Verarbeitungsprozesse in der Gesellschaft sind noch nicht vorangeschritten. Daher ging es los mit #RhodesMustFall, das entwickelte sich zu #ZumaMustFall und dann eben #FeesMustFall. Die Proteste stellten sich gegen die Regierung, gegen den Präsidenten und gegen Studiengebühren, um Gleichheit durch freie Bildung zu ermöglichen.

Weißt du, wie die Situation heute ausschaut?
Die Proteste gibt es nach wie vor. Das Problem ist in keinster Weise gelöst. Aber mein persönlicher Eindruck ist, dass deutlich mehr über die bestehenden Probleme gesprochen wird. Gleichzeitig geht es jedoch oft um die Frage, wie weit man für die Aufmerksamkeit eines Protestes gehen darf. Es wird viel über Gewalt gesprochen, die von den Demonstrierenden ausgeht und da bleiben die Inhalte manchmal auf der Strecke.

Letztendlich stehen nicht die Studierendenprostete im Fokus deines Films, sondern wie die Menschen dir begegnen. Wann hast du für dich entschieden, dass du nicht die Studierendenproteste, sondern dich in das Zentrum des Films stellst?
Das war tatsächlich die erste Demonstration. Wir sind in Südafrika angekommen und es gab eine große Demonstration anlässlich der „State of the Nation Adress“ – also der großen Ansprache des Präsidenten zur Lage der Nation. Zu diesem Anlass gibt es jährlich große Demonstrationen. Es ist fast schon eine Tradition, dass die Gegner des Präsidenten auf die Straße gehen. Dort haben wir nach Studierenden gesucht, die auch demonstrierten. Als wir die Studierenden fanden, wurden wir angegriffen dafür, dass wir als Weiße mit der Kamera auf sie zeigen und sie – nach Wortlaut eines Protagonisten – zu Tiere degradieren, auf sie runterschauen, nur um eine gute Geschichte zu bekommen. Das war die erste Konfrontation. Ich nahm das sehr ernst und mir war sofort klar, dass ich keinen Film mehr über die Studierendenproteste dort machen kann, wenn ich von den Studierenden gesagt bekomme, dass das unmöglich ist, was ich hier mache. Danach gab es eine kleine Krise bei mir. Ich bin zum Entschluss gekommen, das Konzept zu ändern: Nicht mehr die Studierenden stehen im Fokus, sondern meine Erfahrung und damit auch ich als Protagonistin.

[[{"fid":"2464","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Aber du sagst selber „Fuck White Tears ist ein Film über einen Film, den ich nicht machen kann, weil ich weiß bin“, trotzdem gibt es ihn.
Für mich ist es immer noch ein großes Paradox, dass es den Film gibt, weil es genau so ist, wie du sagst: Es ist ein Film, den ich nicht machen kann und trotzdem existiert er. Auch im Schnittraum war es für mich noch wochenlang eine große Schwierigkeit, dass ich Leute am Bildschirm sehe, die mir sagen, dass ich den Film nicht machen darf. Natürlich war das schwierig und natürlich habe ich darunter gelitten. Aber ich bin ganz froh darüber, da durchgegangen zu sein. Mir haben auch Freunde erzählt, dass sie sich die ganze Nacht gestritten haben, nachdem sie den Film sahen. Das ist meine Legitimation: Ich hoffe, dass die Diskussionen und die Erkenntnisse, die die Zuschauer in Europa, aber auch die weißen Zuschauer in Südafrika haben, es wert sind, diesen Film gemacht zu haben.

Eine Kritik im Film an dich als europäische, weiße Filmemacherin war auch, dass du nach Südafrika kommst, dir die Geschichte holst und dann nicht mehr zurückkommst. Lief der Film auch in Südafrika? Hast du ihn auch deinen Protagonist*innen gezeigt? Wie war die Reaktion?
Für mich ist das Zurückkommen, wie es die Protagonisten genannt haben, kein persönliches Zurückkommen. Ich glaube, dass es mehr um die Frage geht, was ich danach für sie mache. Am Ende des Films kommt die Aussage, dass ich mit meiner Botschaft zu anderen Weißen gehen, ihnen erzählen soll, was ich gelernt habe – in der Hoffnung, dass auch sie etwas lernen. Trotzdem versuche ich, den Film in Südafrika zu zeigen. Zethu Matebeni hat ihn zweimal in ihrer Klasse gezeigt. Wahrscheinlich hat sie ihn danach auseinandergenommen, aber es wird auch irgendetwas drinnen sein, von dem die Menschen etwas mitnehmen können.

Du sagst, dass du froh über die Erfahrung bist. Hat „Fuck White Tears“ auch deine Arbeit, deinen Zugang zum Filmemachen verändert?
Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, ganz viel mitgenommen zu haben, auch für aktuelle Projekte. Gerade arbeite ich mit einer Freundin, die unter Depressionen leidet, an einem Film zu eben diesem Thema: Depressionen. Durch „Fuck White Tears“ habe ich gelernt, dass ich nicht einfach einen Film über jemanden machen kann, sondern es viel wichtiger ist, einen Film mit jemanden zu machen. Ich wusste das zwar in der Theorie, aber konnte es nicht umsetzen. Beim Film über Depressionen stelle ich mir die gleiche Frage: Darf ich als „Gesunde“ einen Film über „Kranke“ machen und wenn ja, wie?

Der Film „Fuck White Tears“ ist online auf dem Vimeo Channel des Seminars Close Up der HFF München und auf dem Dok.network Afrika YouTube Channel verfügbar.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.


 

Generacija ‘68: Die erste große Liebe

  • 10.05.2017, 20:37
„Was mich betrifft, gibt es keinen Grund ‘68 zu feiern. Ich bin nicht beeindruckt von euren Sit-ins in Kantinen, von euren gehaltenen Reden. Und ja, ‘68 war ein wichtiges Jahr, aber nur, weil es euer Jahr war und auch euer Jahr blieb. Sonst blieb nichts davon übrig.“

„Was mich betrifft, gibt es keinen Grund ‘68 zu feiern. Ich bin nicht beeindruckt von euren Sit-ins in Kantinen, von euren gehaltenen Reden. Und ja, ‘68 war ein wichtiges Jahr, aber nur, weil es euer Jahr war und auch euer Jahr blieb. Sonst blieb nichts davon übrig.“ Das sind die Worte von Mac. Mac ist der Schwiegersohn des kroatischen Filmemachers Nenad Puhovski. Die jüngeren Familienmitglieder sticheln den Filmemacher und seinen Glauben an die ‘68er Bewegung immer wieder. Zeit, seine Gefühle für die Bewegung der 1968er, filmisch zu verarbeiten, seine alten Freund*innen, die allesamt zum Kern der linken Studierendenproteste zählten, zu besuchen und sich gemeinsam zu erinnern. Puhovski im Gespräch über große Gefühle, die Rolle Titos in der Bewegung, über die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus und über das Scheitern heutiger Proteste.



In Ihrem Film „Generacija ‘68“ („Generation ‘68“) sieht man bereits einen Teil der Entstehungsgeschichte des Films. Sie waren selber ein Teil der Studierendenproteste und stoßen heute teilweise auf Unverständnis vonseiten der jungen Generation. Wieso wollten sie ausgerechnet einen Film über diese Generation machen?
Ich vergleiche die Bewegung 1968 gerne mit der ersten große Liebe. Wenn du das erste Mal verliebt bist, glaubst du, dass es ewig so sein wird. 25 Jahre später triffst du diese große Liebe wieder und sie ist verheiratet mit jemanden, den du blöd findest, hat drei Kinder und erkennt dich fast nicht wieder. Du fragst dich, wie du in diese Person verliebt sein konnte. Dieses Gefühl hatte ich damals auch, es war für mich, für unsere Generation, die erste Liebe, die man nicht vergisst. Heute sind die Proteste der 68er, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien, fast vergessen. Wenn ich mit meinen Kindern und Enkelkindern rede, wird mir klar, dass sie die Bewegung von damals nicht verstehen. Daher wollte ich meinen Kindern und dieser Generation erzählen, dass es für uns etwas sehr Wichtiges war. Es war eine Art von Erotik in Bezug auf die „Revolution“, in Bezug auf das Ändern der Welt. Denn es war nichts weniger als der Versuch, die Welt zu verändern, auch wenn wir nicht erfolgreich waren.

Sie adressieren die junge Generation direkt und fragen, was heute von 1968 übrig ist. Oft lautet die Antwort „Nichts“. Gleichzeitig vergleichen Sie die damalige Bewegung mit heutigen Protesten wie der „Occupy“-Bewegung. Welche Parallelen können gezogen werden, welche nicht?
Es gibt heute nur wenige Bewegungen, die so global orientiert sind wie die 68er – „Occupy“- ist eine davon. Wir haben daran geglaubt, dass wir nichts auf lokaler Ebene ändern können, wenn wir nicht das System verändern. Die Generation meiner Kinder glaubt an kleine Schritte, an die Veränderung einzelner Ebenen. Natürlich unterstütze ich Demonstrationen für die Rechte Homosexueller, aber ich glaube nicht, dass sich dadurch etwas substantiell ändern kann. Und wenn mich heute die Menschen fragen, was der 68er Bewegung passiert ist, gibt es für mich nur eine Antwort: Kapitalismus. Und diesen Fakt konnten wir nicht ignorieren. Wir konnten nicht sagen, dass gegen den Kapitalismus anzukämpfen ein zu großer Kampf ist. Das System im Großen zu verändern war es, an das wir glaubten. Das war es, was wir machen wollten und das war es, an dem wir scheiterten. Und dennoch, glauben wir immer noch, dass es möglich ist.

[[{"fid":"2434","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Kapitalismus und Sozialismus werden in Ihrem Film auf verschiedene Arten thematisiert: Eine der Protagonist*innen sagt, dass sie solidarisch mit den Revolutionär*innen im Westen ist, aber eine Revolution in einem sozialen Regime keinen Sinn mache. Eine andere Person meinte, dass es eine linke Bewegung braucht, weil der Sozialismus nicht radikal genug war. Können Sie diese Beziehung zwischen der 68er-Bewegung und dem sozialistischen Regime kommentieren?
In unserer Meinung näherte sich der Sozialismus zu sehr an den Kapitalismus an. Unsere Botschaft war, wir wollen keinen Kapitalismus, wie wollen Sozialismus – aber „Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht“, wie wir es nannten. Die ersten kapitalistischen Züge sahen wir an unseren Eltern, gegen die wir rebellierten. Unsere Eltern hatten noch all die Narben aus dem zweiten Weltkrieg und sagten sich danach „Fuck it! Wir wollen ein Leben haben, wir wollen ein Haus, ein Auto.“ Und dann kamen wir Kinder und erinnerten sie daran, gegen was sie kämpften und fragten, wieso sie jetzt all diese Konsumgüter haben müssen. Damals verstanden wir nicht, dass es manchmal einfach um das Vergessen ging. Für uns war es ein Zeichen, dass es in Richtung Kapitalismus ging. Es wurde wichtiger, ein Sommerhaus zu besitzen als das Geld umzuverteilen.

Trotz dieser Kritik am damaligen Sozialismus gab es eine Art „Unterstützung“ vonseiten des damaligen jugoslawischen Präsidenten Titos.
Tito war ein großartiger Politiker, weil er ein großartiger Manipulator war. Das einzige Ziel von Politik ist Machterhalt. Darin war er sehr gut und zwar nicht in erster Linie durch Unterdrückung, die es natürlich auch gab. Aber er wusste, wen er unterstützen musste, um im Gegenzug auch Unterstützung zu erhalten. Dazu kam, dass er Charme hatte. War er ein Demokrat? Nein. War er ein Diktator? Jein. Aber trotzdem, die Leute liebten ihn.

Diese Art Unterstützung gab es auch nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die damalige Tschechoslowakei. Die linke Bewegung – so auch Sie – befand Sich zu dieser Zeit in der „Sommerschule“ der Philosophie auf der Insel Korčula, die von der marxistischen „Praxis-Gruppe“ veranstaltet wurde. Auch Intellektuelle wie Herbert Marcuse oder Ernst Bloch waren da. Wie haben sie diesen Moment – als sie vom Einmarsch erfuhren – erlebt?
Wir wussten sofort, dass es das Ende war. Wir hatten die damaligen wichtigsten Intellektuellen aus aller Welt hier. Wir verfassten innerhalb einer halben Stunde ein Statement um zu sagen, dass wir dagegen protestieren. Der Einmarsch war nicht nur gegen die Tschechoslowakei gerichtet, sondern eine Nachricht an uns alle. Sie wollten sagen, passt auf, was ihr macht. Und es gab eine Art „Semi-Unterstützung“ von Tito, weil er wusste, dass er unsere Unterstützung im Notfall braucht. Sollte die Rote Armee an die jugoslawische Grenze kommen, braucht er junge Leute, die sofort für Jugoslawien kämpfen würden. Die jugoslawische Armee alleine hätte das nicht geschafft. Ein weiterer Grund, wieso er die Studierendenproteste nicht zerschlug, war meiner Meinung nach, dass wir auch eine Art Erbe darstellten. Vielleicht kann ich nach dieser Aussage nicht wieder zurück nach Kroatien fahren (lacht), aber ich glaube Tito war damals schon bewusst, dass es eine große Wahrscheinlichkeit für den Zerfall Jugoslawiens nach seinem Tod gibt.

[[{"fid":"2435","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Stattdessen kam – wie Sie bereits damals geahnt haben – der Kapitalismus.
Ja, und es gibt heute noch viele Menschen, die sagen, dass wir zwar nicht so viel Freiheit im Sozialismus hatten, dafür Sicherheit, bessere Schulen, ein besseres Gesundheitssystem. Was der Preis wofür ist, ist eine andere Diskussion. Aber es stimmt, dass die Industrie der ehemaligen ex-jugoslawischen Staaten zerstört wurde, zu einem großen Teil auch das Bildungssystem, teilweise das Gesundheitssystem. Und es gibt sehr viel Korruption. In den 1990ern gab es in Kroatien ein großes Referendum, in welchem die Menschen gefragt wurden, ob sie ein unabhängiges Kroatien wollen. Die meisten sagten ja. Aber es gab keine zweite Frage. Nämlich die Frage, ob die Menschen Kapitalismus haben wollen. Es gab kein Referendum darüber, ob das sozialistische System geändert werden soll. Viele der Menschen wussten nicht, dass mit dieser Form der Unabhängigkeit auch die Transformation in ein kapitalistisches System einherging. Und ja, es gibt Demokratie, aber heute ist die Vorstellung davon, was Demokratie ist, sehr vereinfacht: Es gibt freie Wahlen und das ist es.

Wie würden Sie dann die Frage, was von den 68ern übrigblieb, selbst beantworten?
Es war ein Traum, den wir lebten. Ein Traum, den wir liebten. Ein Traum, aus dem wir aufwachten. Und wir sind immer noch Traumwandler und werden es bis zu unserem Tod sein. Dessen sind wir uns bewusst. Um zurück zur ersten große Liebe zu kommen: Oft ist es so, dass du dein eigenes Gefühl verliebt zu sein, mehr magst als die Person. Zyniker*innen würden sagen, dass du dein eigenes, dein verliebtes Ich, liebst. Aber das ist ein Teil der Liebe. Diese Liebe, diese Freude war es, die unsere Köpfe bewegte und die ich mit diesem Film weiterreichen will.


Zur Person: Nenad Puhovski studierte Soziologie, Psychologie sowie Filmregie. Als Regisseur arbeitete er an mehr als 250 Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Seine Dokumentarfilme fokussieren meist gesellschaftspolitische Themen. Zudem ist er Gründer sowie Direktor von „ZagrebDox“, dem größten Dokumentar-Filmfestival in der Region und leitet als Professor ein MA-Programm zu Regie und Produktion im Dokumentarfilm-Bereich.


Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

Metallica verursacht Redaktionskrise

  • 25.10.2016, 14:34
Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Würden die ProtagonistInnen den Namen der Stadt nicht erwähnen und wären die Straßen nicht so charakteristisch steil, könnte auch jede andere amerikanische Großstadt Ort der Handlung sein. Auf klischeebehaftete Establishing Shots wird verzichtet und gesprochen wird fast ausschließlich Farsi.

Im Zentrum der Handlung steht der zumeist als Mister Royani adressierte Chefredakteur des kleinen Senders. Der Film begleitet ihn durch jenen turbulenten Tag, als Metallica sich ankündigten, um auf Radio Pars mit der afghanischen Rockband „Kabul Dreams“ zu jammen. Die prominenten Gäste, die sehr lange auf sich warten lassen, stellen durch ihren großen Namen und die damit verbundene Attraktivität für WerbekundInnen den Sendebetrieb auf den Kopf.

[[{"fid":"2357","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Nebenbei wird Mister Royani in einer Interview-Sequenz nicht nur als Radiochef, sondern auch als reichlich einsamer Exilliterat gezeichnet. Sein Englisch reicht aus, um die Fragen des Interviewers zu verstehen – nicht jedoch, um sie seinen eigenen Ansprüchen gerecht werdend zu beantworten. Der Übersetzer scheint mit der Komplexität der Antworten überfordert zu sein. Als Mister Royani aus purer Verzweiflung dann doch versucht, auf englisch zu antworten, bringt er nur gestammelte Wortfetzen hervor, die mindestens genauso platt klingen wie die verunglückten Übersetzungsversuche. Die Szene ist zugleich hochkomisch und tieftraurig.

Nachdem Mister Royani an jenem schicksalshaften Tag aus kommerziellen Gründen bereits einen Experten für die Körperenthaarung iranischer Frauen interviewen musste, kündigt sich ein weiterer skurril anmutender Gast an. Die amtierende „Miss Iran USA“ scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, um im Schatten von Metallica etwas Fame abzugreifen.

Im Live-Gespräch mit Mister Royani stellt sie sich nicht nur als intelligent und wortgewandt heraus, sondern auch als Poetin, die gerne eines ihrer Gedichte vorgetragen hätte. Gefangen in seiner eigenen Frustration verweigert ihr Mister Royani diesen Wunsch und bricht das Interview ab.

„Radio Dreams“ ist ein Film, der sich nicht recht entscheiden mag, ob er Drama, Komödie oder skurrile Posse sein möchte. Er zeichnet seine ProtagonistInnen als Witzfiguren, schafft es aber dennoch Empathie mit ihnen zu wecken. Genau das macht den Film kurzweilig und sehenswert – auch für Menschen, die mit Metallica nicht viel anfangen können.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Publikumsgespräche bei Filmfestivals – Ein Leitfaden

  • 20.10.2016, 17:26
Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Die Filmemacher_innen

Ahnungslose. Der Film war gut oder sogar sehr gut – das Publikumsgespräch ist es nicht. Angesichts der Aussagen des_der Filmemacher_in drängt sich die Frage auf, wie diese holzschnittartige Person ein derart vielschichtiges Kunstwerk erschaffen konnte. Es sind die Momente, wo die gesellschaftstheoretisch bewanderte Betrachter_in daran erinnert wird, dass Kunst eben doch mehr ist, als die Person des_der Künstler_in. Letztere agiert als Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse, kann dumm wie Stroh sein und dennoch einen sehr guten Film abliefern. Andere erinnern derartige Auftritte wiederum daran, dass Filme im Normalfall auf die Urheber_innenschaft von mehr als einer Einzelperson zurückgehen und die Wichtigkeit des_der Regisseur_in in Europa oftmals überschätzt wird. Auch das ist eine plausible Erklärung.

Betrunkene. Der Film ist solide, der_die Regisseur_in im Publikumsgespräch allerdings knapp vor der Alkoholvergiftung. Ein oder mehrere Publikumsgespräche pro Tag mit obendrein nicht allzu angenehmen Fragensteller_innen (siehe unten) zu führen, ist kein Leichtes. Wenn man ohnehin schon ein Problem damit hat, bis – sagen wir – 15:30 Uhr nüchtern zu bleiben, fällt einem das unter den verschärften Verwertungsbedingungen eines Filmfestivals keinesfalls leichter. So hat der_die betrunkene und mitunter aggressive Regiesseur_in doch etwas sympathisches – weil wir durch ihr Verhalten etwas über die Unaushaltbarkeit einer Gesellschaft lernen, in der wir alle zum Funktionieren und die bessergestellten auch noch zu funktionierendem Selbstmarketing gezwungen sind.

The Natural Born Österreicher_in. Sie sind der Meinung, ihr Österreicher_innentum alleine mache ihre Filme hochwertig und förderungswürdig. Ob sie sich nun auf einem Filmfestival wie der Diagonale, das sich österreichischen Filmen verschrieben hat, oder einem internationalen Filmfestival wie der Viennale befinden, scheint dabei zweitrangig zu sein. „Österreich zuerst“ ist die Devise. Allerdings nicht, wenn es um die Programmierung dieser Austroschinken geht, die dann doch ausnahmslos in den Hauptabend und keinesfalls in das Nachmittagsprogramm fallen darf. (The Natural Born Österreicher_in schlechthin ist Ulrich Seidl, der unerklärlicherweise nicht beim Reality-TV, sondern im Programmkino gelandet ist. Wahrscheinlich, weil ATV einfach zu schlecht zahlt.)

The Exceptional Competent Person. Sie ist leider die absolute Ausnahmeerscheinung auf Filmfestivals. Ein_e Regisseur_in, die nicht nur einen guten Film fabriziert hat, sondern auch in der Lage ist, mit dem Publikum kompetent und nachvollziehbar über das eigene Werk zu sprechen. Zumindest letzteres sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber – siehe oben – leider überhaupt nicht.

Das Publikum

The Material Guy_Girl. Nach einem interessanten oder kontroversen Film, der viel Stoff für ein spannendes Publikumsgespräch böte, ist die Zeit oft allzu kurz. Die Moderation lässt nur wenige Fragen zu und alles nähert sich schneller als gewollt seinem Ende. Die vorletzte oder letzte verfügbare Frage schnappt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Material Guy (oder weitaus seltener: Das Material Girl). Er_sie stellt fragen wie: „Warum habt ihr das mit Video gedreht?“ / „Ist der Super-8 retrotrend nicht schon lange over?“ / „Ist die Digitalisierung ein Problem?“ Der Rest des Saales langweilt sich zu Tode, während Material Guy_Girl sich im siebten Himmel des Expert_innentums wähnt.

Die Lobenden. Du sitzt in einem Film und denkst dir, dass die Zeit anderweitig möglicherweise besser verbracht hätte werden können. Genau genommen bist du fassungslos, dass ein qualitativ und inhaltlich derart fragwürdiges Werk, 1.) staatlich gefördert wurde und 2.) nach seinem offensichtlichen Scheitern öffentlich – auf einem abermals staatlich geförderten Filmfestival – vorgeführt wird. Das Publikumsgespräch beginnt mit peinlichem Schweigen, bis sich dann doch jemand zu Wort meldet. Die Person lobt den Film in höchsten Tönen, dankt dem_der Regisseur_in sowie „dem ausgezeichneten Ensemble“. Erschreckenderweise ist sie nur in 50 Prozent der Fälle mit einer der beteiligten Personen verwandt, bekannt oder verschwägert.

Professionelle Kritiker_innen. Sie melden sich im Publikumsgespräch so gut wie nie zu Wort, weil sie den Film mitunter nicht ganz gesehen haben und wegen ständig nahender Deadlines keine Zeit haben, länger als unbedingt nötig anwesend zu sein. In Zeiten verschärfter kapitalistischer Zurichtung belassen es Journalist_innen gerne dabei, sich die ausführlichen Pressematerialien abzuholen und daraus Textmontagen zu fertigen, die mit dem Begriff „Kritik“ eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Aber zumindest stellen sie keine blöden Fragen (wenn sie nicht gerade ein Publikumsgespräch moderieren).

Filmwissenschaftler_innen. Schauen sich gerne Spielfilme an, die keine Handlung haben und glauben, selbige seien deshalb irgendwie besser oder kulturell höherstehend. Hat ein Film eine Handlung und man wagt es, den_die kompetente Kolleg_in um seine_ihre Einschätzung zu bitten, ist die Antwort meist die selbe: „Ach, wieder so ein narrativer Film.“ Sie schalten sich bei Publikumsgesprächen gerne in die Diskussion ein, moderieren sie zudem sehr häufig und lieben Name-, Film- und Genre-Dropping. Da niemand all diese Personen, Filme oder Genres tatsächlich kennen kann, werden ihre Einschätzungen kaum hinterfragt. Man will sich (und die Kolleg_innen) schließlich nicht blamieren.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Die Viennale beginnt am 20. Oktober und endet am 2. November 2016.

„Gesund ist das nicht!“

  • 15.03.2016, 12:33
Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind

Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind: Während Cal auf der Suche nach einem richtigen Krieg ist, wird die Journalistin Lana von allen Seiten mit Sexismus konfrontiert. Den älteren Ewald holen bereits am Flughafen Wien-Schwechat Erfahrungen aus dem Jugoslawien-Krieg ein. Ursprünglich als Dokumentarfilm angelegt, erzählt der Film vom Alltag als Journalist*in in Krisengebieten – abseits mythischer Heldenerzählungen. progress sprach mit der Regisseurin über Sexismus in der Branche, psychische Folgen der Arbeit und über Alice im Wunderland.

progress: Beginnen wir mit einer sehr klassischen Frage: Wie bist du auf die Idee gekommen einen Film über Kriegsreporter*innen zu machen?
Barbara Eder: Was heißt es, Reporter in Zeiten des arabischen Frühlings zu sein? In Zeiten, in denen man von entführten oder geköpften Journalisten hört. Darüber wollte ich einen Film machen. Zu Beginn hatte ich ein oberflächliches Bild davon. Ich habe mir alles sehr heldenhaft vorgestellt und die Mythen drum herum geglaubt. Zu einem gewissen Teil ist es auch so.
Dann bin ich ein Jahr gereist, weil ich spüren und erfahren wollte, wie das abläuft: Nach Israel, nach Beirut an die libanesisch-syrische Grenze, nach Afghanistan. Dort habe ich mich vom Militär einbetten lassen. Da wirst du mit auf Touren genommen und bist in einem sehr geschützten Raum. Das wirkt eher so, als ob du zu einem Ausflug mitgenommen wirst. Ich war auch mit sehr großen Sendern unterwegs. Einer davon hat den Leuten vor Ort einen Text aus Atlanta geschickt, den sie in die Kamera sprechen mussten. Das sind Fakten. Ich war geplättet. Ich habe auch viele Freelancer kennengelernt, darunter sehr tolle Frauen, die meistens keine Vollverträge bekommen. Ich habe auf jeden Fall viel gesehen. Aber ich hatte ein heldenhafteres Bild im Kopf. Ich dachte auch, dass die Leute viel mehr über das Land wissen.

Wie kam es dazu, dass du dich doch für einen Spielfilm und nicht für einen Dokumentarfilm entschieden hast?
Ab einem gewissen Punkt bin ich mit sehr vielen Eindrücken nach Hause gekommen und stellte mir die Frage, ob ich das Thema in einem Dokumentarfilm behandeln kann: Würden die Journalisten das, was sie mir sagen, die Wahrheiten, die sie aussprechen, auch vor laufender Kamera sagen? Würden sie es bereuen, wenn sie es tun? Welche Folgen hat das für ihre weitere Karriere? Es gab Reporter, die ohne Valium nicht durch den Tag gekommen sind. Daher entschieden wir uns einen fiktionalen Film zu machen. So konnte ich auch Geschichten, die in der Vergangenheit liegen, einbauen. Und aus all diesen verschiedenen Menschen und Eindrücken drei Figuren formen und mich darauf konzentrieren, was ich zeigen will, ohne ständig damit kämpfen zu müssen, wie ich Reporter schützen kann.

[[{"fid":"2236","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto von Barbara Eder in einem schwarzen Sessel, Interviewsituation.","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto von Barbara Eder in einem schwarzen Sessel, Interviewsituation.","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Der Film erzählt am Beispiel der jungen amerikanischen Journalistin Lana unter anderem von einen sexistischen System im Journalismus. Glaubst du, dass dieser Punkt bei Kriegsreporter*innen öfters vorkommt als in anderen journalistischen Bereichen?
Ja! Es klingt immer so schön, wenn man sagt, die Frauen erobern diese und jene Bereiche. Das ist ja schön, aber in den Köpfen ist es nicht so. Ich habe von vielen die Frage gehört, was eine Frau in diesem Land überhaupt zu suchen hat. Man kann aber genau so fragen, was ein Mann in diesem Land zu suchen hat, der auch auf eine Miene treten kann. Gefährlich ist es für alle. Natürlich musst du als Frau in Afghanistan ein Kopftuch tragen. Und ja, du wirst auch mal begrapscht. Sexuelle Belästigung habe ich aber mehr in den Reporter-Teams erlebt. Das war mir nicht klar, das habe ich unterschätzt.

Was glaubst du, woher dieser spezielle Sexismus kommt?
Oft ist es der Gedanke, die Frau schützen zu müssen. Das ist unterschwellig in den Köpfen vieler Männer verankert und daher schicken sie lieber einen Mann. Es ist ja gut gemeint, aber einfach nicht richtig. Niemand würde eine Frau vorschicken, weil es für den Mann zu gefährlich sei. Das ist absurd. Das Schlimme ist, dieses Verhalten hat einen Effekt auf Frauen: Sehr viele begeben sich eher in Gefahr, riskieren mehr, um zu beweisen, dass sie es können. Dann kommt es auch zu Übergriffen. Lana geht ja völlig alleine, ohne Schutz zu zwei Soldaten, von denen sie nichts weiß und die alles andere als freundlich sind. Da könnte man sagen, dass das dumm ist. Ich glaube aber, dass man im Film sehen kann, warum diese Person einen Schritt zu weit geht.

Gleichzeitig zeigst du doch auch Sexismus in Afghanistan. In Hinblick auf die seit Köln entstanden Geschichten und Bilder über einen frauenfeindlichen Islam, könnte dieser Punkt von sogenannten „besorgten Bürger*innen“ instrumentalisiert werden. Bereust du die Entscheidung Afghanistan so gezeichnet zu haben?
Natürlich gibt es Sachen, bei denen ich mir denke, das ist vielleicht die falsche Zeit. Ich hoffe aber, dass die Leute, die den Film sehen, den Kontext nicht vergessen. Klar kann man Querverbindungen ziehen, aber ich kann auch nicht verneinen, dass Übergriffe passieren. Ich kann nicht alles schön reden. Das heißt aber noch lange nicht, dass man nach Köln sagen darf, dass jeder Flüchtling oder alle, die aus einem muslimischen Staat kommen, potentielle Vergewaltiger sind. Das Gleiche gilt für den Titel: Nach den Anschlägen in Paris wollte ich mich mit dem Titel "Thank you for Bombing" vergraben. Ich habe überlegt ihn zu ändern, aber ich hatte doch das Gefühl, dass die Leute sich durchlesen, um was es in dem Film geht und diesen Kontext beherzigen.

Kommen wir zu einem weiteren Protagonisten, Cal: Für mich hat er am meisten dem Bild des westlichen Kriegsjournalisten entsprochen. Er ist jung, weiß, männlich, auf der Suche nach Action, um die Quoten nach oben zu treiben und bringt sich selbst dabei in Gefahr. War das während deiner Recherche der vorherrschende Typus? Oder ist das ein Klischee?
Vielleicht ist es irgendwo ein Klischee. Aber es ist auf jeden Fall so, dass die Leute so sehr mit sich hadern. Sie legen fast schon Selbstmord-Tendenzen an den Tag. Sie hören nicht auf. Stillstand ist die Hölle für sie. Ich kann mich an einen Korrespondenten erinnern, der Cal sehr ähnlich war: Immer wenn nichts los war, wenn die Stille eingebrochen ist, hat er angefangen zu saufen, Drogen zu nehmen, sich einfach nieder zu dröhnen oder irgendeinen viel zu riskanten Bullshit zu machen. Er konnte die Stille nicht aushalten, da er dann angefangen hat über Dinge nachzudenken, die er gesehen hat. Er war im Irak-Krieg. Da ist einiges bei ihm hängen geblieben. Der Irak-Krieg war für viele der Tiefpunkt, der viel verändert hat.

Auch beim älteren Protagonisten Ewald ist einiges aus dem Jugoslawien-Krieg, von dem er berichtet hat, hängen geblieben. Er hat Probleme zwischen Realität und Paranoia zu unterscheiden …
Ich wollte diese ältere Figur haben, die gebremst wird, die etwas hindert: Eine Vergangenheit, die nicht loslässt. Ganz viele dieser Leute haben post-traumatische Störungen, aber die wenigsten sagen es. Ich habe jemanden getroffen, der im Jugoslawien-Krieg war. Dort wurden sehr viele Massengräber ausgehoben. Bis heute riecht er hin und wieder diesen Leichengeruch an seiner Kleidung. Er bekommt den Geruch nicht weg und muss die Kleidung wegwerfen. Das fand ich heftig und traurig. Es gab so viele, die mir gesagt haben, dass sie mir jahrelang erzählen könnten, was sie alles erlebt haben und ich würde es dennoch nicht begreifen. Gesund ist das nicht!

Der Film beginnt mit dem Zitat "All this talk of blood and slaying has put me off my tea" aus Alice im Wunderland. Ist das eine Aussage, die du so ähnlich von Kriegsreporter*innen gehört hast?
Ich habe bei diesen Film das erste Mal mit Michael Glawogger zusammen gearbeitet, da ich seine Meinung haben wollte. Er hatte bei seinen Projekten viele Berichterstatter und Korrespondenten. Die Geschichten, die ich erzählt habe, erinnerten ihn sehr an diese Kontakte. Und da fand ich es lustig, dass sowohl er als auch viele Leute, die in diesem Feld arbeiten, den Jabberwocky aus „Alice hinter den Spiegeln“ zitieren konnten. Vielleicht war das nur ein Trend, aber das drückt so gut aus, zu welchem Punkt viele der Journalisten kommen: Es herrscht in diesem Bereich so ein Zynismus, so ein Sarkasmus. Jabberwocky ist ja ein komplett unsinniges Gedicht. Und im Abspann kommt das wieder, wo die Korrespondenten kompletten Unsinn in die Kamera sprechen.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“

  • 13.03.2016, 15:56
Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

„Schau mich nicht an. Schau mich nicht so an. Am liebsten wäre ich unsichtbar.“ Wie ein Mantra spricht Hannas Mutter diese Sätze vor dem Spiegel stehend. Auch wenn die Worte in erster Linie an ihren Mann gerichtet sind, meint sie wohl gleichzeitig auch ihr Spiegelbild, richtet die Worte an sich selbst. Hannas Mutter ist einer der titelgebenden „schlafenden Hunden“. Sie will nicht geweckt werden. Sie will nicht, dass irgendjemand ihre Vergangenheit weckt. Die Vergangenheit. Ihre jüdische Herkunft. Sie sollen unsichtbar bleiben, im Tiefschlaf verharren. So ihre Überlebensstrategie.

Die Verfilmung des 2010 veröffentlichten Romans von Elisabeth Escher lag für Andreas Gruber auf der Hand: Er ist selbst in Wels aufgewachsen, die Autorin eine Schulfreundin. Zudem solle „Hannas Schlafende Hunde“ an den 20 Jahre zuvor veröffentlichen Film „Hasenjagd“ anknüpfen, der die Ereignisse der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ von 1945 auf die Leinwand brachte. Er ist Grubers erster und gelungener Versuch den Nationalsozialismus filmisch aufzuarbeiten.

Nazi-Ideologie in Oberösterreich, die Zweite also: 1967 in der Stadt Wels, 22 Jahre nach dem offiziellen Kriegsende. Offiziell, denn: Die nationalsozialistische Ideologie und so auch der Antisemitismus sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen verankert. In den Gesichtern der Figuren, in den Blicken und inszenierten Dialogen, mit denen Grubers Charaktere versuchen zu kommunizieren, zeichnen sich tiefsitzende Kriegs-Traumata ab. Nach wie vor. Nicht nur an der älteren, sondern auch an der jüngeren Generation zehrt die Vergangenheit.

[[{"fid":"2233","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Kerstin Stelter / enigma film"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Kerstin Stelter / enigma film","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Im Mittelpunkt des Geschehens steht die neunjährige Hanna (Nike Seitz). Sie singt gern. Egal ob „Kein schöner Land“ auf einem „Totengedenken des Kameradenverbunds“ am 8.Mai oder „Schweigen möchte ich gern“ während des Gottesdienstes. Als katholisch erzogenes Mädchen wächst sie bei ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Großmutter auf. Letztere ist Hannas wichtigste Bezugsperson: Für die Oma (Hannelore Elsner) dichtet sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein Lied. Mit der Oma lässt sie Löwenzahn-Stängel im Wasser einkringeln. Von der Oma erfährt sie, dass sie Jüdin ist: „Natürlich, bist du Jüdin.“ Was das heißt? „Jeder soll sein, was er ist. Punkt.“ Mit der Oma blickt sie aus dem Fenster, während im Hof ein verbrannter Körper abtransportiert wird: „Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“. Der abtransportierte Körper gehört dem Hauswart. Nicht lang her verwehrte er der Großmutter als Jüdin den Zutritt zum schützenden Keller. Nun ist er es dem der Keller zum Verhängnis wurde

Sehen kann Hannas Großmutter schon lange nicht mehr. Sie ist blind. Die Folge eines Bombenangriffs: „Ich dachte, ich verliere meinen Verstand, … aber ich habe nur mein Augenlicht verloren.“ Der Geruchssinn funktioniert dafür allzu gut.

Dem gegenüber steht Hannas Mutter (Franziska Weisz). „Wir fallen nicht auf!“ ist ein weiteres Mantra, das die Mutter nicht müde wird zu wiederholen, insbesondere gegenüber ihren Kindern. Sie tut alles, „um nicht aufzufliegen“. Nicht auffliegen heißt dabei: Die jüdische Herkunft penibelst vor der Stadtbevölkerung, vor ihren Kindern, aber auch vor sich selber zu verheimlichen, einfach zu vergessen. So gibt es auch keine Kinderbilder mehr von der Mutter, denn „jedes Foto hätte uns verraten“. Hannas Mutter verharrt dabei nicht nur in einer Totenstarre, sondern sieht sich nur allzu gern in der Opferrolle, ein Vorwurf der von Hannas Großmutter kommt, vor allem weil Hannas Mutter die Opferrolle auch von anderen verlangt: „Das ist genau das, was dir am Katholisch-Sein so gut gefällt: Da kannst du schön leiden und die anderen sollen es gefälligst auch.“

[[{"fid":"2234","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Kerstin Stelter / enigma film"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Kerstin Stelter / enigma film","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]
Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Hanna. Trotz der Bemühungen ihrer Mutter wird ihr nach und nach klar, dass sie auf irgendeine Weise anders ist: Ihre Klassenlehrerin fragt neugierig und abschätzig nach der Herkunft ihrer Oma. Dass sie aus Wels ist, sei unwahrscheinlich, denn „sie spricht nicht wie eine Hiesige.“ Ein Klassenkamerad beschimpft sie und deutet dabei auf ein Anderssein von Hanna hin. Ein Nachbar belästigt sie im betrunkenen Zustand sexuell und schimpft sie „Judengfrast“. Hanna will wissen, was all das zu bedeuten hat. Sie weckt die schlafenden Hunde, macht die Vergangenheit sichtbar. So emanzipiert sie nicht nur sich selbst, sondern holt auch ihre Mutter aus der Erstarrung und aus ihrer Opferrolle.

Andreas Gruber erzählt von drei Frauen-Generationen, die alle auf ihre Art einen Weg suchen, um mit dem Stigma, mit dem Hass, mit dem Antisemitismus umzugehen: Ob mit dem Versuch der Selbstauslöschung oder dem Versuch, dem Hass stolz entgegen zu blicken – auch ohne Augenlicht oder durch das ständige Nachfragen, durch kindliche Neugier. Hanna, ihre Mutter und ihre Großmutter sind in ihren alltäglichen Kämpfen umgeben von „antisemitischer Normalität“, wie es Gruber selbst beschreibt: „Ich möchte eine nicht immer gleich erkennbare Scheinwelt von Normalität erschaffen, in der selbst die ungeheuerlichsten braunen Rülpser zur Normalität gehören. Man könnte in Anlehnung an Hannah Arendt von der Trivialität und Selbstverständlichkeit des Bösen sprechen. Durch eine besonders lapidare, unbetonte Inszenierung soll eine Monstrosität der Figuren verhindert werden – weil es ihnen eine unverdiente Größe geben würde.“ Auch wenn Gruber seiner abgebildeten Welt keine Monstrosität zuschreiben will und nicht auf Gewaltorgien zurückgreifen muss, um das Grauen der Nazi-Ideologie sichtbar zu machen, zeichnet er eine Welt, geprägt von Ungeheuerlichkeiten, von Hass und Misstrauen, das nur schwer zu überwinden ist. Hannelore Elsner bringt die Schrecken der Zeit im Publikumsgespräch auf den Punkt: „Diese Zeit stößt mich ab: ihre Verlogenheit, ihre Bigotterie, ihre Sprachlosigkeit.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Arbeitet nie

  • 08.03.2016, 16:31
Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Ein kühler Jännerabend, die sonst so belebten Wiener Straßenzüge zwischen Oper, Hotel Sacher und Albertina sind wie ausgestorben. Es ist der Abend des sogenannten Akademikerballs und die Innenstadt ist zur Sperrzone erklärt worden. Dennoch hat sich eine beachtliche Menschenmenge durch die Absperrungen gekämpft und sammelt sich im heillos überfüllten Foyer des Österreichischen Filmmuseums. Der Jänner ist im Filmmuseum traditionell gut besucht, doch an diesem Abend sind es nicht Claudia Cardinale oder Marcello Mastroianni, die ins Kino locken, sondern die Wartenden haben sich zum Auftakt der Guy-Debord-Retrospektive eingefunden. Das Filmmuseum ist das erste Museum der Welt, das eine solche Schau veranstaltet und dafür alle Filme von Debord in seine Sammlung aufgenommen hat. Das liegt nicht zuletzt auch am Aufführungsverbot, das Guy Debord 1984 verhängte, nachdem sein Freund, Verleger und Produzent Gérard Lebovici ermordet worden war. Erst nach Debords Freitod 1994 gelangten die Filme wieder ans Tageslicht, und die Retrospektive des Filmmuseums ist die erste Gelegenheit seit den Filmfestspielen in Venedig 2001 Debords filmisches Werk im Kino zu sehen.

CONTRE LE CINÉMA. Aus dem winterlichen Wien ins frühlingshafte Cannes des Jahres 1951. Der 19-jährige Guy Debord besucht das Filmfestival, das schon damals Filmschaffende internationalen Ranges anzieht. Dort zeigt der Rumäne Isidore Isou seinen ersten (und einzigen) Film „Traité de bave et d'éternité“, der sogleich einen Skandal verursacht und den jungen Debord nachhaltig prägt. Seit einigen Jahren lebt Isou in Paris und hat dort eine Künstler_innengruppe in der Tradition der Vorkriegsavantgarden gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kunst zu revolutionieren. Die Lettristische Gruppe, so ihr Name, will mit der Dominanz des Wortes brechen und stattdessen den einzelnen Buchstaben zur Keimzelle ihrer Kunst machen.

„Traité de bave et d'éternité“ ist zugleich lettristisches Manifest, Kampfansage gegen das Kino und Stilexperiment. Isou spielt mit dem Verhältnis von Bild und Ton, indem er langen Voice-over-Passagen scheinbar zusammenhangslose Filmaufnahmen gegenüberstellt. Mit Fortdauer des Films wagt er sich an immer kühnere Formen des Experimentierens: Er zerkratzt und bemalt das Filmmaterial und kombiniert diese abstrakten Formen mit Rezitationen lettristischer Lyrik. Debord tritt schwer beeindruckt der Lettristischen Gruppe bei und schon 1952 erscheint sein erster eigener Film „Hurlements en faveur de Sade“, der bei seiner Erstaufführung ebenfalls für laute Proteste im Publikum sorgt. Der Kinobesuch unterscheidet sich bei Debords erstem Film radikal von einer herkömmlichen Filmaufführung: Über weite Strecken sind weder Bilder auf der Leinwand zu sehen, noch Musik oder Dialoge zu hören. Im dunklen Kinosaal beginnt das Publikum schließlich seinen Unmut kundzutun und wird so Teil des Kunstwerks. Debord antizipiert damit Tendenzen des experimentellen Kinos der Siebziger Jahre, das unter dem Sammelbegriff „Expanded Cinema“ ähnliche Einbindungen der Zuschauer_innen anstrebte.

REVOLUTION: THEORIE UND PRAXIS. Mit den Jahren entwickelte sich Debord vom avantgardistischen Künstler zum politischen Aktivisten, der Kunst nicht unabhängig von Politik und Gesellschaft betreiben wollte. Debord war eine ehrgeizige Persönlichkeit und entschlossen, seine eigenen Ideen umzusetzen, weshalb er sich schließlich zusammen mit einigen Gleichgesinnten vom Lettrismus abspaltete und die Situationistische Internationale gründete. Die Grundsätze dieser Gruppe lassen sich nur schwer zusammenfassen. Debords Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, situationistisches Manifest und Stichwortgeber der Maiunruhen 1968, lässt sich zwar in einer hegelianisch-marxistischen Denktradition verorten, bricht aber bewusst mit gängigen linken Denkweisen und Strömungen seiner Zeit. Kommunismus, Maoismus und Sozialdemokratie bewegen sich nach Debords Sicht in der vorgegebenen Logik der Spektakelgesellschaft und unterscheiden sich darin nur marginal von der herrschenden Klasse der Kapitalisten. Das Spektakel kontrolliert und beschränkt zunehmend die Zeit und den Lebensraum der Menschen und sorgt dafür, dass die Menschen von realitätsfernen Bildern betäubt, unmündig und ohne Handlungsmacht bleiben: „Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist.“ Der Situationismus war auf der Suche nach Möglichkeitsbedingungen einer Revolution, die schon damals in Westeuropa nur mehr schwer denkbar war. Anderen linken Bewegungen warfen die Situationist_innen vor, in Passivität zu verharren und sich im Wälzen grauer Theorie zu gefallen. Sie wollten stattdessen aktiv handeln, ganz im Sinne Michail Bakunins: „In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, dass irgendjemand imstande ist noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.“

Diese Tatsachen liegen im Schaffen konkreter Situationen, die aus einer Verbindung künstlerischer und politischer Praxis entstehen, und in denen gegen die Spektakelherrschaft vorgegangen wird, indem deren eigene Erzeugnisse gegen sie gewendet werden. Diese Vorgehensweise der Zweckentfremdung, Verfremdung und Umdeutung der Waren des Spektakels bezeichnen die Situationist_innen als détournement; in den Worten von Jacques Rancière: „Das ‚détournement‘ besteht nicht darin, die Hochkultur zu profanieren oder die nackte Realität der Ausbeutung hinter dem schönen Schein zu enthüllen. Es versucht nicht, ein Bewusstsein zu produzieren, indem es denjenigen die Mechanismen der Welt enthüllt, die angeblich an deren Unkenntnis leiden. Es will eben jene Güter vom Feind zurückerobern, die dieser zu seiner Waffe gegen die Anteillosen gemacht hat. […] Es ist die direkte Wiederaneignung dessen, was in die Repräsentation entrückt worden ist.“ Was ist also naheliegender, als sich am breiten Bilderfundus der Filmgeschichte zu bedienen und ihre Bilder in filmischer Form gegen sie zu wenden?

APRÉS MAI. Im Kinosaal des Österreichischen Filmmuseums haben sich einstweilen Direktor Alexander Horwath, Debords Witwe Alice Becker-Ho und der Filmemacher Olivier Assayas eingefunden. Assayas verbindet eine besondere Beziehung sowohl mit dem Österreichischen Filmmuseum, das ihm 2012 eine große Retrospektive und eine Buchpublikation widmete, als auch mit Debord, seinem geistigen Ziehvater. Geboren 1955 und aufgewachsen in der wohlbehüteten Pariser Vorstadt, war er zu jung, um die Maiunruhen 1968 mitzuerleben. Das Gefühl, die großen Ereignisse seiner Generation verpasst zu haben und womöglich niemals den revolutionären Geist dieser Zeit zu spüren, prägte sein Leben und Werk. In Richard Linklaters „Dazed and Confused“ bezeichnen die jugendlichen Protagonist_innen die Siebziger als ein langweiliges Jahrzehnt, das die aufregenden Versprechungen der Sechziger nicht erfüllen konnte. Ihre Lebenserfahrung ist jener von Olivier Assayas nicht unähnlich. Es ist ein Lebensgefühl zwischen revolutionärem Eifer und Ziellosigkeit. Sein intellektueller Werdegang führte Assayas über Anarchismus, George Orwell, Malerei und Rockmusik schließlich zu den Schriften und Filmen von Guy Debord. Die Gruppe hatte sich zwar 1972 nach einer wechselhaften Geschichte voller Ausschlüsse und internen Verwerfungen aufgelöst, aber ihr politisches, künstlerisches und philosophisches Programm diente fortan als Inspiration und Leitfaden für Assayas’ Leben und Arbeit. Wenig verwunderlich also, dass er sich aktiv für die Verbreitung der Ideen Debords einsetzt. So machte er es nach dessen Tod überhaupt erst möglich, dass die Filme wieder gezeigt werden und war auch maßgeblich an der 2004 erschienenen DVD-Edition von Debords gesammeltem filmischem Werk beteiligt.

VOM FEUER VERZEHRT. An diesem Abend werden zwei Kurzfilme von Debord gezeigt, die er in der Anfangszeit der Situationistischen Interna- 13 tionale produziert hat. „Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps“ (1959) und „Critique de la Séparation“ (1961) sind in vielerlei Hinsicht Vorboten Debords späterer Langfilme. In bester lettristischer Tradition vertraut Debord auf einen begleitenden Off-Kommentar, der oft in Kontrast zu den Bildern und Textelementen steht. Die Konfrontation von Bild, Text und Ton soll zu fruchtbarer Überforderung und dialektischer Synthese führen. Debords Filme sind, so Assayas, außerhalb der Logik des Kinos hergestellt und folgen deshalb auch nicht den Regeln des konventionellen Filmemachens, wie sie die Spektakelgesellschaft vorschreibt. Frei nach dem Motto seines Vertrauten Gil J. Wolman: „Most films only merit being taken apart and used to create new works“, bedient sich Debord ausgiebig bei Hollywood- und Werbefilmen, zitiert Schriftsteller_innen und Philosoph_innen und fertigt daraus komplexe Bild-Ton-Collagen. Debords spätere Filme schließen trotz zwölf Jahren Pause nahtlos an seine früheren Arbeiten an. Auch in „La société du spectacle“ (1973) und in seinem Opus magnum „In girum imus nocte et consumimur igni“ (1978) greift er auf ähnliche Inszenierungsmittel zurück: Der kreative Einsatz von Found Footage und parallel dazu die philosophischen Erörterungen des Off-Kommentars führen zu einem elaborierten Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bild und Ton. Es ist „der schmale Grat zwischen Poesie und Philosophie“, wie Assayas es ausdrückt, der Debords gesamtes Schaffen, aber insbesondere seine Filme auszeichnet. Sie sind überaus komplex, doch lässt man sich auf den ungewöhnlichen Rhythmus, die komplizierte Sprache und die ungewöhnliche Ästhetik ein, so offenbart sich eine Gedankenwelt, die Debords schriftstellerischer Arbeit in nichts nachsteht. Es war immer Debords Anliegen alle Bereiche seines Lebens miteinander zu verschränken – seine Kunst, seine Philosophie und seine Politik sollten in seiner Lebenspraxis aufgehen.

In Anbetracht seiner filmischen Arbeiten kann man nur anerkennend bemerken, dass er reüssierte. Alexander Horwath: „[Debord’s writings, films and art] should be seen as very much one thing.“ Guy Debords Werk zeichnet ein unbändiger Wille aus, die Schockstarre der Spektakelgesellschaft zu durchbrechen und aktiv Veränderung herbeizuführen. Im Zeitalter des postmodernen Relativismus, der für utopisches Denken nur ein zynisches Lächeln übrig hat, ist das ein umso wertvollerer Gedanke.

Rainer Kienböck studiert Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Female to… WHAT THE FUCK?!?

  • 12.06.2015, 20:46

Dieser Tage findet in Wien das queere Filmfestival identities statt. An zehn Tagen – noch bis zum 21. Juni – werden im Gartenbaukino, Top Kino und im Filmcasino internationale Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme zu unterschiedlichen Themenbereichen des queeren Spektrums gezeigt.

Dieser Tage findet in Wien das queere Filmfestival identities statt. An zehn Tagen – noch bis zum 21. Juni – werden im Gartenbaukino, Top Kino und im Filmcasino internationale Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme zu unterschiedlichen Themenbereichen des queeren Spektrums gezeigt.

Zwischen 1994 und 2015 fand das identities in Wien sechs Mal statt. Jedes Mal wurde es größer: mehr Filme, mehr Publikum, mehr Preise. Heuer wird erneut der beste Lang- sowie Kurzfilme prämiert, zusätzlich hat das Publikum die Chance, einen eigenen Preis zu vergeben. Auch das Rahmenprogramm bietet viel Abwechslung. Neben der obligatorischen Eröffnungsparty gibt es Gespräche mit den Filmschaffenden vor und hinter der Kamera, Partys und eine Familienjause mit Kakao und Krapfen.

Nach der Veröffentlichung des Programms gab es Widerstand. Nick Prokesch thematisierte in seinem offenen Brief an die Festivalleitung die mangelnde Repräsentation von Trans*Personen und queer people of color. Stattdessen wird ein Film wie „Dallas Buyers Club“ gezeigt, der von Hass auf so gut wie alle Mitglieder der LGBTQIA-Community nur so strotzt. Dabei hieß die erste Ausgabe des identities Festivals „trans-X. Eine filmische Identity Tour“ und trug somit das Thema Trans*identitäten  sogar im Titel. Ein weiterer Brief mit Kritik, vor allem betreffend der eurozentristischen und kolonialen Perspektiven, die das Festivals reproduziert, kursiert in den Sozialen Medien.

Nick Prokesch ist Protagonist von „FtWTF“, ein ebenfalls am identities gezeigter Dokumentarfilm, der verschiedene Trans*biografien zeigt und jenseits gewohnter Klischees von „falschen Körpern“, Operationenflut und Opferperspektive agiert. Hier gibt es Raum für nichtbinäre Identitäten, das Ausloten von lebbaren Männlichkeiten und entstehende Reibungsflächen innerhalb queer-feministischer Communities.

Der Film feiert Premiere am 18. Juni (ausverkauft) und wird am 21. Juni erneut aufgeführt.

Wir haben die zwei Regisseurinnen Cordula Thym und Katharina Lampert zu einem Gespräch getroffen.

progress: Könnt ihr kurz was zu eurer Motivation sagen, FtWTF zu machen?

Unseren letzten Film haben wir über lesbisches Leben im Wien der 50er und 60er Jahre gemacht – und sehr viel Zeit mit Recherchieren und der Suche nach Protagonistinnen verbracht.

Während wir den Film gemacht haben, wurde Trans*(männlichkeit) ein immer wichtigeres Thema in Wien – sowohl in unserem persönlichen Umfeld als auch politisch.

Daraus und auch aus dem Bedürfnis mit Leuten, die wir schon länger kennen und nicht erst suchen müssen zusammenzuarbeiten, ist die Idee für diesen Film entstanden. Wir haben auch versucht mit dem Film dem schon oft erzählten Narrativ: „Mensch im falschen Körper geboren – schmerzhaftes Coming Out – geschlechtsangleichende Operationen  - Ende“ andere Geschichten entgegenzusetzen. Und auch die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten in der queeren Szene war ein großes Thema.

Gibt es spezielle Schwierigkeiten oder Vorzüge von Österreichischen Gesetzen, wenn es um Trans*Personen geht?

2009 ist der Paragraph zur Zwangssterilisation und die „geschlechtsangleichenden“ Operationen von Trans*Personen gekippt worden. Vorher war dies notwendig, um den Personenstand zu ändern. Damit ist Österreich eines von elf Ländern in Europa, wo das möglich ist. Allerdings müssen Trans*Personen immer noch eine vorgeschriebene Anzahl an Psychotherapiestunden absolvieren, dem äußeren Erscheinungsbild dieses Geschlechtes entsprechen bzw. sich ihm annähern und beweisen dass sie für immer im angestrebten Geschlecht leben wollen, wofür ein psychiatrisches Gutachten notwendig ist.

Gab es beim Dreh einen Moment, der euch hinter der Kamera besonders berührt hat?

Da gab es natürlich viele Momente. Eigentlich ist jedes Interview ein sehr intensives und persönliches Erlebnis. Wir kannten unsere Protagonist*innen zum Großteil zwar schon länger, aber in so einem Interview stellt mensch dann doch auf einmal Fragen, die in einem normalen Alltagsgespräch so nicht gestellt werden würden. Das war sehr spannend.

Hat es euch überrascht, dass die erste Vorstellung so schnell ausverkauft war?

Es hat uns jedenfalls sehr gefreut! Natürlich sind viele von den Karten auch an die Protagonist*innen und das Team gegangen – bei so einem Film sind ja immer sehr viele Leute beteiligt und da die Premiere schönerweise in Wien stattfindet, können die auch alle kommen.

Wie geht es mit dem Film nach dem identities weiter? Gibt es schon einen Kinostart für Österreich oder andere Festivaltermine?

Wir hoffen dass der Film international auf vielen Festivals laufen wird, für Österreich müssen wir noch einen Verleih finden, der ihn ins Kino bringt.

Gibt es im etwas, das ihr gerne im Film festgehalten oder thematisiert hättet, aber nicht konntet?

Ein Dokumentarfilm zeigt natürlich auch immer nur einen kleinen Ausschnitt der Realität. Wir haben uns bemüht die unterschiedlichen Geschichten gut zu erzählen und wir hoffen, dass wir eine ausgewogene Balance gefunden haben.  Es ging uns auch nicht darum abgeschlossene Geschichten zu erzählen. Wir haben aber bewusst gewisse Themen, zum Beispiel. medizinische Detailaspekte weggelassen. Das wäre dann ein anderer Film.


„FtWTF“
Regie: Cordula Thym und Katharina Lampert
Mit: Nick Prokesch, Dorian Bonelli, Mani Tukano, Denice Bourbon, Gin Müller, Persson Perry Baumgartinger, Hans Scheirl u.v.a.
85 Minuten
Premiere: 18.6.

 

Katja Krüger ist Unternehmerin und mastert derzeit die gender studies.

 

Der Rand in der Mitte?

  • 30.03.2014, 17:25

„Und in der Mitte, da sind wir“ wurde auf der Diagonale 2014 präsentiert und ist eine entlarvende Dokumentation über die vermurkste österreichische Bewältigung des Nationalsozialismus. Drei Jugendliche aus Ebensee geben Einblick in ihre Gedankenwelt. Das Ganze ist authentisch. Fast schon zu sehr.

„Und in der Mitte, da sind wir“ wurde auf der Diagonale 2014 präsentiert und ist eine entlarvende Dokumentation über die vermurkste österreichische Bewältigung des Nationalsozialismus. Drei Jugendliche aus Ebensee geben Einblick in ihre Gedankenwelt. Das Ganze ist authentisch. Fast schon zu sehr.

Anmerkung: Ebensee im oberösterreichischen Salzkammergut hat eine fatale Vergangenheit. Die Nazis errichteten dort ein Konzentrationslager, 8.745 Menschen starben. Die Häftlinge mussten innerhalb kürzester Zeit und unter großer körperlicher Anstrengung den Stollen 250 Meter in den Berg hineintreiben. Hitler wollte geheim unter Tage V2-Raketen entwickeln.

„Voll fad“ war er, der Besuch im KZ, erzählen Jugendliche im Film. Die Eltern sehen das ähnlich: Sie haben noch nie eine Gedenkfeier besucht und sprechen von einer „Notwendigkeit des Vergessens“. In Ebensee scheint der Nationalsozialismus ein sensibles Thema zu sein. Vermutlich auch, weil es 2009 zu einem Vorfall kam: Elf Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren störten die KZ-Gedenkfeier mit Softguns und „Heil Hitler“-Rufen. Drei der Beteiligten wurden wegen Wiederbetätigung verurteilt. Aufgearbeitet wurde das in Ebensee aber nie.
Regisseur Sebastian Brameshuber aus dem Nachbarort Gmunden hat diesen Vorfall zum Anlass genommen, um drei junge Ebenseer beim Älterwerden zu begleiten. Es geht um die Suche nach der eigenen Identität, während die Geschichte des Heimatorts nicht ausgeklammert wird. Die Teenager werden aktiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontiert. Die Reaktionen sind entlarvend, fast ein wenig deprimierend, aber dafür umso authentischer. „Und in der Mitte, da sind wir“ ist ein authentisches Abbild von Zeitgeschichte. Das ist weder schön, noch romantisch. Das inszenierte Drama fehlt ebenso. Pure Realität, die eineN fesselt.

Regisseur Brameshuber diskutierte bei der Diagonale 2014 im KIZ Royal mit KinobesucherInnen über seinen Film. Foto: Rumpf

Neonazis oder Lausbuben?

Die Beurteilung der Wiederbetätigungsaktion fällt bunt aus. Einige EbenseerInnen sprechen von einem „Lausbubenstreich“ und an sich netten Burschen, die Opfer einer „politisch zu korrekten Gesellschaft“ wurden. Sie als „Neonazis“ abzutun, findet Brameshuber aber auch für zu kurz gegriffen. Der Begriff „Neonazis“ drängt die Akteure an den Rand der Gesellschaft, was vor allem der eigenen Beruhigung dient: „Ein paar Verrückte gibt’s halt immer.“ Da es aber so viele Jugendliche waren, die sich an der Aktion beteiligt haben, möchte Brameshuber nicht von Extremisten reden. Sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft und haben ein Problem mit der Vergangenheitsbewältigung.

Die Angst, Dinge beim Namen zu nennen

Das äußert sich vor allem bei den eingefangenen Wortmeldungen der Jugendlichen. Die jungen Ebenseer nehmen im Film kein Blatt vor den Mund: Locker und ohne Scham geben sie tiefe Einblicke in ihr Leben. Der Regisseur gibt sogar zu, dass er manchmal „die Protagonisten vor sich selbst schützen“ musste. Beim Thema Nationalsozialismus werden sie aber ruhig. „Was man in der Schule halt so hört“ – mehr kommt oft nicht. Die Dinge beim Namen zu nennen – Hitler, KZ, Nationalsozialismus – wagt niemand. Diese Begriffe werden durch „damals“, „der Stollen“ und „das“ ersetzt. Dies ist bedenklich, da es das Vergessen erleichtert. Selbst Brameshuber gibt zu, dass der Nationalsozialismus weder in der Familie noch in der Schule ein Thema war: „Eine sehr wortkarge Gegend ist das“. Vom KZ im 15 Kilometer entfernten Ebensee hat er zufällig in Amerika (!) erfahren, wohlgemerkt erst nach der Matura. Er kritisiert, dass manche Ebenseer Schulklassen zwar nach Mauthausen fahren, aber nicht ins KZ und dem zeitgeschichtlichen Museum vor Ort: „Man versucht die Außenlager zu vergessen“. Und de facto die eigene Geschichte.

Ebensee als Beispiel

Muss sich Ebensee mehr mit der Nazi-Vergangenheit befassen als andere Orte? – Nein, so etwas wie eine Bringschuld gibt es nicht. Auch Gmunden, auch Bad Ischl, auch ganz Österreich braucht Vergangenheitsbewältigung. Der Film zeigt aber schön auf, dass selbst ein Ort, der hautnah von NS-Geschichte betroffen ist, es nicht tut. Eine neue, wenn auch bedenkliche Erkenntnis.

Fazit

„Und in der Mitte, da sind wir“ liefert mit einfachen Bildern eine zeitgeschichtliche Abbildung einer Generation, die sich keine Gedanken über ihre Vergangenheit macht. Der Film ist jedenfalls ein Beweis, dass es Versäumnisse in der Vergangenheitsbewältigung gibt - nicht nur bei ein paar Verrückten am Rand der Gesellschaft, sondern auch in der Mitte. Der Rand in der Mitte?

Hier geht’s zur Filmbeschreibung auf der Diagonale-Homepage und hier gibt’s zusätzliches Info-Material auf der Website des Films.

Christoph Schattleitner studiert „Journalismus und PR“ an der FH Joanneum in Graz.

Mit Tabus brechen?

  • 30.03.2014, 13:57

In „Der letzte Tanz“ dreht sich alles um eine Intimität, die es so - zumindest nach unseren gesellschaftlichen Standards - nicht geben darf. Das Brechen eines Tabus, das vielleicht als solches zu hinterfragen ist.

In „Der letzte Tanz“ dreht sich alles um eine Intimität, die es so - zumindest nach unseren gesellschaftlichen Standards - nicht geben darf. Das Brechen eines Tabus, das vielleicht als solches zu hinterfragen ist.

Ein zum Frühstück gedeckter Tisch, an welchem eine Mutter mit ihrem längst dem Kindesalter entwachsenen Sohn sitzt. Die mütterlichen Versuche, sich nach dem Wohlbefinden des Sohnes zu erkundigen, werden durch das Läuten an der Wohnungstür unterbrochen: „Wir suchen den Herrn Karl Streiner.“ Karl - verkörpert durch das deutsche Schauspieltalent Daniel Sträßer - wird trotz Protest und Unverständnis seiner Mutter eskortiert, verhört und schließlich in eine Zelle gebracht, wo er seine Untersuchungshaft abzusitzen hat.

Im zu Beginn noch schwarz-weißen Bild hat der Junge einiges in der Justizanstalt auszuhalten. Er findet sich auf engstem Raum mit vermeintlich Kriminellen wieder. Es misslingt ihm, nicht anzuecken, oder er versucht es erst gar nicht. Der Regisseur Houchang Allahyari, der in Teheran geboren wurde und bereits seit seiner Jugend in Wien wohnhaft ist, lässt die ZuseherInnen lange im Dunkeln tappen, welche Untat der Zivildiener begangen haben mag. Niemand, weder seine „Vielleicht-Freundin“ noch seine Mutter, glaubt an die Schuld von Karl. Auch er selbst ist sich keiner Schuld bewusst.

Plötzlich findet man sich in der Vergangenheit wieder: drei Monate zuvor, in Farbe. Karl Streiner bestreitet seinen ersten Tag als Zivildiener. Nachdem er sein Studium in Heidelberg abgeschlossen hat, lebt er nun wieder in Wien. Er wird für die geriatrische Abteilung eines Krankenhauses eingeteilt. Es macht ihm Spaß, doch schnell macht er Bekanntschaft mit der Alzheimer-Kranken Frau Ecker. Erni Mangold sticht in ihrer Rolle als Julia Ecker besonders hervor. Beeindruckend glaubwürdig spielt sie die vom Leben gezeichnete Patientin, die nichts auf die Meinung anderer gibt und so dem Krankenhauspersonal das Leben schwer macht und letztlich auch im Leben von Karl eine tragende Rolle spielt. Wenig überraschend also, dass sie mit dem Schauspielpreis der Diagonale 2014 ausgezeichnet wurde. Sie ist ein schwieriger Fall und „mit Absicht boshaft“. Doch irgendwie gelingt es Karl schon nach wenigen Tagen, einen Draht zu ihr herzustellen. Er liest ihr aus dem Roman „Die Geier-Wally“ vor, es entsteht eine besondere Verbindung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren. Die alte Frau erfährt durch ihn einen Energieschub, der die bis dahin Bettlägerige flotten Schrittes tanzen lässt. Bald will die Patientin nur noch von ihrem Liebling Karl betreut werden, was ihm schließlich zum Verhängnis wird.

„Der letzte Tanz“ wurde zum besten Spielfilm der Diagonale gewählt. Der Andrang an der Kinokasse war dementsprechend groß, die Vorstellung restlos ausverkauft. Foto: Rumpf

Fazit

Allahyari schafft es während des ganzen Films - fern von Actionszenen und Explosionen - die Spannung aufrechtzuerhalten. Zurecht also wurde die Arbeit mit dem Publikumspreis gewürdigt. Einziger Wermutstropfen an diesem insgesamt sehr gut gelungenen Spielfilm ist die Besetzung des Strafverteidigers von Karl. Er wird von Viktor Gernot, vor allem bekannt als Kabarettist und Bestandteil der ORF-Sendung „Was gibt es Neues?“, gemimt. Leider wird man das Bild des gaukelnden und lachenden Gernot vor dem inneren Auge nicht los, selbst wenn er als vermeintlich seriöser Anwalt für seinen Mandanten kämpft.

Die Rezension entstand im Rahmen der Diagonale-Serie "Dem bedrohten österreichischen Film ein Festival"
Hier geht’s zur Filmbeschreibung auf der Diagonale-Homepage.

Gerald Rumpf studiert Journalismus & PR an der FH Joanneum in Graz.

Seiten