Wirtschaft

Alles für Alle?

  • 05.11.2015, 14:10

In den letzten Jahren ist als Gegenentwurf zum neoliberalen Wirtschaftssystem eine dynamische und globale Commons-Bewegung entstanden. Im Mai fand das bereits dritte Commons Fest statt – nicht zufällig im von der Wirtschaftskrise schwer getroffenen Athen.

 

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstanden globalisierungskritische Bewegungen, die hauptsächlich bessere Regulierung und Umverteilung durch den Staat forderten. Über eine Dekade und eine Weltwirtschaftskrise später stellen sich viele Aktivist_innen die Frage, ob nationale Regierungen tatsächlich die richtigen Ansprechpartner_innen sind. Zunehmend versucht man, bestimmte Ressourcen der Kontrolle durch Staat und Markt zu entziehen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
 

COMMONS – WAS IST DAS ÜBERHAUPT? Fast jeder nutzt Commons bzw. Gemeingüter, häufig ohne sich dieser Tatsache überhaupt bewusst zu sein. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Wikipedia – ein gemeinsam geschaffenes und kostenfrei nutzbares Onlinelexikon. Digitale Commons wie Wikipedia haben gegenüber anderen Ressourcen einen entscheidenden Vorteil: sie werden durch die Nutzung nicht weniger. Wissen ist die vielleicht einzige Ressource, die sich durch ihre Verwendung sogar vermehrt. Eine Quelle ohne Beschränkungen – was für die einen wie ein Idealzustand wirkt, sorgt in anderen Kreisen für Irritationen. Mit frei zugänglichen und kostenlosen Ressourcen lässt sich auf einem kapitalistischen Markt nämlich kein Gewinn machen, erst durch eine künstliche Verknappung lässt sich Profit erwirtschaften. In der digitalen Welt bedeutet das künstliche Beschränkungen wie Kopierschutz oder Patente.
Foto: Dieter Diskovic

Gemeingüter sind natürlich wesentlich älter als Wikipedia, Linux oder Open Office. Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war Privateigentum ein unbekanntes Konzept, die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen war eher die Norm als die Ausnahme. Die Entstehung des Kapitalismus in England ist eng mit der Enteignung von gemeinschaftlich genutztem Land verbunden. Dabei wurden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: einerseits wurde den Bauern und Bäuerinnen die Existenzgrundlage entzogen, worauf sich viele als Lohnarbeiter_innen in den gerade entstandenen Fabriken verdingten. Andererseits waren die Commons ein Quell von Widerstand und Rebellion und darum den Mächtigen stets ein Dorn im Auge. Der Kampf um das Zur-Ware-machen von nicht dem Markt unterworfenen Bereichen hält bis heute an. Gegenwärtig gibt es kaum etwas, das man nicht mit Geld erwerben könnte: Wasser, Arbeit, Geld, Boden und Bildung, ja sogar Luft (mittels Emissionsrechtehandel) oder Leben (mittels Genpatentierungen) unterliegen dem kapitalistischen Profitstreben. Doch auch die Commoners entwickelten unterschiedliche Praktiken: von Volxküchen, Kostnixläden und Hausbesetzungen über solidarische Landwirtschaft und digitale Commons bis hin zu bewaffneten Kämpfen wie den der Zapatistas in Mexiko.
 

VERNETZUNG DES WIDERSTANDES. Das Ziel des Commons Festes, das vom 15. bis zum 17. Mai in Athen stattfand, war die Verbindung und Vernetzung dieser verschiedenen Ansätze. Auf dem (recht männlich dominierten) Programm standen Vorträge und Diskussionen über die selbstverwaltete Fabrik VIOME, die Alternativwährung Koino, Do-It-Yourself-Energieversorgung und solidarische Landwirtschaft ebenso wie Workshops über freie Soft- und Hardware. Diese Themenvielfalt spiegelt wieder, dass es sich nicht um eine homogene Bewegung handelt, sondern um ein Mosaik an Ideen, Weltanschauungen und Zielen.

Ein allgegenwärtiges Thema war der Umgang mit Staat und Markt. Commons können sich kaum komplett aus dem kapitalistischen System lösen. Ein Beispiel: digitale Commons sind vom Zugang zu Computern und Internet abhängig. Während eine Seite den Kontakt zu Staat und Markt auf ein absolutes Minimum reduzieren will, hält die andere eine gewisse Zusammenarbeit für überlebenswichtig. Peni Travlou, die einen Vortrag über feministische Ansätze des Commoning hielt, sieht eine Kooperation kritisch: „Der neoliberale Kapitalismus hat eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit, er kann sich verändern und neue Ideen absorbieren. Das hat man bei der Sharing Economy bemerkt. Was als antikapitalistische Praxis begonnen hat, ist nun zu Airbnb und Uber geworden und damit selbst Teil des Kapitalismus.“ Außerdem besteht gerade in Krisenzeiten die Gefahr, dass staatliche Aufgaben wie die Gesundheitsversorgung auf selbstorganisierte Initiativen abgewälzt werden. An das Potential von Commoning glaubt sie dennoch: „Wir müssen uns Schritt für Schritt weiterentwickeln. Revolutionen sind in der Regel gescheitert. Commoning ist ein langsamerer Prozess, aber er hat das Potential, den Kapitalismus von innen aufzubrechen.“

Foto: Dieter Diskovic

Stavros Stavrides, Architekt und sowohl Praktiker als auch Theoretiker der Commons-Bewegung, hält das Warten auf die Revolution für ein quasi-religiöses Konzept. Das Neue soll vielmehr schon jetzt, in der Hülle des alten Systems, entstehen und dieses schließlich ablösen. „Aber Commons sind nicht per se antikapitalistisch. Eine Gated Community, wo sich die Reichen von der Außenwelt abgrenzen, könnte man auch als Common bezeichnen. Deshalb müssen Commons immer offen bleiben. Wenn sie sich vor der Außenwelt abschließen, dann sterben sie – egal wie egalitär sie nach innen sind.“ Das ist in der Praxis nicht immer leicht. Stavrides selbst war bei der Besetzung und Schaffung des Navarino Parks in Athen beteiligt. Bewohner_innen des Stadtviertels Exarchia waren 2009 dem Bau einer Tiefgarage zuvorgekommen und hatten an der geplanten Baustelle selbstorganisiert einen neuen Park geschaffen. „In den Versammlungen gab es viele Konflikte. Die einen wollten den Park zu einer alternativen Festung machen, die anderen wollten einen öffentlichen Raum schaffen, der für Alle zugänglich ist. Glücklicherweise hat sich die zweite Seite durchgesetzt. So ein selbstorganisierter Freiraum hat natürlich wieder andere Probleme. Man muss sich an ungeschriebene Regeln halten, man kann z.B. nicht einfach seine leeren Bierdosen auf den Kinderspielplatz werfen. Das klingt wie ein banales Problem, aber es steht stellvertretend für viele größere Probleme, die es beim Commoning gibt.“

In der Idealform würden Commons Privateigentum, Knappheit, Lohnarbeit, Wettbewerb und Markt ersetzen. In der Realität steht die moderne Praxis des Commoning noch am Anfang ihrer Entwicklung und hat mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Auf der einen Seite versorgt sie das Kapital mit kostenlosen Ressourcen, auf der anderen Seite schaffen sie Freiräume, in denen Widerstand, Alternativen und neue Ideen entwickelt werden können.


Eine gelungene Einführung zum Thema:
Andreas Exner, Brigitte Kratzwald: „Solidarische Ökonomie & Commons“
Mandelbaum-Verlag, 120 Seiten
10 Euro

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Gibt’s das überhaupt noch? Solidarisches Teilen und Tauschen

  • 29.04.2015, 15:50

Obwohl der Leitspruch „Teilen statt besitzen!“ durch milliardenschwere Start-Ups wie Airbnb oder Uber wirtschaftlich ver- und damit entwertet wird, gibt es sie noch immer: pluralistische, solidar-ökonomische Organisationen, welche die sozialen und ökologischen Implikationen dieses Mottos hochhalten.

Obwohl der Leitspruch „Teilen statt besitzen!“ durch milliardenschwere Start-Ups wie Airbnb oder Uber wirtschaftlich ver- und damit entwertet wird, gibt es sie noch immer: pluralistische, solidar-ökonomische Organisationen, welche die sozialen und ökologischen Implikationen dieses Mottos hochhalten.

„Ressourcen nutzen und nicht brach liegen lassen.“ Dieser Satz bezieht sich beim „Talente Tauschkreis Wien“ nicht nur auf Güter und Gebrauchsgegenstände, sondern auch – und daher leitet sich der Name ab –- auf das Know-How und die besonderen Fähigkeiten seiner Mitglieder.

Elfriede Jahn, seit 2004 Mitglied und seit 2009 Obfrau des Vereins, macht keinen Hehl daraus, dass es sich bei seinen mittlerweile über 200 Mitgliedern überwiegend um PensionistInnen sowie andere Menschen handelt, die dem Arbeitsmarkt aus verschiedenen Gründen nicht mehr zu Verfügung stehen und allgemein von sozialer Marginalisierung bedroht sind. Angesichts der Tatsache, dass die „optimale Ressourcenallokation“ – eine der Kernerzählungen der freien Marktökonomie – real nur eingeschränkte Gültigkeit hat, bieten Tauschkreise besonders diesen Gesellschaftsschichten einen Kontext, in denen ihr Wissen und ihre Talente Anerkennung und Gebrauch finden.

40 bis 50 derartige Organisationen und Vereine gibt es derzeit in Österreich. Vorarlberg ist mit einem mehr als 1.000 Mitglieder zählenden Tauschkreis ein Vorreiter. Vom Tauschkreis-Verbund, der Dachorganisation für Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ist zu lesen, dass sich die Mitgliederzahl von 2008 bis 2013 auf 1.150 Personen verdoppelt hat. „Die Zahl für den Verbund betrug im Jänner 2015 schon 1.700 Personen“, meint Elfriede Jahn. An Tauschkreisen beteiligen sich heterogene Personengruppen: StädterInnen und LandbewohnerInnen, Privatpersonen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, UnternehmerInnen und LandwirtInnen. Was die meisten eint, ist eine Skepsis gegenüber dem bestehenden Geldsystem und seinen Charakteristika.  

Das Interesse an alternativen Währungen steigt. Es gibt ein Bedürfnis, Geld wieder einfacher, risikofreier und lebensnaher zu gestalten und ihm wieder eine größere Wertdeckung zu geben. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Mitgliederzahlen der Tauschkreise gerade seit 2008 und der Eskalation der globalen Finanzkrise linear angestiegen sind.

Als Alternativwährung verwendet man bei den Tauschkreisen sogenannte Zeitwertscheine. Die gedruckten Scheine sind mit einer Sicherheitssignatur versehen und stark dem herkömmlichen Papiergeld nachempfunden. Diverse Zeitwerte können gegen Waren und Dienstleistungen getauscht werden. Dies erleichtert einen reziproken, flexiblen Tauschhandel: Person A kann eine Leistung von Person B in Anspruch nehmen, auch wenn sie keine für B attraktive Ware oder Dienstleistung anzubieten hat. Stattdessen wird etwa eine Stunde Malertätigkeit durch einen Zeitwertschein für eine Stunde abgegolten. Gleiches gilt für diverse andere Angebote, wie eine Stunde Englisch-Nachhilfe oder Rechtsberatung. „Eine Stunde menschliche Lebenszeit behält immer denselben Wert, dadurch werden alle Menschen, die sich an dieser Handelsform beteiligen, gleichgestellt“, begründet Obfrau Jahn. Darüber hinaus verfügen alle Tauschkreise im deutschsprachigen Raum über eine eigene IT-Struktur, um Zahlungsverkehr, (Zeitwert-)Kontoführung und Angebote managen zu können: Cyclos. Der Tauschvorgang zwischen zwei Beteiligten vollzieht sich allerdings weniger in der binären Logik „KundIn/DienstleisterIn“, sondern hat eher den Charakter von Nachbarschaftshilfe. Damit wird die soziale Komponente – auch dies ein Kernstück der Tauschkreis-Idee – gestärkt.    

Foto: www.lastenradkollektiv.at

UMZIEHEN PER RAD? Anders organisiert, aber ebenfalls an sozialem Austausch und solidarischer Ökonomie orientiert, ist eine relativ junge Wiener Organisation: das „Lastenradkollektiv“ (LKR). Die Idee zur Gründung kam Ende der 2000er Jahre auf und entstand vor allem aus der Leidenschaft am Rad(fahren) und der Ablehnung massenhaften städtischen Autoverkehrs, erklärt eines der drei LKR-Gründungsmitglieder. Es sei nicht akzeptabel, dass man für schwerere Transporte oder Umzüge immer auf einen Pkw, oder Lkw angewiesen sei. Weiters sei das LKR nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern im Kontext verschiedener Institutionen, wie etwa dem Tüwi und der Boku. Daher habe auch der ökologische Gedanke bei der Gründung eine gewisse Rolle gespielt. Das als Verein agierende Kollektiv umfasste bisher zwischen acht und 15 Personen, die Fluktuation sei recht hoch. Nicht zuletzt aufgrund der überschaubaren Mitgliederzahl kann das Kollektiv weitgehend auf Hierarchien verzichten und Beschlüsse im Rahmen unregelmäßiger Plenartreffen basisdemokratisch fassen.

Auf der Homepage des Kollektivs kann man sich je nach Bedarf eines der acht Fahrräder, beziehungsweise einen der neun Anhänger aussuchen und circa eine Woche im Vorhinein per Mail reservieren. Per Telefon werden dann meist noch Details abgesprochen, wie etwa der aktuelle Standort des benötigten Rades oder Anhängers sowie der Zeitpunkt der Abholung und der Rückgabe. Das LKR verfügt nämlich über keinen zentralen Stützpunkt, die Vehikel sind an verschiedenen, sich ständig ändernden Orten abzuholen. Vor der Nutzung ist eine Kaution für den Fall etwaiger Schäden oder Diebstahl zu bezahlen, fixe Preise möchte man allerdings nicht kassieren. „Solidarische Ökonomie“ verwirklicht sich im Kollektiv der Gestalt, dass man die finanzielle Zugangsschwelle sehr niedrig halten möchte und daher nur freie Sach- und Geldspenden entgegennimmt. „Wir betreiben zwar schon Selbstausbeutung, aber in einem Rahmen, den wir als gemütlich empfinden“, heißt es vonseiten des LKR. Bei den Menschen, die Lastenräder nutzen, handle es sich allerdings um eine recht homogene Gruppe: männlich, jung („bis 35“), studentisch und ohne Migrationshintergrund sei der typische Lastenradfahrer. Wo diese sozialstrukturelle Verzerrung herrührt? Einerseits hadert das Kollektiv mit der Sprachbarriere, andererseits entstand es in einem studentisch-universitären Kontext und ist darin noch stark verhaftet. Außerhalb dieses Umfeldes sei es leider noch immer unwahrscheinlich überhaupt von der Existenz des LKR zu erfahren.   

 

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien

 

Teilst du schon oder besitzt du noch?

  • 23.03.2015, 20:46

Alternative Konsumformen wie das Teilen und Mieten von Gütern liegen im Trend. Rettet die „Shareconomy“ die Welt oder spült sie doch wieder Millionen in die Kassen von MonopolistInnen?

Alternative Konsumformen wie das Teilen und Mieten von Gütern liegen im Trend. Rettet die „Shareconomy“ die Welt oder spült sie doch wieder Millionen in die Kassen von MonopolistInnen? 

Annika ist Mitte 20, Akademikerin und lebt im urbanen Raum. Reisen organisiert sie über Onlineplattformen und Networking betreibt sie auf Facebook und LinkedIn. Mobilität und Nachhaltigkeit sind ihr ein Anliegen, gegenüber Materialismus und Konsumwahn ist sie kritisch eingestellt. Annika gibt es nicht wirklich. Aber sie ist – wenn es nach KonsumforscherInnen geht – die Idealkonsumentin der „Shareconomy“. Kurt Matzler, Professor an der Universität Innsbruck, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Shareconomy und bestätigt: „Der typische Konsument der Shareconomy ist nicht der sparsame, langweilige und wirtschaftlich unattraktive Kunde. Er ist jung, gebildet, postmodern und liebt einen abwechslungsreichen Lebensstil.“ Annikas Lebensstil steht stellvertretend für all jene, die kein Auto besitzen, aber dennoch manchmal damit übers Wochenende aufs Land fahren wollen; für jene, die sich kein teures Hotelzimmer leisten, sondern in einer privaten Unterkunft ein Land kennenlernen möchten; und für jene, die Werkzeuge lieber leihen statt sie teuer zu kaufen.

GRENZENLOSES TEILEN. „Ungefähr 80 Prozent aller Gegenstände, die wir besitzen, werden im Schnitt nur einmal im Monat verwendet“, so Matzler. Mit dem Gedanken, dass diese doch verliehen werden können, liebäugeln immer mehr Menschen. Eine Studie Matzlers zeigt, dass in Österreich in erster Linie Bücher, Filme und Sportartikel ver- und geliehen werden. „Auf der Hitliste sind weiters Utensilien für Partys und Feste, Werkzeuge und Gartengeräte“, ergänzt Matzler.

Die Wirtschaft des Teilens ist kein neues Phänomen, sondern hat sich lediglich durch die Digitalisierung verändert: Früher hat man sich von NachbarInnen den Rasenmäher oder die Milch geliehen. Die steigende Anonymität in Großstädten trägt ihren Teil dazu bei, dass diese Praxis heute zunehmend über den digitalen Weg abgewickelt wird. Der Begriff „Share Economy“ geht auf den Ökonomen Martin Weitzmann zurück; im deutschsprachigen Raum wird auch häufig von der „Wirtschaft des Teilens“ oder dem „KoKonsum“ – dem kollaborativen Konsum – gesprochen. Weitzmanns ursprünglicher Gedanke war es, dass sich der Wohlstand einer Gesellschaft erhöht, wenn alle MarktteilnehmerInnen mehr teilen. Dadurch soll eine neue Ära eingeläutet und das Zeitalter des Kapitalismus beendet werden. Ob Wohnungen, Transportmittel, Werkzeuge, Mode, Musik und Videos oder Lebensmittel – für alles gibt es eine eigene Onlineplattform, also eine App oder Website. Überall tauchen gerade Shareconomy-Startups auf. „Im Moment erleben wir einen großen Boom. Zahllose neue Plattformen entstehen, viele verschwinden nach kurzer Zeit aber wieder. Wahrscheinlich werden wir bald eine Phase der Ernüchterung sehen, in der es zu einer Konsolidierung kommt. Danach setzt sich dann der Trend auf solideren Beinen stehend fort“, ist Matzler überzeugt.

Auf dem Wohnungsmarkt ist Airbnb die mit Abstand populärste Onlineplattform. Das Unternehmen konnte bereits 17 Millionen Gäste in 190 Ländern und über 600.000 Unterkünfte vermitteln. Egal ob man eine Couch für eine Nacht oder ein Apartment für mehrere Wochen sucht – die Bandbreite des Angebots ist enorm. Oft sind zwar dem finanziellen Spielraum Grenzen gesetzt, der Fantasie dafür aber nicht. Wer bereit ist, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, kann auch auf einem Boot, in einer Villa oder einem Schloss residieren.

Was Airbnb für den Wohnungsmarkt ist, ist Uber am Transportmittelmarkt. Uber ist eine Onlineplattform, die Fahrgäste an private FahrerInnen mit Wagen über eine App vermittelt. Während der Fahrdienst im Jahr 2010 gerade einmal in drei Städten aktiv war, hat er sich mittlerweile in rund 170 Städten in 43 Ländern etabliert; seit dem Vorjahr gibt es ihn auch in Wien. Wer sich nicht chauffieren lassen möchte, hat eine weitere Möglichkeit: Carsharing. Das erfreut sich vor allem bei jungen GroßstädterInnen, die kein eigenes Auto besitzen, zunehmender Beliebtheit. Nach der Registrierung bei einem Angebot – etwa Car2Go oder Zipcar – haben KundInnen die Möglichkeit, via App oder auf einer Website ein Auto in ihrer Nähe zu suchen, es mittels KundInnenkarte zu öffnen, damit von A nach B zu fahren und es dann an einem beliebigen Parkplatz wieder abzustellen.

Es gibt kaum noch Güter, die weiter als ein paar Mausklicks entfernt sind. Wer bei IKEA erfolgreich eingekauft hat, kann über Apps wie (das mittlerweile stillgelegte) Why Own It oder usetwice.at herausfinden, wer in der Nähe beispielsweise über eine Bohrmaschine verfügt. Ähnlich funktioniert das System im Bereich der Mode. Auf der Onlineplattform kleiderkreisel.at kann Kleidung gekauft, verkauft und getauscht werden. Wer auf der Suche nach einem exklusiven Stück ist, kann sich auf pretalouer.de DesignerInnenkleidung leihen statt kaufen. Und wollte man früher einen ganz bestimmten Song hören oder Film sehen, musste man eine CD oder eine DVD besitzen. Heute kann auf Musikdienste wie Spotify, Napster oder Simfy oder Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime Instant Video oder Snap by Sky zurückgegriffen werden.

Illustration: Ulrike Krawagna

MEHR TEILEN, MEHR KONSUM. Bei diesen alternativen Konsumformen spielen praktische Aspekte wie Preis, Verfügbarkeit und Qualität eine große Rolle. Laut einer repräsentativen Umfrage der Leuphana Universität Lüneburg, ist Nachhaltigkeit für KonsumentInnen ein wichtiger Faktor. Die Verbindung von gemeinschaftlichem Konsum mit dem Umweltgedanken sind ein naheliegender, da durch Mitbenutzung der Besitz und somit auch die zusätzliche Produktion eines Gutes nicht mehr notwendig ist. Das Problem dabei ist: Insgesamt weniger konsumiert wird nur, wenn privater Konsum durch gemeinschaftliche Nutzung ersetzt wird. Was aber, wenn durch die Angebote der Shareconomy neue Konsumwünsche geschaffen werden? Dass dies der Fall ist, vermutet auch Brigitte Kratzwald, Sozialwissenschaftlerin und Vertreterin der Commons-Bewegung, die das Ziel verfolgt, vorhandene Ressourcen gemeinschaftlich zu nutzen: „Das Konsumdenken der Menschen entwickelt sich in der Shareconomy nur in eine andere Richtung. Sie erkennen, dass sie durch diese alternative Konsumform noch mehr haben können als bisher. Durch Carsharing können sie dann jede Woche mit einem anderen Auto fahren und auf der Kleiderbörse können sie sich jede Woche etwas Neues zum Anziehen ausleihen.“ Carsharing-Angebote werden in großen Städten auch oft anstelle von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxis benutzt. Als Alternative zum privaten Auto oder Taxi nützt Carsharing der Umwelt – wird jedoch die Bahn dadurch ersetzt, ist der Effekt auf die Umwelt negativ. Trotz dieser Vorbehalte scheinen hier die positiven Effekte auf die Umwelt jedoch zu überwiegen, wie eine Studie des Wuppertal Instituts bilanziert: Durch die oft sehr kleinen Mietwagen ist der Schadstoffausstoß niedriger als bei den meisten privaten Autos.

Dass Besitz und Eigentum zunehmend an Bedeutung verlieren werden, vermutete der Ökonom Jeremy Rifkin bereits um die Jahrtausendwende. Damals prognostizierte er, dass das Internet die Bedürfnisse einer Gesellschaft verändern werde. Der Wohlstand der Menschen werde nicht mehr ausschließlich über die Summe der Besitztümer gemessen. Er prophezeite, dass „die Ära des Eigentums zu Ende geht und das Zeitalter des Zugangs beginnt“. Besonders für junge Menschen ist es heute tatsächlich nicht mehr in dem Maße erstrebenswert, ein eigenes Auto oder Haus zu besitzen, wie das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Sowohl die Babyboomer-Generation als auch die sogenannte Generation X sind Generationen, die auf Statussymbole – wie etwa Auto, Boot und Haus mit Garten – Wert legen. Für die Generation Y haben materielle Privilegien keinen so hohen Stellenwert mehr – stattdessen zählen Freiheit, Flexibilität und Freizeit zu ihren wichtigsten Werten, wie einige Studien, etwa von Deloitte oder TNS, zeigen. Das liegt vor allem daran, dass sich die Lebensrealitäten geändert haben. Heute leben Menschen nicht mehr von Geburt an am selben Ort und verbleiben bis zur Pension im selben Job. Wer häufig den Wohnort oder den Job wechselt, kann Besitz und Eigentum auch als Belastung empfinden. Auf die Annehmlichkeiten, die Besitz mit sich bringt, möchten viele Menschen dennoch nicht verzichten. Daher lautet ihr Credo: möglichst wenig Besitztümer anhäufen, die wir nicht ständig brauchen, und möglichst einfachen Zugriff auf Dinge, wenn wir sie brauchen.

Illustration: Ulrike Krawagna

RECHTLICHE GRAUZONEN. „Mein ist auch dein“ – so lautet die Kernbotschaft der Shareconomy. Das Prinzip wirkt auf den ersten Blick altruistisch, nachhaltig und sozial. BefürworterInnen sprechen von einem gemeinschaftsorientierten und ressourcenschonenden Lebensstil. Das scheint auch Matzlers Studie zu bestätigen: Er fand heraus, dass der Gemeinschaftsgedanke (75 Prozent), der Umweltgedanke (61 Prozent) und das Sparen (65 Prozent) zu den persönlichen Hauptmotiven für das Mieten, Leihen und Teilen zählen. KritikerInnen haben eine andere Sichtweise auf die Shareconomy: Die wenigsten AnhängerInnen seien daran interessiert, die Welt zu retten, und ein Ende der Konsumgesellschaft sei keineswegs in Sicht. „Ich sehe an der Shareconomy die Gefahr, dass noch mehr Dinge zur Ware und immer mehr Lebensbereiche über Geld geregelt werden. Früher habe ich ein freies Zimmer kostenlos aus Gastfreundschaft angeboten. Und heute vermiete ich es lieber auf Airbnb, um damit Geld zu verdienen“, so Brigitte Kratzwald. Vor allem aufgrund der Digitalisierung entwickeln sich zunehmend kommerzielle Formen des Teilens, die dem klassischen Kapitalismus Tür und Tor öffnen und in fast jeden Lebensbereich vordringen. Bei genauerem Hinsehen ist aus der Shareconomy ein Milliardengeschäft geworden: Mit einem geschätzten Wert von 10 Milliarden US-Dollar spielt Airbnb in der gleichen Liga wie große Hotel-Ketten.

Für die KonsumentInnen geht die billige und schnelle Verfügbarkeit von Konsumgütern außerdem oft mit dem Verlust von Sicherheiten einher. Traditionelle DienstleisterInnen haben Auflagen einzuhalten: Hotels müssen Notausgänge, Feuerlöscher und Stornomöglichkeiten haben, Taxiunternehmen müssen Technik- und Gesundheitsüberprüfungen über sich ergehen lassen. Diese Bedingungen fallen bei den Sharing-Angeboten größtenteils weg. Die Konsequenz sind weniger Kosten für die AnbieterInnen und geringere Sicherheitsstandards für die KonsumentInnen. Deshalb verfolgen KonsumentInnenschützerInnen wie Nina Tröger von der Arbeiterkammer Wien das Thema genau: „Prinzipiell gilt bei Angeboten von Privatpersonen zu Privatpersonen das Konsumentenschutzgesetz nicht – außer wenn ein Unternehmen zwischengeschalten ist, mit dem ein Vertrag eingegangen wird“, so Tröger. Auch wenn je nach Angebot unterschieden werden muss, gibt es bei Mitbenutzungen oft dieselben Probleme. „Wenn beispielsweise ein Schaden an dem geteilten Gut festgestellt wird – sei es Auto oder Zimmer –, kann es zu Streitigkeiten über Haftung und Schadenshöhe kommen.“ Diese Probleme dürften den meisten KonsumentInnen aber bewusst sein – in der Arbeiterkammer treffen diesbezüglich nur wenige Beschwerden ein.

Auch für AnbieterInnen gibt es zwei Seiten der Medaille. Wenn man sich einen Nebenverdienst erwirtschaften will, ist Uber mit flexiblen Arbeitszeiten und maximaler Selbstbestimmung eine gute Sache – denn FahrerInnen sind nicht angestellt, sondern selbständig. Bietet man seine Arbeitskraft auf einer dieser Plattformen an, bleibt man aber bei Leistungen wie Mindestlohn, Sozialversicherung oder Krankengeld auf der Strecke.

Illustration: Ulrike Krawagna

Während die Ambivalenz für die direkt involvierten Personen offensichtlich ist, ist dieses Geschäftsmodell für die Unternehmen zweifelsohne profitabel. Sie streichen alleine für die Vermittlung Provisionen und Gebühren ein, während die Risiken zum Großteil bei den AnbieterInnen und KonsumentInnen liegen. Auffällig ist, dass sich in den meisten erfolgreichen Sparten große AnbieterInnen einen großen Teil des Marktsegments sichern. Die werden dann zum Selbstläufer: Je mehr Menschen eine App oder Website nutzen, desto besser funktioniert das Angebot.

Diese boomenden Onlineplattformen sorgen aber auf Seiten der Konkurrenz und des Staates nicht gerade für Begeisterungsstürme. Vergangenes Jahr protestierten europäische TaxifahrerInnen gegen Uber, da sie ihren Berufsstand durch die unregulierten Angebote angegriffen sahen. Aber auch staatliche Institutionen reagierten zunächst mit einiger Härte. Das Finanzamt kann viel schwerer überwachen, ob Taxifahrten oder Wohnungen gewerbsmäßig vermittelt werden, da die neuen AnbieterInnen Privatpersonen sind. Einnahmen aus diesen Tätigkeiten müssten zwar versteuert werden, de facto stößt man hier aber an rechtliche Grauzonen und Grenzen der Kontrollierbarkeit. Steuereinbußen werden genauso befürchtet wie Schäden an etablierten Wirtschaftszweigen.

WHAT WOULD MARX DO? Die Zeitung Chronicle hat erhoben, dass in San Francisco zwei Drittel der Angebote auf Airbnb ganze Apartments oder Häuser sind. Das lässt erahnen, wie weit sich dieser Dienst mittlerweile von den Anfängen des Couchsurfens entfernt hat. Während bei Couchsurfing Gästezimmer kostenlos zur Verfügung gestellt wurden und die Interaktion und Vernetzung mit den GästInnen im Vordergrund stand, ist bei der Zimmervermietung der kommerzielle Trend mittlerweile ausschlaggebend – es geht ums Geldmachen durch optimale Nutzung von Wohnbereichen durch kurzfristige Vermietungen.

Der Anteil an langfristig vermieteten Wohnungen und Häusern ist mit drei Prozent zwar relativ gering, jedoch zeigt er ein Problem auf: Während in vielen Städten Mietpreisregulierungen gang und gäbe sind, um leistbares Wohnen sicherzustellen, können diese Regulierungsmaßnahmen durch langfristige Vermietungen über Internetportale wie Airbnb umgangen werden. Ob durch die zusätzliche Verknappung von Wohnraum durch kurzfristige Vermietungen die Mietpreise tatsächlich steigen, ist nicht geklärt – wissenschaftliche Studien dazu sind rar.

Jedenfalls steht die Shareconomy wohl nicht an der vordersten Front einer wirtschaftlichen Revolution. Obwohl viele Seiten von der aufkeimenden Wirtschaft des Teilens profitieren, ist sie tief eingebettet in eine kapitalistische Gesellschaft. Kommerzielle Platzhirsche schlagen Profit durch die Schaffung von neuen, unregulierten Märkten. Neue Bedürfnisse und Formen ihrer Befriedigung werden geschaffen und bringen eine Heerschar prekarisierter Arbeitskräfte mit sich.

 

Sandra Schieder studiert Journalismus und PR an der FH JOANNEUM Graz. 
Philipp Poyntner studiert Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien.

 

Mehr als nur ein Beisl

  • 05.02.2015, 08:00

Mit Mate, Mucke und einem solidarischen Miteinander bieten selbstverwaltete Beisl und Räume Gegenentwürfe zur Konsum- und Ellenbogengesellschaft. Ein Lokalaugenschein.

Mit Mate, Mucke und einem solidarischen Miteinander bieten selbstverwaltete Beisl und Räume Gegenentwürfe zur Konsum- und Ellenbogengesellschaft. Ein Lokalaugenschein.

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die einen großen Unterschied machen: Etwa wenn mensch keinen Euro in den Wuzzler stecken muss, damit unten die Bälle rauskullern; oder wenn eine punkige Stimme, die im Hintergrund aus den Boxen tönt, irgendetwas Abfälliges über Nazis trällert. Hier werden keine Zeitungsverkäufer_innen angefeindet und rausgeschmissen. Hier dürfen sich alle küssen; egal ob hetero, bi oder homo. Hier kann mensch sich in der Mittagszeit auch einfach mal ein Glas Wasser bestellen und gemütlich auf der Couch herumlungern. progress hat sich vier solche Räume näher angeschaut: Das TüWI und das Cafe Gagarin in Wien, die Linzer Stadtwerkstatt und das SUb in Graz.

(c) Niko Havranek

DSCHUNGEL UND BERG. Über einen Kamm scheren lassen sich die vier selbstverwalteten Lokale nicht. Jeder Raum besitzt seinen eigenen Charme. Das ist auf den ersten Blick erkennbar: Die Einrichtung des Cafe Strom, dem Beisl der Stadtwerkstatt, könnte ohne weiteres das Hochglanzcover eines Designmagazins schmücken. Mithilfe massiver Tischplatten aus Naturholz und der extravaganten Dekoration der Wände und Decken mit Kletterpflanzen werden Dschungelflair mit Wohnzimmerfeeling kombiniert. Mit historischer Bausubstanz punktet hingegen das SUb. Die Grazer Schlossbergmauer ist Teil des Kulturprojekts nahe dem Murufer. Durchgesessene Couchen, eine selbstgezimmerte Bar und menschhohe Stapel an Getränkekisten verbreiten eine gewisse abgefuckte Gemütlichkeit. Im Sommer führt der Weg über eine imposante Metalltreppe rauf zur Dachterrasse.

Auch scheint es kein allgemeines Rezept für selbstverwaltete Räume zu geben. Einen gemeinsamen Nenner bringt aber das Plenum des SUb sehr stimmig auf den Punkt: „Unser Kompromiss zwischen dem, was wir wollen, dem, was wir können, unddem, was wir dürfen, ist ein selbstverwaltetes und gemeinnütziges Vereinsprojekt.“ Kombiniert mit dem politischen Anspruch, eine alternative Praxis zu leben, brechen die Räume so weitgehend mit dem Diktat der Verwertbarkeit. Besucher_innen sind keine bloßen Konsument_innen, sondern vielmehr Nutzer_innen eines Raumes, den sie selber mitgestalten können. Ähnlich sieht das auch Walter, ein langjähriger AkTüWIst: „Ich finde es schrecklich, wenn jeder Quadratzentimeter verwertet wird. Wenn jeder Raum eine gewisse Funktion zu erfüllen hat.“

Für viele Studierende der BOKU ist das TüWI nicht mehr wegzudenken. Sei es wegen dem einen oder anderen Bio-Bier nach einer überstandenen Prü- fung, dem einzigen annehmbaren vegetarischenund veganen Essen am Campus oder den durchschwitzten Ska-Konzerten. 2014 blickte das TüWI auf 20 ereignisreiche Jahre zurück. Trotz der langen Geschichte sieht Walter den Freiraum nach wie vor als Experiment für andere Formen des Zusammenlebens und der Organisation. „Das TüWI ist, was du draus machst“, zitiert er einen alten Slogan, dessen Aktualität ungebrochen ist. Es gehe auch nach zwei Jahrzehnten noch darum, ein kritisches Bewusstsein zu schaffen, die Eigeninitiative von Menschen zu fördern und die eigene Umwelt mitzugestalten. Dass dabei oft auch unterschiedliche Meinungen aufeinander treffen, ist selbstverständlich. Die Menschen bestehen nicht alle aus dem gleichen, homogenen Teig. Ziel ist es jedoch Konflikte auszudiskutieren und Entscheidungen gemeinsam zu fällen. Auch wenn diese Praxis immer wieder in stundenlangen Diskussionen auf Plena mündet, scheint es sich zu lohnen. Aus dem Anliegen, Gegenentwürfe zu den hierarchischen und unterdrückenden Gesellschaftsstrukturen umzusetzen, entstehen vielfältige Ideen, wie mensch es anders machen könnte.

GIBLING UND FREIE PREISE. Das Cafe Gagarin in der Nähe des Wiener Unicampus wird seit 2012 als Kollektiv betrieben. Der damals nötige Um-bau war für die vorigen Eigentümer zu teuer. So entschlossen sich einige Mitarbeiter_innen, Hand anzulegen und das Lokal selbstverwaltet weiterzu- führen. Wenn Fanja und Amadeo von der damaligen Baustelle erzählen, glänzen ihre Augen. Die neu eingebauten, metallenen Lüftungsrohre, die sichan der Decke des Lokals entlangschlängeln, sind Teil des Gründungsmythos, der die Gruppe seither zusammenschweißt. Vor kurzem wurden drei weitere Personen im Kollektiv aufgenommen und für das Büro im Obergeschoss werden noch Partner_innen gesucht, die sich den Raum teilen wollen. „Wenn ich es alleine nicht schaffe, gibt es jemand anderen, der oder die mir dabei helfen kann“, ist das Credo, das sich das Kollektiv beibehalten hat. So soll keine_r davor zurückschrecken müssen, Sachen anzupacken und Neues zu lernen. Dies spiegelt sich auch in der Aufgabenverteilung wieder. Die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Bereiche rotieren. So weiß im Idealfall jede_r Bescheid, wie es in den einzelnen Bereichen zugeht. „Es kochen auch immer mal verschiedene Menschen“, erzählt Amadeo. Nicht auf Kosten der Qualität, wie der letzte Bissen vom schmackhaft knusprigen Gemüse-Pakora beweist.

(c) Niko Havranek

Spätestens wenn es ums Bezahlen geht, stoßen Esser_innen im Gagarin dann auf das Konzept der freien Preise. Hier entscheidet jede_r selbst, wie viel er oder sie für das Essen zahlen will und kann. Freie Preise ermöglichen, dass manche weniger und andere mehr zahlen, entsprechend der jeweiligen Lebensrealitäten. Sind also gerade Studiengebühren zu berappen, ist es in Ordnung weniger zu zahlen. Wer gerade ein dickes Plus am Konto hat, ist eingeladen, mehr zu zahlen. „Das kann funktionieren, wenn freie Preise als ein Weg verstanden werden, bewusst mit den Möglichkeiten und Bedürfnissen aller Beteiligten umzugehen“, steht auf der Homepage des Gagarin. Fanja und Amadeo verraten, dass es über das Konzept im Kollektiv durchaus verschiedene Ansichten gäbe. Das größte Problem sei, dass die Preise für regionale, saisonale und biologische Produkte oft total unterschätzt werden. Aber alleine schon wegen der vielen Diskussionen und Denkanstöße, die das Konzept bei den Gäst_innen auslöst, sei es wertvoll.

Über Alternativen beim Bezahlen haben sich auch die Menschen der Stadtwerkstatt ihre Gedanken gemacht. Hier sind zwar fixe Preise zu bezahlen; etwa für ein Stamperl des hausgemachten Vodkas; jede_r kann sich jedoch aussuchen, ob er_sie die Rechnung lieber in Euro oder in Giblingen begleichen möchte. Der Gibling ist eine Communitywährung, ähnlich einer Regionalwährung. Ein Euro ist einen Gibling wert. Wechselstuben gibt es in Linz, Graz, Wien und in den Weiten des Internets. Da das Geld in der Community bleibt, fördert das System direkt die Kunst- und Kulturszene. Die Liste der Partner_innen, bei denen in Giblingen bezahlt werden kann, reicht von linken Beisln bis hin zu Geschäften für Fahrradzubehör. Für die Versorgerin, die Zeitschrift der Stadtwerkstatt, können die Giblinge aber ruhig in der Geldbörse bleiben. Das Abonnement gibt es gratis.

VERSORGT MIT KOMPOTT. In der Versorgerin werden nicht nur die Projekte und Ideen der Stadtwerkstatt vorgestellt; sie bietet auch Platz zur Auseinandersetzung mit verschiedensten (kultur-) politischen Themen. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich etwa mit der Forderung nach sicheren Fluchtwegen für Flüchtlinge oder mit der neueren Psychoanalyse des Films. Die Betreiber_innen der selbstverwalteten Räume sind also nicht nurExpert_innen für Gastronomie und Kulturmanagement, sondern auch Öffentlichkeitsarbeiter_innen gegen herrschende Zustände. Das TüWI lässt zwar die Druckerpressen ruhen; das sogenannte ökopolitische Kompott erreicht seine Empfänger_innen jedoch via Ultrakurzwelle. Jeden ersten und dritten Freitag steht Radio Orange für eine Stunde ganz im Zeichen des TüWIs. Die Themenpalette reicht von Homophobie und Sexismus im Fußball bis hin zur ökologischen Landwirtschaft auf Kuba.

(c) Niko Havranek

Auch das Grazer SUb beschränkt sich nicht darauf Konzerte zu veranstalten. Sollte die Band auf der Bühne den eigenen Musikgeschmack nicht ganz treffen, steht ein vollbepacktes Bücherregal zum Schmökern bereit. Bestseller-Literatur sucht mensch hier jedoch vergeblich. Stattdessen gibt es eine große Auswahl über Antirassismus bis zu kapitalismuskritischen Werken. Kritisch zu sein ohne dem Dogmatismus zu verfallen, ist dem Plenum des SUb ein Anliegen. Eine große Rolle spielt daher auchdie Reflexion der eigenen Praxis. „Sexistische und andere diskriminierende Verhaltensweisen werden nicht automatisch an der Türe des SUb abgelegt“, berichtet ein Teilnehmer des Plenums. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und lange Diskussionen mündeten schließlich im SUb-Awareness-Konzept. Ein Versuch, Strategien und Wege zu entwickeln, die es ermöglichen, auf Übergriffe und Grenzüberschreitungen solidarisch zu reagieren. Diese Formen der Gewalt sollen so aus der Unsichtbarkeit gehoben werden.

DO IT YOURSELF. Um den Ursprung des Namens SUb ranken sich verschiedene Mythen, die das Plenum weder bestätigt noch dementiert. Mit einem Augenzwinkern wird folgende, durchaus plausible Geschichte vorgetragen: Vor langer Zeit soll das Lokal einmal uprising geheißen haben: hoffnungsvoll; revolutionär. Doch irgendwann wurde es zum subrising, und irgendwann blieb dann nur noch das SUb übrig. Wenngleich hier Herausforderungen eher mit Spaß als ernster Miene angesprochen werden, regt die Geschichte zum Nachdenken an. Womit müssen sich selbstverwaltete Räume herumschlagen? Dass solche Projekte keine Selbstläufer_innen sind und die Sicherung eines langfristigen Bestehens ein hartes Stück Arbeit ist, zeigen leider auch gescheiterte Projekte: Etwa das ehemals selbstverwaltete Café Rosa, das mit hohen Ansprüchen gestartet ist, aber schließlich 2012 nach weniger als einem Jahr zusperren musste. Steigende Mieten stellen gerade Räume, deren Prämisse nicht die Profitmaximierung ist, vor Schwierigkeiten. Durch die zunehmende Prekarisierung ist die in den meisten Fällen ehrenamtliche Vereinsarbeit immer schwieriger zu stemmen. „Wir merken, dass die Fluktuation höher wird und Menschen generell weniger Zeit haben sich unentgeltlich zu engagieren“, gibt Walter vom TüWI zu bedenken. „Trotz aller Schwierigkeiten muss mensch sich jedoch vor Augen führen, dass es sich lohnt.“

Selbstverwaltete Beisl, Lokale, Räume, oder wie auch immer sie sich selbst definieren, bieten nicht nur die Möglichkeit eine soziale, ökologische und antidiskriminierende Praxis gegen die vorherrschende Ellenbogenmentalität zu unterstützen. Sie bieten auch Strukturen, um selbst aktiv zu werden – egal ob es um die Organisation von Bandabenden, DJane-Lines, Lesungen, Filmscreenings oder Ausstellungen geht oder darum nach Feierabend einfach in gemütlicher Atmosphäre ein Getränk zu genießen; Walter fasst es passend zusammen: „Es ist alles möglich, was Leute anpacken.“

 

Klemens Herzog studiert Journalismus und Neue Medien an der FH der Wirtschaftskammer Wien.

Energy & Folklore statt Eros & Amore

  • 08.05.2014, 09:55

Die Erotik-Messe „Eros und Amore“ tingelt alljährlich durch Österreich und Deutschland. Die Veranstaltungs-Website kündigt Niveau, Qualität und die Erfüllung erotischer Träume an. Hehre Versprechungen, die wir einem Realitätscheck unterzogen haben.

Die Erotik-Messe „Eros und Amore“ tingelt alljährlich durch Österreich und Deutschland. Die Veranstaltungs-Website kündigt Niveau, Qualität und die Erfüllung erotischer Träume an. Hehre Versprechungen, die wir einem Realitätscheck unterzogen haben.

Wer sich schon einmal in die Shopping City Süd begeben musste, der/m wird die architektonische Zumutung am Beginn des Einkaufszentrums nicht entgangen sein: die Pyramide Vösendorf. Sonst begegnet man diesem Bauwerk innerhalb der Wiener Stadtgrenze nur beim Anblick etwas schmuddelig wirkender neonfarbener Plakate, die den Gürtel und diverse Autobahnausfahrten säumen. Mindestens zweimal im Jahr bewerben diese in großen Lettern ein Event mit dem schlichten Titel „Erotikmesse“, das eben dort stattfindet. Nach Jahren der plakatförmigen Konfrontation mit dieser Veranstaltung können wir der Versuchung nicht mehr widerstehen. An einem verregneten Sonntag wagen wir uns zu „Eros und Amore“ in die Pyramide. Dort angekommen springen uns als erstes die Käse- und Brezelstände im Eingangsbereich ins Auge. Ihr autochthoner Charme konterkariert das Konzept des Messezentrums, mittels Kunstfelsen und Palmen ein tropisches Ambiente zu schaffen. Vor lauter Käse von Erotik erstmals keine Spur.

National-Pornos und Odenwald-Dildos Die Website der Messe verspricht „Top Qualität durch die speziell ausgewählten internationalen Aussteller, die die gesamte Bandbreite des Erotikmarktes präsentieren“. Nach ein paar Runden ist uns klar, dass sich das nicht bewahrheiten wird. Die meisten Stände bieten das gleiche Repertoire an Sextoys und schlecht verarbeiteten Dessous an. Dazwischen einige Regale mit heimatverbundenen Pornos. Die ProtagonistInnen sind auffallend häufig „potente Lederhosenträger“ und „stramme Dirnen in Tracht“. Die Aussteller mit einem abweichenden Angebot sind überschaubar. Da ist etwa die deplatzierte Holzhütte, in der ein resigniert wirkender Herr handgeschnitzte Holzdildos aus dem Odenwald anbietet. Ein Stand offeriert Absinth, wohl der Annahme folgend, dass diese Veranstaltung nüchtern nicht aushaltbar ist. Auch ein Tätowierer, ein Piercer und ein Hersteller von Massagestühlen sind anzutreffen. Nach dem Probesitzen auf letztgenannten Stühlen, müssen wir feststellen, dass unsere Wirbel sich „Top Qualität“ anders vorstellen.

 

 

Bayern-Pornos, Odenwald-Vibratoren oder ein auf schwarz-rot-goldenem Grund erstrahlendes „Bondage made in Germany“ lassen keine Zweifel an der regionalen Verwurzelung der Veranstaltung aufkommen. Erotik und Pornografie jenseits deutsch-österreichischer Gefilde sind dem Publikum offenbar nicht zumutbar. Ebenso unvorstellbar ist es für die VeranstalterInnen anscheinend, dass „Eros und Amore“ auch ein homosexuelles Publikum ansprechen könnte. Zwar gibt es Artikel zu kaufen, für die Homo- wie Heterosexuelle Verwendung finden können, doch kein einziger Stand oder Programmpunkt richtet sich dezidiert an ein nicht-heterosexuelles Publikum. Dabei sind durchaus einige Paare gleichen Geschlechts unter den MessebesucherInnen.

Es erstaunt, dass die MesseveranstalterInnen diese potentielle Zielgruppe nicht ansprechen. Erscheint es doch in Zeiten des Internets recht unattraktiv, das Produktangebot der Messe in Anspruch zu nehmen. Kaum jemand zückt angesichts der horrenden Preise den Geldbeutel und sogar in der zwanglosen Atmosphäre offen zur Schau gestellter Sexualität scheint niemand sich in der Schmuddelfilmecke sehen lassen zu wollen. Vielleicht liegt das aber auch an dem Pornoverkäufer, der gelangweilt Spaghetti-Bolognese in sich hineinschaufelt, während er lustlos das vorbeiströmende Publikum beäugt.

 

 

Wanderzirkus und Völkerschau Doch das Warenangebot erscheint für den Großteil der Anwesenden ohnehin nur sekundärer Grund für den Messebesuch zu sein. Die Hauptattraktion sind die im Halbstundentakt stattfindenden „neuen erotischen Choreographien in raffinierten Kostümen“, so beschreibt die Website die Performances. Wir müssen rasch feststellen, dass auch hier Dargebotenes und Ankündigungstext wenig miteinander zu tun haben. Die Mehrheit der BesucherInnen verfolgt die Shows aber mit nahezu sakraler Andacht. Moderator Dieter Deutsch (der Name ist Programm) kündigt die Shows an und erinnert dabei an einen etwas obszönen Zirkusdirektor auf Speed. Überhaupt gleicht die ganze Veranstaltung einem Wanderzirkus. Das Publikum wird  routiniert umworben, sichert es doch die gewiss nicht gerade horrenden Gagen der Auftretenden. Gleichzeitig gelingt es kaum einem/einer der DarstellerInnen, die Langeweile, die bei den immer gleichen Darbietungen aufkommen muss, zu verbergen.

 

 

Der Titel des ersten Programmpunkts, den wir verfolgen, ist „Silver Cocks und Edward mit den Scherenhänden“. Eine mit einem mittelalterlichen Kleid aus Vollsynthetik bekleidete Dame betritt die Bühne. Ihr folgt ein muskelbepackter Edward mit selbstgebastelten Scherenhänden aus Alufolie. Die Musik ist laut und gitarrenlastig, die Lichter grell, die Dame schnell entkleidet. In schönster Musical-Manier bewegen beide den Mund zum Gesang. Performance und Kostüme sind offenkundig liebevoll selbst kreiert. Das Publikum honoriert diese Bemühungen mit ehrfürchtigem Staunen. Die für uns schwer verständliche Geschichte scheint eine gewisse Romantik zu transportieren. Auffällig viele Pärchen haben sich vor der Bühne versammelt und schunkeln Arm in Arm. Nachdem der mittlerweile ebenfalls nackte Edward seine Partnerin ein paar Mal durch die Luft gewirbelt hat, ist der Spaß auch schon wieder vorbei. Der nächste Act wird anmoderiert. Mark Miller, so heißt es, werde nun „den Ladies“ etwas bieten. Das Publikum wechselt, bleibt aber überwiegend männlich.

Ganz dem Modell historischer SchaustellerInnen folgend, scheint Miller das Völkerschau-Element des Spektakels erfüllen zu müssen. Als schwarzer Darsteller ist er, mit Kunstafro und Rasseln ausgestattet, ganz auf rassistische Klischees reduziert. Dass sein Strip in einer Fixierung auf den Penis endet, verwundert bei einer solchen Präsentation nicht. Aber Rassismus allein scheint die abgründigen Sehnsüchte der Zuschauenden nicht zu befriedigen. Es bedarf auch noch einer chauvinistischen Pose, um das männliche Publikum bei Stange zu halten. Eine Besucherin wird auf die Bühne gehievt. In der Abschlussszene liegt Millers Penis auf ihrem Kopf. Nach der Performance betritt Dieter Deutsch grinsend die Bühne und vollendet das Ulrich Seidel-Szenario. Während Mark Miller weiter auf der Bühne posiert, wendet sich der Moderator an einen jungen Mann in der ersten Reihe. Er fordert ihn hämisch auf, doch ein paar Nahaufnahmen vom Penis des Strippers zu machen: „So einen schwarzen Rüssel siehst Du sonst nur auf Jamaika.“

Zwischen Hobby und Triebabfuhr Neben der großen Showbühne gibt es noch mehrere kleine Podeste auf denen „traditionell“ gestrippt wird. Hier stechen besonders einige ältere Männer hervor, die sich mit professioneller Kameraausrüstung vor den Bühnen positioniert haben. Verbissen beanspruchen sie ihre Plätze in der ersten Reihe. Ihre Objektive richten sie akribisch auf die sich entkleidenden Frauen. Den routinierten Handbewegungen der Stripperinnen sieht man die Tristesse ihres gleichförmigen Broterwerbs an. Die Hobbyfotografen ähneln mit ihren ernsten Mienen jenen Gestalten, die man auch an Flughäfen und Bahnhöfen antrifft, wo sie an Wochenenden ein- und abfahrende Fahrzeuge ablichten. Von Erotik auch hier keine Spur. Die posierenden Frauen scheinen für sie Sammelkartenmotive zu sein, die rasch ordnungsgemäß archiviert werden müssen. Bei den Einzelshootings beobachten wir dann auch keine ungestümen Annäherungsversuche, sondern bloß zügiges und schüchternes Abfotografieren.

 

 

Betrachtet man dieses Szenario ist es kaum vorstellbar, dass diese Personen auch das Klientel der anwesenden Prostituierten sind. Dass auch derartige Dienstleistungen Teil des Angebots sind, bleibt auf der Website der „EROS & AMORE" gänzlich unerwähnt. Es sei denn, man ist gewillt, dies aus der Formulierung herauszulesen: „Alles wird getan, um die Erotik-Messe zu einem wahren Fest für alle Sinne werden zu lassen.“ Vor dem Zugang zu einem sichtgeschützten Bereich stehen zwei leichtbekleidete Damen. Ihre gelegentlichen „Gangbang“-Rufe verhallen zumeist unerhört in den Weiten der Pyramide. Neben ihnen sitzt ein Herr in einem auffällig blauen Jackett. Würde man seinem Goldschmuck, seinem breiten Grinsen und seiner glänzenden Kopfhaut bei einem Zuhälter aus dem „Tatort“ begegnen, würde man sich über die klischeehafte Darstellung wundern. Geduldig lauschen zwei männliche Muskelberge den Ausführungen von „Video Rudi“. Dieses Gesamtbild verschreckt uns etwas, so dass wir erst bei der nachträglichen Internetrecherche Rudis Imperium bestaunen können. Der ungekrönte König der kommerziellen Wiener Gangbang-Szene veranstaltet regelmäßig „Gruppenfickereien“ zum kleinen Preis, bei denen die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen vermutlich eine genauso große Rolle spielen wie Lust und Erotik.

Bei der Vösendorfer Veranstaltung scheint „Video Rudi“ gut etabliert zu sein. Sein Stand zählt zu den größten auf dem Messeareal und bietet neben einigen Werbezetteln routinierte Sadomaso-Shows. Dass auf den Flyern nicht bloß die „Video Rudi“-nahen Swingerclubs, sondern auch ganz explizit Sexarbeiterinnen beworben werden, ist auf der Messe kein Einzelfall. So stolpern wir auf dem Weg zum Ausgang noch über den Werbestand eines Laufhauses und bekommen zum Abschied Energydrinks in die Hand gedrückt, die mit den Konterfeis der „Engelchen&Teufelchen“ eines „Premium Escorts“ bedruckt sind.

Der versprochene „grenzenlose Basar erotischer Phantasien“ beschränkt sich in Vösendorf auf Menschenverachtung und Billigprodukte. „Prickelnde Überraschungen“ kann einer/m hier allenfalls noch der Inhalt von Getränkedosen verschaffen. Doch traurigerweise ist dies außerhalb der Pyramide kaum anders.

 

 

Theresa Schmidt studiert Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und erlebt die Verelendung der Erotik lieber in der Literatur als in der Pyramide.

Fridolin Mallmann studiert Psychologie an der Universität Wien und sucht verdrängte Triebregungen lieber in seiner Psychotherapeutenausbildung als an Messeständen.

 

Manifest gegen die Krise der Ökonomie

  • 05.05.2014, 12:30

Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.

Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.

Über 230 ProfessorInnen, Hochschullehrenden und ForscherInnen aus diversen Wirtschafts- und Forschungsinstituten rund um den Globus schließen sich dem Aufruf an. Auf der ErstunterzeichnerInnenliste sind prominente Namen wie Thomas Piketty, Robert Pollin, Paul Davidson und u.a. Markus Marterbauer und Elisabeth Springler aus Österreich zu finden. Interessierte können den Aufruf unterstützen und das Manifest unterzeichnen unter: www.isipe.net

Das Manifest übt scharfe Kritik am aktuellen Zustand der Wirtschaftswissenschaften aus, gefordert wird ein grundlegender Wandel in den  Wirtschaftstheorie und deren Lehre. Der Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft konnte die Krise weder vorhersagen noch liefert sie grundlegende Verbesserungsvorschläge. Das wirft die Frage auf ob sie die Funktion einer Wirtschaftstheorie erfüllt. „An den Universitäten werden bereits längst veraltete und widerlegte Theorien unterrichtet und die Kritik daran ausgeblendet“, so eine Sprecherin der Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien, die Ökonomie sei „auf einem Auge blind. Wir wollen die Realität in die Hörsäle zurückholen und nicht länger hinnehmen, dass eine Vielzahl relevanter Theorien nicht im Studienplan vorkommt“. Die Studierenden wollen eine Veränderung bewirken und im Kleinen passiert das auch: „wir organisieren unsere eigenen Lehrveranstaltungen und Lesekreise, unterrichten uns gegenseitig, bauen Netzwerke auf und organisieren gerade eine Konferenz“, so die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien.

 

Manifest:

Internationaler studentischer Aufruf für eine Plurale Ökonomik Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird, und die Auswirkungen gehen weit über den universitären Bereich hinaus. Die Lehrinhalte formen das Denken der nächsten Generation von Entscheidungsträgern und damit die Gesellschaft, in der wir leben. Wir, 40 Vereinigungen von Studierenden der Ökonomie aus 19 verschiedenen Ländern, sind der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die ökonomische Lehre zu verändern. Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie behindert uns im Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel. Wir benötigen einen realistischen Blick auf die Welt, kritische Debatten und einen Pluralismus der Theorien und Methoden. Durch die Erneuerung der Disziplin werden Räume geschaffen, in denen Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden können.

Vereint über Grenzen hinweg rufen wir zu einem Kurswechsel auf. Wir maßen es uns nicht an, die endgültige Richtung zu kennen, sind uns aber sicher, dass es für Studierende der Ökonomie wichtig ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven und Ideen auseinanderzusetzen. Pluralismus führt nicht nur zur Bereicherung von Lehre und Forschung, sondern auch zu einer Neubelebung der Disziplin. Pluralismus hat den Anspruch, die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Im Zentrum sollten dabei drei Formen des Pluralismus stehen:

  • Theoretischer Pluralismus,
  • methodischer Pluralismus und
  • Interdisziplinarität.

Theoretischer Pluralismus verlangt, die Bandbreite an Denkschulen in der Lehre zu erweitern. Wir beziehen uns dabei nicht auf eine bestimmte ökonomische Tradition. Pluralismus heißt nicht, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern eine lebendige, intellektuell reichhaltige Debatte anzuregen. Pluralismus heißt, Ideen kritisch und reflexiv miteinander zu vergleichen. Während in anderen Disziplinen Vielfalt selbstverständlich ist und sich widersprechende Theorien als gleichberechtigt gelehrt werden, wird die Volkswirtschaftslehre häufig dargestellt, als gäbe es nur eine theoretische Strömung mit eindeutigem Erkenntnisstand. Natürlich gibt es innerhalb dieser dominanten Tradition Varianten. Allerdings ist das nur eine von vielen Möglichkeiten, Ökonomik zu betreiben und die Welt zu betrachten. In anderen Wissenschaften wäre so etwas unerhört. Niemand würde einen Abschluss in Psychologie ernstnehmen, der sich nur mit Freudianismus beschäftigt, oder ein politikwissenschaftliches Studium, in dem nur der Leninismus auftaucht. Umfassende volkswirtschaftliche Bildung vermittelt die Vielfalt der theoretischen Perspektiven. Neben den für gewöhnlich gelehrten auf der Neoklassik basierenden Ansätzen ist es notwendig, andere Schulen einzubeziehen. Beispiele für diese Schulen sind die klassische, die post-keynesianische, die institutionelle, die ökologische, die feministische, die marxistische und die österreichische Tradition. Die meisten Studierenden der Volkswirtschaftslehre verlassen die Universität, ohne jemals von einer dieser Perspektiven auch nur gehört zu haben. Es ist essentiell, schon im Grundstudium reflektiertes Denken über die Ökonomik und ihre Methoden zu fördern, beispielsweise durch Veranstaltungen zu philosophischen Aspekten der Volkswirtschaftslehre sowie Erkenntnistheorie. Theorien können losgelöst aus ihrem historischen Kontext nicht nachvollzogen werden. Studierende sollten daher mit der Geschichte des ökonomischen Denkens, Wirtschaftsgeschichte und den Klassiker der Ökonomie konfrontiert werden. Momentan fehlen solche Kurse entweder vollständig oder wurden an den Rand des Lehrplans gedrängt.

Methodischer Pluralismus bezieht sich auf die Notwendigkeit unterschiedlicher Forschungsmethoden in der Volkswirtschaftslehre. Es ist selbstverständlich, dass Mathematik und Statistik wesentlich für unsere Disziplin sind. Aber viel zu häufig lernen Studierende nur, quantitative Methoden zu verwenden. Dabei wird zu selten darüber nachgedacht, ob und warum diese Methoden angewandt werden sollten, welche Annahmen zugrunde liegen und inwieweit die Ergebnisse verlässlich sind. Es gibt außerdem wichtige Aspekte der Ökonomie, die durch quantitative Methoden allein nicht verstanden werden können: Seriöse ökonomische Forschung verlangt, dass quantitative Methoden durch andere sozialwissenschaftliche Methoden ergänzt werden. Um beispielsweise Institutionen und Kultur verstehen zu können, müssen qualitative Methoden in den Lehrplänen volkswirtschaftlicher Studiengänge größere Beachtung erfahren. Dennoch besuchen die meisten Studierenden der Ökonomik nie eine Veranstaltung zu qualitativen Methoden.

Für ein umfassendes volkswirtschaftliches Verständnis sind interdisziplinäre Ansätze notwendig. Studierende müssen deshalb innerhalb ihres Studiums die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften zu beschäftigen. Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft. Ökonomische Phänomene können nur unzureichend verstanden werden, wenn man sie aus ihrem soziologischen, politischen oder historischen Kontext reißt und in einem Vakuum darstellt. Um Wirtschaftspolitik intensiv diskutieren zu können, müssen Studierende die sozialen Auswirkungen und ethischen Implikationen ökonomischer Entscheidungen verstehen. Die Umsetzung dieser Formen von Pluralismus wird regional variieren. Sie sollten jedoch folgende Ideen einbeziehen:

  • Vermehrte Einstellung von Lehrenden und Forschenden, die theoretische und methodische Vielfalt in die Studiengänge der Ökonomik tragen;
  • Erstellen und Verbreiten von Materialien für plurale Kurse;
  • Intensive Kooperationen mit sozialwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Fakultäten oder Aufbau spezieller Einrichtungen zur Verantwortung interdisziplinärer Programme.

Dieser Wandel mag zwar schwierig erscheinen. Doch er ist bereits in vollem Gange. Weltweit treiben Studierende diesen Wandel Schritt für Schritt voran. Mit Vorlesungen zu Themen, welche nicht im Lehrplan vorgesehen sind, können wir wöchentlich Hörsäle füllen. Wir haben Lesekreise, Workshops und Konferenzen organisiert, haben die gegenwärtigen Lehrpläne analysiert und alternative Programme entwickelt. Wir haben begonnen, uns selbst und andere in den Kursen zu unterrichten, die wir für notwendig erachten. Wir haben Initiativen an den Universitäten gegründet und nationale und internationale Netzwerke aufgebaut.

 

 

Kontakt: pluralismus@wu.ac.at

Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien

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„Die öffentliche Uni hat der Gesellschaft etwas zurückzugeben“

  • 07.03.2014, 11:13

Die österreichischen Hochschulen befinden sich seit 15 Jahren in einem massiven Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter dem Schlagwort „Bildungsökonomisierung“ diskutiert wird. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität, erklärt im Gespräch mit progress, warum diese Tendenzen die Forschung verengen und die Gesellschaft viel mehr von der öffentlichen Universität fordern müsste.

Die österreichischen Hochschulen befinden sich seit 15 Jahren in einem massiven Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter dem Schlagwort „Bildungsökonomisierung“ diskutiert wird. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität, erklärt im Gespräch mit progress, warum diese Tendenzen die Forschung verengen und die Gesellschaft viel mehr von der öffentlichen Universität fordern müsste.

progress: Welche Aufgabe haben die Universitäten heute aus ihrer Sicht?

Luise Gubitzer: Es ist immer noch die „alte“ Aufgabe: junge Menschen zum Denken anzuregen. Diese Rolle des Denkens diskutiert auch Horkheimer in seiner Antrittsrede 1952 an der Universität Frankfurt. Er sagt, die jungen Menschen müssen darin bestärkt werden und wir müssen ihnen Möglichkeiten und Werkzeuge geben, um zu einem eigenständigen Denken zu finden. Philosophen dieser Zeit sind durch die Nazi-Herrschaft darin geschult, dass eine Massengesellschaft Mitläufertum heißen kann. Ich halte es für unsere unmittelbarste Aufgabe, zum Reflektieren anzuregen und eine gewisse Distanz zu realen Prozessen aufzubauen. Aus entsprechenden Beobachtungen ergeben sich wiederum Forschungsaufgaben und Lehrgegenstände für die Universität. Die öffentliche Uni muss sich immer wieder mit den Aufgaben, die sie gegenüber der Gesellschaft wahrzunehmen hat, in Beziehung setzen.

Gerade im Fall der Wirtschaftsuniversität (WU) halte ich es für zentral, nicht nur Ausbildung zu bieten, sondern darüber zu reflektieren, welche Aufgabe bzw. Rolle ein Unternehmen in der Gesellschaft hat. Auch wir sind eine öffentliche Uni, die der Gesellschaft etwas zurückzugeben hat. Und das heißt nicht, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, der gewinnorientierten Wirtschaft qualifizierte ManagerInnen zu liefern. Es braucht ein breiteres Verständnis.

Was erwarten sich aber die Studierenden, wenn sie an die Uni kommen: im Reflektieren geschult zu werden oder eine Berufsausbildung?

Es gibt die Erwartung, die Persönlichkeit weiter zu entwickeln und sich mit der eigenen Aufgabe, dem eigenen Standing in der Gesellschaft zu befassen. Das ist vorhanden und daraus können wir etwas machen. Aber wir müssen das bewusster wahrnehmen. Denn mit der Studieneingangsphase machen wir an der WU das Gegenteil: Massenprüfungen, bei denen die Studierenden nicht mehr als eine Matrikelnummer sind. Und darüber melden die Studierenden tiefe Betroffenheit, sie wollen mehr sein als eine Nummer.

Die jungen Menschen brauchen eine „Ich-Stärkung“. Aber die richtet sich dann eben danach, was ihnen die Universität bietet. Wenn es ein Jahr lang Massenveranstaltungen gibt, dann sozialisieren sie sich im Kontext von Konkurrenz und Egoismus und letztlich entsteht bei denen, die durchkommen, ein elitäres Bild davon, wer man jetzt ist. Es gibt auch andere Fähigkeiten, die bei den Studierenden angelegt sind, etwa Reflexions- oder Kritikfähigkeit – aber die können sie nicht weiterentwickeln, wenn die Rahmenbedingungen es nicht zulassen.

Diese Rahmenbedingungen sind nicht zuletzt durch Tendenzen entstanden, die immer wieder als „Bildungsökonomisierung“ bezeichnet werden. Was verbinden Sie mit diesem Begriff?

Ich sehe verschiedene Ebenen der Bildungsökonomisierung. Es gab an den Universitäten eine Übernahme des Vokabulars, der Denkweise und der Organisationsform aus der gewinnorientierten Wirtschaft. Das drückt sich in quantitativen Auswertungen und im Statuswettbewerb aus – Wissensbilanzen und Rankings spielen hier eine Rolle. Obwohl die öffentliche Universität komplett andere Aufgaben hätte als ein gewinnorientiertes Unternehmen. Aber es herrscht eine industrielle Sichtweise von der Uni vor. Sie wird als Betrieb gesehen, der Waren produziert und seinen Output stets zu steigern hat: mehr Publikationen, mehr AbsolventInnen, etc.

Diese Übernahme der marktwirtschaftlichen Kategorien geht bis zur „Filetierung“, die ja auch ein Element neoliberaler Entwicklungen im Unternehmensbereich ist: also Unternehmen zu teilen und die einzelnen Teile bestmöglich zu vermarkten. An den Unis bedeutet das, dass Monografien als Habilitation nicht mehr gerne gesehen werden. Bereits Dissertationen sollen in drei Artikel filetiert werden und das setzt sich im Forschungsprozess fort. Da stellt sich dann die Frage, wo Grundlagenforschung und ein längerfristiger Denkprozess noch Platz haben.

Sie haben Rankings erwähnt – inwiefern führt dieser Wettbewerb unter den Universitäten zu einer Veränderung dessen, was innerhalb der einzelnen Unis passiert?

An der WU ist Vieles in diese Richtung umgestellt worden. Das äußert sich vor allem darin, dass ProfessorInnen berufen werden, die bereits in Ranking-Journals publiziert haben. Aber dadurch entstehen keine neuen Forschungsrichtungen, weil es für solche eben keine gerankten Journals gibt. Rankings begrenzen die Forschung und auch die Gehirne. Eine Möglichkeit dem entgegen zu wirken wäre, dass man im Rahmen des Hochschulbudgets einen Topf zur Verfügung stellt, der nur dazu da ist, völlig unorthodox zu forschen. Es muss Platz für freie Forschung geben.

Eine andere Entwicklung, die in Zusammenhang mit „Bildungsökonomisierung“ immer wieder genannt wird, sind Privatisierungen. Wie sehen Sie das?

Das kann man an der WU deutlich beobachten: Es gibt einen privaten Sicherheitsdienst, einen privaten Putzdienst – neuerdings werden sogar Prüfungserstellung und Prüfungsvorbereitung outgesourct. Gleichzeitig gibt es starke Bestrebungen die Drittmittelforschung auszubauen. Das halte ich für ein großes Problem. Es gibt Stiftungsprofessuren, die von Unternehmen gesponsert werden. Das heißt nicht nur, dass die Person die Inhalte beeinflusst, sondern sie kann auch ihre Sichtweise von der Institution Universität und deren Aufgaben in die Gremien hineintragen. Denn im Rahmen der Ökonomisierung sind die Universitäten ja auch stark hierarchisiert worden – Stichwort: Universitätsgesetz.

Ein aktuelles Thema ist in dem Zusammenhang auch das Sponsoring. Wenn Sie durch den WU-Campus gehen, sehen Sie die OMV Library, den Redbull Hörsaal und so weiter. Durch die ständige Präsenz der Unternehmen wird es schwieriger, diese kritisch zu hinterfragen. Aus Sicht der Unternehmen ist das eine sehr gute Werbemaßnahme. Es wäre interessant zu wissen, was in diesen Sponsoringverträgen steht.

Zynisch formuliert könnte man ja sagen, dass die Unis in Anbetracht der chronischen Unterfinanzierung froh sein können, wenn sie Geld von Privaten erhalten.

Das Problem daran ist, dass es zunehmend zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass sich Universitäten so finanzieren. Auch die Ankündigung von Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner, die Drittmittelforschung noch weiter ausbauen zu wollen, zeigt, dass sich der Staat zunehmend auf eine Art Basisfinanzierung zurückzieht. Den Rest müssen sich die Unis dann anderswo herholen. Für mich ist die Aufgabe des Staates aber nach wie vor die volle Ausfinanzierung der öffentlichen Bildung – für alle, die studieren wollen und zwar ohne Studiengebühren. Öffentliche Bildung hat nämlich vielfache positive, multiplikative Effekte.

Aber entspricht das noch dem Selbstbild der Politik? Ist nicht der Sachzwang, dass es zu wenig Geld gibt und alle sparen müssen, hegemonial geworden, weshalb der Rückzug der Politik aus der Finanzierung legitim erscheint?

Mit der Ökonomisierung der Bildung ist auch eine Ökonomisierung der PoltikerInnen und der RektorInnen einhergegangen. Sie verstehen sich als ManagerInnen und zu managen bedeutet auch, weitere Drittmittel zu lukrieren. Grundsatzentscheidungen über die Ausrichtung der Universitäten  dürfen ihnen aber nicht alleine überlassen werden. Auch die Regierung soll nicht alleine bestimmen können. Für mich müsste diesbezüglich die Rolle des Parlaments, als zentrale Institution einer Demokratie, gestärkt werden. Auch die Studierenden und die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen an den Unis müssten stärker eingebunden werden. Und nicht zuletzt muss sich auch die Öffentlichkeit für ihre Interessen stark machen.

Inwiefern?

Das öffentliche Bild der Universitäten hat sich in den letzten zehn Jahren massiv verschlechtert. Wir werden darauf reduziert, Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden. Dabei müsste sich die Gesellschaft viel stärker fragen, was sie von einer öffentlichen Universität erwartet und was sie von einer Forschung haben will, die aus Steuermitteln finanziert wird. Die Unternehmen wissen ganz genau, was sie von den Unis erwarten. Aber andere  gesellschaftliche Gruppen verlangen viel zu wenig von den Unis. Menschen, die in den Universitäten sind und noch etwas anderes wollen, als Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden, müssen gestärkt werden, um Lehre und Forschung voranzubringen. Das und eine Wiederaufwertung der internen Mitbestimmung sind erste, dringende Voraussetzungen, um die Unis wieder auf einen anderen Kurs zu bringen.

 

Interview: Theresa Aigner

 

 

 

Geld oder Leben

  • 13.11.2012, 19:02

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit erstem September diesen Jahres verloren abertausende „Sin Papeles“ (zu deutsch „Ohne Papiere“) in Spanien ihr Anrecht auf Gesundheitsversorgung. Die Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy stoppte per Gesetz (Real Decreto 16/2012) die Jahrzehnte lang gültige „universelle“ Gesundheitsversorgung, die auch für MigrantInnen mit irregulärem Aufenthaltsstatus galt. Zig E-Cards waren von einem Tag auf den anderen ungültig.

Je nachdem, in welcher Region Spaniens die Betroffenen leben, sind nun unterschiedlichste Regelungen in Kraft. Sowohl die Verwirrung und der Widerstand unter ÄrztInnen und PflegerInnen als auch die Ängste der MigrantInnen sind folglich immens. Dabei wollte die konservative Gesundheitsministerin aus den Reihen des Partido Popular (PP), Ana Mato, in erster Linie dem „Gesundheitstourismus“, der laut spanischem Rechnungshof 2009 bereits ein Budgetloch von knapp 900 Millionen Euro riss, ein Ende setzen. Spanien dürfe nicht länger „das Paradies der illegalen Einwanderung“ sein, wie sie meint. Einzig für Minderjährige, bei Notfällen oder auch Schwangerschaften sollen ÄrztInnen weiter Hilfe leisten, versicherte Mato in einem vergeblichen Versuch, die Wogen zu glätten.

Drohender Ruin. Wer nun im Krankheitsfall Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, muss, sofern er oder sie unter 65 Jahre alt ist, einen Betrag von 710,40 Euro jährlich bezahlen. Wer älter ist, dem winken gar Kosten von 1864,80 Euro. Doch mit der neu etablierten „Versicherung“ ist lediglich die Grundversorgung gedeckt. Krankentransporte, Prothesen und Rollstühle etwa werden nicht gedeckt. Zudem sollen MigrantInnen auch 100 Prozent der Medikamentenkosten selber tragen. „Die Summen sind gerecht und zumutbar”, rechtfertigte der Gesundheitsrat der Region Kastilien-La Mancha, José Ignacio Echániz (PP) in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Mato die Reform. Wer sich nicht versichert, dem winkt aber der Ruin.

Denn nur ein einziger Tag auf der Intensivstation kostet in Kastilien-La Mancha 2824 Euro. Wer seine Beiträge nicht berappt, und Rechnungen nicht bezahlen kann, verliert zudem die Aufenthaltsbewilligung, sofern eine solche denn existiert. Die Caritas prüft zur Zeit noch, welche Folgen das Nichtbezahlen für MigrantInnen hat und warnt, dass jenen, die bislang zumindest gemeldet waren, in diesem Fall eine Art „ziviler Tod“ drohe, mit dem sie vollends aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden würden. „Schulden werden sich akkumulieren. Wer nicht bezahlt, dem droht die Sperre und Pfändung seines Bankkontos“, weiß Francisco Solans von der spanischen Anwaltskammer, wo er mit AusländerInnenrechten betraut ist. Einen Privatkonkurs gibt es in Spanien ohnehin nicht.

Doch wie die nötigen Beträge etwa von PflegerInnen und HaushaltshelferInnen, die in der Schattenwirtschaft arbeiten, von TaglöhnerInnen in dem „Plastikmeer“ aus Gewächshäusern rund um das südspanische Almeria, oder von den vielen StraßenhändlerInnen aufgebracht werden sollen, fragen sich FlüchtlingshelferInnen und Oppositionsparteien gleichermaßen. Immerhin sollen es zwischen 150.000 und 200.000 Menschen aus nicht EU-Staaten sein, die aus dem System gekippt wurden, wie offizielle Ministeriumszahlen belegen.

Widerstand. Doch nicht alle spanischen Regionen wollen dem Spardiktat der Madrider Zentralregierung Folge leisten. Abseits der PP-regierten Regionen Madrid, Valencia, Aragón, Balearen und Kastilien-León, wo ein jeder Arztbesuch fortan verrechnet wird, selbst wenn der oder die Kranke keine Mittel hat, um diesen zu bezahlen, rebellieren etwa das von einer Koalition aus SozialistInnen und Linken regierte Andalusien, sowie Katalonien und das Baskenland gegen Matos Pläne. Hier müssen MigrantInnen jedoch ihre lokale soziale Verwurzelung nachweisen, um einen Massenansturm aus anderen Regionen zu verhindern. Diese Regionen gewähren MigrantInnen weiterhin eine kostenlose Gesundheitsversorgung über eine im Leistungsumfang limitierte eigene Form der E-Card. Und auch das konservativ regierte Galicien bietet MigrantInnen ohne regulärem Status die selben Rechte in Sachen Gesundheit wie den SpanierInnen.

Das Geld zählt, nicht der Mensch. „Es ist ein Trugschluss, zu glauben, MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus seien GesundheitstouristInnen”, beklagt Sylvia Koniecki, die sich seit mehr als 25 Jahren bei Granada Acoge für MigrantInnen einsetzt: „Gesundheitstouristen(Innen?) sind meist EU-Bürger? oder Menschen, die aus reicheren Nationen nach Spanien kommen, um sich behandeln zu lassen.“ Mit der neuen Regelung zähle nicht mehr der Mensch, sondern nur mehr das, was er ökonomisch beisteuert, kritisiert Koniecki.

Auch viele ÄrztInnen steigen zudem auf die Barrikaden. „Retten wir Menschen, nicht Banken“, stand etwa auf einem Transparent bei einer Demonstration von MedizinerInnen in Madrid Ende August zum Protest gegen die „Apartheid im Gesundheitswesen“. Diesen Begriff brachte der Arzt Ricardo Angora, Mitglied von Medicos del Mundo (übersetzt, „Ärzte der Welt“) in die Debatte ein. Er pocht auf „das Recht der Ärzte zu behandeln und zu heilen“. „Es geht bei der Gesundheit nicht um ein Privileg, sondern um ein Menschenrecht“, ist er überzeugt. Álvaro González, Präsident ebenjener spanischen NGO, die das sofortige Außerkraftsetzen der betreffenden Gesetzgebung fordert, hofft, „dass die Mobilisierung der Bürger und der starke gesellschaftliche Widerstand gegen die Reform den eingeschlagenen Weg korrigieren wird“.

Und auch MigrantInnenvereine wollen mit Kundgebungen, über den Druck der Straße das Gesetz kippen, das Gilberto Torres, vom Dachverband der Flüchtlingshilfsorganisationen Spaniens als diskriminierend bezeichnet. Auf der Internetplattform yosisanidaduniversal.net werden zudem Fallbeispiele und Leidenswege dokumentiert. Zugleich gibt das Portal auch ÄrztInnen Rat, wie sie weiter – etwa in Berufung auf das Gewissen und den Berufsethos – behandeln können, ohne in einer rechtlichen Zwickmühle zu enden, oder gar den Job zu verlieren. Zudem werden freiwillige BegleiterInnen vermittelt, die mit MigrantInnen ohne regulärem Aufenthaltsstatus gemeinsam zum Arzttermin gehen.

Rationalität versus Solidarität. Mikel Mazkiarán von SOS Racismo kritisiert, dass „ein funktionierendes Modell zerstört worden ist, und nun die Improvisation regiert“. Auch Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm. Deren Sprecher konstatierte gegenüber El País: „Es herrscht große Verwirrung unter MedizinerInnen und unter MigrantInnen, die sich nun vor dem Arztbesuch fürchten, und auch im Krankheitsfall davon absehen, weil sie sich ausweisen müssen.“ Sie listen Fälle auf, wie jenen von M. (32) aus Bolivien, die schwarz als Putzfrau arbeitet. Sie leidet an Depressionen, seit ihr Sohn schwer erkrankt ist, aber kann sich ihre Behandlung nun nicht mehr leisten. P. aus Rumänien leidet an Lungentuberkulose und Diabetes und wird kein Insulin mehr erhalten, während die offene Infektionskrankheit nun auch zum Risiko für seine Mitmenschen werde. Ganz zu Schweigen von den vielen von AIDS- oder Krebskranken, deren Behandlung, wenn überhaupt, einzig unter hohen Kosten fortführbar ist. „Es kann nicht sein, dass man einzig wegen der nicht und nicht enden wollenden Wirtschaftskrise Menschen mir nichts dir nichts aus der Gesundheitsversorgung ausschließt“, kritisiert Hassan Q. (35) aus Marokko, der seit sechs Jahren in Granada lebt und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt.

„Die Rationalität dominiert, nicht die Solidarität. Es gilt einzig zu sparen, und Epidemien vorzubeugen”, klagt Miguel Fonda, Präsident des Dachverbands der Rumänen in Spanien (FEDROM): „Viele Menschen werden nicht mehr behandelt. Das wird gefährliche Konsequenzen haben, nicht nur für die Betroffenen.“ Auch Joe Illoh, Präsident des Vereins der Nigerianer Spaniens wettert gegen das neue Gesetz: „Die extrem nachteilige Maßnahme der Regierung trifft unsere Gemeinschaft sehr stark. Verunsicherung und Angst regieren.“

http://yosisanidaduniversal.net

http://www.medicosdelmundo.org

www.apartheidsanitario.com

 

„Das neue Gesetz, dass MigrantInnen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus dem öffentlichen Gesundheitssystem wirft, ist eine absolute Katastrophe. Zum Glück werden wir hier in Andalusien noch behandelt. Andernorts muss man fortan viel Geld zahlen, wenn man zum Arzt geht. Doch auf der Straße verdienen wir viel zu wenig. Menschen werden sterben. Und mehr noch, wer nicht behandelt wird, steckt viele andere an.“
Modou K. (35) aus dem Senegal schlägt sich seit mehr als sechs Jahren als Straßenhändler in Granada durch.

„Ich bin vor drei Monaten extra aus Alicante nach Granada gezogen, denn in der Region Valencia gibt es im Gegensatz zu Andalusien keine Gesundheitsversorgung für Menschen wie mich, die keine Papiere haben. Das kann doch nicht die Lösung sein. Die geforderten Beiträge kann sich niemand leisten. Es gibt keine Arbeit. Jeden Tag gehe ich in die Armenküche, um zumindest etwas Essen zu bekommen. Ich lebe in ständiger Angst, abgeschoben zu werden.“
Ismael S. (36) aus Mali lebt seit sieben Jahren in Spanien

„Zum Glück haben Ärzte und Pfleger ein viel größeres Herz als Politiker, die meist nur Populismus schüren und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Die Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Die Gesundheit eines jeden ist immens wertvoll, dennoch darf sie keinen Preis haben.“ 
Nordin S. (56) kam bereits vor 22 Jahren aus dem marokkanischen Casablanca nach Spanien und führt ein Geschäft in Granada, seit er seinen Aufenthaltsstatus legalisiert hat.

Zurück in die keynesianische Zukunft?

  • 13.07.2012, 18:18

Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 hat zu umfangreichen Debatten über Macht und Ohnmacht des staatlichen Handelns geführt. Wie sind die Taten, die aus diesen abgeleitet wurden, zu bewerten?

Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 hat zu umfangreichen Debatten über Macht und Ohnmacht des staatlichen Handelns geführt. Wie sind die Taten, die aus diesen abgeleitet wurden, zu bewerten?

Keynes! Regulierung! Deficit Spending! Moral! Systemerhaltend! Gier! Viele Schlagworte bestimmen den Diskurs um die Wirtschaftskrise. Während die Ursachenforschung oft sehr oberflächlich passierte, waren sich im öffentlichen Diskurs schnell viele KommentatorInnen und PolitikerInnen einig: Regulation der (Finanz-) Märkte. In Europa geben sich hier vor allem PolitikerInnen wie Sarkozy, Merkel und Zapatero als WortführerInnen. Der „unmenschliche Raubtierkapitalismus“ muss in seine Schranken verwiesen werden. Die ManagerInnen seien Schuld, weil sie weder Moral noch Schamgefühl kennen würden. Anstatt sich mit dem Wirtschaftsystem tiefgehend auseinander zu setzen, haben sich also individualisierende Interpretationen hervor getan. ZeitungskommentatorInnen konstantierten gerne ein moralisches Wir-Gefühl. Wir Anständigen gegen die amoralischen ManagerInnen, die gierig Kapital raffen.

Debattenkonjunktur. Diese verkürzte Krisenanalyse zeigt sich auch in den Bewältigungsstrategien. Hier ist zwischen kurz- bis mittelfristigen Sofortmaßnahmen und langfristigen Strukturmaßnahmen zu unterscheiden. Kurzfristig agierten viele Länder ähnlich mit einer, fast biederen, keynesianischen Wirtschaftspolitik. Die Staaten schnürten Rettungspakete, um die ‚systemerhaltenden‘ Banken zu stabilisieren und somit die soziale Ordnung zu gewährleisten. Bald darauf folgten die ersten Konjunkturpakete, mit dem Ziel die erlahmte Realwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Bei diesen ließen sich die wenigsten Staaten auf Experimente ein: Stärkung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen, günstige Kredite, Steuererleichterungen sowie Investitionen, vor allem in die Baubranche, wurden zu den beliebtesten Rezepten. Die Kontingente fielen allerdings sehr unterschiedlich aus. Während Länder wie die Schweiz nur sehr kleine Gesamtpakete (0,5 Prozent des BIP) schnürten, investierten die großen, stark betroffenen Volkswirtschaften sehr viel mehr. An der Spitze steht hier die USA mit Konjunkturpaketen, die 26 Prozent des BIP ausmachen, das sind 789 Milliarden Dollar. Über Bargeldgutschreibungen für jede Bürgerin und jeden Bürger, Subventionierungen beim Auto- und Häuserkauf sowie Investitionen in die Gesundheitsvorsorge wird auch heute noch versucht, die Kaufkraft zu stabilisieren, mit dem eisernen Ziel zurück zu einem Wirtschaftswachstum zu gelangen. Während aber die Konjunktur in den USA noch nicht anspringen will, prognostizieren WirtschaftsforscherInnen einiger EU-Länder wieder Wachstum.
In Folge wird derzeit eine zweite Welle von (Spar-)Paketen geschnürt. Obwohl bei ihrer Ausgestaltung ein einheitlicher europäischer Trend auszumachen ist, stechen Griechenland und Großbritannien mit ihren Sparpaketen hier besonders hervor. In beiden Ländern wird immens an den Sozialausgaben gespart. In beiden Ländern gibt es zum Teil massiven Widerstand gegen diese Pläne.

Strukturelle Maßnahmen. Der Zielrichtung der Debatten um die richtigen Lösungskonzepte stehen eklatante Brüche zwischen Reden und Handeln gegenüber. In gewissen Abständen kommt etwa die „Tobin Tax“ auf das Tapet. Diese Steuer soll kurzfristige Spekulationen auf Devisengeschäfte unterbinden. Eingeführt wurde sie bis heute, trotz breiter und gewichtiger Unterstützung, nicht.
Zwei Maßnahmen wurden aber in den meisten Ländern der EU durchgesetzt: Zum einen die Begrenzung der Boni für BankerInnen, diese werden künftig auch gedeckelt und dürfen somit nur mehr in einer gewissen Höhe ausbezahlt werden. In Österreich tritt das diesbezügliche Gesetz am 1. Jänner 2011 in Kraft.
Außerdem stellt die EU aktuell ein Spekulations-Gütesiegel vor. Dieses Gütesiegel soll Hedgefonds und ähnliche Unternehmungen bald in seriöse und unseriöse einteilen. So werden dann eben die „guten“ von den „bösen“ SpekulantInnen unterschieden. Diese lässt sich wiederum gut mit der verkürzten Krisenanalyse assoziieren.
In der öffentlichen Debatte werden diese Maßnahmen durchwegs als positiv bewertet. Dass diese aber kaum an der Oberfläche der Krisenursachen kratzen, geht oft unter. Dieses Manko führt zu einer diffusen Vorstellung über die strukturellen Ursachen der Krise und wird, wiedereinmal, mit einem Moral- Diskurs überdeckt. Bei der Bewertung der Lösungsansätze stellt sich schließlich ein weiteres Problem: Die Regierungen scheinen sich im Unklaren darüber zu befinden, wohin diese führen sollen. Ist das Ziel eine umfassende Regulation der Finanzmärkte oder begnügen sich die Regierungen mit Einzelmaßnahmen?

Guter und böser Kapitalismus. Die Hilflosigkeit des staatlichen Handelns ist klar erkennbar. Während er einerseits in kurz- und mittelfristigen Stabilisierungsmaßnahmen viel an Macht und Einfluss gewonnen hat, so agieren die meisten Staaten bei Strukturmaßnahmen zögerlich bis hilflos. So erscheint der Staat als Retter in der Not – eine heroische Rolle, die ihm im medialen Diskurs zukommt. Staatliche Handlungsspielräume wurden hingegen kaum geschaffen.
Der Diskurs um Moral, Werte und Gier bestimmte die Krisenanalyse und wälzt die Schuld auf einzelne Menschen ab. Eine klassisch neoliberale Strategie. Nicht das System hat versagt, sondern einzelne Menschen. Handlungsspielräume werden nicht allgemein strukturell sondern über den Willen des Einzelnen oder der Einzelnen erklärt. Appelliert wird an das Gute oder das Diabolische. Die soziale Marktwirtschaft übernahm lange Zeit die Rolle des „guten“ Kapitalismus.
Dieser Traum vom guten Kapitalismus scheint ausgeträumt, jetzt wird auf den ein-bisschen-besseren Kapitalismus gepocht.

Gutes Leben statt Wachstumswahn

  • 13.07.2012, 18:18

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Die Weltwirtschaftskrise verläuft wie ein Schwelbrand, flackert erst hier und dann dort auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist kein Wunder, denn Krisen gehören zur Normalität der kapitalistischen Ökonomie, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell verrät. Und bis sich eine Krise vom Kaliber der Großen Depression der 1930er Jahre voll entfaltet hat, dauert es seine Zeit. Schließlich liegt der Kollaps der Lehmann Bank erst zwei Jahre zurück. Gleichzeitig wirft die Doppelkrise des fossilistischen Weltenergiesystems ihre verheerenden Schatten voraus. Die Fluten im Sommer dieses Jahres in Pakistan demonstrierten dramatisch die Folgen der Klimaerwärmung. Und Ressourcenkriege wie im Irak oder die Straßenproteste in Mosambique gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise Anfang September deuten an, wie sich Energie- und Rohstoffverknappung und das baldige Erreichen des Fördermaximums von Öl (Peak Oil) auswirken könnten.

Angesichts der Desaster, die das derzeitige Akkumulationsmodell (accumulare, lat.: anhäufen) des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit sich bringt, hat gegenwärtig eine Renaissance des Nachdenkens über andere ökonomische Systeme, über Leben und Wirtschaften ohne Wachstum, begonnen. Trotz der multiplen Krise sitzen allerdings die neoliberalen PropagandistInnen von „rationalen“ und „effizienten“ (Finanz-) Märkten weiterhin fest im Sattel. Lernkurve = sehr flach. Dementsprechend ist „mehr Wachstum“ die Parole aller Regierungen, um aus der Krise herauszukommen und insbesondere die Banken zu retten. Und welche Relevanz eine tatsächliche Bearbeitung der Klimakrise für die meisten Regierungen hat, ist an dem Kollaps der Klimaverhandlungen im vergangenen Dezember in Kopenhagen abzulesen: Keine Große. Dass ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem an ökologische Grenzen stoßen wird, ist allerdings spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein Allgemeinplatz. „Jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum auf eine begrenzten Planeten unendlich weitergehen kann, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom“, sagte in diesem Kontext Kenneth Boulding (1910–1993), selbst Mitglied der Ökonomenzunft und ehemals Präsident der einflussreichen American Economic Association.
Trotzdem greifen viele als Alternativmodell zum Casino-Kapitalismus auf die bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden so genannten keynesianischen Politikrezepte zurück. Der britische Ökonom John M. Keynes hatte in den 1930er Jahren eine ökonomische Entwicklungsweise skizziert, die auf hohen Löhnen, stabilen sozialen Sicherungsystemen und massiven öffentlichen Investitionen beruhte, um so die Basis für eine breite Massennachfrage zu schaffen. Ganz im Gegensatz also zum neoliberalen Modell, welches Niedrigstlöhne, Prekarisierung und mit Hilfe von Steuersenkungen für die Reichen nur ausgetrocknete öffentliche Haushalte im Angebot hat. Unbestritten boten keynesianische Strategien für viele Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus der Armut und einen angenehmen Lebensstandard – zumindest wenn man im Norden des Globus lebte und nicht im Süden, der schlicht billige Rohstoffe zu liefern hatte. Der Journalist Gerald Fricke fragt noch einen Schritt weiter: „War eigentlich früher, als der goldene Keynesianismus noch funktionierte, alles besser? Als man noch für sein Auto arbeitete, mit dem man dann zur Arbeit fuhr, um für sein Auto zu arbeiten, mit dem man dann wieder zur Arbeit fuhr, auf Straßen, die Papa Staat fleißig baute und Scheiß auf die Umwelt? Natürlich nicht, aber manchmal glaubt man‘s irgendwie fast.“

Einen ansatzweise kohärenten Versuch einer korrigierenden Weiterentwicklung bemühen sich (öko-) keynesianische Ansätze zu skizzieren – mit Hilfe von Regulierungskonzepten und Investitionen in zum Beispiel erneuerbare Energien und Bildung. Angesichts der Dimension der Verwerfungen der Weltwirtschaft und der Zerstörungen der Biosphäre greifen sie jedoch zu kurz. Ein Abschied vom Wachstumswahn wird nicht gewagt. Im Gegenteil: es geht gerade um die Dynamik eines neuen, „grünen“ oder „nachhaltigen“ Wachstumszyklus. Eine solidarische Gesellschaft, die ohne die Nutzung eines imperialen UmweltraumS (Öl aus Kuwait, Kohle aus Kolumbien, Soja aus Brasilien etc.) auskommt und darauf zielt, Bedingungen zu schaffen, die allen weltweit die Verwirklichung sozialer Rechte ermöglicht, wird es allerdings ohne den Schritt in eine Postwachstumsökonomie kaum geben können. Denn die imperiale Lebensweise, das fossilistische Produktionsund Konsummodell, das sich in den entwickelten Ökonomien des globalen Nordens durchgesetzt hat, ist  nicht verallgemeinerbar, auch nicht durch technischen Fortschritt. Zum Beispiel lassen sich die im Norden notwendigen CO2-Reduktionen um 95 Prozent bis 2050 nicht bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum erreichen. Die technischen (Effizienz-) Innovationen, die den notwendigen Grad von absoluter Entkopplung von BIP-Steigerung bei gleichzeitigem massivem Sinken des Naturverbrauchs ermöglichen, sind nicht möglich. Der Ausweg: Eine zunächst deutlich schrumpfende und sich dann auf einem ökologisch tragfähigen Niveau stabilisierende Ökonomie.

Inzwischen gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen, es werden laufend neue Artikel und Bücher veröffentlicht und die Diskussion wird von aktivistischen Klima- Aktionscamps bis in Parteien geführt. Dabei besteht zum einen die Gefahr, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, die daraus folgenden weit reichenden Antworten aber gescheut werden. Schließlich würde der ernsthafte Versuch eine Postwachstumsökonomie zu denken und durchzusetzen, grundsätzliche Prinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft umstoßen, insbesondere das Profitprinzip. Zum anderen besteht die Gefahr falscher, unsolidarischer Antworten: Einige Neoliberale – in Deutschland zum Beispiel Meinhard Miegel – sind inzwischen zu Wachstumskritikern geworden. Ihre Formel ist simpel: Wegen ökologischer Grenzen muss die Ökonomie schrumpfen, und auf diesem Wege kann man praktischerweise den Sozialstaat auch schrumpfen und das Rentenalter erhöhen. So kann Wachstumskritik zur Legitimaton von Armut benutzt werden, statt Umverteilung und soziale Gleichheit als Bedingung für eine schwierige Transformation zu fordern.

Besonders in Südeuropa gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige Diskussion, die sowohl lokal in Netzwerken solidarischer Ökonomie verankert ist, als auch transnational vernetzt über die internationalen Degrowth Konferenzen (Paris 2008, Barcelona 2010) stattfindet. In Frankreich gibt sich diese Bewegung das Label décroissance – frei übersetzt „Ent-Wachstum“ (engl. degrowth), als der aktive Prozess der Rücknahme von Wachstum und Schrumpfung hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie. Nur in einer solchen ist die Zukunft, die Verwirklichung sozialer Rechte und ein gutes Leben weltweit für alle möglich. Es geht daher darum, grundlegende Alternativen zu denken und diese in konkreten Kämpfen zuzuspitzen.

Blog: www.postwachstum.net

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