Ungarn

Volksgemeinschaft statt Klassenkampf

  • 21.06.2016, 20:38
In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

Die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierungspartei Fidesz folgt weder neoliberalen Strategien wie der Verschlankung des Staates und der Kürzung der Sozialleistungen, noch betreibt sie sozialdemokratische, etwa keynesianistische Beschäftigungspolitik. So manche BeobachterInnen der ungarischen Politik stehen daher vor einem Rätsel: Warum erlässt ein Politiker, der vor nicht allzu langer Zeit noch (wirtschafts-) liberale Positionen vertrat, plötzlich Gesetze, wie etwa das Notenbankgesetz von 2011, welches der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins gibt? Und warum geht Orbán nicht den neo-klassischen Weg der Budgetkonsolidierung durch Steuersenkungen und Sozialkürzungen, sondern einen Weg, der sogar bei der linken Zeitschrift Der Freitag Anklang fand?

RECHTER ANTIKAPITALISMUS. Die Antworten finden sich in der Analyse dessen, was Holger Marcks in Bezug auf Fidesz und Jobbik „Antikapitalismus von rechts“ nennt. Dieser Antikapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht im Sinne etwa von Marx auf die Abschaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen wie Kapital und Staat abzielt, sondern sich vielmehr auf der Grundlage des Kapitals gegen bestimmte Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise richtet. Dabei werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach Marx nur als Ganzes kritisierbar sind, in vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Seiten getrennt. Diese Trennung der ökonomischen Vorgänge folgt dabei dem gleichen Muster wie schon im Nationalsozialismus, in dem das produktive, konkret erscheinende Kapital als „schaffend“ und als „deutsch“ das abstrakte, in Geld erscheinende Finanzkapital hingegen als „raffend“ und „jüdisch“ imaginiert wurde. Die Gründe für diese Spaltung liegen in den kapitalistischen ökonomischen Formen selbst.

Wie Moishe Postone in seinem Essay „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ zeigt, ist der „Antikapitalismus von rechts“ vor allem eine unkritische Ablehnung des Kapitals, die den aus dem Warenfetisch entspringenden Verblendungsmechanismen aufsitzt, die Marx im ersten Kapitel des „Kapitals“ untersucht. Aus dem Doppelcharakter der Ware, als sinnlich-übersinnliches Ding zu besitzen, das Gebrauchswert und Wert, also sowohl Träger von konkreten Eigenschaften als auch Träger und Ausdruck von abstrakten menschlichen Beziehungen zu sein, entspringt das falsche Bewusstsein über den Kapitalismus. Die von Menschen gemachten Verhältnisse, die sich hinter Ware, Geld und Kapital verbergen, erscheinen als Eigenschaften von Sachen. Der Kapitalismus erscheint nicht mehr als historisch-gesellschaftliches Verhältnis, sondern, so Postone, als eine „zweite Natur“, die sich wie die Ware in Konkretes und Abstraktes spaltet. Diese bereits im Fetischcharakter der Ware angelegte Naturalisierung der ökonomischen Formen setzt sich fort: Das Konkrete wird als Industriekapital, Technik und Staat als direkter Nachfolger von natürlichen und organischen Verhältnissen begriffen, während das abstrakte Finanzkapital als parasitär erscheint; die Einheit der industriellen Wertproduktion mit dem zinstragenden Kapital wird im fetischistischen Bewusstsein zerrissen und der Kapitalismus nur noch mit seinen abstrakten Seiten identifiziert.

Im völkischen Antisemitismus potenziert sich dieser Fetischismus gleichsam zum Biologismus. Das produktive Kapital wird der magyarischen „Volksgemeinschaft“ gleich als natürlich und positiv angenommen, während die negativen, abstrakten Aspekte der Ökonomie als Auswüchse einer Verschwörung von außen imaginiert werden. Die Art und Weise, wie die Völkischen in Ungarn über jene sprechen, die sie für kapitalismusimmanente Krisenphänomene verantwortlich halten – sei es das „Groß- und Finanzkapital“, die EU oder der Internationale Währungsfonds (IWF) –, gibt Aufschluss darüber, dass sie im Zweifel genau wissen, wer eigentlich dahinter steckt: eine oftmals mit antisemitischem Vokabular beschriebene Verschwörung.

VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER ORBÁN. Nicht zufällig nennt Orbán seine Wirtschaftspolitik eine Hinwendung „vom spekulativen zum produzierenden Kapitalismus“. Sobald Orbán auf die einzelnen AkteurInnen der spekulativen Wirtschaft zu sprechen kommt, die er von den nationalen, produktiven und als positiv erachteten trennen will, tauchen antisemitische Konnotationen und Anspielungen auf. So spricht Orbán etwa von einem „wirtschaftlichen Befreiungskampf“ gegen das spekulative Geschäft der Banken sowie gegen den IWF, aus dessen „Würgegriff“ man sich befreien müsse – als käme die Krise des Kapitals von außen, statt aus den eigenen Tendenzen des Kapitals.

Der Kampf gegen die Banken schlug sich in konkreten gesetzlichen Maßnahmen nieder. Als Maßnahme zur Konsolidierung des Staatshaushaltes angekündigt, beschloss Fidesz kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte Sondersteuern für Banken, die vor allem ausländische Banken traf, sowie ein Notenbankgesetz, das der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins verlieh. Anlässlich der negativen Reaktionen vonseiten der EU und des IWF sprach die Regierung von einer „Verschwörung“ der „internationalen Linken“, die Ungarn mit „Finanz- und Spekulationsangriffen“ in die Mangel genommen hätte. Schließlich nahm Orbán die meisten Regelungen des Notenbankgesetzes zurück, drohte aber mit einem „Wirtschaftskrieg“ gegen jene, die das Leben der Ungarn „wie eine Krake zuschnüren“. Die antisemitischen Zuschreibungen an IWF und EU sind greifbar.

KALMIERUNG DES KLASSENKONFLIKTS. Die Verlagerung des konstitutiven Krisencharakters kapitalistischer Ökonomie nach außen wird von der vermeintlichen Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche begleitet. Statt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch Institutionen wie Industriellenvereinigungen und Gewerkschaften auszutragen, wird er in Ungarn zunehmend verdrängt und externalisiert. Das zeigt sich auch in der Zusammenlegung der Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen zu einem „Ministerium für Volkswirtschaft“. Nicht zufällig strebt Orbán demnach eine Ökonomie an, die nicht auf dem „arbeitslosen Einkommen“ der Banken beruht, sondern „auf Arbeit“, wie es der Pfeilkreuzler Ferenc Rajniss schon 1937 in einem Vortrag über die „Judenfrage“ vor dem antisemitischen Turul-Verband einforderte. Dabei geht es Orbán jedoch keineswegs um die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeitenden, sondern um eine umfassende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik gegen die als „jüdisch“ imaginierten Seiten des Kapitalismus.

Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Ungarns Studierende zwischen Apathie und Aktionismus

  • 05.12.2015, 11:51

Seit dem zweiten Antritt der Fidesz-Regierung 2010 hat Ungarn demokratie-, medien- und minderheitenpolitisch einen autoritären Kurs eingeschlagen. Dieser betrifft auch die ungarischen Universitäten.

Seit dem zweiten Antritt der Fidesz-Regierung 2010 hat Ungarn demokratie-, medien- und minderheitenpolitisch einen autoritären Kurs eingeschlagen. Dieser betrifft auch die ungarischen Universitäten.

„Selbst die Einrichtung meines Büros mussten wir zum Teil selber finanzieren oder von zuhause mitnehmen. Etwa den Drucker“, meint Professor Ferenc Hammer. Seine KollegInnen und er arbeiten wegen der infrastrukturellen und finanziellen Situation völlig prekär. Der Soziologe ist Leiter der Abteilung für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Eötvös Loránd Universität. Die Bologna-Reform wird vielerorts als Verschulung und Vereinheitlichung des Universitätswesens kritisiert. Vor dem Hintergrund von Ungarns Geschichte als post-sowjetischer Staat meint Ferenc Hammer allerdings, sie habe das Potential gehabt, den bis 1990 inhaltlich schwachen und isolierten Hochschul- und Wissenschaftssektors zu modernisieren. So hätte Bologna etwa der besseren Vernetzung mit Universitäten und WissenschafterInnen rund um den Globus dienen können. Hätte. Wären da nicht die chronisch schlechte finanzielle Lage des Landes und die unklaren, intransparenten politischen Entscheidungen, die maximal die formale Umsetzung der Reform möglich machten.

Seit die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán 2010 mit einer Zwei-Drittel- Mehrheit wieder ins Amt kam, haben sich die Rahmenbedingungen für das Hochschulwesen zusätzlich verschlechtert. Dies hatte zunächst weniger mit der Regierung als mit der Europäischen Union zu tun: Da Ungarn seit 2004 mehrfach gegen die Defizitgrenzen des Maastricht-Vertrages verstoßen hatte, wurde das Land 2011 vor die Wahl gestellt, entweder seinen Haushalt zu konsolidieren, oder das Einfrieren von 500 Millionen Euro an EU-Fördergeldern zu riskieren. Die Regierung Orbán entschied sich zu einem strikten Kürzungskurs, wie er auch in anderen Staaten zu beobachten war. Davon war auch der Hochschulsektor stark betroffen. Machten die öffentlichen Ausgaben für höhere Bildung laut einem Papier der Uni Szeged 2008 noch einen Anteil von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, sank dieser in den letzten Jahren auf ein halbes Prozent. Zumindest wird dies von der Organisation „Oktatói Hálózat“ („Netzwerk der Hochschullehrenden“) kritisiert. Für Hammer ist das aufgrund der schwachen politischen Lobby der Unis und ihrer Heterogenität nicht überraschend. Um nicht auf gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen, war die Regierung bemüht, den Hochschulsektor öffentlich als schwarzes Loch für Steuergelder darzustellen.

Auch Lehrende selbst klagen über die Ineffizienz der ungarischen Universitäten, einer von ihnen ist Daniel Deak von der Corvinus Universität Budapest. Das geringe Budget wird aber nicht für effektive Verbesserungen genutzt. Vielmehr resultiert es in schlechter Bezahlung und fehlendem Equipment wie Projektoren, Druckerpatronen und Büchern. Der Soziologe Hammer erzählt, die Bibliothek der Humanwissenschaften an seiner Universität habe seit fünf Jahren keine einzige Neubestellung getätigt.

DAS ENDE DER ORCHIDEEN. In der Regierung Orbán ist zudem eine starke Abneigung gegen sogenannte „unbrauchbare Studiengänge“ präsent. In den Jahren 2011 und 2012 folgten Reformen, die sich negativ auf die Studienvielfalt, auf die soziale Durchlässigkeit der Unis und die Hochschul-Autonomie auswirkten. Zunächst wurde die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze schrittweise von 50.000 auf 30.000, schließlich auf 10.000 reduziert. Gleichzeitig wurde die Zahl der „teilfinanzierten Studienplätze“ (Studierendenkredite) stark angehoben. 2007/08 plante eine sozialdemokratische Regierung allgemeine Studiengebühren. Eine – auch von Orbáns Fidesz-Partei eingeleitete – Volksabstimmung verhinderte dies. Die Anhebung der teilfinanzierten Studienplätze bedeutete allerdings eine indirekte Wiedereinführung von Studiengebühren. Bezüglich der Höhe kursieren im Netz verschiedene Zahlen. Laut der deutsch-ungarischen Tageszeitung „Pester Lloyd“ kommen auf alle, die nach einem definierten Numerus Clausus kein Recht auf einen voll finanzierten Platz haben, Studiengebühren von bis zu 1500 Euro pro Jahr zu. Angesichts der hohen Lebenserhaltungskosten ein echtes finanzielles Problem für viele Studierende.

Dass vor allem sogenannte „Orchideenfächer“ im Spannungsfeld zwischen Staat und Markt stehen, ist kein ungarisches Spezifikum, sondern eine länderübergreifende Realität. Durch die Reformen der letzten Jahre wurden in Ungarn staatlich finanzierte Studienplätze nicht mehr nach Bedarf organisiert, sondern zu jenen Fächern umverteilt, die „nationalökonomisch relevant“ sind. Für das Studienjahr 2013/14 wurde eine „Streichliste“ mit Fächern veröffentlicht, die zukünftig nicht mehr staatlich finanziert werden sollen. Darauf finden sich unter anderem: Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Business Management, Soziologie, Internationale Studien, Kommunikationswissenschaften und Studien, die relevant für den öffentlichen Dienst sind. Für letztere wurde gar eine eigene, regierungsgesteuerte Universität gegründet, die somit eine umfassende Kompetenz zur Selektion künftiger AnwerberInnen für wichtige Posten im Staat hat. Studienfächer, die vom Markt nicht ausreichend nachgefragt werden, müssen eben schließen, so die Staatssekretärin Hoffmann.

Ein weiteres Kernstück der Hochschulreformen sind die sogenannten „Verträge“. Wer einen staatlich finanzierten Studienplatz in Anspruch nehmen will, kann dies nur durch die Unterzeichnung eines Vertrages tun. Damit verpflichtet man sich, nach Abschluss des Studiums die doppelte Studienzeit in Ungarn zu arbeiten, ungeachtet der Chancen auf eine Stelle mit entsprechender Qualifizierung und halbwegs angemessenem Lohn. Bei Missachtung des Vertrages sind alle staatlichen Mittel wieder zurückzuzahlen. Damit sind nicht nur etwaige Gebühren gemeint, sondern die gesamten Studienkosten. Angesichts dessen sehen sich Universitäten mit sinkenden Inskriptionszahlen konfrontiert. Im Studienjahr 2013/14 waren es laut „Pester Lloyd“ 95.000 Studierende: ein 17-Jahres-Tief.

Das ursprüngliche Ziel der Studienverträge, nämlich die Abwanderung ausgebildeter AkademikerInnen ins Ausland zu stoppen, wurde nicht erreicht. Das Problem wurde lediglich verjüngt, denn viele emigrieren nun gleich nach der Matura zum Studieren nach Deutschland, Österreich oder in die Slowakei. Der „Brain Drain“ sei laut Hammer ein zunehmendes Problem für Ungarn. Auch András Maté, Professor der Theologie und Gründungsmitglied des „Netzwerkes der Hochschullehrenden“, stimmt zu: „Die besten Köpfe“ unter den angehenden und ehemaligen StudentInnen würden gehen. Während Studierende „unwirtschaftlicher“ Fächer sowieso geringe Chancen auf einen leistbaren Studienplatz haben, werden jene AnwerberInnen für staatlich voll ausfinanzierte Fächer durch derartige Verträge ins Ausland getrieben.

ZENTRALISIERUNG UND KONTROLLE. Studierenden- und Lehrendenvertretungen kritisieren gemeinsam die fehlende Kommunikationskultur zwischen politischen EntscheidungsträgerInnen und Betroffenen an den Universitäten. Dies führt regelmäßig zu politischen Veränderungen, die den Realitäten nicht angemessen sind. Während die Entwicklung in Europa eher in die Richtung Hochschulautonomie geht, gibt es in Ungarn Zentralisierungsprozesse. Der mangelhaft ausgeprägte Korporatismus und der feudale Politikstil sind für die in Wien und Budapest lehrende Soziologin Éva Judit Kovács sogar Strukturprinzip der ungarischen Gesellschaft. Ein Kernelement der Autonomie-Reform sei ihrer Meinung nach das verwaltungs- und finanztechnische Durchgriffsrecht des Staates an den Universitäten. Das Nachrichtenportal „Budapest Beacon“ schreibt von einem „chancellery system“. Es handelt sich um eine Behörde, deren BeamtInnen direkt von Premierminister Orbán ernannt werden und die sowohl die Verwendung der staatlichen Finanzmittel reguliert, ein Vetorecht bezüglich der Entscheidungen der DirektorInnen, sowie die Entscheidungsmacht über Personalfragen hat, ausgenommen ist nur das Forschungsund Lehrendenpersonal. Nicht mehr die Unis, sondern der Staat und die Regierung werden zum unmittelbaren Arbeitgeber des Personals.

KEIN WIDERSTAND DER STUDIERENDEN? Die Einschätzung des Widerstandspotentiales von Studierenden und Lehrenden angesichts der massiven Eingriffe gehen selbst bei ProfessorInnen auseinander. András Maté erklärt, dass es den Hochschullehrenden mit „Oktatói Hálózat“ gelungen sei, eine langfristig strukturierte, kritische Plattform zu kreieren, welche in der Lage sei, den hochschulpolitischen Diskurs zumindest etwas zu beeinflussen. Das Studierenden- Netzwerk „Hallgatói Hállózat“ sei allerdings, so Maté, eine lose Gruppe, die sich nicht auf permanente Organisierung orientiere. Interessanterweise sind beide Gruppen Ausdruck der Proteste gegen Orbáns Hochschulreformen 2011. Das Protestpotential der Studierenden würde sich immer nur anlassbezogen entfalten, meint Maté. Gibt es einen restriktiven, hochschulpolitischen Vorstoß der Regierung, finden sich immer wieder neue Gesichter zu spontanen Protesten zusammen. Danach verschwinden sie wieder, es gibt keine permanenten Strukturen, was sich auch darin äußert, dass man kaum jemanden für ein substanzielles Interview gewinnen kann. Seit 1990 seien politische Bewegungen – vor allem parteigebundene – in den Unis untersagt. In der Analyse übereinstimmend, aber in der Schlussfolgerung abweichend äußert sich Ferenc Hammer: Wenn Studierende zu spontanen, großen Demonstrationen zusammenkamen, habe die Regierung ihre hochschulpolitischen Pläne zumindest etwas entschärfen müssen. „Die Protestierenden haben damit bisher mehr erreicht als die Opposition im Parlament“, meint er und lacht.

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien.

Aus den Augen, aus dem Sinn

  • 05.02.2014, 13:21

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Mitte November 2013 stürmten Obdachlosenaktivist_innen von A város mindenkié („Die Stadt gehört allen“) eine Sitzung des Budapester Stadtrates. Gut zwei Dutzend Menschen bildeten im Plenarsaal eine Menschenkette mit der Absicht, einen Beschluss zu verhindern, der darauf abzielt, den Umgang mit Obdachlosen in Ungarn zu verschärfen. Bereits wenige Wochen zuvor hatte die rechtskonservative Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán ein Gesetz beschlossen, das es obdachlosen Menschen untersagt, auf Flächen, die als Weltkulturerbe ausgewiesen sind, zu nächtigen (dazu gehört der Bereich im Burgviertel und beim Donauufer). Im Sitzungssaal sollte eine Verordnung durchgeboxt werden, die es auch den verschiedenen Bezirken erlauben soll, Obdachlosensperrzonen gesetzlich festzulegen und „obdachloses Verhalten“ aus ihren Territorien zu verbannen. Wird man in einem als „Sperrzone“ ausgewiesenen Bereich von der Polizei aufgegriffen, können nebst hohen Geldstrafen auch gemeinnützige Arbeit und Arrest drohen. Verhindern konnten die Aktivist_innen den Gesetzesbeschluss aber nicht, sie wurden von der Polizei aus dem Saal getragen, das Gesetz wurde beschlossen. Am meisten Sperrzonen wurden vom Bürgermeister des XIII Bezirks, Tóth József, beantragt – einem Sozialdemokraten.

Leerstehende Wohnungen, gekürzte Subventionen, Kältetote

In ganz Ungarn gibt es etwa 30.000 obdachlose Menschen, in der Hauptstadt Budapest sind es laut Schätzungen 10.000 - und das obwohl landesweit 400.000 Wohnungen leer stehen; alleine in Budapest sind es an die 85.000. Die tatsächliche Anzahl an Obdachlosen ist aber mit Vorsicht zu genießen, denn die wirkliche Zahl dürfte höher liegen.  In der Statistik scheinen nur jene Menschen auf, die sich an öffentlichen Plätzen aufhalten und in Unterkünften leben. Die Regierungspartei Fidesz beweist nun mit dem neuen Gesetz (dem eine Verfassungsänderung vorausgegangen war, die es erst ermöglicht hat, Obdachlosigkeit per Gesetz zu kriminalisieren), dass sie keinen wirkungsmächtigen Plan hat, dem Problem der Obdachlosigkeit konkret entgegenzutreten. Weder gibt es für wohnungslose Menschen genügend (Not-)Unterkünfte, noch erschwingliche Wohnungen. Zwar wurde auch unter den Sozialdemokrat_innen vor 2010 das Problem nicht gelöst, doch seit der Fidesz an der Macht ist, wurde es tatsächlich schlimmer: die staatlichen Förderungen für Tagesplätze, Nacht- und Notunterkünfte wurden seit 2010 um 15 % gekürzt, auch das Wohngeld wurde reduziert.

Das Versagen der Politik fordert auch Todesopfer: bis zum 4. Jänner diesen Jahres sind bereits 53 Menschen erfroren, die meisten von ihnen in ihren eigenen, unbeheizten Wohnungen. Kata Amon, Aktivistin bei A város mindenkié, glaubt aber nicht, dass die Situation für Obdachlose in Ungarn hoffnungslos ist: „Die Mehrheit der Ungar_innen ist mit der Kriminalisierung von Obdachlosen nicht einverstanden und sieht darin auch keine Lösung. Die Regierung wird die Ablehnung der Menschen zu den neuen Gesetzen nicht für immer ignorieren können.“ Die Kriminalisierung von Obdachlosen ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal Ungarns. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte etwa die Verweisung und Bestrafung wohnungsloser Menschen aus dem Wiener Stadtpark im Oktober letzten Jahres.

Herr Friedrich im Wiener Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Die Vertreibung aus dem Stadtpark

„Am Dienstag, so um 22:00, sind acht Polizeiautos gekommen: ,Räumen! Sofort! Sonst kommt die 48er und nimmt alles mit.‘ Ich zeig ihnen meine Krücken und sage: ,Ich kann ja nicht.‘ ,Du hast eh zwei Freunde da, die sollen dir helfen. Das was ihr nehmen könnt, nehmt – alles andere kommt weg.‘ Die Aktion hat ungefähr eine Stunde gedauert, dann ist die MA 48 gekommen. Alles was man nicht nehmen konnte, Gewand, Schuhe, Schlafsäcke, alles ist weggekommen. Einen von uns hat die Polizei mitgenommen. Während er weg war, haben sie seine Sachen auch weggeworfen.“ Der 56-jährige Herr Friedrich lebt bereits seit drei Jahren im Stadtpark, einige seiner Freunde kommen sogar schon seit Jahrzehnten hierher. Die Vertreibung aus dem Stadtpark im letzten Oktober hat die obdachlosen Menschen vollkommen unvorbereitet getroffen. Von wem die angeblichen Anrainer_innenbeschwerden ausgegangen sind, ist Herrn Friedrich rätselhaft: „Wir haben keinem was gemacht, wir haben uns oft mit den Leuten unterhalten, da ist sogar ein Rechtsanwalt dabei. Wir haben uns immer gut gestellt mit den Anrainern und bei uns war es immer sauber.“ Die Polizei selbst beruft sich auf eine Campierverordnung aus dem Jahre 1985, die unter anderem das Auflegen und Benützen von Schlafsäcken im öffentlichen Raum mit einer Verwaltungsstrafe zwischen 140 und 700 Euro ahndet und ursprünglich gegen Rucksacktourist_innen gerichtet war. Jahrzehntelang galt die Campierverordnung als totes Recht, ihre Wiederauferstehung hatte sie im Dezember 2012, als sie der Auflösung des Refugee-Camps vor der Votivkirche als gesetzliche Rechtfertigung diente.

Die Polizeiaktion im Stadtpark sorgte kurzfristig für ein enormes mediales Interesse. Politisch motivierte Gruppen wie F13 und die youngCaritas organisierten Flashmobs, bei denen sich die Teilnehmer_innen solidarisch in Schlafsäcken an symbolträchtigen Orten wie dem Stadtpark oder dem Stephansplatz niederlegten. Peter Nitsche, Initiator der Facebook-Gruppe Die Obdachlosen aus dem Stadtpark sind auch meine Nachbarn und zahlreicher Flashmobs, erklärt das Konzept: „Die Idee dazu war, das Bewusstsein an konsumorientierten Plätzen, wie hier auf der Mariahilfer Straße, zu schärfen und zu sagen: ,Leute, jeden von uns kann es treffen.‘ Man darf auch nicht vergessen, dass es ein Mensch, der jahrelang auf der Straße gelebt hat, vielleicht gar nicht mehr schafft, von einer Stunde auf die andere in einen begrenzten Raum zu gehen, in einen Raum, der von vier Wänden umgeben ist.“ Tatsächlich gibt die Stadt Wien verhältnismäßig viel Geld für Notschlafstellen und ähnliche Programme aus, Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen diese Angebote nicht annehmen können oder wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die von Obdachlosigkeit Betroffenen sind eine sehr heterogene Gruppe, viele haben ein erfolgreiches Leben hinter sich und empfinden ein ausgeprägtes Schamgefühl, das sie keine Hilfe annehmen lässt.

Weiters leidet ein großer Teil an psychischen Erkrankungen (wie der bereits genannten Klaustrophobie) oder an Suchtkrankheiten, die sich nicht mit der Abstinenzpflicht in den meisten Einrichtungen vereinbaren lassen. Andere wiederum haben Angst vor Diebstählen oder haben durch ihre Erfahrungen das Vertrauen in die Menschen verloren und wollen so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Für die mobilen Sozialarbeiter_innen ist es häufig eine langwierige Angelegenheit, das Vertrauen der Klient_innen zu erreichen. Susanne Peter, Sozialarbeiterin in der Gruft und regelmäßig im Stadtpark unterwegs: „Ich habe mich drei Jahre lang mit einer Klientin nur durch eine Klotüre unterhalten, bis sie das Vertrauen hatte, mir in die Augen zu schauen.“ Durch die Räumung des Stadtparkes hat sich die Situation verschlechtert. Die obdachlosen Menschen sind verunsichert und verstecken sich, für die Sozialarbeiter_innen wird es komplizierter, den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Flashmob im Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Housing First im neunerhaus

Für die Stadt Wien, die stolz auf ihre Sozialleistungen ist, ist es offensichtlich besonders schwierig, öffentlich sichtbare Armut und alternative Wohnformen zu akzeptieren. Die Vertreibung von Randgruppen aus der öffentlichen Wahrnehmung löst allerdings keine Probleme – umso wichtiger ist es, sich alternative Möglichkeiten anzusehen. Ein relativ neuer, aus den U.S.A. stammender Ansatz, nennt sich Housing First. Housing First beruht auf der Idee, dass obdachlose Personen zuallererst eine eigene Wohnung bekommen, während alle weiteren Angelegenheiten erst danach angegangen werden. Dadurch müssen sich obdachlose Menschen nicht erst langwierig über Notschlafstellen und Trainingswohnungen für eine eigene Unterkunft qualifizieren. Die weitere Betreuung basiert auf freiwilliger Basis. Was sich wie ein ausgesprochen teures Projekt anhört, senkt die Folgekosten der Obdachlosigkeit nachweislich enorm. In Österreich steckt dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen und wird beispielsweise vom neunerhaus angeboten.

Reiche rein, Arme raus

Besonders schlecht ist die Situation für obdachlose Bürger_innen aus den neuen EU-Ländern. Menschen aus Osteuropa ziehen aufgrund fehlender Perspektiven, eines mangelhaften Sozialsystems oder, wie eingangs erwähnt, des De-facto-Verbotes von Obdachlosigkeit in Ungarn nach Wien. Es gibt auch Pendler_innen, die – häufig von Ausbeutung durch die Arbeitgeber_innen betroffen – unter der Woche ohne Unterkunft in Wien arbeiten und das Wochenende im Herkunftsland verbringen. Diese Menschen fallen gesetzlich in die Kategorie „nicht Anspruchsberechtigte“, wodurch es keine geförderten Notschlafstellen für sie gibt – vor allem die spendenbasierte und stets überfüllte Zweite Gruft kümmert sich zurzeit um dieses Klientel.

Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung der EU. Während man ein Freihandelsabkommen nach dem anderen beschließt und die Immigration hochqualifizierter Arbeitskräfte gerne gesehen wird, versucht man parallel dazu, die Wanderung von armen und weniger gebildeten Menschen zu verhindern. Die negativen Folgen für die Herkunftsländer durch Braindrain bei gleichzeitiger Ablehnung von Armutsmigration werden dabei bewusst ignoriert. Ein möglicher erster Schritt, Armut statt die von Armut betroffenen Menschen zu bekämpfen, wäre die Einführung EU-weiter sozialer Mindeststandards sowie die Aufhebung aller Gesetze, die Obdachlosigkeit kriminalisieren. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Chance, das menschliche Existenzrecht von der Erwerbsarbeit und dem Funktionieren im System zu entkoppeln.

 

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen, findet ihr hier:

http://www.progress-online.at/artikel/wem-geh%C3%B6rt-die-stadt

 

Gabriel Binder (geb. 1987) lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

Alle böse außer uns. Ungarns nationalistischer Umbruch

  • 02.12.2013, 20:43

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn.

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn. Nach den Wahlen 2010 inszeniert sich die ungarische Politik immer häufiger mit Folklore und geschichtlich belasteter Symbolik. Wie ein Vogel und das Trauma von einem zerbrochenen Reich den ungarischen Nationalismus stärken.

Miklós Horthy, ehemaliger ungarischer Reichsverweser und Verbündeter Adolf Hitlers, kommt in Ungarn in den letzten Jahren wieder in Mode. Anfang November dieses Jahres wurde ihm ein weiteres Andenken gesetzt: Am Szabadság Platz, vor der reformierten Kirche, inszenierte die faschistische Jobbik-Partei mit Unterstützung des rechtsextremen Pastors Lóránt Hegedüs vor etwa hundert Sympathisant_innen eine Zeremonie und enthüllte eine Statue jenes Mannes, unter dem 1920 mit einem Numerus Clausus für jüdische Student_innen das erste antisemitische Gesetz im Nachkriegseuropa eingeführt wurde. Die Einweihung der Statue ist indes nur ein weiterer Mosaikstein im Vorhaben der nationalkonservativen Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán, das Land nach ihren Vorstellungen zu positionieren und auszurichten: ein Ungarn ausschließlich für die Ungar_innen, gedacht als grenzüberschreitende Nation mit Rückbesinnung auf christlich-konservative Werte und Stärkung des „Magyarentums“.

 

Die Wahlen 2010 als Spiegelbild der eigenen Geschichte

Im Frühjahr 2010 erreichte der rechtskonservative Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) 53% der Wähler_innenstimmen und regiert dank des Mehrheitswahlrechts mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit. Mit knapp 17 % Stimmenanteil errang die neofaschistische Jobbik („Die Besseren“/Die „Rechteren“) 12 % der Mandate und zog sieben Jahre nach ihrer Gründung erstmals ins Abgeordnetenhaus ein. Die zuvor regierenden Sozialdemokrat_innen (MSZP) wurden mit nur 19 % der Wähler_innenstimmen regelrecht von ihren Regierungsposten gejagt. Hauptgrund für dieses schlechte Abschneiden war die  berühmt gewordene „Lügenrede“ des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, bei der dieser zugab, ein Budgetloch bewusst verschwiegen zu haben, um bei den Wahlen 2006 als Sieger vom Platz gehen zu können. Als vierte Partei sicherten sich noch die Grünen mit knapp 7,5 % der Stimmen ihren Verbleib in Ungarns höchster politischer Spielklasse.

Büste von Miklós Horthy (Foto: Mindenki joga)

Die Jobbik unter Parteichef Gabor Voná kündigte bereits kurz nach den Wahlen an, im Land „aufräumen zu wollen“ - wozu ihnen auch der Einsatz einer paramilitärischen und optisch an die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler (unter ihnen wurde eine halbe Million ungarische Juden und Jüdinnen deportiert) angelehnten „Ungarischen Garde“ recht ist. Die Garde dient dazu, durch Aufmärsche und Gewalttaten Angst unter politischen Gegner_innen und gesellschaftlichen Minderheiten zu verbreiten. Ideologisches Bindeglied ist der Opfermythos rund um den Trianon-Vertrag von 1920, der zum Spielball der Politik geworden ist. Durch diesen Vertrag verlor Ungarn 2/3 seiner Staatsgebiete, der Grenzverlauf wurde von den Siegermächten ohne Einbeziehung Ungarns und der in Ungarn lebenden Menschen gezogen. Die Rückgabe der verloren Gebiete ist eine ständige Forderung der ungarischen Rechten.

Auch die Regierungspartei Fidesz ist den großungarischen Ansprüchen nicht abgeneigt und unterstreicht ihre Haltung durch eine Staatsbürger_innenschaftsreform, die auch „ungarischstämmigen“ Menschen außerhalb der Staatsgrenzen einen ungarischen Pass garantieren soll. Die Latte, um die ungarische Staatsbürgerschaft zu ergattern, ist nicht sonderlich hoch gelegt. So genügt es vorzuweisen, dass man vor 1920 oder zwischen 1938 und 1945 zumindest einen verwandten Vorfahren mit ungarischem Pass hatte. Die oftmals angesprochenen „fließenden Ungarischkenntnisse“ entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Farce: so genügt es häufig, nur ein paar wenige Floskeln Ungarisch zu beherrschen, um an den begehrten Pass des EU-Mitgliedslandes zu gelangen.

Die Stärkung nach außen geht mit der Schaffung eines inneren Feindes einher, so hetzen Fidesz wie Jobbik seit Jahren gegen Roma, Juden und Jüdinnen, Linke sowie Liberale und seit den letzten Monaten vermehrt auch gegen Obdachlose - es muss sauber sein im Land, jegliche Zeichen eines Makels gilt es unsichtbar zu machen und aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Mit einer Verfassungsänderung schuf das ungarische Parlament 2013 die gesetzliche Grundlage dafür, dass Kommunen „obdachloses Verhalten“ per se als kriminell erklären und sanktionieren dürfen. Doch der Wandel hin zu einem speziell völkisch geprägten Nationalismus geschah nicht über Nacht.

Rechtsradikale Paramilitärs (Foto: Dieter Diskovic)

Turan Turan – rechte Ideologie und Neopaganismus

Das in weiten Teilen der ungarischen Bevölkerung verwurzelte rechte Gedankengut ist Produkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, mitnichten kann man von einem plötzlichen „Rechtsruck“ sprechen. Selbst in der Ära des so genannten „Gulaschkommunismus“ ab 1956 versuchte sich die Regierung mit positivem Bezug auf den ungarischen Nationalismus Legitimität in der Bevölkerung zu verschaffen. Das völkische Denken ist heute in großem Ausmaß bei der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz und bei der neofaschistischen Oppositionspartei Jobbik vorhanden, jedoch selbst bei Teilen der tendenziell liberalen bis links stehenden Parteien wie der sozialdemokratischen MSZP und den Grünen anzutreffen. Das völkische Denken zeichnet sich durch einen ausschließenden Nationalismus, den Glauben an eine ethnisch-homogene Abstammungsgemeinschaft und eine Abgrenzung gegen vermeintliche innere und äußere Feinde aus.

Neben den allgegenwärtigen Bezügen auf die ungarische Nation und das Christentum hat sich in den letzten Jahren in Teilen der Bevölkerung eine Rassentheorie aus dem 19. Jahrhundert etabliert: der Turanismus. Diese Ideologie geht von einer gemeinsamen Abstammung von Ungarn, Türken, Esten, Finnen, Mongolen, Mandschuren und Jakuten aus, in manchen Auslegungen soll sich die „turanide Rasse“ gar bis Japan erstrecken. Der Turanismus, der unter anderem auch von den rechtsextremen türkischen Grauen Wölfen vertreten wird, steht in Ungarn für eine Abwendung von Westeuropa hin zu den asiatischen Ursprüngen der ungarischen Zivilisation. Auf zahlreichen völkischen Festivals feiern hunderttausende Besucher_innen ein Magyarentum, das mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat. Unterstützt von den Abstammungslehren zweifelhafter rechter „Historiker_innen“ inszeniert man sich als wildes, edles und vor allem verfolgtes Reitervolk aus dem Osten.

Das Symbol des Turanismus ist der Turul, ein mythischer Vogel zwischen Adler und Falke, der die Magyaren von Asien nach Europa gebracht haben soll. Welche identitätsstiftende Bedeutung dieses Fabelwesen für die ungarische Rechte mittlerweile hat, zeigt der Kampf um eine 2005 errichtete Turul-Statue im 12. Budapester Gemeindebezirk. Die Figur des Turul wurde in der Zeit des Zweiten Weltkrieges von den faschistischen Pfeilkreuzlern intensiv verwendet und ist deshalb massiv vorbelastet. Dennoch ließ es sich der Bezirksvorsteher der heutigen Regierungspartei Fidesz im Jahr 2005 nicht nehmen, eine mit faschistischen Symboliken gespickte und von der damaligen links-liberalen Stadtverwaltung Budapests nicht genehmigte Turul-Statue aufzustellen. In den folgenden Jahren versuchte die Budapester Stadtregierung immer wieder, diese illegal errichtete Skulptur abreißen zu lassen, was durch Aufmärsche der paramilitärischen und rechtsextremen Ungarischen Garde wiederholt abgewehrt werden konnte. 2008 wurde die Statue sogar von Vertretern christlicher Kirchen gesegnet. 2010 war es eine der ersten Maßnahmen der neu gewählten Fidesz-Regierung, diesen mittlerweile „heiligen“ Turul durch ein eigenes Gesetz legalisieren zu lassen.

Turul (Bild: Dieter Diskovic)

Aber selbst damit nahm das Trauerspiel um das bronzene Fabeltier noch kein Ende. 2009 wollte die britische Künstlerin Liane Lang auf die antisemitische und rassistische Symbolik der Statue aufmerksam machen und fotografierte den Turul mit einer Plastikhand im Schnabel. Die Reaktion folgte nur einen Tag später: das Budapester Holocaust-Mahnmal „Schuhe am Donauufer“, das an die Ermordung ungarischer Jüdinnen und Juden durch Pfeilkreuzler erinnern soll, wurde von Unbekannten geschändet. Die bis heute nicht gefassten Täter_innen hatten blutige Schweinshaxen in die Schuhe gesteckt.

Ungarn – das „Palästina Europas“?

Die ungarische extreme Rechte ist aufgrund ihrer Gebietsforderungen an alle Nachbarländer international isoliert, die Suche nach östlichen Bündnispartnern hat also durchaus auch strategische Gründe. Die Jobbik etwa sieht den Iran als „Brudervolk“, der dort weit verbreitete Antizionismus deckt sich auch mit der eigenen Ideologie. Im ungarischen rechtsextremen Milieu sieht man sich als beständiges Opfer äußerer Einflüsse, in politischen Ansprachen stellt man sich gar als das „Palästina Europas“ dar.. Der Fidesz, zwar auch Teil der ungarischen Rechten, doch minder ausgegrenzt, stellt mit Viktor Orbán seit 2002 sogar den Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei und wird auch von Österreichs höchstem kirchlichen Würdenträger geschätzt. So ließ es sich Kardinal Christoph Schönborn 2012 nicht nehmen, die ungarische Regierung ob ihrer Standhaftigkeit zu den christlichen Werten zu loben (im Gegenzug wurde ihm im ungarischen Parlament das „Großkreuz für Verdienste um den Staat Ungarn“ verliehen).

Zusätzlich zu völkischem Gedankengut und Turanismus gibt es ein weiteres Element, das nur auf den ersten Blick dem stets betonten Christentum widerspricht: eine mythische Erhöhung der ungarischen Nation, die nicht selten einen neopaganistischen Charakter aufweist. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist der „Tempel Karpatenheimat“ in Veröce, in dem statt Gott das Magyarentum, die Stephanskrone und der Turul angebetet werden. Selbst in das Parlament hat es der Schamanismus bereits geschafft: im März 2012 wurde ein schamanisches Tanzritual zum Schutz der „Heiligen ungarischen Krone“ abgehalten. Im gleichen Jahr war bereits die neue Verfassung in Kraft getreten, der ein „nationales Glaubensbekenntnis“ vorangestellt wurde.

Bei den kommenden Wahlen im Frühjahr 2014 dürfte sich in Ungarn aber nur wenig ändern. Jüngste Umfragen sehen den Fidesz bei 45 – 50 %, wobei auch ein Wiedererlangen der parlamentarischen 2/3 Mehrheit nicht undenkbar ist. Möglich macht das auch eine Wahlrechtsreform des Fidesz, in der verschiedene Wahlbezirke zugunsten der Regierungspartei zusammengelegt wurden. Von der (liberalen) Opposition ist nicht viel zu sehen, anstatt eigene Programme zu forcieren und dadurch das Profil zu schärfen, begnügt man sich mit Anti-Orbán-Rhetorik. Das hat verheerende Auswirkungen: die sozialdemokratische MSZP stagniert bei etwa 22 %, gefolgt von der rechtsextremen Jobbik (14 %) an der dritten und dem liberalen Wahlbündnis „Gemeinsam 2014“ (8 %) an der vierten Stelle. Die restlichen Parteien, darunter die Grünen und die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, können als „ferner liefen“ eingestuft werden.

Einen Wandel zu einem wirklich demokratischen Ungarn können aber nur die Ungar_innen selbst erreichen. Trotz vieler kleiner oppositioneller Initiativen, häufig außerhalb des Parteienspektrums, dürfte es bis dahin noch ein weiter Weg sein.

 

Als weiterführende Lektüre empfehlen wir:

KOOB, Andreas et al. 2013. Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast Verlag.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie, Sozialarbeiter und Musiker bei der Band Collapsing New People.

Gabriel Binder (geb. 1987), lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

Tag der Ehre

  • 06.12.2012, 10:24

In Ungarn wird am „Tag der Ehre“ und am Tag der „Schlacht um Budapest“ SS-Verbündeten gedacht. Ein Gastkommentar von Magdalena Marsovszky.

In Ungarn wird am „Tag der Ehre“ und am Tag der „Schlacht um Budapest“ SS-Verbündeten gedacht. Ein Gastkommentar von Magdalena Marsovszky.

Nächsten Februar ist es wieder so weit: Neben Dresden richtet man die Aufmerksamkeit auf Budapest, denn die ungarische Hauptstadt ist in den letzten Jahren zum Schauplatz des zweitgrößten Nazi- Aufmarsches in Europa geworden. Bis 2010 fanden die Kundgebungen inmitten der Hauptstadt auf dem imposanten Heldenplatz statt. Seither sind sie in die umliegenden Wälder verlagert worden. Doch die Hauptstadt ist deshalb am 11. Februar keineswegs verwaist: Der „Gedenktag“, der seit 2005 auch auf dem Burgberg stattfindet und von der Kommunalverwaltung, der Regierungspartei Fidesz und vom Militärhistorischen Museum ausgerichtet wird, zieht weiterhin alte und neue Nazis aus ganz Europa an. Ihre Zahl ist vorerst gering, steigt aber stetig. Heuer waren etwa dreihundert dabei.

Anlass des „Gedenkens“ rund um den 11. Februar ist der Ausbruch mehrerer zehntausend deutscher und ungarischer Soldaten aus dem von der Roten Armee eingekesselten Stadtteil auf dem Burgberg in Buda im Jahre 1945, bei dem mehr als 39.000 Menschen ums Leben kamen. Der erste Gedenkmarsch fand 1997 mit etwa 150 TeilnehmerInnen in der Burg statt, die erste Gedenkveranstaltung unter dem Titel „Tag der Ehre“, organisiert von B&H Hungaria am 9. Februar 2003, bereits am imposanten Heldenplatz. Die B&H Hungaria, 1998 mit etwa 500 bis 600 Mitgliedern ins Leben gerufen, war damals eine der aktivsten Neonazi-Organisationen Ungarns. Dennoch wurde sie 2002 als gemeinnütziger kultureller Verein anerkannt, weil in ihrer Satzung als Ziel „die Erschaffung einer organisch gewachsenen und auf starkem nationalem Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit basierende Gesellschaft“ sowie die Unterstützung von „benachteiligten Rockmusikern“ stand. Man darf nicht vergessen, dass zwar im Mai 2002 die völkische Koalition, angeführt von Fidesz (1998–2002), von einer sozialliberalen Koalition abgelöst wurde, aber vorausgegangen waren vier Jahre intensive völkischkulturpolitische Mobilisierung.

Waren 2004 etwa 500 TeilnehmerInnen an der Neonazi-Veranstaltung beteiligt, erreichte ihre Zahl bis 2009, dem Jahr, in dem sie verboten wurde, die 2000. Im Jahr nach ihrem Verbot, 2010, gelang es den Neonazis, die Behörden auszutricksen. Wegen der Parlamentswahlen in Ungarn im April war es bereits Mitte Februar möglich, Veranstaltungen, die als Teil der Wahlkampagne deklariert wurden, legal durchzuführen. So gründeten sie in Eile eine neue Partei mit dem Namen Nationale Revolutionäre Front (MNF), die dann etwas verspätet, am 13. März als Wahlkampagne getarnt, in die Burg marschierte und vor einer Gedenktafel am Fuße des Magdalenenturmes am Kapisztrán Platz im ersten Stadtbezirk Budapests Kränze niederlegte. Dies ist die Gedenktafel, die am 12. Februar 2005 vom Bürgermeisteramt des ersten Bezirks von Budapest und vom Militärhistorischen Museum „zum sechzig jährigen Gedenken den ehrenhaften Soldaten gewidmet“ wurde, „die in der Schlacht um Budapest heldenhaft starben“. Seit jener Zeit begeht also auch die größte Partei Ungarns den Gedenktag, allerdings unter dem Namen „Schlacht um Budapest“. War also 1997 lediglich eine kleine Neonazi-Gruppe an dem Gedenktag interessiert, hat er mit der Zeit nicht nur Eingang in die Erinnerungspolitik in der Mitte der Gesellschaft gefunden, sondern ist seit 2010 kulturpolitisch für das gesamte Ungarn maßgeblich, weil Fidesz – zusammen mit der KDNP (Christlich Demokratische Volkspartei) – seit den letzten Parlamentswahlen im Mai 2010 die Regierung des Landes bildet.

Die Gedenkfeier, organisiert vom Militärhistorischen Museum mit dessen Direktor, Generalleutnant a. D. József Holló, und dem Bürgermeisteramt des ersten Bezirks mit Bürgermeister Tamás Gábor Nagy, verläuft auch hier jedes Jahr gleich: Zunächst halten an der Gedenktafel zwei als Soldaten gekleidete Männer Ehrenwache in Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg – Leihgaben aus dem Militärmuseum. Im Tarnanzug schildert Holló in seiner Ansprache die Ereignisse und die damit verbundenen menschlichen Leiden auf der Seite des Militärs und unter den ZivilistInnen. Er zitiert immer wieder ein Gedicht des vor einigen Jahren verstorbenen ungarischen Dichters und Sängers Tamás Cseh, das heutzutage als wahre Hymne im Zusammenhang mit dem Gedenktag in Umlauf ist: „Eines Nachts haben die Deutschen Buda nicht mehr länger verteidigt“, heißt es darin, „weil draußen, am Széna Platz die Russen warteten /.../ und das Feuer eröffneten. /.../ hier lagen viele Zehntausende /.../“.

Bürgermeister Nagy spricht zwar über das Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung, doch an eine reflexive gesellschaftliche Verantwortung, die auch den Holocaust miteinbezieht, denkt er nicht. Niemand weist darauf hin, dass etwa ein halbes Jahr vor der „Schlacht um Budapest“, im Sommer 1944, durch die bereitwillige Mithilfe Einheimischer binnen acht Wochen beinahe eine halbe Million ungarischer Juden und Jüdinnen deportiert wurde. Nach ihrer Machtübernahme im Oktober 1944 haben die Pfeilkreuzler sogar noch um die Jahreswende 1944/1945, also nur wenige Wochen vor dem Ausbruchsversuch, Tausende ungarische Juden und Jüdinnen am Ufer der Donau erschossen. Der Bürgermeister und der Generalleutnant a.D., vor deren Amtssitzen die „feierlichen Kranzniederlegungen“ jährlich stattfinden, erinnern in ihren Reden an den „Ausbruchsversuch der deutsch-ungarischen Garnison aus dem Budapester Kessel“, ohne dabei auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass damit verharmlosend Einheiten der Waffen-SS und deren ungarische Verbündete gemeint sind.

Im Gegenteil. „Ehrerbietung gehört demjenigen, der heilig ist“, sagte Nagy in seiner von den Medien als besonders bewegend erlebten Rede 2009: „… So auch den Soldaten, die im eisigen Februar, inmitten des Budapester Kessels trotz einer vielfachen Überlegenheit des Gegners und völliger Entkräftung, in völliger Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit /…/ dem Tod ins Auge blickten und bereit waren, ihr Leben für andere zu opfern.“ Er charakterisierte die Soldaten, entweder Mitglieder oder Verbündete der Waffen-SS, als, „heilig“ und ihr Verhalten als „beispielhaft“. Die Trauer und den Schmerz sowie die Katharsis der Erinnerung leitet er nicht etwa von der Seite der Opfer, aus dem Holocaust ab, sondern von der Seite der TäterInnen, von der Seite derer, die zumindest als Verbündete am Holocaust beteiligt waren. Dass diese Denkweise, die in der Antisemitismusforschung als „Täter-Opfer-Umkehr“ bekannt ist, erneut zum Antisemitismus führt, beweisen die Schlussworte des Bürgermeisters. Am Ende seiner Rede bietet er auch eine vermeintliche Lösung an, nämlich die Besinnung auf die Nation mit Hilfe des kulturellen Erbes.

Regelmäßiger Gastredner ist der Veteran Zsolt Lányi, Leiter des parlamentarischen Verteidigungsausschusses a. D., Präsident des Kameradschaftsvereins des 1. und 2. Königlichen Ungarischen Universitäts-Sturmbataillons. Er bittet darum, der noch lebenden Veteranen der ehemaligen Kampfverbände zu gedenken und wehrt sich entschieden gegen Vorwürfe, dass sie alle Faschisten gewesen seien. „Es ist furchtbar, wenn jemand, der als Held gefallen ist, im Nachhinein als Faschist diffamiert wird“, sagte er 2010. Veteran Ervin Galántay, der als Fahnenträger in Militäruniform der „Gedenkfeier“ beiwohnt und als 14-jähriger Kadett der ungarischen Armee selbst an den Kampfhandlungen teilgenommen hatte, sagte 2010 in einem Interview mit der Budapester Zeitung, für ihn sei die Verteidigung Budapests ein „moralischer Imperativ“ gewesen. „Der Name unserer Armee ist Honvéd“, sagte er, „was auf Deutsch so viel heißt wie Heimatwehr. Damals verteidigten wir unsere Heimat gegen zwei Aggressoren: Die Rote Armee und unseren Erzfeind Rumänien.“

Diese Denkweise, die ebenso wie die Anschauungen, die bei der Gedenkfeier von B&H Hungaria vertreten werden, auf der Täter-Opfer-Umkehr beruht, führt dazu, dass den „Bürgerlichen“ nicht selten „die Falschen“ zujubeln. So befinden sich unter den BesucherInnen der Gedenkfeier in der Burg immer wieder Männer in Thor-Steinar-Kleidung. Der Hass in Ungarn ist in den letzten zwanzig Jahren seit der Wende permanent gewachsen. Hätte man dem Land bis vor einigen Jahren kultur- und erinnerungspolitisch noch unter die Arme greifen und die Kultur- und Erinnerungspolitik demokratisieren können, so wird heute der „Opfermythos“ zur staatlichen Kulturpolitik erhoben und die Eskalation der Gewalt forciert. Magdalena

Marsovszky ist Kulturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der Hochschule Fulda und Vorstandsmitglied im Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.v., sowie Vorstandsmitglied der in Ungarn tätigen Bürgerrechtsbewegung für die Republik.

Armut verboten

  • 29.09.2012, 17:21

In Ungarn werden wohnungslose Menschen zunehmend kriminalisiert.

In Ungarn werden wohnungslose Menschen zunehmend kriminalisiert. Wer wiederholt beim Schlafen auf der Straße erwischt wird, riskiert, ins Gefängnis zu kommen. Nachdem im Juli 2011 in Ungarn bereits Zwangsarbeit für arbeitslose Menschen eingeführt wurde, trifft die Repression der rechtspopulistischen Fidesz-Regierung seit Anfang Dezember nun eine weitere Bevölkerungsgruppe, die nicht ins Bild der tüchtigen ungarischen Volksgemeinschaft passt. Wie die Berliner Wochenzeitung Jungle World berichtete, erklärt das ein am 1. Dezember letzten Jahres eingeführtes Gesetz Wohnungslosigkeit zur Ordnungswidrigkeit. Werden Wohnungslose innerhalb von sechs Monaten zweimal beim Übernachten auf der Straße erwischt, droht ihnen ein Bußgeld von umgerechnet 500 Euro. Wer das nicht bezahlen kann (und das dürften die allermeisten sein), muss eine Ersatzhaft im Gefängnis verbüßen. Außerdem wurde das Suchen nach Essbarem in Mistkübeln und das Anbetteln von AutolenkerInnen an Ampeln verboten.

In die Wege geleitet hat all das der Bezirksbürgermeister des achten Budapester Bezirks Máté Kocsis. Für den Fidesz-Politiker stellt sich die „Obdachlosenfrage“ ganz einfach dar: „Es sind nur polizeiliche Fragen. Wenn wir die Obdachlosen nicht verdrängen, verdrängen sie die Bürger aus dem achten Bezirk“, wie er der ungarischen Zeitung Pester Lloyd sagte. Ursprünglich wollte er das Gesetz mittels einer Volksabstimmung legitimieren, die aufgrund der niedrigen Beteiligung aber keinen Erfolg hatte. Nichtsdestotrotz wurde das Gesetz am Ende doch durchgesetzt – die scheindemokratische Maßnahme war also nur ein PR-Gag. Ministerpräsident Orbán, der erst kürzlich öffentliches Lob von Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) erhielt, hat Kocsis schließlich für seine „Leistungen“ zum „Referenten für Obdachlosenfragen“ im Parlament gemacht und die Regelung vom Bezirk auf das ganze Land ausgeweitet. Angesichts der Tatsache, dass jede vierte wohnungslose Person in Ungarn Rom oder Romni ist, erscheint das Gesetz klar als antiziganistische Ansage. Diese reiht sich als weiteres Glied in eine Reihe von Maßnahmen der Fidesz-Regierung ein, welche die ohnehin ausgegrenzte Minderheit zunehmend aus dem Stadtbild und der öffentlichen Wahrnehmung entfernen, um das Bild eines ethnisch homogenen Volkskörpers zu erzeugen.