ZeitzeugInnen

Eine Jugend im Konzentrationslager Theresienstadt

  • 31.03.2014, 13:56

Helga Pollak-Kinsky, 1930 in Wien geboren, war zwölf als sie im Jänner 1943 zusammen mit ihrem Vater Otto Pollak nach Theresienstadt deportiert wurde. “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” wurde im eigens dafür gegründeten Verlag edition Room 28 veröffentlicht. progress online hat mit der Herausgeberin Hannelore Brenner über dieses einzigartige, zeithistorische Dokument und über die Schwierigkeiten für dieses einen Verlag zu finden gesprochen.

Helga Pollak-Kinsky, 1930 in Wien geboren, war zwölf als sie im Jänner 1943 zusammen mit ihrem Vater Otto Pollak nach Theresienstadt deportiert wurde. “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” wurde im eigens dafür gegründeten Verlag edition Room 28 veröffentlicht. progress online hat mit der Herausgeberin Hannelore Brenner über dieses einzigartige, zeithistorische Dokument und über die Schwierigkeiten für dieses einen Verlag zu finden gesprochen.

progress online: Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Helga Pollak-Kinsky?

Hannelore Brenner: 1996 habe ich ein Hörfunk-Feature über die Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása und Adolf Hoffmeister für den Sender Freies Berlin gemacht; ein Jahr später übrigens für den ORF. Im Rahmen der Recherchen lernte ich einige Überlebende von Theresienstadt und Auschwitz kennen. Ich war damals auch in den USA, um Ela Weissberger zu sprechen, die in den Theresienstädter Aufführungen von ‚Brundibár‘ die Katze gespielt hatte. Sie erzählte viel von ihren ‚Freundinnen vom Zimmer 28‘. Beim Abschied ermunterte sie mich, im September nach Prag zu kommen, wo sie sich mit einigen ihrer Freundinnen treffen wollte. Das tat ich, und das war der Beginn. Ich lernte einen außerordentlichen Freundeskreis kennen und erfuhr eine Geschichte, die mich nicht mehr losließ. Ich besuchte die Frauen – zunächst Anna Hanusová in Brünn und Helga Pollak-Kinsky in Wien.

Und dann haben Sie mit der Arbeit an dem Buch „Die Mädchen von Zimmer 28“ begonnen?

So schnell ging das nicht. Aber als ich Flaška (Anna Hanusová) in Brno und Helga in Wien besuchte, zeigten sie mir wertvolle Dokumente. Flaška ihr Poesiealbum und Helga ihr Tagebuch. Dabei sprachen sie davon, dass sie etwas tun wollten zur Erinnerung an die Mädchen, die nicht überlebten, auch etwas zur Erinnerung und Würdigung der Erwachsenen, die sich um sie gekümmert haben. Ich wollte diese Idee spontan unterstützen Wir haben uns gut verstanden, trafen uns dann öfters und sprachen immer wieder über dieses Vorhaben. Dann wurde ein Projekt daraus.

Ab 1998 trafen wir uns  - Helga, Flaška und weitere Überlebende von Zimmer 28 –regelmäßig im September in Spindlermühle, Riesengebirge, um an dem Projekt zu arbeiten. Sechs Jahre später erst, im März 2004, kam endlich das Buch heraus - „Die Mädchen von Zimmer 28“. Ohne Helgas Tagebuch und die Aufzeichnungen ihres Vaters hätte das Buch nicht geschrieben werden können. Es diente nicht nur mir als roter Faden, um die Geschichte dieser Mädchen zu erzählen, es diente auch ihren Freundinnen als Katalysator der Erinnerung.

Dachten Sie damals schon daran, Helgas Tagebuch als separates Buch zu veröffentlichen?

Ja, natürlich. Ich hätte damals schon gerne Helgas Tagebuch als eigenständiges Buch veröffentlicht. Es ist ja ein wunderbares Dokument. Aber es galt, die gemeinsame Geschichte dieser Mädchen zu schreiben. Das war das Anliegen, der Ausgangspunkt. Es sollte ein Buch werden zur Erinnerung an die Mädchen, die umgekommen sind. Helga hat ihr Tagebuch ganz bewusst in den Dienst dieses Anliegens gestellt.

Als ich später für Helgas Tagebuch einen Verlag suchte, lehnten alle ab. Es stehe doch schon alles in dem Buch über ‚Die Mädchen von Zimmer 28‘, hieß es oft. Aber das stimmt natürlich nicht. Es ist eine ganz andere Geschichte, Helgas genuin persönliche Geschichte.

Sie haben extra einen Verlag gegründet, um die Tagebücher herauszugeben, warum war es so schwierig einen Verlag zu finden?

Das verstehe ich selbst am wenigsten. Ich habe immer wieder Briefe und Exposés an Verlage geschrieben, aber es kamen nur Ablehnungen. Eigentlich ein Wahnsinn – wenn ich an die vielen Lesungen mit Helga, an die vielen Zeitzeugengespräche und Veranstaltungen mit ihr denke und an das Interesse an ihr und dem Tagebuch. Helga ist eine äußerst sympathische und beeindruckende Persönlichkeit und alle waren immer sehr berührt von ihr und den Lesungen und viele haben gefragt: Warum ist das Tagebuch nicht längst veröffentlicht? Irgendwann war für mich klar: Ich muss das Buch einfach selber herausbringen.

Das Buch besteht ja nicht nur aus Helgas Tagebüchern, sondern auch aus den Notizen des Vaters, Briefen, Postkarten, historischen Fakten und Interviews. Wie ist entschieden worden, was ins Buch hineinkommt?

Wir wollten ein Buch machen, das vor allem von jungen Menschen gelesen wird. Das heißt, es genügte nicht, einfach die Dokumente abzudrucken. Sie mussten in den historischen und biografischen Kontext gestellt werden, vieles musste erklärt werden, verständlich gemacht werden. Vor allem die Kindheitsgeschichte musste erzählt werden. Erst durch sie erfährt man, wer Helga war, wie sie in Wien und dann in Gaya/Kyjov (heute Tschechische Republik) gelebt hat bevor sie nach Theresienstadt kam. Ihre Kindheit zu kennen heißt, ihr Tagebuch besser zu verstehen und das, was ihr und ihrem Vater widerfahren ist. In dem Kapitel ihrer Kindheit lernt man auch viele der Verwandten kennen, von denen am Ende fast alle nicht mehr da sind.

Ja, und dann stellten sich einige Fragen. Wie mit der Tatsache umgehen, dass der dritte Band von Helgas Tagebuch verloren gegangen ist, dass ihre Aufzeichnungen im April 1944 aufhören? Wie die Geschichte zu Ende erzählen? Die Antwort lag auf der Hand. Denn in den Aufzeichnungen ihres Vaters spiegelt sich vieles von dem wieder, was Helga erlebte. So musste das Kalendertagebuch eingeflochten werden, so dass die Aufzeichnungen des Vaters dort, wo Helgas Tagebuch endet, die Geschichte weiter erzählen. Es kommt hinzu, dass ich natürlich weiß, dass Helga sich an vieles erinnert, was nicht in ihrem Tagebuch steht; ich bin sicher, im dritten Band wäre einiges zu lesen gewesen – über die Kinderoper Brundibár, Friedl Dicker-Brandeis, die Konzerte, die sie besuchte, Rafael Schächter, über die Transporte im Mai und über vieles andere. Also war es nötig, auch dies zu beleuchten und so kam es zu den Interviews.

Das Kulturleben in Theresienstadt und die Bedeutung, die es gehabt haben muss, ist auch beim Lesen der Tagebücher auffallend.

Vor allem Musik, Konzerte. Sie beschreibt immer wieder Konzerte. Und dann ihre Erinnerungen an Verdis Requiem, an Rafael Schächter. Ja, Sie haben vollkommen Recht – es bedeutete ihr sehr viel.

Und auch die Literatur.

Auch die Literatur, ja. Oder die philosophischen Gespräche, die sie mit ihrem Vater führte. Sie wird ja manchmal sehr philosophisch. Da sind wunderschöne Stellen drin! Zum Beispiel schreibt sie einmal nachdem sie ein Konzert erlebt hat: „Musik ist die schönste Schöpfung der menschlichen Seele, die der Mensch aus dem Nichts geschaffen hat.“ Oder sie schreibt darüber, dass sie oft an sich zweifele, und dass sie mit Rita darüber gesprochen habe und Rita ihr sagte: „Nur dumme Leute sind sich ihres Handelns und ihrer selbst sicher. Je klüger ein Mensch, desto mehr zweifelt er.“ Und dann fügte sie hinzu: “DENKEN IST DIE SCHÖNSTE SACHE“.

Es sind so kluge Sachen drin. Helga denkt viel über die Welt nach, verliert sich manchmal für Augenblicke in ihrer Gedankenwelt, träumt von der Zukunft, malt sich in ihrer Vorstellung die Zukunft aus, dass sie eines Tages studieren und Ärztin oder Wissenschaftlerin wird.

Es erzählt ja auch die Geschichte einer Jugend.

Ja, Helga kommt mit zwölf Jahren nach Theresienstadt, sie ist noch ein Kind. In den folgenden Monaten reift sie heran, man spürt den Übergang von der Kindheit hin zum Erwachsenenalter, erlebt mit wie sie sich verändert und immer reflektierter wird, nachdenkt über Dinge, über die viele junge Menschen nachdenken. Ich glaube, dass heutige Jugendliche sich in sie einfühlen, sich mit ihr identifizieren können. Und ich glaube, dass die Lektüre von Helgas Tagebuch vergleichbar ist mit dem Tagebuch der Anne Frank.

Ich bedaure sehr, dass der dritte Band verlorenging. Denn gerade gegen Ende des zweiten Bandes fängt sie an, erstaunlich dichterisch zu werden. Der letzte Eintrag vom 5. April 1944 – er ist phantastisch! Sie erzählt ein wunderbares Märchen -  es liest sich wie eine Parabel auf ihre eigene Geschichte. Ein Märchen, das ihr die Musik eingab, während sie einem Beethoven-Konzert zuhörte. Dieses Märchen könnte genauso wie es geschrieben ist, als Kinderbuch veröffentlicht werden.

Was ist mit dem dritten Tagebuch geschehen?

Helga hatte 1951 geheiratet und lebte mit ihrem Mann zunächst in Bangkok, dann in Addis Abeba. Als sie 1956 wieder nach Europa zurückkehrten und sie ihr Umzugsgut auf dem Schiffsweg nach London transportieren ließen, kam ein großer Teil zerstört am Hafen an. Auf dem Schiff war ein Feuer ausgebrochen und hatte einige Container in Brand gesetzt, in einem war der dritte Band des Tagebuchs.

Ein Glück, dass es die Kalendernotizen von Otto Pollak gibt.

Otto Pollak erzählt die Geschichte weiter. Von ihm erfahren wir, was er erlebte und was Helga erlebte, ehe sie am 23. Oktober 1944  nach Auschwitz deportiert wurde. Doch nach dem 19. Oktober 1944 sind die Seiten im Kalender von Otto Pollak leer. Zu schwer war es für ihn, mit ansehen zu müssen, wie seine Tochter nach Auschwitz deportiert wurde. Er konnte nicht mehr schreiben. Was dann geschah, können nur Erinnerungen und vereinzelte Dokumente vermitteln.

 

Am 1. April um 19:00 Uhr wird “Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak” im Top Kino in Anwesenheit von Helga Pollak-Kinsky mit anschließender Podiumsdiskussion präsentiert:

http://edition-room28.de/Termine.html

Hier kann man das Buch bestellen: http://edition-room28.de/index.html

 

Sara Schausberger hat Germanistik studiert und arbeitet als Kulturjournalistin (u.a. für den Falter) in Wien. 

 

 

 

 

 

Karl Pfeifer: Lebenslanges Engagement gegen Antisemitismus

  • 30.01.2014, 13:56

Der Journalist Karl Pfeifer (*1928) ist ein Mahner gegen den Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Claudia Aurednik hat für progress online in einer Audiosendung mit Karl Pfeifer über sein Leben gesprochen. Die Musik hat Mark Klatt komponiert.

Der Journalist Karl Pfeifer (*1928) ist ein Mahner gegen den Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Claudia Aurednik hat für progress online in einer Audiosendung  mit Karl Pfeifer über sein Leben gesprochen. Die Musik hat Mark Klatt komponiert.

Nach seiner Rückkehr aus Israel im Jahre 1951 hat er in Österreich selbst jahrzehntelang unter Antisemitismus und Ausgrenzung gelitten. Im Gegensatz zu den meisten ZeitzeugInnen spricht Karl Pfeifer offen über seine Erfahrungen und die Problematik des österreichischen Juden- und Israelhasses, der in nahezu allen politischen Parteien zum Vorschein kam. Karl Pfeifer erhielt 2003 für sein Engagement und seine Zivilcourage die Ernst-Bloch Medaille der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Seine Erfahrungen sind erschütternd und verdeutlichen die Kontinuität der Problematik innerhalb von Politik und Gesellschaft. 

Ausschnitte aus der Sendung:

„Und man hat nie gegen mich vom Staat her diskriminiert. Das hat man nicht. Allerdings als ich wegen meines Staatsbürgerschaftsnachweis ins Magistrat der Stadt Wien 1951 kam, kam ich mit der Heimatrolle meiner Eltern und mit meiner Geburtsurkunde, die man in der jüdischen Gemeinde schnell ausgestellt hat. Dort hat man bei meinen Vornamen Karl Eduard Pfeifer bei Eduard das "d" vergessen. Der Beamte hat gesagt: ‚ein `d´ das geht nicht. Also so geht das nicht, das kann ich nicht bearbeiten. Sie müssen zurück und ein anständiges Geburtszeugnis holen‘. Ich habe gesagt: ‚Wissen Sie was,  ich mag das nicht mehr machen. Ich brauch jetzt einen Pass, weil ich eine Arbeit habe.‘ Darauf hin hat der Beamte gesagt: ‚Na ja, hamm‘s  eh recht a Jud braucht net zwei Vornamen‘. Das war so. Auch ein schöner Empfang. Uns hat man doch aufrichtig und gut empfangen in diesem Land.“

„Wo ich natürlich meine Schwierigkeiten hatte: Ich wurde in einem Kibbuz erzogen, wo man mir beigebracht hatte immer geradeaus seine Meinung zu sagen. Aber in Österreich lernten die Menschen schon in ihrer Kindheit, dass es besser ist nicht die direkt seine Meinung zu sagen.“

„…Ich bin ein Mensch, der nie seine Menschlichkeit aufgegeben hat, der für seine Ideen mit seinen bescheidenen Kräften gekämpft hat. Aber ich habe etwas getan. Die meisten, die zurückkamen, konnten dies nicht tun. Stellen Sie sich vor, ich war Geschäftsführer während der 1960er Jahre und da kamen Kunden – ich hatte ja mit Österreichern zu tun – und erzählten mir Gaskammerwitze. Wie hätte ich mich verhalten sollen? Hätte ich ihnen eine in die Goschn haun sollen und meine Existenz verlieren? Oder das was ich gemacht habe: Es hat sich mir auf den Magen geschlagen und ich habe Magengeschwüre bekommen.“

„Ich glaube, dass dieser Antizionismus - diese ungerechtfertigte Israelkritik, die mit sehr wenig berechtigter Israelkritik zusammengeht -, aus dem Bedürfnis des Kompensierens entsteht. Ich habe nie daran gezweifelt.“

„Ich habe nie pauschalisiert und von ‚den Österreichern‘ gesprochen und habe immer Unterschiede zwischen den Menschen gemacht. Und ich habe dann festgestellt, dass es sehr vielen Österreichern auf gut Wienerisch ‚Powidl‘ ist, ob jemand ein Jude ist oder nicht. Denn sie kennen nicht viele Juden. Während der Waldheim-Zeit hat mir Professor Gottschlich zwei Studierende geschickt, denen ich mein Archiv ‚Antisemitismus in den österreichischen Medien‘ gezeigt habe. Es kam ein Bursch hinein und ich habe ihn die Hand gedrückt, mich vorgestellt und ihm einen Kaffee angeboten. Dann kam ein Mädchen aus Oberösterreich und die drückte meine Hand und ließ sie nicht los. Sie sagte mir - meine Hand noch immer drückend - ‚Herr Pfeifer, Sie sind der erste Jude, den ich kennenlerne.‘ Daraufhin sagte ich: ‚Na ja, wir sind ja Menschen wie alle anderen.‘ ‚Nein‘, sagte sie und sie hielt noch immer meine Hand fest. Da war ich erschrocken und ich fragte sie ‘Warum nicht ?‘ Sie sagte mir folgendes: ‚Ich bewundere Ihr Volk so sehr wegen der Intelligenz.‘ Da sagte ich: ‚Hören Sie, ich arbeite seit zehn Jahren in einer jüdischen Institution und bekommen jeden Tag Beweise gegen Ihre These‘. Also das ist natürlich genauso ein Vorurteil wie jenes, dass Juden geizig, gierig oder so und so wären.“

 

progress online Rezension zu Karl Pfeifers Autobiographie „Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg“

Veranstaltungstipp:

Buchpräsentation:

Karl Pfeifer: Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg.

Wien: Edition Steinbauer 2013

Dienstag, 11.02.2014, 19.00 Uhr
Hauptbücherei am Gürtel, Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien
Lesung und Diskussion mit Karl Pfeifer
Moderation: Heimo Gruber (Büchereien Wien)
 

Film:

Dokumentarfilm: Zwischen allen Stühlen – Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer

Regie und Produktion: Mary Kreutzer, Ingo Lauggas, Maria Pohn-Weidinger und Thomas Schmidinger.

Schnitt: D. Binder
http://film.antisemitismusforschung.net/

Einmal Palästina und wieder zurück

  • 10.11.2013, 12:03

Karl Pfeifer (*1928) hat mit seiner Autobiographie „Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg“ einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Zionismus und des jungen Staates Israel geleistet. In seinem Buch thematisiert er auch das unrühmliche Verhalten der Alliierten gegenüber den jüdischen Flüchtlingen sowie den Antisemitismus in Österreich, Ungarn und von arabischer Seite.

Karl Pfeifer (*1928) hat mit seiner Autobiographie „Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg“ einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Zionismus und des jungen Staates Israel geleistet. In seinem Buch thematisiert er auch das unrühmliche Verhalten der Alliierten gegenüber den jüdischen Flüchtlingen sowie den Antisemitismus in Österreich, Ungarn und von arabischer Seite.

Der Journalist Karl Pfeifer beschäftigt sich bis heute mit der Problematik des Antisemitismus und Rechtsradikalismus abseits jeglicher Parteienpolitik. 2003 erhielt Karl Pfeifer für sein Engagement und seine Zivilcourage die Ernst-Bloch Medaille der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Fünf Jahre später feierte der Film „Zwischen allen Stühlen – Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer“ Premiere. In dieser von den  WissenschaftlerInnen Mary Kreutzer, Ingo Lauggas, Thomas Schmidinger und Maria Pohn-Weidinger produzierten No-Budget Doku, konnten die ZuseherInnen erstmals einen Einblick in die spannende und berührende Lebensgeschichte Karl Pfeifers gewinnen. In diesem Frühjahr hat Karl Pfeifer seine Autobiographie bis zum Jahre 1951 in der Edition Steinbauer veröffentlicht.

Die Geschichte seiner Jugend war von Antisemitismus, nationalsozialistischer Verfolgung und der Flucht aus Europa – aber auch mit dem Idealismus der sozialistisch-zionistischen Bewegung verbunden. Bis zum Ende des Buches gelingt es Karl Pfeifer seine LeserInnen zu fesseln und die Geschichte sowie die Atmosphäre der damaligen Zeit lebendig werden zu lassen. Außerdem besticht das Buch durch dessen klare Sprache und ist somit auch für jüngere LeserInnen, die sich erstmals mit der Thematik beschäftigen, sehr gut geeignet. Historische Tatsachen – wie beispielsweise das unrühmliche Verhalten der Briten gegenüber der jüdischen Bevölkerung im damaligen Mandatsgebiet Palästina sowie das Verhalten der arabischen Politiker im Zuge des UN-Teilungsplans – werden von Pfeifer mit Quellen belegt. Diese fügt er mit enormer Sorgfalt und großem Feingefühl ein, so dass kein stilistischer Bruch mit seiner Lebensgeschichte entsteht.

BADEN BEI WIEN. Pfeifers Autobiographie hat zwölf Kapitel. Das erste handelt von seiner wohlbehüteten Kindheit in seiner bürgerlichen ungarisch stämmigen jüdischen Familie in Baden sowie den Antisemitismus vor dem sogenannten Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland. Bereits vor dem Jahr 1938 lebten die Pfeifers in Baden isoliert und hatten nur jüdische FreundInnen. Karl Pfeifer hält fest, dass auch er in Baden nur jüdische SpielkameradInnen hatte, denn die nichtjüdischen NachbarInnen hatten ihren Kindern verboten mit ihm zu spielen. Und auch in der Schule erlebte Karl Pfeifer den Antisemitismus seiner Mitschüler, die ihn als „Gottesmörder“ nach dem katholischen Unterricht beschimpften. Diese Schilderungen verdeutlichen den katholischen Antijudaismus und Antisemitismus, die in Österreich bereits vor dem Jahr 1938 existierten.

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 dachten Karl Pfeifers Eltern, dass es im „gemütlichen Österreich“ so etwas nicht geben könnte. Eine tragische Fehleinschätzung der Situation, die Pfeifers Eltern mit vielen österreichischen Juden und Jüdinnen teilten. Denn das Jahr 1938 stellte auch für die Familie Pfeifer eine Zäsur in deren Leben dar. Karl Pfeifer beschreibt die Übergriffe und Erniedrigungen gegenüber den Juden in Baden und seine furchtbare Angst vor der nationalsozialistischen Massenhysterie, die er sich als Neunjähriger nicht erklären konnte. Besonders berührend ist der abgedruckte Schriftverkehr zwischen Karl Pfeifers fünfzehn Jahre älterem Bruder Erwin, der bereits 1935 nach Israel gelangte, und seinem Vater. Einen Monat nach dem Anschluss Österreichs schreibt dieser an seinen Sohn, dass die Familie ungemein große Angst habe und dass der Allmächtige alles zum Besseren wenden würde.

Karl Pfeifer. Foto: Johannes Zinner
UNGARN. Im Juli 1938 gelang es Pfeifers Eltern ungarische Pässe zu erhalten und nach Ungarn auszuwandern. Sein Leben in Ungarn beschreibt er in den beiden Kapiteln „Erste Erfahrungen in Ungarn“ und „Schwierige Jugendjahre in Budapest“. Denn auch in Budapest wurde er mit Antisemitismus und Ablehnung konfrontiert. Als er in Budapest beim Tragen seiner Schuluniform von Ungarn antisemitisch beschimpft wurde, beschloss er fortan auch kein Ungar sein zu wollen. Karl Pfeifer erläutert in seinem Buch auch die drei von 1938 bis 1941 in Ungarn erlassenen „Judengesetze“, die Juden in Ungarn diskriminierten und letztendlich sogar den sexuellen Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden als sogenannte „Rassenschande“ ahndeten. Ebenso thematisiert er die Deportationen ungarischer Juden unter Miklós Horty, die oftmals in historischen und aktuellen Darstellungen zur Problematik der ungarischen Rechten ausgeklammert werden. In Budapest fand Karl Pfeifer über einen Klassenkollegen aber auch seine politische Heimat in der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung Schomer Hazair.

Als seine Mutter 1940 an Leberkrebs gestorben war und sein Vater sich beruflich oft außerhalb Budapest aufhielt, wurde die zionistische Jugendgruppe zu seiner Ersatzfamilie. Mit drei Mitgliedern seiner Schomergruppe und zwei jüdischen Mädchen aus der Slowakei verließ er – mit einem auf einen anderen Namen ausgestellten Reisepass – am 5. Jänner 1943 Budapest mit dem Ziel ins damalige Palästina auszuwandern. Seinen Vater hat er damals  zum letzten Mal in seinem Leben gesehen. Die abenteuerliche Reise durch Rumänien, Bulgarien und die Türkei sowie die darauffolgende Einreise über Beirut nach Haifa beschreibt er im Kapitel „Januar 1943 – Abschied von Europa“. Pfeifer erklärt, dass sie sich damals der großen Gefahr aufgrund ihrer Jugend nicht bewusst waren. In Bulgarien wurde die Gruppe von österreichischen Gestapo-Männern durchsucht, die ihnen euphemistisch erklärten, dass sie auch in Polen Landwirtschaft lernen könnten und sie die Gruppe gerne kostenlos nach Polen befördern könnten. Eine lebensbedrohliche Situation, die die Gruppe dank des Vorzeigens einer Visitenkarte des bulgarischen Ministers und der genehmigten Ausreise seitens der bulgarischen Offiziere überlebte.

PALÄSTINA. Den Schwerpunkt der Autobiographie bilden die sieben Kapitel über Karl Pfeifers Jugendjahre im damaligen britischen Mandat Palästina sowie im jungen Staat Israel. Der Leser erfährt von den damaligen Lebensbedingungen in Erez Israel und den  gesellschaftlichen Strukturen der jüdischen und arabischen BewohnerInnen des britischen Mandatsgebiets. Karl Pfeifer erläutert auch anhand einer Tabelle das starke Wachstum der arabischen Bevölkerung, die von der verbesserten medizinischen Versorgung profitierte. Eine Thematik, die in den meisten Büchern über den israelisch-palästinensischen Konflikt ausgespart wird. Ebenso thematisiert er anhand von historischen Quellen die menschenverachtende Einwanderungspolitik und das unrühmliche Verhalten der Briten gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Palästina - dem  Jischuv. Die Schilderungen des Lebens der jungen Schomer, mit denen Karl Pfeifer gemeinsam in zwei Kibbuzim lebte,  verdeutlichen den sozialistischen und basisdemokratischen Charakter des Landwirtschaftskollektivs. Doch der junge Karl Pfeifer merkte bald, dass die Lebensrealität im Kibbuz - neben dem kollektiven basisdemokratischen Leben – von harter landwirtschaftlicher Arbeit geprägt war. Die Ideologie des sozialistischen Zionismus war für ihn und seine Freunde zu diesem Zeitpunkt überaus wichtig, um das Leben ohne ihre Familien zu bewältigen. Die LeserInnen machen in Karl Pfeifers Biographie auch Bekanntschaft mit seinen Freunden.

In der Jugendgruppe Noar Gimel lernte er seinen Freund Dan kennen, der aus dem kroatischen Vernichtungslager Jasenovac geflohen war, in dem er sich an die Achse eines Zuges, der zurück nach Zagreb ging, klammerte. Bis heute betrachtet Karl Pfeifer die Mitglieder der Jugendgruppe als seine Geschwister. Die Heterogenität der damaligen zionistischen Bewegung wird auch in der Familiengeschichte Karl Pfeifers sichtbar. Denn im Gegensatz zu dem sozialistisch-zionistischen Weltbild Karl Pfeifers, schloss sich sein Bruder Erwin den revisionistischen Zionisten an. Seinen älteren Bruder konnte Karl Pfeifer nur sehr selten sehen. Als die deutsche Wehrmacht 1944 in Ungarn einmarschierte, packte ihn und die ungarischen Mitglieder der Jugendgruppe ein irrationales Schuldgefühl, da sie das Land verlassen hatten. Ein Gefühl, das viele Überlebende der Shoah bis heute haben und das sich in der Frage „Warum habe ausgerechnet ich überlebt?“ manifestiert. Besonders berührend sind jene Gefühle, die Karl Pfeifer am 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, hatte. Denn von seiner großen Familie waren nur noch wenige am Leben geblieben. Pfeifer widerspricht auch dem heute verbreiteten Gerücht, dass der damalige Jischuv gegenüber dem Leid der Shoah-Überlebenden gleichgültig gewesen wäre. Ebenso thematisiert er die Problematik der 200.000 jüdischen Displaced Persons in Europa, die von den Briten nicht ins Land gelassen wurden.

HAGANA UND PALMACH. Ab 1944 kämpfte Karl Pfeifer in der Hagana sowie später während des Israelischen Unabhängigkeitskrieges im Palmach. Karl Pfeifer widerlegt auch Geschichtsmythen wie die „Vertreibung der Palästinenser“, die von ihm anhand von Quellen als Flucht dargestellt wird und erläutert anhand von Quellen die Weigerung der arabischen Länder Israel als Staat nach dem UN-Teilungsplan anzuerkennen. Die Erzählungen über seine Erlebnisse als jüdischer Siedlungspolizist verdeutlichen die Bedrohung des jungen israelischen Staates durch die unnachgiebige Kriegspolitik der arabischen Länder. Während des Bürgerkriegs muss er den Tod vieler junger israelischer Soldaten miterleben. Er berichtet auch von den ehemaligen bosnischen SS-Leuten und anderen Freischärlern, die auf der Seite der arabischen Länder und Palästinenser gegen sie kämpften. In seinem letzten Kapitel  „Nach dem Krieg und Rückkehr nach Europa“ erzählt Karl Pfeifer von seiner Armut und seinen Problemen nach dem Unabhängigkeitskrieg in Israel, die ihn zu einer Rückkehr nach Europa bewogen hatten.

FAZIT. Karl Pfeifers Autobiographie ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die Geschichte des Antisemitismus und das jüdische Leben im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina  interessieren. Durch die authentische Schilderung und klare Sprache des Autors kann das Buch auch von engagierten LehrerInnern und JugendbetreuerInnen im Unterricht eingesetzt werden.

 

Karl Pfeifer: Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg.

Wien: Edition Steinbauer 2013.
176 Seiten, 17 Abbildungen, Euro 22,50
ISBN 978-3-902494-62-7

Dokumentarfilm: Zwischen allen Stühlen – Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer

Regie und Produktion: Mary Kreutzer, Ingo Lauggas, Maria Pohn-Weidinger und Thomas Schmidinger. Schnitt: D. Binder
A, H, IL 2008 (87 min., Deutsch mit englischen Untertiteln)
87 min, Screening Format: DVD und BETA SP

Euro 15,-- + 2 Euro Versand/innerhalb Österreichs. Bestellungen unter: http://film.antisemitismusforschung.net/dvd

Der Film kann gegen 300 € im Rahmen von Veranstaltungen öffentlich gezeigt werden.

 

progress-online Schwerpunkt: Im Gedenken an das Novemberpogrom 1938

"Was passiert, wenn wir vergessen uns zu erinnern?"

Gedenken und Gegenwart

progress-online Schwerpunkt zum Holocaustgedenktag:

Karl Pfeifer: Lebenslanges Engagement gegen Antisemitismus
 

 

 

Die letzten ZeitzeugInnen

  • 06.07.2013, 17:04

Die letzten ZeitzeugInnen der Shoah vermitteln weit mehr als nur einen Einblick in die Verbrechen des Nationalsozialismus. Denn ihre Lebensgeschichten und Gefühle stellen ein wichtiges Vermächtnis dar, dass es zu bewahren gilt. Claudia Aurednik hat zwei ZeitzeugInnen besucht und mit ihnen gesprochen.

Die letzten ZeitzeugInnen der Shoah vermitteln weit mehr als nur einen Einblick in die Verbrechen des Nationalsozialismus. Denn ihre Lebensgeschichten und Gefühle stellen ein wichtiges Vermächtnis dar, dass es zu bewahren gilt. Claudia Aurednik hat zwei ZeitzeugInnen besucht und mit ihnen gesprochen.

„Ich nehme meinen Lagergürtel aus dem Vernichtungslager Auschwitz in die Schulen mit. Wenn ich ihn dann den Kindern in der Klasse gebe, werden alle ganz still. Im Konzentrationslager habe ich ja nur noch 37 Kilo gewogen“, erzählt der Zeitzeuge Walter Fantl-Brumlik (89) und ergänzt: „Ich habe auch noch meinen Judenstern und Dinge aus Theresienstadt. Wenn die Kinder diese berühren, dann löst das bei ihnen Gefühle aus.“

Fantl-Brumlik ist einer der letzten ZeitzeugInnen, die regelmäßig in Schulen gehen und über ihr Schicksal erzählen. Der Auschwitz-Überlebende hat in seiner Jugend die Verbrechen des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren. Seine Erzählungen verdeutlichen die Kaltblütigkeit und Perfidität der NationalsozialistInnen. „Meine Vorträge halte ich immer sehr prägnant und fesselnd. Ich erzähle auch, dass wir beim Transport von Theresienstadt nach Auschwitz 5000 Männer waren, von denen nur etwa 100 überlebt haben. Den SchülerInnen muss ich dann erklären, was die Selektion beim Eintreffen in Auschwitz bedeutet hat“, erklärt Walter Fantl-Brumlik, der dort seinen Vater Arthur Fantl-Brumlik zum letzten Mal gesehen hat: „Damals hat der Lagerarzt Josef Mengele die Selektion nach unserer Ankunft vorgenommen und zu meinem Vater ,links‘ und zu mir ‚rechts‘ gesagt. Seitdem habe ich meinen Vater nie wieder gesehen. Ich wurde dann mit anderen von der Rampe nach Auschwitz-Birkenau gebracht.“ Walter Fantl-Brumlik wird den Geruch der Krematorien und die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in Auschwitz niemals vergessen: „Als wir auf dem Weg nach Auschwitz-Birkenau waren, habe ich einen Kapo gefragt, was denn hier so riechen würde. Daraufhin hat er mich angesehen und gefragt, ob ich das wirklich wissen will. Ich habe ja gesagt. Dann hat er mit der Hand nach oben gezeigt und nur ‚dein Vater‘ gesagt.“ Zu seinen Vorträgen als Zeitzeuge nimmt Walter Fantl-Brumlik auch immer eine Fotografie seiner Familie mit. Auch seine Mutter Hilda Fantl-Brumlik und seine drei Jahre ältere Schwester Gertrude Fantl-Brumlik haben die Shoah nicht überlebt.

Die Familie hatte bis zum „Anschluss“ Österreichs im niederösterreichischen Bischoffstetten ein Geschäft. Walter Fantl-Brumlik erzählt, dass er bis zu dieser Zeit eine schöne Kindheit gehabt hatte. Auch den Antisemitismus hatte er als Kind bis zum Jahr 1938 nicht gespürt: „Nach dem Anschluss hat mich mein Schäferhund Jux vor körperlichen Angriffen beschützt. 1939 wurde meine Familie von den Nazis dazu gezwungen, unser Haus und unser Geschäft zu verkaufen. Anschließend wurden wir mit einem Lastauto von Bischoffstetten nach Wien in eine jüdische Sammelwohnung im Zweiten Bezirk gebracht.“ Eine Ausreise in die USA oder eine illegale Einwanderung ins damalige Palästina war für die Familie nicht möglich. Vor dem Zwangsumzug musste der Vater den geliebten Hund erschießen, weil dieser sehr anhänglich war und sie ihn nicht mitnehmen konnten: „Meine Schwester und ich haben richtig geheult, als mein Vater uns gesagt hatte, dass er den Juxi erschießen musste. Später im Konzentrationslager habe ich mich dann daran erinnert und mir gesagt: Und jetzt hier in Auschwitz, da machen sie mit uns solche Dinge.“

Walter Fantl-Brumlik erhält viele Briefe von SchülerInnen: „Manche Kinder sind wirklich sehr interessant. In einem hat eine Schülerin Folgendes geschrieben: ‚Als ich einen Judenstern in der Hand gehalten habe, da wusste ich, dass dieser einem Todgeweihten gehört hat.‘ Solche Kinder und engagierte LehrerInnen motivieren mich sehr.“ Manche Schulklassen gestalten auch Mappen über Fantl-Brumliks Vortrag und schicken ihm Bilder, die Fantl-Brumlik alle sorgsam in seiner Wohnung zur Erinnerung aufbewahrt. Drei- bis viermal pro Jahr besucht er auf Anfrage Schulen. Die einzige Bedingung für ihn ist jene, dass die LehrerInnen die SchülerInnen inhaltlich auf seinen Besuch vorbereiten. Den letzten Vortrag hat er in einem Bundesrealgymnasium in Linz gehalten. Die SchülerInnen dort hatten großes Interesse an seinem Schicksal: „Der Lehrer hat mir vor dem Vortrag gesagt, dass ich diesen vor etwa sieben SchülerInnen halten werde. Als ich dann in die Schule gekommen bin haben 47 SchülerInnen auf mich gewartet, die alle großes Interesse an meinen Erzählungen hatten.“

Walter Fantl-Brumlik hofft, dass die Jugend die Geschichte durch seine Vorträge weitertragen wird. Die aktuelle Politik klammert er bei seinen Vorträgen aus, denn er ist politisch nicht aktiv und findet, dass die LehrerInnen dafür zuständig wären.

Trotz seines Schicksals und der Ermordung seiner Familie verspürt er keinen Hass auf die ÖsterreicherInnen: „Ich habe nie Hassgefühle gehabt. Denn der Nationalsozialismus war eine Diktatur, in der die eigenen Kinder ihre Eltern verraten haben. Aber ich habe nicht eingesehen, wieso man die illegalen Nazis nach 1945 gedeckt hat.“ Auch die Behauptungen vieler älterer ÖsterreicherInnen, von den Vergasungen in Auschwitz während der Nazi-Zeit nichts gewusst zu haben, kann er nachvollziehen: „Ich sage als Zeitzeuge immer, dass ich selbst bis zu meiner Deportation nach Auschwitz nichts von den Vergasungen gewusst habe. Und ich glaube auch der damaligen österreichischen Bevölkerung, dass diese davon nichts gewusst hatte. Ich kann aber nicht verstehen, dass es heute noch Menschen gibt, die diese Verbrechen leugnen.“ Nach Auschwitz ist Walter Fantl-Brumlik nicht mehr gefahren, weil seine mittlerweile verstorbene Frau ihm das verboten hat. Und er hält fest, dass sie damit recht gehabt hat. Nach der Befreiung Österreichs hat er wie die meisten ZeitzeugInnen jahrzehntelang über sein Schicksal geschwiegen. Heute erklärt er die Gründe dafür: „Österreich war nach 1945 zweigeteilt. Es gab jene, für die der Einmarsch der Alliierten eine Besetzung war und jene, die diesen als Befreiung wahrgenommen haben. Für uns ZeitzeugInnen waren die Alliierten natürlich die Befreier. Aber durch die zweigeteilte Wahrnehmung der Bevölkerung waren wir nach dem Krieg viel zu blockiert, um über unser Schicksal zu sprechen.“

„Leider bleiben viele HistorikerInnen bei ihren Forschungen zur Shoah in den Zahlen stecken“, kritisiert Angelica Bäumer. Foto: Sarah Langoth

„1945 sind wir, Juden und andere Verfolgte, aus den Konzentrationslagern, dem Versteck oder aus den Wäldern zurückgekommen und waren endlich frei. Wir waren euphorisch, da wir keine Todesangst mehr hatten“, erzählt die Kulturjournalistin Angelica Bäumer (81) über die Befreiung Österreichs: „Aber das hat dann auch zu einem Verdrängungsprozess geführt. Erst Jahre später wurden die Erlebnisse während des Nationalsozialismus wieder lebendig. Und manche – wie der Schriftsteller Jean Amery oder Bruno Levi – begingen Selbstmord.“ Bäumer ist in einer Künstlerfamilie, als Tochter der jüdischen Fabrikantentochter Valerie Bäumer aus Wien und des deutschen Kunstmalers Eduard Bäumer, mit zwei Geschwistern in Salzburg aufgewachsen. Momentan verfasst sie Texte für Ausstellungskataloge und organisiert Vorträge und Ausstellungen sowie Diskussionsrunden.

Der „Anschluss“ Österreichs im März 1938 hat das Leben ihrer Familie schlagartig verändert. Denn die Nazis konfiszierten das Vermögen der Familie und verhafteten ihren Onkel. Als sogenannte „Halbjüdin“ litt Angelica Bäumer unter der Diskriminierung und Verfolgung der nationalsozialistischen Gesellschaft. 1944 wurde die Familie von einem befreundeten Arzt vor einer Großrazzia und der Deportation der letzten Jüdinnen und Juden gewarnt. Die Bäumers flohen mit einem Flüchtlingszug nach Großarl und wurden vom Pfarrer Balthasar Linsinger bis zur Befreiung Österreichs in seinem Pfarrhaus untergebracht, allerdings hatte Linsinger die Familie als Kriegsflüchtlinge aus Wien ausgegeben. Auf Antrag von Angelica Bäumer wurde Linsinger 2010 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in die „Liste der Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen.

Angelica Bäumer hat als Zeitzeugin während der 2000er-Jahre Schulen besucht und engagiert sich für eine kritische Aufarbeitung der im Zuge der Shoah begangenen Verbrechen. Vor allem die Frage, was nach dem Tod der letzten ZeitzeugInnen passieren wird, beschäftigt sie sehr. Im November 2012 hat sie anlässlich ihres 80. Geburtstages das Symposium „Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom Mythos der Zeitzeugen“ veranstaltet. „Ich war von dem Symposium sehr enttäuscht, denn dort haben sich meine Befürchtungen
bestätigt, dass die HistorikerInnen und PolitologInnen über unser Ableben gar nicht traurig sind“, sagt sie und ergänzt: „Das liegt daran, dass diese dann in Archive gehen können und sich nicht mehr auf die Menschen beziehen müssen.“ Die meisten Archive sind aber nicht auf dem neuesten Stand und wurden während der Nazi-Zeit angelegt. Angelica Bäumer erzählt, dass sie selbst einige Archive besucht hat. Dabei hat sie festgestellt, dass viele wichtige Dokumente oft nur rudimentär vorhanden sind: „In Salzburg gibt es ein Stadt- und ein Landesarchiv. In dem einen wurde euphemistisch festgehalten, dass wir nach Großarl ‚umgezogen‘ wären. In dem anderen Archiv haben sich Dokumente gefunden, die belegen, dass wir zur selben Zeit den Judenstern tragen mussten. Diese Widersprüche beunruhigen mich sehr.“

Bäumer warnt auch vor dem Statistikfetischismus der WissenschaftlerInnen: „Es gibt einige HistorikerInnen wie Albert Lichtblau, die bemüht sind von rein statistischen Untersuchungen wegzukommen. Leider blieben viele HistorikerInnen bei ihren Forschungen und Diskussionen zur Shoah in den Zahlen stecken. Das betrachte ich als großen Fehler, denn dadurch werden die Verbrechen abstrakt dargestellt, und mir ist es wichtig, konkret über die Inhalte zu sprechen.“ Außerdem warnt sie davor, die Geschichte der Shoah mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enden zu lassen. Sie erzählt davon, dass sie als 14-Jährige eine glühende Zionistin war und bei der Alija in Salzburg mit Kindern und Jugendlichen, die aus den Lagern kamen, gearbeitet hat: „Die jüdischen Kinder aus den Konzentrationslagern waren damals in einer Salzburger Garage untergebracht. Viele von ihnen konnten weder lesen noch schreiben und hatten aufgrund der mangelnden Ernährung keine Zähne.“ Und das erinnert sie an eine Geschichte, die sie bis heute nicht loslässt:

„Am meisten hat mich damals ein Bub berührt, der so alt war wie ich und kaum sprechen konnte. Er war damals völlig davon fasziniert, dass man eine Toilettentüre aufmachen und wieder schließen kann. Immer wieder ist er in das Klo hineingegangen und wieder herausgekommen, nur um zu sehen, dass man an diesem Ort auch alleine sein kann“. Bäumer hält fest, dass genau diese kleinen Dinge so wichtig sind und in der Forschung oft vergessen werden. Bereits in den 1980er-Jahren hat sich Angelica Bäumer dafür ausgesprochen, dass sich die ZeitzeugInnen nicht nur mit ihrem Schicksal während des Nationalsozialismus auseinandersetzen sollten: „Ich habe damals mit Hermann Langbein, dem Chronisten von Auschwitz, heftig über diese Frage debattiert. Denn ich war der Meinung, dass wir etwas tun müssen, damit so etwas nie wieder passiert. Bis heute beunruhigen mich
die rechtsradikale Jugend und die rechten Parteien. Zumal viel zu wenig über diese reflektiert wird.“ Den verpflichtenden Besuch der Gedenkstätten Auschwitz und Mauthausen hält Angelica Bäumer nicht für zielführend, weil Verpflichtungen oftmals abgelehnt werden. „Viel wichtiger ist es, dass man den LehrerInnen klar macht, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus zu unserer jüngeren Vergangenheit gehören und dass sie während ihres Unterrichts die Neugierde der Kinder wecken.“ Und Bäumer ergänzt: „Denn die Kinder haben noch Großeltern und Urgroßeltern, die die damalige Zeit erlebt haben. Diese zum Reden zu bringen, betrachte ich als überaus wichtig.“

 

Der progress Artikel (Juni 2013) von Claudia Aurednik wurde im Jänner 2014 auch in dem türkischen jüdischen Magazin Salom Dergi veröffentlicht.

progress Artikel in der Salom Dergi.

 

Links:

Angelica Bäumer

Walter Fantl-Brumlik

Symposium „Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen“

 

Die Autorin ist Zeithistorikerin und freiberufliche Journalistin. Derzeit studiert sie Publizistik- und Kommunikationswissenschaften
an der Universität Wien.