Veganismus

Feiern gegen die Gesamtscheiße

  • 23.02.2017, 20:20
Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Der Winter ist vorbei und mit den ersten Sonnenstrahlen tauchen auch die ersten Gedanken an die Festival-Saison auf. Während die einen im Winter auf einen erfüllten Ferienkommunismus zurückblicken konnten, haben andere daheim weiter gearbeitet: am Refugee-Projekt, im Haushalt, haben Demos angemeldet oder ihr Zuhause verteidigt. Der Ärger über den Hedonismus ist nicht neu, auch nicht die Frage, wie links oder subversiv es sein kann, mehrere Tage unter dem Motto „Koksen, Kotzen, Kommunismus“ in einer arrangierten Parallelwelt zu feiern.

Wer ein Festival wie die „Fusion“ besuchen kann und wer nicht, wird durch die hohen Kosten für die Anreise, die Vergabe teurer Tickets im Lotterie- Verfahren und andere Barrieren, wie etwa Stacheldraht, festgelegt: ein weitestgehend junges, weißes Publikum, das unkritisch Federkopfschmuck oder Dreadlocks trägt. Das Statement der Veranstaltenden, „Vier Tage Ferienkommunismus ist das Motto der ‚Fusion‘. (…) Weil es aber keinen Ort nirgends gibt, wo die Menschen frei sind, ist es gerade die Vereinigung der FusionistInnen aller Länder und der Ferienkommunismus, der uns spüren lässt, dass wir mehr wollen, als das, was uns in diesem Leben geboten wird. Nämlich alles und zwar sofort!“, meint eben alles für alle mit bezahltem Ticket. Nun sind der Besuch von Dixie-Klos und Dauerrausch nicht unbedingt eine rühmliche oder produktive Freizeitgestaltung, aber für manche eben Erholung. Gerne werden vermeintliche „Wohlfühllinke“ kritisiert, die bloß zu Festivals und Soli-Partys gehen, nicht aber nicht bei Lesekreisen und Plena auftauchen. Kapitalistische Härte für alle zu fordern, passt gut in eine Zeit, in der die Kritik an einer kalten Ellenbogen-Gesellschaft ins Gegenteil umschwenkt. Mit Begriffen wie „Slacking“, also dem ambitionslosen Herumhängen, oder „Cocooning“, dem angeblichen Rückzug ins Private, wird Kritik geäußert: Der Rückzug in die persönliche „Comfortzone“ und das „Einbubbeln“ seien Probleme, die genauso wie Netzaktivismus überwunden werden müssten. Das glauben nicht nur Berufsberater_innen, sondern auch asketisch orientierte Linke.

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Dabei wird eine Revolution wohl auch nicht von jenen ausgelöst, die sich nicht auf Festivals schon morgens mit Pfefferminzschnaps betrinken oder „Pokémon Go“ spielen. Hedonistische und materielle Lebensweisen – als „Opium fürs Volk“ (Lenin) – abzulehnen, vergrößert die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Während das „Antifaschistische Sommercamp“ sicherlich mehr linke ECTS bringt als der Besuch des „Nova Rock“, haben beide gemeinsam, dass dort Kontakte geknüpft und gepflegt werden, Beziehungen, Freundschaften und Projektideen entstehen. Das Versinken in der Party, der Musik, in einem Pulk Menschen, die sich gegenseitig akzeptieren, kann eine einzigartige Erfahrung sein und einen Schutzraum, fern von Alltagsproblemen oder Diskriminierungen, bieten. Ein Festival kann auch sinnlose Gaudi und Besäufnis im Dreck sein, ohne Anspruch auf Verwertbarkeit. Statt dies abzulehnen, sollte ein linker Selbstanspruch lauten, solche Erfahrungen und das gute Leben allen zugänglich zu machen. Denn Burnout ist nicht nur im Job, sondern auch in der aktivistischen oder ehrenamtlichen Arbeit ein Thema.

KAPITALISTISCHE HÄRTE FÜR ALLE. Ohne Bezahlung, dafür mit Gruppendruck und nach dem Motto „Wer macht, hat Recht“, wird auch in der Linken teilweise bis zur Selbstaufgabe gearbeitet. Wer sich durch besonderes Engagement hervortut, verschafft sich Wert und Bedeutung. Das Recht der Macher_innen führt fast unweigerlich auch zu Gatekeeping, also der Macht über Informationsflüsse und Zugang zu Ressourcen. Solche Entwicklungen und Haltungen unterscheiden sich manchmal kaum von ausbeuterischen Strukturen der Arbeitswelt. So wird gegenseitige Mobilisierung zur Regulierung. Wer sich wann, mit wem, auf welcher Demo zeigt oder nicht, wird beobachtet und bewertet, ohne unterschiedliche Abilities oder Arbeitsverhältnisse einzubeziehen oder sich zu fragen, wer sich wieviel Freizeitopfer oder die Fahrkarte zur Projektbesprechung leisten kann. Wie gefährlich das ist, zeigen mehrere Fälle, in denen Polizeispitzel lokale Projekte wie etwa die „Rote Flora“ in Hamburg unterwandern konnten oder (mutmaßliche) Vergewaltiger wie Assange und Jacob Appelbaum wichtige Rollen in aktivistischen Umfeldern einnehmen konnten.

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YO, FUTURE! „Don’t smoke, don’t drink, don’t fuck, at least I can fucking think“, singt Ian MacKaye von der Band Minor Threat im Song „Out of Step“, der zentral bei der Entstehung der asketisch lebenden Straight-Edge-Bewegung (sXe) war. So daneben zugequalmte Kulturzentren, betrunkene Ausfälle und unbefriedigende One-Night-Stands auch sein mögen, der Gegenentwurf zur selbstzerstörerischen Punk-Kultur der 80er („No Future“) klingt im heutigen Kontext, in dem „bewusster“ Konsum und Verzicht im selbstoptimierenden Mainstream angekommen sind, fast wie eine Erhebung über die Rauchenden, Trinkenden und Fickenden. Denen wird, zumindest implizit, die Fähigkeit zum eigenständigen Denken abgesprochen.

Die nüchterne Subkultur argumentiert etwa, dass für die Gestaltung politischer Aktionen ein klarer Kopf von Vorteil sei. Wer vor Demos und Aktionen Alkohol trinkt oder Drogen nimmt, gefährdet sich selbst und andere, das steht in jeder „Demo 1x1“- Broschüre. Ein Handbuch für das richtige Linkssein im falschen gibt es aber glücklicherweise nicht. So ist sXe ein radikaler Versuch, politische Dimensionen des eigenen Konsums oder Verzichts aufzuzeigen. Viele Edger_innen leben zudem vegan und denken beispielsweise durch Antispeziismus oder Unterstützung von Fair-Trade-Produkten Machtverhältnisse in ihren Konsumpraxen mit.

Auch über Esskultur werden Machtverhältnisse, Rassismen und Klassen reproduziert. Wer, was und wie öffentlich essen darf oder nicht, ist nicht erst dann politisch, wenn ein „denn’s“-Biomarkt in die ehemalige „Zielpunkt“-Filiale einzieht oder auf der Straße Fat- und Bodyshaming betrieben werden. Anzunehmen, jede Küche, in der Chia-Samen verwendet werden, wäre Brutstätte für Körperkult oder moralische Überheblichkeit, ist jedoch genauso falsch, wie zu glauben, die Kaufentscheidung für die saisonalen, regionalen Bio-Zucchini, wären ein wirksames Statement. Mögen sich auch einzelne durch ihre Ernährungsform und Lifestyle-Wahl über andere erheben wollen, versuchen die meisten doch schlicht, zu essen, was sie sich leisten können, was ihnen gut tut und für sie selbst ethisch vertretbar ist. Als Verbraucher_in ist kaum zu überblicken, wie Produktions- und Beschäftigungsbedingungen oder Konzernstrukturen wirklich aussehen.

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SAUFEN, SNICKERS, SELF-CARE. Das bekannte Zitat „Mich um mich selbst zu sorgen, heißt nicht, sich gehen zu lassen. Es ist selbsterhaltend und das ist ein Mittel des politischen Kampfs“ von Audre Lorde setzt destruktiven Machtstrukturen das Konzept der „self-care“, also der Selbstfürsorge, und der radikalen „self-love“ entgegen. „Sich nicht gehen lassen“, regelmäßige Mahlzeiten und auch gesunde Ernährung können self-care sein. Für sich selbst zu sorgen, kann aber auch bedeuten, maßlos Junkfood zu essen, wochenlang mit niemandem zu reden und Videospiele zu spielen. Das Saufen auf dem Festival oder die Familienpackung Snickers sind nicht nur selbstschädigend, sie bedienen bloß andere Bedürfnisse als nur die richtige Nährstoffzufuhr. Eigentlich hedonistische Lebens- und Verhaltensweisen werden ent-individualisiert, das (gute) Überleben gilt als revolutionärer Akt: „Selbsterhalt ist Widerstand.“

Selbstfürsorge basiert auf dem Gedanken: Erst, wenn es mir selbst gut geht, kann ich anderen helfen, denen es nicht so gut geht, und habe ich das nötige Rüstzeug, um auch langfristig politisch aktiv sein zu können. Zu den Ursprüngen der „selfcare“- Idee schreibt die feministische Autorin Laurie Penny: „Weite Teile der Linken können noch eine Menge von der Queer-Community lernen, die schon lange die Haltung vertritt, dass für sich selbst und seine Freund_innen zu sorgen in einer Welt voller Vorurteile kein optionaler Bestandteil des Kampfes, sondern auf viele Arten der Kampf selbst ist.“

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Nicht umsonst kommen alternative Beziehungskonzepte wie Relationship Anarchy, die Freundschaften und anderen nicht-sexuellen Beziehungen größere Bedeutung zumessen, aus der Community. Enge Freundschaften und Netzwerke können für Queers oder von Rassismus Betroffene lebenswichtig sein. Die klassische monogame Hetero-Paar-Beziehung ist nach wie vor Quell für Unterdrückung und Gewalt: „Durch ihren (früheren) Partner wurde 13 % der Österreicherinnen körperliche/sexuelle Gewalt sowie 38 % der Frauen psychische Gewalt zugefügt – etwa durch Einschüchterung, Kontrolle, Hausarrest oder Herabwürdigung vor anderen Personen.“ Dass die Ehe aber auch eine Schutzfunktion für die Ehepart13 ner_innen und Kinder beinhalten und Absicherung bedeuten kann, wird gerne ignoriert, etwa wenn queere Paare sich dafür rechtfertigen sollen, eine „Ehe für alle“ zu fordern und damit angeblich ein Recht auf Spießbürgerlichkeit einfordern – wenn der rechtliche Status in der Praxis darüber bestimmt, wer etwa am Krankenhausbett Händchen halten darf und wer nicht.

Gegenkonzepte wie Polyamorie oder das Verzichten auf schnellen Sex von Straight Edgern können aber vor allem für Frauen Freiheiten bedeuten. Rebecca Gold fasst in einem Essay zusammen: „Wir können das Patriarchat nicht rückgängig machen ohne Monogamie zu verdrängen“ und schreibt weiter: „In einer nicht monogamen Welt werden Frauen ihr Leben nicht damit verschwenden, nach dem perfekten Mann zu suchen. Intimität wird eine immer präsente Möglichkeit sein, die biologische Uhr wird nicht mehr die Flugbahn bestimmen, die das Leben einer Frau einschlägt, da das Konzept von Familie weniger an biologische Reproduktion geknüpft ist.“ Doch auch Mehrpersonen-Beziehungen schnurren schnell auf eine klassische Familienkonstellation zusammen, sobald Windeln gewechselt werden müssen oder die Festivalsaison ansteht. Um gleiche (reproduktive) Rechte, die Auflösung klassischer Familienbilder, Eifersucht, gerecht verteilte Care-Arbeit und sexuelle Selbstbestimmung oder Kindererziehung ohne Stereotypen geht es im (Beziehungs-)Alltag oft nur am Rande, egal welches Label wir unseren Zwischenmenschlichkeiten verpassen.

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Das gute Leben für alle – es darf ruhig bei uns selbst anfangen. Ob der Bio-Apfel, ein Snickers, Polyamorie oder der Lesekreis sich gut anfühlen, bleibt dabei uns überlassen. Der persönliche Lifestyle und die Freiheit, andere Lebensweisen und -konzepte ausprobieren zu können, ist nicht einfach da, sie muss immer wieder verhandelt, behauptet und neu erkämpft werden. Und irgendjemand räumt danach den Müll vom Festivalplatz.

Anne Pohl ist freiberufliche Marketing- und Event- Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Bestie Tier – Bestie Mensch?

  • 19.07.2014, 14:30

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Über die Notwendigkeit eines tierrechtlichen Diskurses. Ein Beitrag von Gabriel Binder.

Der Wiener Neustädter Tierschutzprozess hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Tierrechten in Österreich vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Forderung nach elementaren und umfassenden Rechten für die Tierwelt durch ihre menschlichen Advokaten stößt auf scharfen Gegenwind seitens der Staatsmacht und der Wirtschaft.

Im Juni dieses Jahres wurde mit Felix Hnat, dem Obmann der Veganen Gesellschaft Österreich (VGÖ), der letzte Angeklagte im berühmt gewordenen Tierschutzprozess nach sechs Jahren Ungewissheit freigesprochen. Bereits im März 2010 bis Mai 2011 standen 13 Angeklagte aus unterschiedlichen Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen in Wiener Neustadt vor Gericht und mussten sich gegen verschiedene Vorwürfe wie der Bildung einer kriminellen Organisation (§ 278a), Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Tierquälerei (nach einer Befreiungsaktion von Schweinen) verteidigen. Am 02. Mai 2011 wurden alle 13 Angeklagten in allen Punkten freigesprochen. Vorerst. Denn im Juni 2012 legte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt Berufung ein. Gegen fünf  Angeklagte wurden im Frühjahr 2014 Rumpfprozesse gestartet, die jedoch allesamt ebenfalls mit glatten Freisprüchen endeten. Keine Nötigung, keine Sachbeschädigung, keine Tierquälerei, kein Widerstand gegen die Staatsgewalt konnte nachgewiesen werden.

Am Ende war der Wiener Neustädter Tierschutzprozess für die österreichische Justiz eine Blamage, Demaskierung und Toterklärung. Tierrechtler_innen wurden in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der österreichischen Ermittler_innen genommen. Doch weshalb setzen sich Menschen so vehement für die Rechte von Tieren ein, sodass selbst die Repressionsbehörde auf den Plan gerufen wird? Handelt es sich bei diesen Menschen um weltfremde Spinner_innen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben? Wie erklärt sich der gegenwärtige Aufschwung des Veganismus, also einer Lebensphilosophie, die so gut als möglich die Nutzung von Tierprodukten aus dem (eigenen) Alltag verbannen will?

Lebensmittelskandale, Tierfabriken, ökologische Gründe und/oder der Wunsch nach einer gesünderen Kost (Stichwort: Unverträglichkeiten) haben viele Menschen in Österreich dazu bewogen, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren. Verzichtet man beim Vegetarismus nur auf den Konsum von Fleisch, geht der Veganismus noch einen Schritt weiter: So gut als möglich wird auf den Konsum von Tierprodukten (Fleisch, Milch, Eier, Honig, Leder) verzichtet und durch pflanzliche Alternativen ersetzt. Alleine in Wien leben laut der Veganen Gesellschaft Österreich etwa 200.000 Vegetarier_innen, ca. zehn Prozent davon vegan - Tendenz steigend. Und auch der Handel stellt sich darauf ein. So erweitert sich das pflanzliche Angebot im Bereich der Gastronomie rasend; Supermarktketten bieten vermehrt vegane Produkte an und unlängst hat in Wien bereits der zweite rein vegane Supermarkt eröffnet.

Die Gründe für eine rein pflanzliche Kost können vielseitig sein. Besonders interessant sind aber – in Verbindung mit dem Veganismus – die Diskussionen und Forderungen nach elementaren Rechten für Tiere. Es stellt sich die Frage, was Tierrechtler_innen erreichen wollen. Soll etwa durch die Hintertür schlussendlich das Wahlrecht für die Kuh eingeführt werden? In Anbetracht der parteipolitischen Vorlieben in diesem Land vermutlich keine schlechte Idee. Wer weiß, vielleicht würden uns die Kühe einen Linksruck bescheren. Es geht jedoch um andere Dinge.

Der Blick über den Tellerrand

Der Einsatz von Menschen für Tierrechte basiert auf einem antirassistischen Grundverständnis, das Unterdrückungs- und Diskriminierungsmuster nicht nur unter Menschen beseitigen will, sondern einen Schritt weiter geht und den Antirassismus auf andere Spezies ausweitet; auch Antispeziesismus genannt. Dieser stellt die vom Menschen gezogene Mensch-Tier-Grenze in Frage, wobei selbst die Definition „Mensch-Tier“ unzureichend ist und deshalb in der Tierrechtsbewegung von „menschlichen Tieren“ und „nichtmenschlichen Tieren“ gesprochen wird. Diese Definition ist für den Diskurs in der Tierrechtsbewegung auch nicht unwesentlich; ist doch der Mensch ein Tier und gehört der Gruppe der höheren Säugetiere an. Wie auch das Geschlecht (Mann/Frau) ein gesellschaftliches Konstrukt ist, so ist auch die Trennung zwischen „Mensch“ und „Tier“ ein gesellschaftliches, ein vom Menschen geschaffenes Korsett, um Handlungen, die gegen das Wohl von nichtmenschlichen Tieren gerichtet sind, zu legitimieren.

Moralischer Selbstbetrug – der Karnismus

In westlichen Gesellschaften schreckt man davor zurück, einen Hund oder eine Katze, die als Haustiere ihr Leben mit Menschen teilen, zu verspeisen, gleichzeitig hat man aber wenig Probleme damit, ein Schwein oder ein Kalb zu essen, das geschlachtet wurde, um das eigene Bedürfnis nach Fleisch zu befriedigen. Im Unterschied zum „Nutztier“ wird dem Haustier Individualität zugeschrieben. Es wird Teil des kleinen (häuslichen) Kosmos‘, es wird zum Familienmitglied. Wir geben den Haustieren Namen, verbringen Zeit mit ihnen, füttern sie und gehen mit ihnen zum Arzt, wenn wir Anzeichen von Krankheiten bzw. Schmerzen erkennen. Wir pflegen sie und können in sehr lange Trauer verfallen, wenn sich das geliebte Tier von uns verabschiedet und stirbt. Aber das tote Stück Tier am Teller, das anonyme Schwein oder Kalb, das am Küchentisch nie mehr war als eben das Stück tote Fleisch, fällt durch alle von uns den Haustieren zugeschriebenen Kategorien. Melanie Joy, eine US-amerikanische Psychologin, erklärt diesen Widerspruch mit dem Wort Karnismus. Vereinfacht gesagt teilt der Mensch Tiere in „essbar“ und „nicht essbar“ ein – je nachdem, aus welchem gesellschaftlichen Kontext er kommt. Aber welche rationalen Argumente gibt es, welche Tiere wir essen dürfen und welche nicht? Und weshalb ernähren wir uns nicht von Menschenfleisch, das als Eiweißquelle genauso tauglich ist wie das Fleisch von nichtmenschlichen Tieren? Krank macht der Veganismus jedenfalls nicht. Es ist bereits wissenschaftlich bewiesen, dass eine gut durchdachte vegane Ernährung in allen Lebenslagen geeignet ist.

Die Grenzziehung als reine Willkür?

Wenn es nach den nichtmenschlichen Tieren gehen würde, so würden sie wohl lieber leben als sterben. Wenn sie einer externen Schmerzquelle ausgesetzt sind, versuchen sie, sich von dieser zu entfernen und erinnern uns in ihrem Verhalten (sich winden, schmerzerfüllte Schreie) an uns Menschen selbst. Die Behauptung, dass wir nicht wissen können, ob Tiere in der Lage sind, Schmerzen zu empfinden, ist irrelevant. Unsere Erfahrungen lassen uns wissen, welche Reaktionen auf Schmerzen folgen und wir müssen annehmen, dass es sich bei anderen Individuen ähnlich verhält.

Aber was sind nun die Ausschlusskriterien, die unseren brutalen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren rechtfertigen? Was macht nichtmenschliche Tiere so besonders, dass sie in Stallungen gesteckt, eingesperrt, ausgepumpt, gequält, totgeschossen und totgeschlagen werden? Ist es ihre „fehlende“ Intelligenz? Es wird angenommen, dass Schweine intelligenter sind als menschliche Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren. Sollte man daraus schließen, dass man Menschenkinder bis zum Alter bis zu drei Jahren ebenfalls verspeisen könnte? Zugegeben: Kein Gedanke, bei dem sich Wohlgefallen einstellen mag. Ist es die Anzahl der Füße oder Pfoten? Ist es die Körperbehaarung, die bei nichtmenschlichen Tieren vermehrt auftritt? Wie ist dann mit Menschen zu verfahren, die über einen übermäßigen Haarwuchs klagen? Sind es die Unterschiede in der Art und Weise der Kommunikation? Das „Fehlen“ einer Sprache im Reich der nichtmenschlichen Tiere? Tiere verfügen über eine Sprache und sie verständigen sich mittels unterschiedlichster Geräusche. Delfine können ihre Artgenoss_innen beim Namen nennen, indem sie unterschiedliche Pfeiftöne wiedergeben. Wer selbst einmal eine Katze oder einen Hund „besessen“ hat, der/die weiß, auf wie viele unterschiedliche Arten Tiere sogar mit Menschen kommunizieren können. Das Vorhandensein oder Fehlen von Sprache kann kein Kriterium sein, das uns sagt, was wir essen dürfen und was nicht. Menschen müssen sich ihren Wortschatz nach der Geburt erst aneignen oder können sogar stumm geboren werden.

Ein Hauptargument scheint wohl der des „guten Geschmacks“ von Fleisch zu sein (immer vorausgesetzt im Diskurs: Es geht um Länder auf der Erde, auf denen man bereits ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auf tierische Proteine verzichten und durch pflanzliche ersetzen kann). Das Geschmacksempfinden des Menschen ist aber ein subjektives und Fleisch gewinnt oft erst durch die Zugabe der richtigen Gewürze an Geschmack. Allen Argumenten ist gemein, dass sie das Interesse der Tiere nicht berücksichtigen und der Mensch sich einem Wertesystem bedient, das er selbst geschaffen hat. Die Entscheidung, ob man Fleisch isst oder nicht, wird als individuelle Entscheidung angesehen, auf die der Mensch ein Naturrecht zu haben scheint.

Das eigene Spiegelbild – das Bewusstsein als Knackpunkt?

Im 17. Jahrhundert sprach René Descartes im Zusammenhang mit Tieren von Maschinen, die über kein eigenes Bewusstsein verfügen. Diese „Lehrmeinung“ scheint immer mehr an Gewicht zu verlieren. Vielmehr wird z.B. Affen und Delfinen ein Bewusstsein zugeschrieben. Makaken können sich selbst im Spiegel erkennen und besitzen somit ein „Selbstbewusstsein“. Indien hat im Jahr 2013 Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Ergebnissen gezogen und Delfine als nichtmenschliche Personen anerkannt. Sie haben somit ein Recht auf Freiheit und Unversehrtheit.

Aber unter all den Gesichtspunkten wiegt die Forderung von Tierrechtler_innen, nichtmenschlichen Tieren in den von Menschen geführten moralischen Diskurs mit einzubeziehen, revolutionär und oft verstörend. Die Frage, welche nichtmenschlichen Tiere von der Zusprechung von Rechten profitieren sollen, kann man am ehesten mit der Möglichkeit, Schmerzen empfinden zu können, argumentieren. Aber auch das Vorhandensein von einem Bewusstsein kann ein Gradmesser, sollte aber nicht Alleinstellungsmerkmal sein. Es kommt auf die komplexen Eigenschaften an, die menschliche und nichtmenschliche Tiere von Pflanzen trennen. In „Zoopolis“, einem erst kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienen Buch von Sue Donaldson und Will Kymlicka, gehen die Autor_innen auch noch einen Schritt weiter und fordern Bürger_innenrechte für domestizierte Tiere. Es mag auf den ersten Blick nach einem Affront klingen, einem Angriff auf das Menschsein. In Wirklichkeit ist es aber nur ein Versuch, auf argumentative Weise den Diskurs um Tierrechte voranzubringen. Warum es Menschen gibt, die den Diskurs anregen wollen? Weil sie es können.

 

Gabriel Binder (geb. 1987) studiert Geschichte an der Universität Wien, ist freier Schriftsteller und mitunter bei Screaming Birds engagiert.

 

Recht auf Spezies?

  • 19.07.2014, 14:26

progress online hat im Zuge einer Lesung in Wien mit dem Tierrechtler, Künstler und Autor Chris Moser (37) ein Gespräch geführt, das spannende Einblicke in Staatsrepression, Tierrechte und Antifaschismus gewähren lässt.

progress online hat im Zuge einer Lesung in Wien mit dem Tierrechtler, Künstler und Autor Chris Moser (37) ein Gespräch geführt, das spannende Einblicke in Staatsrepression, Tierrechte und Antifaschismus gewähren lässt.

Angesichts der minimierten Neuauflage des in die Annalen der Geschichte eingegangenen „Tierschutzprozess“ – der mit fünf Freisprüchen endete – ist dies eine enorm wichtige Hinwendung zu einem politisch relevanten Thema. Chris Moser war im Zuge des Tierschutzprozesses selbst drei Monate in Gefangenschaft gewesen.

progress: Du warst im Jahr 2008 drei Monate in U-Haft. Für dich muss das ein einschneidendes Ereignis in deinem Leben gewesen sein. Hat sich danach auch in deinem Denken und Handeln etwas grundlegend geändert?

Chris Moser: Ja, denn wir wurden ungerechtfertigt in U-Haft gesteckt. Das Gericht hat mir E-Mails mit lustigen Ironie-tags vorgehalten. Sehr wohl ironische, zynische Nachrichten. In einem E-Mail steht: „Machen wir doch einen Aktivist_innenworkshop, wer hat einen Platz?“ Ich habe geschrieben: "Gehen wir doch über die Baumgrenze, das ist cool, da ist niemand." Daraufhin kam die Antwort: "Nein, das ist so unbequem. Die Tierrechtsarbeit ist ohnehin schon schwer genug. Warum kann man es sich nicht gemütlich machen? Wieso muss man sich zurückziehen wie eine paramilitärische Gruppe, die Schießübungen macht?“ Ich habe dann geschrieben: „Das ist ja super, genau was wir wollen.“ Im Mail kann man diese Ironie nicht mehr hinauslesen und das fällt dir dann auf den Kopf. Sogar so arg, dass mein Anwalt gesagt hat: „Entschuldige, das kannst nicht schreiben.“

Obwohl du „emoticons“ verwendet hast – Gesichter aus Satzzeichen, die einer Nachricht den entscheidenden Ton geben können.

Ja und so ähnlich habe ich auch telefoniert. Wenn mich mein Gegenüber beim Telefonieren kennt, dann weiß es zum Teil über meine überspitzten Formulierungen Bescheid. Meine ganze Ironie, meinen ganzen Zynismus, meinen Humor. Und da hockt ein_e dritte_r Telefonteilnehmer_in und ist Polizist_in und denkt sich: „Das ist ja unvorstellbar radikal.“ Ich hatte speziell in den ersten Wochen, in den ersten Monaten Schlafstörungen. Das ist jetzt viel besser, aber es wäre gelogen, wenn ich nicht sagen würde, dass es verschiedene Gerüche gibt, verschiedene Waschmittel, verschiedene Marken, von denen ich Flashbacks bekomme. Das kann in der Früh sein, beim Autostoppen. Ich gehe frohgemut arbeiten, sitze in einem Autostoppauto, der/die Fahrer_in hat entweder ein komisches Rasierwasser oder komisches Shampoo...

Dich erinnern die Gerüche ans Gefängnis.

Ja, das kann mein Wärter mit dem Rasierwasser gewesen sein, das kann ein ähnliches Waschmittel gewesen sein. Mir ist Musik sehr wichtig. Normalerweise höre ich nicht Ö3. Im Gefängnis, das habe ich in meinem ersten Buch geschrieben, ist MTV gelaufen. MTV hatte eine Zeiteinblendung (wir hatten keine Uhr). Ich bin innerhalb von wenigen Tagen in dieser Hitparade drinnen gewesen. Einmal war Amy Winehouse ganz bekannt und super. Ich habe sie vorher nicht gekannt. Aber die Assoziation ist da: wenn ich jetzt so ein Lied höre, dann ist das unvorstellbar. Das habe ich in Wr. Neustadt im Gefängnis gehört. Höre ich es heute wieder, dann macht es zack-bumm! Und plötzlich rieche ich wieder wie es in der Kehle gekocht hat.

Würdest du sagen, dass der Staat mit der Inhaftierung, dem Prozess, mit der Aushorchung der Privatsphäre, mit der Bespitzelung, und all dem ein Verbrechen begangen hat – ist der Staat kriminell?

Schwierige Frage, weil der Staat viele meiner E-Mails als kriminell bezeichnet hat. Mit dem Wort kriminell würde ich vorsichtig sein, man müsste das Wort definieren. Im Grunde hat der Staat ein riesiges Unrecht begangen. Das ist aber in einem Staatskonstrukt nichts Seltenes. Es gehört zu einem Staatskonstrukt dazu, Unrecht zu begehen, weil es auf Unrecht basiert. Das ist einmal meine Meinung. Was er sich bei uns geleistet hat, war ein riesengroßer Schnitzer. Das passiert sehr selten. Sonst ist es ja unter dem Deckmantel der Pseudodemokratie versteckt. Bei uns war das aber nicht mehr möglich. Jeder Hinz und Kunz hat plötzlich gecheckt, dass irgendetwas falsch läuft. In Interviews unmittelbar nach der Enthaftung habe ich gesagt, dass ich diese Haft bzw. Gefangenschaft mit nichts relativieren kann. Versuche ich es aber nüchtern und politisch zu sehen, dann muss ich sagen: Ich wäre niemals so deutlich geworden. Diese Demaskierung wäre mir niemals gelungen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der meinte, dass an dem Prozess was dran sei. Solche Menschen gibt es aber wahrscheinlich auch.

Ich möchte mit dir auch über Veganismus und Tierrechte sprechen. Wann hast du dich für die vegane Lebensweise entschieden und wie ging es dir dabei? Wo sind die für viele Menschen hohen Hürden für einen Umstieg zum Veganismus?

Unsere Familie und ich haben uns 1999 für das vegane Leben entschieden und sind in der Tierrechtsszene aktiv geworden. Wir haben unser politisches Engagement auch auf nichtmenschliche Tiere ausgeweitet. 1,5 Jahre vorher habe ich die ganzen Fakten über Nutztiere bereits gekannt. Der Umstieg auf eine vegane Lebensweise ist aber ein schwieriger Prozess - da nehme ich mich selbst gar nicht aus. Wenn man das Leben radikal ändern muss, dann geht es darum, die Konsequenzen zu ziehen. Wenn man hergeht und sagt, ich nehme die nichtmenschlichen Tiere auf in mein Gerechtigkeitsempfinden, ich will den Tieren Autonomie gewähren, dann muss die Person erkennen, dass sie es mit ihrem Konsum verbinden muss. Der Mensch kommt dann aber an einen Punkt, wo er erkennen muss: „Wenn ich das jetzt radikal anders mache, dann gestehe ich ein, dass ich etwas die letzten 25 Jahre falsch gemacht habe.“ Wenn begründet wird, dass der Fleischkonsum kulturell bedingt immer schon war, dann heißt das nichts anders als: „Das habe Ich immer schon so gemacht.“ Man muss sich eingestehen, dass man sein ganzes Leben etwas falsch gemacht hat. Aber man sieht nur sich, die eigene Spezies. Genau das ist das Problem. Das ist Willkür.

Gibt es einen relevanten Unterschied zwischen Fleischkonsum und dem Töten von Stieren in den spanischen Stierkampfarenen?

Ich sehe keinen Unterschied, möchte sogar sagen, dass, wenn ich mich entscheiden müsste, ob es weiterhin nur Schweinezucht oder Stierkampf geben würde, ich mich für den Stierkampf entscheiden würde. Der Stierkampf ist quantitativ weniger relevant als der Schweinefleischkonsum in Österreich. Der/die Österreicher_in kann Fleischkaßsemmel essen und sich über den Stierkampf aufregen. Es gibt auch Österreicher_innen, die sich fleischkassemmelessend massiv über Pelz aufregen, weil sie keinen Pelz tragen. Man kann leicht kritisieren, wenn man sich selbst nicht reflektieren muss. Das ist Prämisse Nummer eins - ich bin unfehlbar. Da muss man aber versuchen, sich selbst an der Nase zu nehmen. Das versuche ich selbst, ich werde älter, es ist nicht einfach, aber man muss es sich im Leben eingestehen, wenn man einen Fehler gemacht hat.

Nehmen wir an, alle Menschen auf der Welt würden vegan leben. Wie ist das mit dem Welthunger? Abgeschafft? Zumindest hört man das Argument von vegan lebenden Menschen sehr oft.

Was man sagen und berechnen kann, ist: Es würde mehr Anbauflächen geben. Es gibt aber ein Verteilungsproblem. Der Welthunger wäre jetzt auch nicht da, wenn es das Verteilungsproblem nicht geben würde. Ich muss ganz ehrlich sagen – und ich hoffe, dass es in meinen Büchern so rüberkommt - ich finde, Veganismus ist elementar Teil eines emanzipatorischen Denkens, aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Ähnlich wie Selbstbestimmung oder Antirassismus. Es ist elementar, kann aber nicht bereits dort enden.

Der Veganismus also als Grundlage, auf der menschliches Handeln aufgebaut sein soll?

Genau. Und Voraussetzung für eine emanzipatorische Herangehensweise. Man kann nicht sagen: „Ich bin emanzipatorisch“ und fresse gleichzeitig Tiere. Immer vorausgesetzt, dass es nicht anders möglich ist.

Wie soll dabei jetzt die „perfekte“ Welt aussehen? Wie stellst du sie dir vor?

Grundsätzlich einmal schön.

Schönes Wetter?

Nein, Wetter kann nicht „schön“ oder „schlecht“ sein. Ich möchte Selbstbestimmung statt Hierarchie. Ich möchte ein Miteinander statt gegeneinander. Ich möchte Anarchie statt abgegebener Verantwortung. Es ist sehr schwer, weil jeder andere Vorstellungen von Worten hat. Um es aber zu vereinfachen: ich stelle mir eine perfekte Welt vegan-anarchistisch vor.

Anarchie? Ist das nicht Chaos pur?

(lacht) Anarchie heißt Ordnung ohne Herrschaft.

Wie soll das funktionieren? Braucht der Mensch nicht ein ihn kontrollierendes Element, das hinter ihm steht und Anweisungen gibt?

Die Menschen werden weggezüchtet von einer Menschlichkeit, die ein Frei-Sein ermöglicht und von klein auf indoktriniert. Hierarchie wird als etwas total Normales verkauft. Ungerechtigkeit wird als etwas Normales verkauft. Unterdrückung wird als etwas Normales verkauft. Dass solche Menschen, als Sklaven geboren und zu Sklaven gemacht, von heute auf morgen selbstbestimmt und frei leben können, das ist leider nicht so einfach. Deswegen geht der Weg zu einer freien anarchistisch-veganen Gesellschaft nur über Bewusstseinsbildung. Und das ist das, was ich jeden Tag mache. Wenn es nur die klitzekleine Möglichkeit gibt, das umzusetzen, dann ist es das wert, sehr viel aufzugeben.

Glaubst du, dass du jemals in so einer Welt leben wirst?

Schwer zu sagen. Ich und andere schaffen es teilweise, sich aus Strukturen auszuklinken. Wenn ich das nicht schaffen würde, wäre ich bereits am Sand.

Ist das aber nicht nur eine Insel im Kapitalismus?

Keine Frage. Das ist aber genau diese Insel, wo du dir als Widerstandskämpfer_in die investierte Energie auch wieder schnappen kannst, es ist gut, einen Rückzugsraum zu haben. Ein Refugium, wo du weißt, dass die Uhren anders ticken. Kraft tanken ist sehr wichtig. Im Kapitalismus geht das nicht, der Kapitalismus frisst nur, auch Kraft. Im Endeffekt stillt der Kapitalismus nicht die Bedürfnisse, die er weckt. Rückzugsorte können aber auch als Oasen im Kapitalismus gesehen werden. Ein Weg kann auch sein, diese Oasen auszudehnen. Ich bin aber der Letzte, der behauptet, die Antworten gefunden zu haben.

Grenzüberschreitendes. Foto: Chris Moser

Ich möchte kurz auf deine Kunst eingehen, die du ja im Zuge der Verhandlungen im Tierrechtsprozess der Richterin erklären musstest. Wie fühlt man sich in so einer, beschwichtigend formuliert, verstörenden Situation?

Es sollte nicht notwendig sein, Kunst zu erklären. Ich erkläre meine Kunst aber gerne, ich tausche mich gerne aus. Was aber tatsächlich alarmierend war, ist, dass ich das im Gerichtssaal machen musste. Als politisch Interessierter sollten alle Glocken klingeln, wenn man der Frau Einzelrichterin Kunstwerke erklären muss. Spätestens da muss es aus sein. Es sind aber viele Sachen im Prozess geschehen, es war ein Riesenprozess. Vor dem Prozess habe ich auch bereits keine hohe Meinung vom Staatskonstrukt gehabt. Ich habe weniger Achtung, eine weniger hohe Meinung nach diesem Prozess. Ich bin aber zu politisch und zu aufmerksam, als dass ich ernsthaft enttäuscht sein kann. Du hast es bei einigen Angeklagten aber gemerkt: „Scheiße, das ist Demokratie." Ich habe mir dabei gedacht: "Genauso ist es, ich habe es gewusst!"

Ich wäre so gerne im Alter von 35 Jahren aufgewacht und hätte mir gedacht: „Jetzt hast du dein ganzes Leben lang gegen ein faschistoides Phantom gekämpft und jetzt siehst du, es ist gar nicht da. In meinem Fall war das anders: Ich habe ein ganzes Leben lang gegen ein faschistoides Phantom gekämpft und plötzlich erkennst du: Es ist noch viel schlimmer! Und das war für mich ein riesen Aha-Effekt! Ich habe aber gemerkt, dass es auch für viele im Prozess ein Aha-Effekt war. Uns allen wurde bewusst, dass wir lediglich die Spitze von diesem Eisberg sind. Bei uns ist der Prozess relativ glimpflich ausgegangen, es war sehr viel Öffentlichkeit involviert und wir sind alle nicht aufs Maul gefallen. Aber was passiert mit denen, die keine Öffentlichkeit und vielleicht nur eine andere Sprache beherrschen? Das passiert laufend! Das ist aber etwas, auf das sich unser Staat gründet. Proudhon sagte: „Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde.“ Das war schon mein Ding, als ich 15 war und das hat sich bestätigt.

Kannst du nach den jahrelangen Erfahrungen mit Repression noch irgendetwas Gutes über den Staat Österreich sagen?

Ich freue mich natürlich über den Freispruch, obwohl dieser ja selbstverständlich sein sollte. Ich lehne den „Staat Österreich“ ab, wie ich alle Nationen und Staaten ablehne, nicht anerkenne. Ich geh aber davon aus, dass es in Staatskonstrukten anderswo auf der Welt zum Teil bestimmt weit übler hätte kommen können. Das ist keine Versöhnung, sondern klar faktisch. Nur weil es vielleicht anderswo auch schrecklich oder noch schrecklicher ist, relativiert das nicht die Scheiße vor der eigenen Haustüre. Eine Versöhnung gibt es nicht, genauso wie es kein Vergessen geben wird. Niemals, in keinem Punkt!

Lieber Chris, vielen Dank für das spannende Gespräch und alles Gute für deine Zukunft.

Sehr gerne. Und lieben dank für die Wünsche; es war mir eine Freude, mich derart gut zu unterhalten!

Aufnahmen nach der Verhaftung 2008. Foto via: Chris Moser

 

Bücher von Chris Moser:

- Die Kunst, Widerstand zu leisten: Ein Tatsachenbericht. kyrene, März 2012

- m.E. - meines Erachtens - Essay. kyrene, September 2013

- Galerie des Entsetzens: Die ungeschminkte Wahrheit über Mensch-Tier-Verhältnisse. SeitenHieb, März 2014. (Chris Moser mit Tobias Hainer)

 

Gabriel Binder (geb. 1987) studiert Geschichte an der Universität Wien, ist freier Schriftsteller und mitunter bei Screaming Birds engagiert.

Geschmacksunterschiede

  • 10.06.2014, 16:31

6 spannende Fakten zum Thema Essen. Welches Essen macht gute Laune? Ernähren sich alle queeren Menschen vegan? Woher kommt Geschmack? Wie soll der Welthunger bekämpft werden? Riot oder Diet?

Geschmackssache
Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt ein bekanntes Sprichwort. Ob mensch als Naschkatze auf die Welt kommt oder eben nicht, wird im Allgemeinen als individuell und zufällig betrachtet. Eine andere Meinung vertritt Pierre Bourdieu, der sich in seinem 1979 erschienenen soziologischen Klassiker „Die feinen Unterschiede” mit dem Zusammenhang von Geschmack und sozialer Klasse beschäftigt hat. Bourdieu argumentiert, dass sich Klassenstrukturen durch die Anhäufung von kulturellem Kapital reproduzieren. Unseren Geschmack – egal ob es um Kunst oder Nahrungsmittel geht – sieht er als eine der Manifestationen dieses Kapitals. Während sozial benachteiligte Klassen aufgrund ihrer Erfahrung von Not und Mangel nahrhafte Speisen vorzögen, würden privilegierte Klassen mehr Wert auf Luxus und Feinheit legen, so Bourdieu. Hinzu kommt dann eine Aufwertung des Essens der Privilegierten und die soziale Hierarchie der Geschmacksunterschiede verfestigt sich. Wer der Käsekrainer also Blauschimmelkäse oder Bio-Falafel vorzieht, darf sich aufgefordert fühlen, die Hintergründe ihrer*seiner Entscheidung mitzubedenken.

Gute-Laune-Essen
Nicht nur Keksen, auch vielen anderen Nahrungsmitteln wird nachgesagt, dass sie gute Laune machen. Der Verzehr von Schokolade, wie auch anderer kohlenhydratreicher Lebensmittel, lässt unseren Körper angeblich Glückshormone ausschütten und als besonders wirksames Wohlfühlmittel gilt immer noch das ehemalige Luxusgut Kaffee. Dabei findet ein Zusammenspiel von Chemie und Psychologie statt, das noch nicht vollends entschlüsselt wurde. Ob es der befriedigte Appetit nach dem Schema der Selbstbelohnung, das sinnliche Erleben von Wärme und Duft einer Speise oder ganz banal die Zuckerzufuhr ans Gehirn ist, was die Nerven beruhigt und die Welt nach einer Mahlzeit besser aussehen läßt, ist möglicherweise auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Was zählt, ist wohl, dass die Drogen des Alltags wirken. Um die verschiedenen Bedürfnisse, die fürs Essen sprechen, fassen zu können, gibt es mittlerweile verschiedene Begriffe wie beispielsweise Magenhunger, Augenhunger, Mundhunger oder Herzhunger. Forschungen über Essen, das schlechte Laune macht, scheinen bisher übrigens kaum fortgeschritten.

Illustration einer Gabel. Illustration: Christina Uhl

What does the Unicorn eat?
Dass sich queere, nicht heteronormativ lebende Menschen vegan ernähren, ist ein Stereotyp. Obwohl sich wohl nur ein Bruchteil jener, die sich mit einer der unzähligen Definitionen von queer und Queerfeminismus identifizieren, tatsächlich vegan ernährt, findet sich auf theoretischer Ebene durchaus ein Zusammenhang: Antispeziezismus, Veganismus und der Einsatz für Tierrechte beruhen – zum Teil – auf einer Kritik der Herrschaft von Menschen über Tiere und einer straffen Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, die viele Gemeinsamkeiten und Grauzonen zwischen den beiden Gruppen unbeachtet lässt. Auch der Queerfeminismus setzt sich gegen Herrschaft und Binarität zur Wehr. So meinen manche Queers/Queerfeminist*innen, der Prozess der Emanzipation von Menschen aus Geschlechterhierarchien und anderen diskriminierenden Strukturen müsse letztlich auch mit der Befreiung der Tiere einhergehen.

Riot! Don’t Diet
Mächtige Schönheitsideale und Körpernormen beeinflussen unser Essverhalten und verderben so manch einer*m den Appetit. Die Riot! Don‘t Diet-Kampagne stellt einen Versuch dar, sich gegen (kapitalistischen) Körperkult und damit einhergehende Zwänge und Vorstellungen von adäquatem Gewicht und optimaler Kleidergröße zu wehren. Statt sich für die Normierung des eigenen Körpers
abzustrampeln, solle sich mensch dem Widerstand gegen sexistische gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen widmen, so die Idee. Was jedoch nicht vergessen werden darf: Auch Diäten sind stigmatisiert. Als cool gilt heute am ehesten noch, wer auf
Diäten pfeift, genüsslich einen Burger verdrückt und dabei auch noch sexy aussieht. Weder der Imperativ „Don’t diet!” noch das Schweigen über den Druck, der vor allem – aber nicht nur – auf Frauenkörper ausgeübt wird, sind also der richtige Weg.

Illustration eines Cupcakes. Illustration: Christina Uhl

Zwangsernährung
Hungerstreik ist als eine Form des gewaltlosen politischen Protests bekannt. Der eigene Körper dient dabei oft als letztes Mittel des Widerstands, wenn andere Möglichkeiten des Ausdrucks nicht zugänglich sind. In Europa waren es in den letzten Jahren vor allem Flüchtlinge, die auf diese Protestform zurückgriffen – kollektiv, wie 2013 in der Wiener Votivkirche, oder einzeln, in Schubhaft und
von Abschiebung bedroht. Österreichische Schubhaftgefängnisse lassen Inhaftierte mitunter wieder frei, wenn diese einen niedrigen Blutzuckerwert haben. Das veranlasst viele dazu, sich selbst in Gefahr zu bringen. Denn Hungerstreik kann nicht nur akut lebensgefährdend sein, sondern auch mit körperlichen Langzeitschäden einhergehen, besonders wenn er wiederholt angewandt wird. Die zynische politische Reaktion auf diese Umstände war in Österreich die Einführung des Paragrafen 78 des Fremdenpolizeigesetzes, der fortan Zwangsernährung von hungerstreikenden Schubhäftlingen erlaubte.

Welthunger
Heute leiden etwa 870 Millionen Menschen an Unterernährung. Anders gesagt: jeder achte Mensch. Frauen und Kinder sind am stärksten von Hunger betroffen. Dass der Grund für den Hunger keineswegs Ressourcenknappheit ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Soziale und vor allem politische Zusammenhänge verursachen die anhaltende Unterernährung einer großen Zahl von Menschen. Auch die Nahrungsmittelhilfe, die akut in Hungersnöten eingesetzt wird, trägt mitunter zur Aufrechterhaltung jener Strukturen, die den Hunger (mit-)begründen, bei: So zum Beispiel eine kalorienreiche, komprimierte Speise namens PlumpyNut, die
aus nicht-regionalen Zutaten hergestellt und in Krisenregionen importiert wird, um kurzfristige Hilfe zu leisten. Dadurch werden jedoch unbeabsichtigt neue Abhängigkeiten geschaffen. In die Entwicklung und Patentierung von PlumpyNut wurden große Summen investiert, in den Ausbau der lokalen Landwirtschaft aber nicht. Nach wie vor wird über eine politische Lösung des Problems Welthunger selten gesprochen.

 

Jasmin Rückert studiert Japanologie und Gender Studies an der Universität Wien.
Illustrationen: Christina Uhl.

Ein Leben (fast) ohne Supermarkt

  • 10.06.2014, 16:04

Auf der Suche nach nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln schließen sich immer mehr Menschen zu Foodcoops zusammen. progress hat sich angesehen, wie ein Leben fast ohne Supermarkt funktionieren kann.

Auf der Suche nach nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln schließen sich immer mehr Menschen zu Foodcoops zusammen. progress hat sich angesehen, wie ein Leben fast ohne Supermarkt funktionieren kann.

Dienstagabend in einem Kellergeschoss im 15. Wiener Gemeindebezirk. In den Räumen des PerpetuuMobile 2.3 stapeln sich Kisten mit Gemüse, Getreide, Nudeln und Sojaprodukten. Dazwischen wuseln Menschen umher, vergleichen den Inhalt der Kisten mit Listen und wiegen Erdäpfel, Frühlingszwiebeln, Salat, Rüben und Pastinaken ab. Es ist Abholtag in der vegan food coop, einer von über 20 Foodcoops in Österreich. Gerade ist eine Lieferung eingetroffen, frisch vom Bauernhof.

„Ich hatte sehr lange Zeit eine Biokiste, aber ich wollte dann noch einen Schritt weiter gehen. Ich wollte wissen, wo mein Essen herkommt“, erzählt Christina. Sie studiert an der BOKU und ist seit anderthalb Jahren Mitglied der vegan food coop. Der Kontakt zu Produzent_innen ist ihr besonders wichtig: „Ich kann hier wirklich sehen und nachprüfen, wie meine Lebensmittel angebaut werden. Wir organisieren öfters Reisen zu Bauernhöfen und können uns anschauen, wie die wirtschaften.“

Genossenschaftlich organisiert. Foodcoops oder Lebensmittelkooperativen sind keine neue Erfindung. Schon im 19. Jahrhundert wurde in Großbritannien die erste Konsumgemeinschaft gegründet. Im Kontext der beginnenden Industrialisierung schlossen sich Arbeiter_innen zusammen, um der Abhängigkeit von Händler_innen, denen oft Betrug und der Verkauf minderwertiger Ware vorgeworfen wurden, zu entfliehen und organisierten den Einkauf ihrer Lebensmittel gemeinsam. Eine Foodcoop funktioniert im Prinzip genauso: Gemeinsam wird entschieden, was und wo eingekauft wird. Auch heute ist die Motivation vor allem das fehlende Vertrauen in die vorhandenen Strukturen wie Supermärkte oder Diskonter. „Für manche Dinge gehe ich schon noch in den Supermarkt, nicht alles kann ich über die Foodcoop besorgen. Aber immer öfters verlasse ich in den Supermarkt, ohne etwas gekauft zu haben, weil ich alles, was mir interessant erscheint, auch in der Foodcoop bekomme“, sagt Christina.

Nicht weit entfernt vom PerpetuuMobile 2.3, das sich die vegan food coop mit einer Siebdruckerei und diversen anderen linken Projekten teilt, hat eine der ältesten Foodcoops Wiens ihr Lokal. In den hellen Räumlichkeiten von D’Speis riecht es wie im Bioladen, neben Gemüse stehen hier auch Wein, Bier, Öl und Essig in den Regalen. Lange Bestelllisten hängen an der Wand, in verschiedenen Kühlschränken warten Milchprodukte, Tofu und Fleisch darauf, abgeholt zu werden. Samuel, der seit fast zwei Jahren bei D’Speis aktiv ist, hat auch davor schon Bio-Lebensmittel gekauft und ist dumpstern gegangen. „Für mich gab es mehrere Gründe, einer Foodcoop beizutreten: Einerseits natürlich die Qualität und der Preis der Lebensmittel. Andererseits ist eine Foodcoop auch ein politisches Statement. Wir sind nicht von Supermärkten oder Großhändler_innen abhängig, sondern bestimmen selbst, was wir wann einkaufen und unterstützen damit Kleinbäuer_innen.“ Dazu kommt für Samuel noch die soziale Komponente. Er grinst und erzählt: „Wenn ich mein Zeug in der Speis abhole, muss ich dafür immer mindestens eine Stunde einrechnen. Nicht, weil das Abholen so lange dauert, sondern weil ich hier Menschen treffe und mit ihnen plaudere.“ Dabei schätzt der Student es sehr, aus seinem gewohnten Umfeld herauszukommen und sich auch mal mit älteren Menschen auszutauschen.

Gemüsekisten in einer foodcoop

Unregelmässige Regelmässigkeit. In der vegan food coop wird es derweil ruhiger, der große Andrang ist vorbei. Jede Woche ist eine andere Person dafür zuständig, das Lokal aufzusperren, damit alle Mitglieder der Foodcoop ihre bestellten Lebensmittel abholen können. „In unregelmäßiger Regelmäßigkeit kann sich jede_r online für diesen Dienst eintragen“, erklärt Christina. Alle Aufgaben in der Foodcoop werden abwechselnd übernommen: Die Bestellungen werden online gesammelt und an die Produzent_innen übermittelt, neue Produzent_innen oder Produkte, die für die Foodcoop interessant sein könnten, werden gesucht und der Kontakt mit den Produzent_innen muss aufrecht erhalten werden. „Wir nennen das Produzent_innenrelationshipmanagement“, erklärt die Studentin. Bei welchen Bäuer_innen bestellt wird, entscheidet die Foodcoop basisdemokratisch im Plenum. Dort werden auch für eine rein vegane Gruppe heikle Diskussionen geführt. Etwa, ob sich Produkte wie Honig mit den Prinzipien der Foodcoop vereinen lassen. Diese Selbstbestimmung kostet Zeit und Engagement. Christina wird nachdenklich, als sie erklärt, dass Foodcoops nicht für jede_n das Richtige seien: „In den Supermarkt zu gehen, ist bequem, in der Foodcoop musst du die Arbeit der Kassiererin selbst übernehmen und den Preis deiner Bestellung auf einem Kontoblatt ausrechnen. Wer in einer Foodcoop einkaufen will, muss bereit sein, Aufgaben zu übernehmen.“

Basisdemokratie für Anfänger_innen. Bei D’Speis, die ungefähr 70 Mitglieder zählt, überlegt man sich, wie damit umgegangen werden kann, wenn nicht alle, die von der Foodcoop profitieren, auch Aufgaben übernehmen: „Grundsätzlich ist unser Motto, dass sich alle entsprechend ihrer Fähigkeiten einbringen sollen, aber leider gibt es schon aktivere und weniger aktive Leute. Für Neulinge wollen wir ein Buddy-System einführen, damit sie anfangs von erfahrenen Mitgliedern lernen, wie die einzelnen Arbeitsschritte in der Foodcoop erledigt werden“, erzählt Samuel. Die Foodcoop versucht auch, gezielt Menschen aus der Nachbarschaft anzusprechen und einzubinden. So beteiligen sich neben Studierenden auch einige ältere Menschen, vor allem Frauen – trotz Hürden, wie Samuel berichtet: „Das ist schwierig, weil unsere Organisationsform auf den ersten Blick chaotisch wirkt. Viele erleben bei uns zum ersten Mal ein basisdemokratisches Plenum und müssen sich erst mit dieser Art der Entscheidungsfindung anfreunden.“ Das monatliche Plenum von D’Speis läuft aber gut, auch wenn es schon mal voll werden oder lange dauern kann. Große ideologische Fragen werden auf Klausuren geklärt und verschiedene Arbeitskreise entlasten das Plenum bei alltäglichen Arbeiten. 

Beim Salzkörndl gibt es noch keine Probleme mit untätigen Mitgliedern. Die Foodcoop hat sich im letzten Sommer in Salzburg gegründet und besteht derzeit aus 35 bis 40 Leuten, vor allem Studierenden. Luisa ist eine von ihnen, sie kannte das Prinzip der Foodcoops von Freund_innen aus Berlin. „Aus meinem erweiterten Freundeskreis erfuhr ich, dass geplant war, in Salzburg eine Foodcoop zu gründen. Ich war also von Anfang an dabei. Die Gründung war ein langer Prozess, schon die Namensfindung war nicht so leicht, und dann mussten wir auch noch ein Lokal finden.“ Die junge Foodcoop trifft sich alle zwei Wochen und versucht gemeinsam, neue Lieferant_innen zu finden, um das Produktsortiment zu erweitern. Dieses besteht derzeit aus Gemüse, Eiern, Milchprodukten, Brot, Getreide und Hülsenfrüchten, die alle regional und biologisch angebaut werden. „Nicht alle Produzent_innen haben das Bio-Siegel, auch wenn sie nach diesen Kriterien anbauen. Wir schauen uns die Betriebe genau an und wenn wir ihnen vertrauen, müssen die Lebensmittel nicht zertifiziert sein. Persönlicher Kontakt ist dafür natürlich eine Voraussetzung“, erzählt Luisa. Neben den regionalen Produkten gibt es bei Salzkörndl auch Fairtrade-Kaffee und Selbstgemachtes: „Jede Woche macht eine andere Person von uns einen Aufstrich, der dann gegen freie Spende mitgenommen werden kann. Manchmal organisieren wir auch BrotbackWorkshops.“

Wenn Samuel und Christina von den nicht-regionalen Lebensmitteln erzählen, die die Wiener Foodcoops gemeinsam bestellen, klingen sie beinahe so, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Neben Kaffee von linken Genossenschaften aus Südamerika gibt es Zitrusfrüchte und Avocados aus Italien. „Unsere Lebensmittel sind regional, mit Ausnahmen, wo es nicht anders geht. Zusätzlich versuchen wir, unsere Sachen möglichst unverpackt oder mit Pfandsystemen zu bekommen“, erklärt Samuel die Kriterien von D’Speis. Neben den Avocados und Zitronen bestellen die gut vernetzten Wiener Foodcoops auch andere Lebensmittel gemeinsam, zum Beispiel Nudeln, Hülsenfrüchte oder Getreide. Um Letzteres selbst weiterverarbeiten zu können, besitzt D’Speis eine Getreidemühle und eine Haferflockenpresse, die von allen Mitgliedern der Lebensmittelkooperative benutzt werden kann. Eine kooperativenübergreifende Brotbackgruppe bäckt mit dem selbst gemahlenen Mehl. „Es gibt auch eine Tofugruppe, die für alle Wiener Foodcoops Tofu produziert“, erzählt Samuel begeistert und beginnt zu träumen: „In Zukunft wäre es toll, auch eigene Felder oder Gärten in der Umgebung zu haben und Foodcoops mit der Ernte zu beliefern.“ So könnte nach und nach eine kleine Wirtschaft nach den Vorstellungen der Lebensmittelkooperativen entstehen: solidarisch, regional, nachhaltig und selbstverwaltet.

Grenzen des Wachstums. Eine andere alternative Form der Lebensmittelbeschaffung ist Community Supported Agriculture (CSA), das wie eine Art Crowdfunding für Landwirt_innen funktioniert: Bereits vor dem Anbau wird gemeinsam entschieden, was angebaut wird. Durch zugesicherte Abnahmemengen können die Bäuer_innen besser planen und sind finanziell abgesichert. „Foodcoops und CSA gehen Hand in Hand“, erklärt Christina: „Die vegan food coop ist auch eine Abholstelle für einen CSA-Hof. Die Foodcoop selbst hat aber keine Anteile und kein Mitbestimmungsrecht.“

Foodcoops werden zunehmend zu einer Konkurrenz für (Bio-)Supermärkte, denn viele von ihnen wachsen stetig. Auch das Salzkörndl will größer werden: „In Zukunft wollen wir bis zu 60 Mitglieder haben. Alles darüber ist zu groß“, so Luisa. Bei D’Speis hat man diese Erfahrung schon gemacht. Samuel berichtet von einer freundschaftlichen Abspaltung: „Als wir zu viele wurden, haben einige von uns eine neue Foodcoop gegründet. Sie konnten dabei von unseren Erfahrungen profitieren. Das ist das Ziel: viele kleine Foodcoops, in jedem Grätzel eine!“

 

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Webtipp: Verzeichnis aller österreichischen Foodcoops: foodcoops.at