Zeitgeschichte

Plzeň: Von Amerika befreit

  • 01.07.2014, 11:13

Die Hauptstraße trägt den Namen Americká, ein General-Patton-Museum gibt’s auch und ein Ami-Panzer steht im Zoo. Plzeň, die viertgrößte Stadt der Tschechischen Republik. Maximilian Tonsern vermittelt unseren Lesern für progress online einen Einblick in die Kulturhauptstadt 2015 - der Heimat des guten Bieres und der Škoda-Werke.

Die Hauptstraße trägt den Namen Americká, ein General-Patton-Museum gibt’s auch und ein Ami-Panzer steht im Zoo: In Plzeň, die viertgrößte Stadt der Tschechischen Republik. Maximilian Tonsern vermittelt unseren Lesern für progress online einen Einblick in die Kulturhauptstadt 2015 -  der Heimat des guten Bieres und der Škoda-Werke.

Von Anarchisten besetzt, aufgegeben und nun unbewohnt verfällt dieses ehemalige Gebäude zusehends. Stacheldraht auf Zäunen ist in Plzeň übrigens allgegenwärtig. Foto: Maximilian H. Tonsern

Von Wien über Brno nach Prag - und von dort aus in zirka eineinhalb Stunden mit dem in Tschechien allgegenwärtigen Buslinienunternehmen „student agency“, welches schlichte, noch vom Realsozialismus stammende staatliche Busse nicht nur aufgrund des angebotenen Automatenkaffees und dem reichlichen Angebot von tschechischen Tageszeitungen links liegen lässt, nach Plzeň. Die Stadt hat um die 168.000 Einwohner, besitzt zahlreiche gemütliche Beisln mit gutem Bier und gilt zurecht als StudentInnenhochburg.

Krach machen nicht nur die StudentInnen. Foto: Maximilian H. Tonsern

Plzeň besitzt eine große anarchistische Szene. Am rechten Ufer der Radbuza dahinspazierend sieht man künstlerische Produkte dieser politischen Strömung, zahlreiche kapitalismuskritische und linke Graffitis und Sprüche zieren Brückenboden, Hauswände und Sitzbänke. Die ansässigen Anarchisten und Anarchistinnen gehören zur Tschechischen Anarchistischen Föderation (Československá anarchistická federace). Besonders in Plzeň schreiben sich die Anarchos den Widerstand gegen Neonazis auf die schwarzroten Fahnen. Die Nazis kommen nämlich aus Deutschland, um sich in Plzeň mit tschechischen Ewiggestrigen zu vereinen, und halten dann Märsche und Kundgebungen ab, die die AntifaschistInnen mit Gegendemonstrationen – und manchmal auch mittels Gewalt – verhindern wollen. Die Anarchos organisieren auch (Straßen-)Feste mit Kunst, Theater und Kultur.

Lustigerweise trieb gerade eine tote schwarze Katze in der Radbuza. Die anarchistische Szene ist jedoch keineswegs tot – hier faucht die schwarze Katze lebendiger als je. Foto: Maximilian H. Tonsern

Oder sie wehren sich, gemeinsam mit den BürgerInnen Plzeňs, erfolgreich gegen die Errichtung eines weiteren riesengroßen Shoppingcenters. Zwar riss die Stadt den Kulturpalast, der dem Shoppingzentrum weichen sollte, bereits nieder, dennoch darf sie aufgrund der ablehnenden Haltung der Bevölkerung momentan kein neues Einkaufszentrum bauen. Somit gibt es nun inmitten von Plzeň eine große, staubige Fläche, eingezäunt und mit ein paar parkenden Autos geschmückt. Geht man in Richtung Hauptplatz, so wird emsig das Stadtbild verschönert. Pflastersteine werden neu verlegt, Parkplätze angelegt. Alles für die große Ernennung zur Kulturhauptstadt 2015, welche selbsterklärend das bestimmende Thema in der Stadt ist. Gerade errichtet man ein neues Theater, auch ein eigenes Kulturzentrum soll es geben. Ferner versucht die Stadt, die Urbanität gezielt zu stärken - dies mit Nachbarschaftscafés, wo sich NachbarInnen kennenlernen können, und mittels Schaffung von Raum für StudentInnen und SchülerInnen. Man bemüht sich.

Wendet man sich mit dem Rücken zum Panzer und besteigt den Hügel, durchquert zahlreiche Plattenbausiedlungen und nimmt dann noch den Anstieg einer Anhöhe, genießt man den wahrlich besten Ausblick auf Plzeň. Foto: Maximilian H. Tonsern

Plzeň besitzt auch einen Zoo. Obwohl die Affen sämtliche Wände und Sichtfenster mit Exkrementen vollschmieren, das mechanische Dinosaurier-Brüllen vom Band des benachbarten Jurassic-Parks zeitweilen befremdlich wirkt und man über die Sinnhaftigkeit einer solchen Einrichtung sowieso lange diskutieren könnte, nutzen vor allem Familien dieses Angebot intensiv. Im Zoo kommt man, folgt man dem sich dahinschlängelnden Weg zwischen Vogel- und sonstigen Tierkäfigen am doch sehr steilen Hügel, zum wohl befremdlichsten Teil der Menagerie: ein alter Sherman-Panzer, nicht eingezäunt, ohne brüllende Motoren. Ein Mahnmal an eine blutige Schlacht des Zweiten Weltkrieges, die am Gelände des heutigen Zoos stattfand. Hier lieferten sich Einheiten der Deutschen Wehrmacht mit amerikanischen Streitkräften verlustreiche Kämpfe. Der Panzer erinnert an die US-Einheiten und deren Heldentaten. Plzeň wurde nämlich, und das betont so ziemlich jeder, von den Amerikanern befreit.

Auch am Patton-Museum prangt eines der Mottos der Kulturhauptstadt 2015: „(...) open up!“ kommt eigentlich aus dem „Biermilieu“. Foto: Maximilian H. Tonsern

An die Ereignisse erinnert nicht nur die Hauptstraße mit dem Namen Americká, nicht nur das große General-Patton-Museum, in dem man unter anderem auch historische Aufnahmen sieht, wo Tschechen und Tschechinnen, die mit den verhassten Nazis kooperierten, verprügelt werden. Auch eine monumentale aus gebogenem Stahl bestehende Skulptur im Andenken an den US-General George S. Patton – über deren Errichtung wohl 10 Jahre diskutiert wurde – macht die Geschichte lebendig. Die Erinnerung an die Befreiung durch die US-Streitkräfte ist hier wohl auch deswegen so stark verankert, weil dies auch als Widerstand gegen die darauffolgende Herrschaft der ČSSR-KommunistInnen angesehen wird.

Am Fuße der St.-Bartholomäus-Kathedrale befindet sich auch dieses Gitter. Das Berühren des Engelkopfes in der Mitte bringt, so sagt man, Glück. Foto: Maximilian H. Tonsern

Ältere Menschen in Plzeň erinnern sich an die schlimme Lage zur Zeit des Nationalsozialismus. Und an die Bombenangriffe. In Plzeň befand sich nämlich bis zum Mai 1945 die letzte noch in Betrieb befindliche Rüstungsfabrik des sogenannten Dritten Reiches, der von den Amerikanern und Briten bombardiert wurde. Trotz eines schnell errichteten Nachbaus der Škoda-Werke in einem Vorort von Plzeň wurden Gebäude am Marktplatz von Bomben getroffen. Das erkennt man gut, wenn man am Turm der gotischen St.-Bartholomäus-Kathedrale am Hauptplatz steht und die Aussicht – durch ein Eisengitter, dass Menschen vor dem Freitod bewahren soll hervorlugend – genießt. Wurden damals in den Škoda-Werken Panzer und Waffen hergestellt und zwischenzeitlich an einem zivilen Nuklearprogramm getüftelt, konzentriert man sich heute auf Schienenfahrzeuge und Oberleitungsbusse. Die glänzenden Zeiten scheinen jedoch auch in Plzeň vorüber zu sein, wenn auch Škoda nach wie vor der größte Arbeitgeber in der Stadt ist. Bei Schichtende oder -wechsel wuselt die Stadt schon lange nicht mehr vor ArbeiterInnen. Das Grab des gebürtigen Pilsners und Industriellen Emil Ritter von Škoda findet man übrigens in einem stillen, von kiffenden Obdachlosen bevölkerten Friedhof in Plzeň.

Blick auf die Synagoge, dahinter rauchende Fabrikschlote. Foto: Maximilian H. Tonsern

Von der Aussichtplattform der Kathedrale aus sieht man auch die Große Synagoge, welche das zweitgrößte jüdische Gotteshaus in Europa ist. Architektonisch hat Plzeň viele interessante Gebäude aufzuweisen, so sind nicht nur Oper und Gartenanlagen an der Pražka sehenswert: Plzeň beherbergt auch einige Interieurs des berühmten österreichischen Architekten und Wegbereiter der modernen Architektur, Adolf Loos (1870-1933).

Die Große Synagoge in Plzeň. Sie überstand die Nazizeit nahezu unbeschädigt, genützt als Abstellraum. Foto: Maximilian H. Tonsern

Loos designte für zwei jüdische Familien in Plzeň Innenräume. Als scharfer Kritiker der angewandten Kunst plädierte Loos für die Verwendung edler Materialien - die Räumlichkeiten in der Strana Klatovská 12 sind wohl das beste Beispiel für Loos' Vorstellungen. Man sieht schwere rote Teppiche, spiegelndes glatt poliertes Holz, genießt viel Licht durch große Fenster. Loos war es ein Anliegen, Gegenstände und Möbel, die dem Auftraggeber etwas bedeuten, in die Gestaltung miteinfließen zu lassen. Zum Glück für Plzeň wurde sowohl während der nationalsozialistischen als auch der „kommunistischen“ Herrschaft nichts von den Räumen und Objekten zerstört. Lange Zeit als Büro genutzt, wird bis zum Beginn des Kulturjahres 2015 das Interieur des prächtigen Raumes in der Strana Klatovská 12 nochmals grundlegend renoviert. Auch regelmäßige Führungen werden dann am Programm stehen. Selbst für Vorlesungen und Konzerte sollen die Loos-Räume dann als Bühnen dienen.

Blick in ein Loos-Zimmer. Foto: Maximilian H. Tonsern

Plzeň ist natürlich auch für seine Bierbrau-Tradition berühmt und bekannt. Nicht nur das „Pilsner Urquell“ stammt aus der Stadt, auch Biere wie „Gambrinus“, entstammen den Fässern der ansässigen Brauereien. In diversen Biermuseen, zum Beispiel im Darky Pivoarske Muzeum, kann man sich näher mit der Geschichte des Bieres beschäftigten. Als StudentInnenhochburg bietet Plzeň vom gepflegten Bierlokal bis hin zur versifften – aber  nichtsdestotrotz charmanten Punker-Absteige – auch dem fortgehfreudigen Herz zahlreiche Stätten. Zudem empfangen die Menschen dieser Stadt jedeN offen und freundlich – auch das macht eine Reise nach Plzeň immer wieder lohnenswert. Na zraví!

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird in Plzeň eifrig selbst Bier gebraut. Foto: Maximilian H. Tonsern

Reiseinfos:

Wien – Brno – Prag – Plzeň, bequem mit dem Bus (und in Prag kurzzeitig mit Metro), ca. 30 Euro (http://www.studentagency.eu/index.de.html

Wien - Linz/Donau - Ceske Budejovice – Plzeň, mit Zug, ca. 70 Euro

 

Maximilian H. Tonsern studiert in Graz Journalismus und PR an der FH JOANNEUM. Da sein Bruder an der Universität in Plzeň lehrt, kam er schon mehrmals in die westböhmische Stadt und lernte sie jedes Mal ein bisschen mehr kennen und schätzen. Mehr von Max gibt es auch auf www.feuilletonsern.at zu lesen.

Durch die Heirat ins Exil

  • 14.07.2014, 14:32

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Rosl Ebners Hochzeit war wohl keine besonders romantische Angelegenheit. „Wir haben im Rathaus in einem kleinen Zimmer unterm Hitlerbild den Segen des Standesbeamten bekommen.“, beschreibt sie später trocken die Zeremonie. Mit ihrem frisch angetrauten Mann, einem Franzosen mit polnischen Wurzeln, konnte sich die gebürtige Österreicherin kaum verständigen; für die Eheschließung war er bezahlt worden. Damit die Hochzeit wenigstens ein bisschen feierlich wirkte, besorgte Rosls Schwester noch schnell einen Blumenstrauß.

Die Hochzeit zwischen Schriftstellerin und Kabarettistin Erika Mann und dem britischen Lyriker Wystan Hugh Auden war wohl ähnlich unromantisch. Er war homosexuell und die beiden kannten sich bis dahin nicht.

Das Ja-Wort gaben sich die beiden Paare aus einem einzigen Grund: Durch die Heirat wurden die beiden Jüdinnen Rosl Ebner und Erika Mann französische bzw. britische Staatsbürgerinnen – die Garantie, nach der Flucht nicht zurück nach Deutschland abgeschoben zu werden. „Komisch, dass wir gerade in den Tagen heirateten, in denen meine Ausbürgerung von den Nazis beschlossen worden sein muss.“ schreibt Erika Mann in einem Brief.

Solche Scheinehen zwischen deutschen oder österreichischen Jüdinnen und Franzosen oder Briten sind in den späten Dreißiger Jahren keine Einzelfälle. Über 60 Ehen wie die von Rosl Ebner und Erika Mann hat Politikwissenschaftlerin Irene Messinger aufgespürt und untersucht. Da Frauen damals mit einer Heirat noch automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Mannes annahmen, war die Heirat im Ausland für viele Jüdinnen die Gelegenheit zur Flucht. Manchen vermittelten Freunde oder politische Organisationen potentielle Ehemänner, andere heirateten einfach ihre Cousins im Nachbarland.

progress: Ich würde gerne zuerst allgemein über die Situation von „gemischten“ Paaren in Nazi-Deutschland sprechen. Wie war die rechtliche Situation solcher Paare? Und wie wurden Mischehen überhaupt definiert?

Messinger: Als Mischehen wurden nur Ehen zwischen – immer in Anführungszeichen, weil ich keine Definitionen des NS-Regimes übernehmen möchte – „Deutschblütigen“ und „Nicht-Deutschblütigen bezeichnet, also mehrheitlich Juden und Jüdinnen, aber auch Menschen, die  heute mit dem N-Wort oder dem Z-Wort bezeichnet würden. Ehen mit Ausländern wurden nicht als Mischehen bezeichnet. Ich habe das nur in meinem Vortrag unter „Ehen mit Fremden“ zusammengefasst, weil ich es spannend fand, die beiden Konzepte in Relation zu setzen. Mischehen waren starken Repressionen ausgesetzt, während es vergleichsweise einfach war einen Ausländer oder eine Ausländerin zu heiraten.

Gab es bei den Repressionen auch innerhalb der Kategorie der Mischehen rechtliche Unterschiede?

Ja, das war sehr komplex. Es gab Unterschiede ob der Mann oder die Frau jüdisch war, ob sie Kinder hatten, ob sie Mitglieder der Kultusgemeinde waren. Die besten Chancen hatten Ehen, bei denen der Mann – also der Familienerhalter und so weiter – „deutschblütig“ war.

Hier spielten also auch Geschlechterstereotype eine Rolle.

Ja, vor allem auch, wenn es darum ging, dass nicht nur die Ehefrau, sondern die Mutter der Kinder „deutschblütig“ war. Das war sozusagen die zweitbeste Gruppe. Paare mit Kindern waren immer besser geschützt als kinderlose Paare. In der Nazi-terminologie wurde dann unterschieden in „privilegierte“ und nicht-privilegierte Mischehen, mit unterschiedlichen Konsequenzen für den Alltag und die Überlebenschancen.

Welche Repressalien gab es nun für Mischehen?

Es wurde auf politischer wie sozialer Ebene Druck ausgeübt: Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, regelmäßige Denunziationen der Nachbarn. Aber man muss sich die regionalen Unterschiede anschauen. In Deutschland wurden Vorschriften oft ganz anders ausgelegt als in Österreich. In Wien haben zum Beispiel die meisten Mischehen überlebt. Sie waren natürlich schon Repressalien ausgesetzt und wurden in so genannte Judenhäuser umgesiedelt, aber in Deutschland kam es dazu, dass die jüdischen Partner aus Mischehen ins KZ kamen.

Gab es deswegen auch Trennungen?

Ja, im Ehegesetz 1938 gab es die Möglichkeit, sich aus rassischen Gründen scheiden zu lassen. Aber es wurde nicht nur die Scheidung erleichtert, sondern es wurde auch massiver Druck von der Gestapo ausgeübt. Und durch Arbeitsverbote und so weiter wurden die Paare ohnehin in eine sehr prekäre Situation gedrängt. Bei den Scheidungen gab es aber auch geschlechterspezifische Unterschiede. Frauen sind eher zu ihren jüdischen Männern gestanden, während sich Männer eher von ihren jüdischen Partnerinnen getrennt haben. Vielleicht auch aus Karrierebewusstsein. Ein schönes Beispiel ist da der Schauspieler Hans Albers: Dem wurde gesagt, entweder er kann nicht weiter als Schauspieler arbeiten oder er lässt sich von seiner jüdischen Frau Hansi Burg scheiden. Es gab aber ein großes Interesse im NS-Regime, dass er weiter Schauspieler bleibt. Sie haben also einen Deal eingefädelt: Er hat sich offiziell getrennt, seine Frau hat zum Schein einen Norweger geheiratet, aber sie blieben weiter ein Paar. Es gab also unterschiedliche Formen, Druck auszuüben, aber auch unterschiedliche Formen, damit umzugehen.

Es gab aber nicht nur Schein-Scheidungen sondern auch Schein-Ehen. Was hast du hier untersucht?

Ich habe mit die Eheschließungen im Jahr 1938 angeschaut, die von der jüdischen Gemeinde in Wien registriert wurden. Ich habe mir gedacht, mal schauen, wer hier in Wien geheiratet hat, aber auch, welche Ehen im Ausland geschlossen wurden. Das war ja einfacher. Und bis wann konnten Jüdinnen überhaupt noch ausreisen, um im Ausland zu heiraten? Das machten vor allem Frauen, die im Grenzgebiet lebten. So haben zum Beispiel Grazerinnen Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien geheiratet oder Wienerinnen Prager Juden.

Wie lange war so etwas möglich?

Von den Fällen, die ich kenne, fanden die meisten Eheschließungen in den Jahren 38 und 39 statt, vereinzelt auch noch 1940, allerdings nicht in Österreich. Dann war das nicht mehr möglich.

Wie wurden nun solche Scheinehen angebahnt? Man braucht dazu ja Kontakte im Ausland.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Kontakte waren unumgänglich. Es gab Kontakte in politischen Netzwerken. Zum Beispiel habe ich viele Frauen im Internationalen Sozialistischen Kampfbund gefunden, der viele Mitglieder mit Briten verheiratet hat. Oder auch Vereinigungen in den Exilländern, wo es mehr darum ging, dass die Frauen nun nicht mehr abgeschoben werden konnten. Großbritannien und die Schweiz haben etwa oft nur kurzfristig Schutz geboten. Aber es sind auch familiäre Netzwerke wirksam geworden, wo dann Frauen ihren Cousin geheiratet haben oder die Mutter als Kupplerin tätig war.

Aber man brauchte ja nicht nur Kontakte, sondern wahrscheinlich auch Geld. Ich kann mir vorstellen, dass vor allem Frauen aus gut situierten Familien ins Ausland geheiratet haben. Was hast du dazu herausgefunden?

Bei den Fällen, die ich untersucht habe, kamen die Frauen tatsächlich aus der politischen Elite oder aus der künstlerischen Ecke. Die Frage ist nur: Finde ich diese Fälle einfach leichter, weil über diese Frauen Biographien geschrieben werden und sie Autobiographien hinterlassen haben? Ich habe auch vereinzelt Fälle aus der Arbeiterklasse gefunden – zum Beispiel  ein Hausmädchen, das nach Großbritannien gegangen ist und dort geheiratet hat. Aber die waren natürlich unter Druck und haben sich wahrscheinlich bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Ich glaube, die Eliten haben sich ganz einfach leichter getan, nachher darüber zu reden und zu dieser Fluchtstrategie zu stehen.

Was geschah nach der Eheschließung? Wurden die Ehen gleich wieder geschieden nachdem die Frau die Staatsbürgerschaft bekommen hatte?

Manche Ehen, die ich untersucht habe, wurden noch im selben Jahr oder im Jahr danach wieder geschieden. Es gibt auch Fälle – allerdings kenne ich die nur aus Erzählungen – von palästinensischen Männern, die nach Polen gefahren sind, dort eine Polin geheiratet haben, sie nach Palästina oder Israel gebracht haben, um sie in Sicherheit zu bringen, sich scheiden ließen und gleich wieder nach Europa fuhren, um die nächste Polin zu heiraten.

 

 

Zur Person: Irene Messinger ist ausgebildete Sozialarbeiterin und studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie schrieb ihre Dissertation zum Thema „Verdacht auf Scheinehe. Intersektionelle Analyse staatlicher Konstruktionen von 'Schein- und Aufenthaltsehe' und ihrer Auswirkungen im Fremdenpolizeigesetz 2007“. Sie arbeitete in der Rechtsberatung für Asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren und ist Lehrbeauftragte für „Gender & Diversity“ an der FH Wien für Soziale Arbeit.

Links zum Thema

Website von Irene Messinger homepage.univie.ac.at/irene.messinger

Verein Fibel www.verein-fibel.at

 

Magdalena Liedl studiert Anglistik und Zeitgeschichte an der Uni Wien.