Theater

Von Zukunftsmusik, falscher Urlaubsidylle und Wiener Humor

  • 16.03.2017, 11:20
Wir haben uns das Festival „ Neues Wiener Volkstheater“ angesehen.

Wir haben uns das Festival „ Neues Wiener Volkstheater“ angesehen.

„Ich bin nicht harmlos. Einmal nicht!“ ruft der junge Mann in den kanariengelben Hosen und zieht eine Pistole aus seinem Mantel. Stille droht den Raum zu zerreißen. „Oida jez sei einmal leiwand“, kontert Melli und wie ein Echo folgen Lacher.

Wir befinden uns in einem der vier Theaterstücke, die im Rahmen des Festivals „Neues Wiener Volkstheater“ als szenische Lesungen inszeniert wurden. Das Festival fand von 9. bis 12. März 2017 als Kooperation des Volkstheaters und des Max Reinhardt-Seminars statt. KünstlerInnen aus beiden Institutionen gingen in enger Zusammenarbeit der Frage nach, wie zeitgemäßes Volkstheater aussehen kann.

papier.waren.pospischil“ von der burgenländischen Autorin Theodora Bauer fand sich unter den gelesenen Stücken. Das skurril- humorvolle Werk spielt mit Alter, Schein, Missverstehen und bringt mit viel Humor alternde Drogendealer und eine verwirrte und leidenschaftliche Jugend auf die Bühne. Inszeniert wurde es von Anna Marboe, die am Reinhardt Seminar studiert. SchauspielerInnen waren sowohl Studierende, als auch am Volkstheater Wirkende. In humorvoller und mitreißender Atmosphäre prallen Menschen und Welten aufeinander: Die Auszubildende Melli kommt hinter das Dunkle Geheimnis ihrer Chefin, die im Hinterzimmer der Papierhandlung heimlich mit Drogen dealt. Als die Frau Aussteigen will, kommt sie in Konflikt mit ihrem Kollegen. Zufällig platzt ein junger Mann, der einem Selbstmordversuch unternehmen will, in die Situation.

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Die fantasievolle und doch minimalistische Inszenierung des Stückes „Kalami Beach“ von Akin E. Şipal überzeugte mit schlichtem Bühnenbild, herausragenden schauspielerischen Leistungen und der außergewöhnlichen Regie Maria Sendlhofers. Die szenische Skizze des neuen Textes behandelt das Treffen einer Türkin und eines Deutschen auf Korfu. Nach ihrem Selbstmordversuch fischt er sie aus dem Meer, worauf die beiden eine halbherzige Affäre beginnen. Als die vermeintlich unfruchtbare Türkin schwanger wird, stellt sich die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft, in der die Frage nach der eigenen Identität widerhallt.

Außerdem aufgeführt wurde „Zwillingssterne“ von Florence Read (Übersetzung von Michael Sommer). Das mehrfach ausgezeichnete Stück erzählt in verschiedenen kurzen Szenen von Begegnungen zweier Menschen.

In eine versunkene Stadt, in der die Menschen leben ohne zu leben, entführte das 1937 entstandene „Vineta“ von Jura Soyfer seine ZuschauerInnen. Durch die Erzählung des Matrosen Johnny lernt das Publikum diesen Ort ohne Zeit und Erinnerungen kennen.

Interessant war das Konzept der szenischen Lesung: Einerseits war das Ablesen der SchauspielerInnen für die ZuschauerInnen ungewohnt und teilweise irritierend, da es eine Art Distanz zwischen SchauspielerIn und Rolle herstellte. Dennoch hatte es einen Vorteil: Unwillkürlich kam man ins Grübeln, wie sich das Stück weiterentwickeln könnte. Insgesamt machte die Veranstaltung Lust auf Neues und Hoffnung auf eine rosige Zukunft des Wiener Theaters.

Weitere Infos unter auf der Webseite des Volkstheaters und des Max Reinhardt Seminars.


Clara Porak studiert Deutsch Philologie und Bildungswissenschaften an der Uni Wien.

Im Herrenhaus des Horrors

  • 23.02.2017, 18:46
In ihrem Spukhaus nahe Lissabon seien Panikattacken die Regel, betont das junge Theaterkollektiv „Teatro Reflexo“. Ein Lokalaugenschein.

In ihrem Spukhaus nahe Lissabon seien Panikattacken die Regel, betont das junge Theaterkollektiv „Teatro Reflexo“. Ein Lokalaugenschein.

Belas ist ein beschauliches Dorf. Doch auf halbem Weg zwischen Lissabon und Sintra gelegen, hat es sich binnen eines Jahres zur Pilgerstätte für LiebhaberInnen gruseliger Erfahrungen gemausert. Unweit der alten Kirche und des noch älteren Friedhofs steht das mondäne Herrenhaus Quinta Nova da Assunção aus dem 19. Jahrhundert. Die rosa Farbe trügt. Nicht grundlos hört man von weitem angsterfüllte Schreie. Die Lokalpresse widmete sich über die vergangenen Dekaden angeblichen paranormalen Erlebnissen, die hier einst BewohnerInnen, HandwerkerInnen und BesucherInnen widerfahren seien. Was davon wahr ist und was erfunden, lässt der Initiator des Projekts Geisterhaus, Michel Simeão, im Gespräch mit progress offen: „Dass Freimaurer- Logen im Haus Rituale durchgeführt haben, ist belegt. Und in den nahen Gräbern liegen Gebeine von Tempelordensrittern“, bekräftigt Simeão, der das mehrfach preisgekrönte junge Theaterkollektiv „Teatro Reflexo“ mit Sitz in Sintra leitet.

SPUKHAUS-WARTELISTE. Auf die Idee, in Portugal Schockeffekt- Theater zu produzieren, kam Simeão in Irland, wo er 2011 geführte Touren zu schaurigen Orten unternahm. In Belas gehen er und sein 13-köpfiges Team aus SchauspielerInnen, Laien und TechnikerInnen viel weiter, seit sie das Geisterhaus-Projekt im Juni 2015 begannen. Mehr als 6.000 BesucherInnen empfing man seither. Knapp nochmal so viele stehen aktuell auf der Warteliste. Trotz der hohen BesucherInnenzahlen ist das Projekt kein leichtes Unterfangen im Portugal der Post-Troika-Rettung, wo man als SchauspielerIn oder TheatermacherIn kaum Chancen auf staatliche Förderungen hat. „Es waren harte Jahre“, weiß Simeão: „Das Letzte wofür meine Landsleute Geld aufwenden, ist Kultur. Selbiges gilt für den Staat.“ „Verstehen Sie Portugiesisch?“, fragt Simeão und warnt: „Sonst gehen Sie im Spukhaus verloren. Die per Audio-Guide geführte, sekundengenau abgestimmte Tour gibt es nur auf Português.“ Einmal drinnen, gibt es kein Entrinnen. Tür für Tür, Gänge entlang, Treppen hinauf, tastet man sich wie in den Resident-Evil-Computerspielklassikern vor. Die Sinne schärfen sich im Dunkeln. Geruch nach Flohmarkt, Modrigem bis Verdorbenem, gar Verwesendem umnebelt einen. Was das Auge im Kerzenschimmer nicht zu eruieren vermag, übernehmen das Ohr, die Nase oder eben die Haut. Wenn Spinnweben über das Haar streifen oder eisigkalter Atem einem in Genick und Ohr bläst, gefriert das Blut in den Adern. Der anfangs amüsante Gänsehautfaktor verwandelt sich in Panik. „Angstschweiß lockt wilde Tiere“, wird einem ins Ohr geflüstert. Hundebellen ertönt hinter der Türe, von der man erhoffte, sie gebe den Fluchtweg frei. Geschirr fällt zu Boden. Schritte nähern sich. Erst schlurfend, hinkend, und auf das Kommando „Verlass den Raum so rasch du kannst!“, einer 100-Meter-SprinterIn gleich. Die Klinke senkt sich quietschend. Nichts wie weg, sagt einem der Instinkt.

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KINDHEITSÄNGSTE. Durchatmen ist nur angesagt, um das eine oder andere Rätsel in Teamarbeit oder im Alleingang zu lösen, während der nächste Schockmoment nur Zentimeter entfernt wartet. „Dort, hinter dem Ohrensessel, neben dem Ehebett, dort ist mein Versteck“, scherzt Lavínia Roseiro, die Schauspielerin in einer Zombie- Rolle. Wenn man unter ein Bett kriecht, kommt der Moment, auf den die Untote nur gewartet hat. Wahrlich monsterhaft ihr Make-up, allzeit bereit auf die Matratze zu springen: „Ich werde nach dir Ausschau halten.“ Ohne zu viele Spoiler zu liefern: Die Suche nach einem adäquaten Versteck ist aussichtslos. Sollte jemandem der Spuk zu weit gehen, müsse er das Safeword „Miguel“ rufen. Laut Simeão hätten viele den Namen verzweifelt gerufen. „Zur Hilfe eilte man jedoch meist nicht. Es soll vor allem vor dem Eintritt beruhigen und einen glauben machen, man käme heraus.“ Panikattacken und eine Handvoll Ohnmachtsanfälle im letzten Jahr sind dokumentiert. Das rührt die Werbetrommel, primär über klassische Mundpropaganda, exponentiell verstärkt über soziale Netzwerke.

In Belas war die Theatergruppe zunächst nicht willkommen. „Die Dorfbevölkerung ist eine sehr verschlossene“, sagt Simeão: „Wie in den Romanen von Stephen King.“ Hier wollte man von schwarzen Messen, obskuren Treffen von Geheimbünden, die Tier- und Menschenopfer zelebrierten, nichts wissen. „Noch weniger, weil tief katholisch, vom Exorzismus-Ritual, das zwischen den Mauern des Hauses stattgefunden haben soll.“

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SOLIDARITÄT FÜR GEISTER. Eine BürgerInnenplattform mobilisierte gegen das unchristliche Gruselkabinett. Vor allem die ältere Generation protestierte gegen die TheatermacherInnen. Der Bürgermeister entzog dem Spukhaus-Projekt zeitweise die Genehmigung. Schade es doch dem Image des Ortes, der sonst für seine Fofos genannten kleinen, süßsündigen Backwaren aus Biskuit und Konditorcreme berühmt ist. Es sind willkommene Blutzuckerspender vor dem Adrenalinrausch, die ungefähr seit der Bauzeit des Horrorhauses um 1850 vis-à-vis in der kleinen Bäckerei verkauft werden.

„Über soziale Netzwerke organisiert, folgte eine Welle der Solidarität für uns Schreckgespenster“, sagt Simeão. So darf in der rosa Villa das Grauen weiterregieren. Und sollte das internationale Interesse wachsen – die Rundgänge sind auf fast ein Jahr hin ausgebucht, sodass nun Extra-Touren im Halbstundentakt starten –, plant Simeão eine englische Version. Auch für das nächste Projekt, das er anstrebt: ein interaktives Krimi-Stück, wo es ganz in der Manier von Agatha Christie darum geht, dass das Publikum die MörderInnen gemeinsam entlarvt. Denn Simeão ist, wie seine Kollegin Roseiro, überzeugt, dass „in der Immersion des Publikums, und dem Miteinbeziehen der ZuseherInnen, die Zukunft des Theaters liegt“.

Facebook: facebook.com/projecto.casa.assombrada. 15 Euro Eintritt pro Person

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich. Seit 2007 arbeitet er als freier Auslandsjournalist in Spanien.

Identitätskannibalismus in Nuova Esperanza

  • 28.10.2014, 01:55

Eine Theater-Rezension

Eine Theater-Rezension

Mittelmeer. Ein Schiff der Grenzschutzbehörde Frontex rammt ein Flüchtlingsboot und bringt es zum Kentern. Die einzigen Überlebenden: Die eitle Fernsehjournalistin Swantje van Eycken, Flo Hagenbeck, eine Berliner Performance-Künstlerin, Le Boeuf, ein apologetischer Frontex-Offizier, und ein stummer afrikanischer Flüchtling. Sie landen auf einer unbewohnten Insel, auf der es nichts zu essen gibt. Bald stellt sich die Frage: Wer wird (zuerst) verkocht?

„Eine mediterrane Groteske“ ist Richard Schuberths Lese-Drama „Frontex – Keiner kommt hier lebend rein“ und treffender könnte die Bezeichnung weder für sein Buch, noch für die realen Ereignisse, auf die es sich bezieht, sein. Das Stück über die absurde Flüchtlingspolitik Europas und die konformistische Kraft schlechten Humors entstand schon 2011 – lange vor der bislang größten Flüchtlingstragödie vor der italienischen Insel Lampedusa im Oktober 2013. Zum Erscheinungsdatum diesen Herbst hat „Frontex“ nichts an Aktualität eingebüßt. Ganz im Gegenteil, Schuberth kann eine traurig-prophetische Vorwegnahme der Ereignisse diagnostiziert werden: Literatur, die ihrer Zeit voraus ist.

In „Frontex“ kommt jedenfalls niemand gut weg, und das ist auch richtig so: Weder die eitlen Journalist*innen, die sich aus Karrieregeilheit in Gefahr bringen, noch die abgehobenen Künstler*innen, die es wissen, aus Tragödien ästhetischen und materiellen Profit zu ziehen – ein Hauch von Selbstkritik, Herr Schuberth? Am schlimmsten geht Schuberth mit der europäischen Politik und ihrer Öffentlichkeit ins Gericht: Die unfassbar zynischen Auftritte vom Frontex-PR-Sprecher und Stand-Up-Comedian Dennis Quartermain und „Mama Merkel“ lassen Ekelgänsehaut aufkommen.

In einer anarchokapitalistischen Welt geht es radikal um Verwertung und Verwertbarkeit, versinnbildlicht etwa im letzten Tabu Kannibalismus, einer absurden „Asyl-Casting-Show“ und einem vollklimatisierten Dienstleistungs-Flüchtlingslager komplett Reintegrations-, Sinn- und Berufsfindungscoachings – genannt „Nuova Esperanza“. Das alles illustriert Schuberth mit bizarrsten Wendungen, kühnsten Überspitzungen und paralysierender Direktheit. Ob das Lachen dem Publikum bei Schuberths ätzendem

Fernseh-Humor punktuell im Halse stecken bleibt? „Frontex“ ist jedenfalls ein atemberaubendes, gleißend bebildertes Drunter und Drüber und somit eher ein durchgehendes Röcheln. Das Drama kann also durchaus mit der stürmischen See verglichen werden, auf der es spielt: mitreißend, aber auf eine bedrohliche Art und Weise.

 

Richard Schuberth liest aus „Frontex“ am 20. November um 20 Uhr mit musikalischer Begleitung Jelena Popržans im ehemaligen Ost Klub.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

 

 

 

Ein Spiegel der Gesellschaft?

  • 04.08.2014, 15:09

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Bei seinem ersten Vorsprechen an einer Schauspielschule wurde Markus Subramaniam gesagt, er solle sich auch nach Job-Alternativen umsehen. „Ich finde es in Ordnung, dass man den Leuten, die vorsprechen, realistisch sagt, dass ihr Talent nicht ausreicht. Aber dann haben sie mir noch ein paar Rollen vorgeschlagen, die ich beim nächsten Mal vorsprechen solle und das waren ausschließlich dunkelhäutige Paraderollen, wie zum Beispiel der ‚Mohr‘ bei Shakespeare. Da habe ich mir gedacht: Also groß ist eure Fantasie nicht.“

Subramaniam hat sich nicht nach Job-Alternativen umgesehen und wurde kurz danach am Max Reinhardt Seminar in Wien zum Schauspielstudium aufgenommen. Während seines Studiums war seine Hautfarbe kein Thema, erzählt er: „Aber ich glaube schon, dass sie trotzdem eine Rolle spielt. Allein, weil ich auffalle. Weil es im staatlichen Theaterbereich kaum andere Dunkelhäutige gibt. Und ich spüre schon immer eine besondere Aufmerksamkeit, wenn ich wo vorspreche.“ Direkt nach dem Studium ging der gebürtige Deutsche, dessen Vater aus Sri Lanka kommt, ans Landestheater Linz, wo er vier Jahre lang festes Ensemblemitglied war. „Als ich auf der Schauspielschule war, habe ich mir gedacht, dass ich bestimmte Rollen wahrscheinlich nicht bekommen werde, aber meine zweite Rolle war gleich ‚Karl Moor’ in Schillers ‚Die Räuber‘, wo ich einen weißen Bruder und einen weißen Papa hatte. Die Theaterleiter in Linz haben mich nie in eine Ecke gedrängt, dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“

Ausnahmefälle. Daraus zu schließen, dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft alles eitel Wonne sei, wäre aber zu kurz gegriffen. Immer wieder war das Theater in den letzten Jahren repräsentationspolitischen Debatten ausgesetzt. Unter anderem wird dabei die Frage verhandelt, welche Rolle Rassismus auf den deutschsprachigen Theaterbühnen spielt. Subramaniam ist als dunkelhäutiges Ensemblemitglied an einem österreichischen Theater ein Ausnahmefall. „Das ist schon ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt er. In seinem vierten und letzten Jahr am Landestheater in Linz wurde das von den Theaterleitern genutzt und Markus Subramaniam als „Othello“ besetzt. Als er den Vertrag für Linz unterschrieb, war seine Bedingung, dass er die Paraderolle, die sonst nach wie vor meist mit weißen Schauspielern besetzt wird, spielen dürfe.

Auch Nancy Mensah-Offei hat es wie Markus Subramaniam auf eine staatliche Schauspielschule geschafft. Mensah-Offei, die in Ghana geboren wurde und mit sieben Jahren nach Österreich kam, wird dieses Jahr mit dem Schauspielstudium am Konservatorium der Stadt Wien fertig. Auch ihr wurde ein Festengagement an einem Theater angeboten, das sie aber abgelehnt hat, um erst mal als freie Schauspielerin zu arbeiten. „Bis jetzt hat man mir am Theater oder in der Schauspielschule nie das Gefühl gegeben, dass meine Hautfarbe ein Problem wäre. Bei der Aufnahmeprüfung war nur mein Bein ein Thema, weil ich humple. Die Frage war, ob man darüber hinwegsehen kann oder nicht. Das heißt, es sind insgesamt drei Faktoren, die es in Österreich für mich schwieriger machen: Ich bin eine Frau, ich bin schwarz und ich habe eine körperliche Behinderung.“

Im Theater sei bisher nie ihre Hautfarbe der Grund für ihre Besetzung gewesen, so die Schauspielerin. Im Gegensatz zum Film: „Bei der ORF-Produktion ‚Schlawiner‘ war klar, dass eine dunkelhäutige Schauspielerin gesucht wird.“ Obwohl Nancy Mensah-Offei am Theater durchwegs positive Erfahrungen gemacht hat, kam es in Kritiken auch schon zu fragwürdigen Aussagen aufgrund ihrer Hautfarbe. So schrieb beispielsweise die Wiener Zeitung in einer durchaus begeisterten Kritik über die „Argonauten“ am Rabenhoftheater: „Die Entdeckung des Abends ist Nancy Mensah-Offei. Ihre Medea ist wie eine hoheitsvolle Voodoo-Priesterin.“

Reproduktion von Rassismen. Nicht nur in Theaterkritiken kommt es immer wieder zu (subtilen) Rassismen. Erst kürzlich wurde es um das Thema in der Theaterlandschaft wieder laut, als vor ein paar Monaten die Wiener Festwochen ihr diesjähriges Programm veröffentlichten. Der Verein Pamoja – The Movement of the Young African Diaspora in Austria initiierte via Facebook eine Petition zur Absetzung eines Stücks von Jean Genet, das in der deutschen Übersetzung mit „Die Neger“ betitelt wurde. Die Kritik: Durch den Titel werde eine rassistische Haltung reproduziert, der man entgegenwirken müsse. Der Regisseur Johan Simons schlug eine
Titeländerung zu „The Blacks“, in Anlehnung an die englische Übersetzung, oder zu „Die Weißen“ vor. Der Übersetzer der deutschen Fassung, Peter Stein, lehnte das jedoch ab, da der Titel für die Clownerie aus den 50er-Jahren, die auf gleichnishafte Weise mit Klischees arbeitet, bewusst provokant gewählt sei.

Für Aufregung sorgte auch ein Bild im Programmheft der Festwochen, auf dem schwarz angemalte weiße Gesichter zu sehen waren. Diese Praxis des Blackfacing wird oft mit „Minstrel-Shows“ in den USA des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, in denen weiße Schauspieler_innen schwarz und oft mit grotesken Mienen geschminkt wurden, um sich auf der Bühne mit Hilfe klischeehafter Zuschreibungen über Schwarze lustig zu machen. Blackfacing wird allerdings bereits seit dem Mittelalter auch in Europa betrieben.

Die Prämisse des Autors Jean Genet, „Les nègres“, wie der Titel des Stücks im französischen Original lautet, nur mit schwarzen Schauspieler_innen zu besetzen, wurde von Regisseur Johan Simons in seiner Festwochen-Produktion bis auf eine Ausnahme jedenfalls nicht eingehalten. „Wäre es nicht wenigstens drin gewesen, dass Simons den einzigen Witz des Stoffes nicht kaputtmacht? Genets Regieanweisung, nur schwarze Schauspieler zu besetzen, hatte immerhin verstanden, dass es beim Rassismus im Theater um konkrete Repräsentationsfragen geht. Dass Simons nun weiße Schauspieler schwarze Schauspieler spielen lässt, die weiße Kolonialisten spielen, zeigt dagegen, dass er das Stück überhaupt nicht begriffen hat“, schrieb Die Zeit. Im Endeffekt passierte dann nicht viel. Die Aufführungen von Genets Stück gingen nach den Protesten im Vorfeld still über die Bühne. Beim Salongespräch zur Inszenierung, das ebenfalls im Rahmen der Festwochen unter dem Titel „Political Correctness auf der Bühne. Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit“ stattfand, saßen auf dem Podium ausschließlich Weiße. Im Falter hieß es dazu: „Intendant Hinterhäuser sagt, man habe vergeblich versucht schwarze Diskutanten zu finden.“

Weiße Norm und schwarze Schminke. In den letzten Jahren war es in Zusammenhang mit Blackfacing immer wieder zu heftigen Diskussionen gekommen: In der Inszenierung von „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ 2010 am Schauspielhaus Wien, in dem es um das Schicksal afrikanischer Boat People ging, malten sich die Schauspieler_innen in der Inszenierung von Felicitas Brucker schwarz an und machten sich dann mit Mehl wieder weiß. Die Blackfacing-Debatte wurde damals noch nicht aufgegriffen, die Kritik hob den dadurch verursachten Verfremdungseffekt hervor. Wiederbelebt wurde die Blackfacing-Debatte dann 2011, als in Deutschland gleich zwei Theaterhäuser Premieren mit weißen Schauspielern, die schwarz angemalt werden sollten, ankündigten. Eine hitzige Diskussion entbrannte, die Inszenierung am Deutschen Theater wurde schließlich abgesagt, weil der Autor des Stücks, der Pulitzer-Preisträger Bruce Norris, dem Theater, das die Figuren nicht werkgetreu besetzte, die Aufführungsrechte entzog. Das Deutsche Theater, eines der vier subventionierten Sprechtheater Berlins, scheiterte daran, Schwarze
als Schwarze zu besetzen.

Am Linzer Landestheater wurde 2012 „Lulu“ von Frank Wedekind inszeniert. „Da kommt am Ende eine als ‚Neger‘ bezeichnete Figur mit dicken Lippen und singt Gospels. Genau so ist die Rolle angelegt. Als Reaktion auf die damalige Blackfacing-Debatte hat der Linzer Schauspieldirektor Gerhard Willert einen Kollegen von mir schwarz angemalt und ihn diese Rolle spielen lassen, während ich weiß angemalt wurde und den Weißen gespielt habe“, erzählt Markus Subramaniam.

Nancy Mensah-Offei sagt zu Blackfacing: „Ich finde es schon störend, dass ein ‚Othello‘ fast immer schwarz angemalt wird. Es gibt genug dunkelhäutige Schauspieler hier in Österreich, die das könnten, aber nicht die Chance bekommen.“ Dass es an den deutschsprachigen Theatern nach wie vor kaum Schauspieler_innen gibt, die nicht einer herrschenden Norm entsprechen, die sich nach wie vor als „weiß“ definiert, ist eine Tatsache.

Migrant-Mainstreaming. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum die Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus und Migration bisher fast ausschließlich in einer Nische geschieht. Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist keineswegs neu. Obwohl in Wien mehr als 50 Prozent der Einwohner_innen migrantischen Hintergrund haben, hat die Realität der Einwanderungsgesellschaft noch nicht wirklich auf die großen Bühnen gefunden. Die rot-grünen Kulturpolitiker_innen fordern seit 2010 zwar von den geförderten Kulturbetrieben, dass sie aktiv „Migrant-Mainstreaming“ betreiben, trotzdem sind große gesellschaftliche Gruppen im Sprechtheater noch immer unterrepräsentiert. Postmigrantisches Theater findet nicht an den großen Häusern, sondern vor allem im Off-Bereich und auf den Wiener Mittelbühnen statt. Dass Wien eine Stadt der Eingewanderten ist, spiegle sich auf den Bühnen viel zu wenig wider, meint auch der Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ).

So meint auch Nancy Mensah-Offei, dass sie manche Rollen und an manchen Häusern wahrscheinlich nie spielen werde: „Ich habe mich nicht unbedingt am Burgtheater oder an der Josefstadt beworben. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich im deutschsprachigen Raum als Gretchen besetzt werde, ist gering. Ebenso hält sich die Chance, die Julia zu spielen, in Grenzen. Ich werde wahrscheinlich auch nie in Salzburg im ‚Jedermann’ spielen. Und ich glaube schon, dass meine Hautfarbe der Grund dafür ist. Wenn man mir eine Rolle in einem dieser großen Klassiker anbieten würde, würde ich aber natürlich sofort ja sagen.“

Anne Wiederhold, die künstlerische Leiterin des Kunst- und Sozialraums Brunnenpassage, hält es angesichts dieser Situation für nötig, dass sich die großen Häuser umorientieren: „Die Idee von öffentlicher Kulturförderung ist ja im Prinzip, dass Kunst ein Spiegel für die Gesellschaft sein soll. Wenn sich die Gesellschaft komplett verändert hat, dann muss da was passieren. Alle zahlen Steuern, aber nur ein Bruchteil rezipiert. Im Off-Theater-Bereich zu bleiben, ist aus meiner Perspektive absolut zu wenig.“

Postmigrantisches Theater. Die deutsche Theaterszene ist da vielleicht schon einen Schritt weiter. Seit der Saison 2013/14 wird das staatlich geförderte Maxim Gorki Theater in Berlin als Theater, das sich der kulturellen Vielfalt nicht verschließt, geführt. Man geht davon aus, dass das Leben längst transkulturell ist und bringt das auch auf die Bühne. Das Ensemble ist vielfältig, gespielt wird Neues und Klassisches. Geleitet wird das Maxim Gorki Theater von Jens Hillje und Shermin Langhoff, die den Begriff des postmigrantischen Theaters nach Deutschland gebracht hat. Ihr ehemaliges Theater Ballhaus Naunynstraße wurde unter ihrer Leitung zum Inbegriff eines Theaters für Menschen, die vielleicht nicht selbst migriert sind, aber in diesem Kontext leben, und zum „Kristallisationspunkt für Künstlerinnen und Künstler migrantischer und postmigrantischer Verortung“. Dass die dort uraufgeführte Inszenierung „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje als erstes postmigrantisches Stück zum prestigereichen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, war ein bedeutender Schritt.

Seit ein paar Jahren findet durchaus auch in Wien eine Auseinandersetzung mit postmigrantischem Theater statt. So vergibt etwa das interkulturelle Autorentheaterprojekt der Wiener Wortstätten seit 2007 jährlich einen Preis an Stücke, die sich mit Identität und Interkulturalität auseinandersetzen. Ibrahim Amir wurde 2013 für seine Ehrenmord-Komödie „Habe die Ehre“ mit dem Nestroypreis für die beste Off-Produktion ausgezeichnet und die Theatergruppe daskunst arbeitet seit Jahren unter der Leitung von Asli Kislal zur Hybridisierung der Gesellschaft. Das Wiener Mittelbühnen-Theater Garage X, das sich auf zeitgenössische Dramatik spezialisiert hat, startete 2011 zusammen mit Kislals Theatergruppe eine Schwerpunktreihe zum Thema „Pimp my Integration“. Mit exemplarischen Theateraufführungen und Podiumsdiskussionen wurde der Frage nachgegangen, welche kulturpolitischen Maßnahmen es braucht, damit postmigrantische Positionen und Themen zunehmend auf die Wiener Theaterbühnen finden. Als Fortsetzung der Reihe wurde 2012 das Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ in der Garage X in einer eigenen Wiener Version von Volker Schmidt inszeniert. In dem Stück geht es darum, sich nicht darauf reduzieren zu lassen, Migrant_in oder Postmigrant_in zu sein. Nancy Mensah-Offei hat mitgespielt: „Obwohl es im Stück viel um Herkunftsfragen geht, hat meine Hautfarbe in der Inszenierung keine Rolle gespielt. Es ging hauptsächlich um das Kopftuch, das ich getragen habe“, erzählt sie.

Große Pläne, wenig Geld. Die Garage X, das Kabelwerk und die Theatergruppe daskunst haben sich nun auch zusammengetan und das Werk X gegründet. Dort soll inhaltlich progressives Theater mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auf internationalem Niveau und unter Einbezug der Diversität der Wiener Bevölkerung geboten werden. Teil des neuen Programms ist das DiverCITYLAB von Asli Kislal, das sich der Heranführung migrantischer Publikumsgruppen an das Theater widmet. Es will „dem Gegenwartstheater ein neues, unserer postmigrantischen Gesellschaft angemessenes Gesicht geben, mit neuen Akteur_innen und neuen Theatermacher_innen“ und beinhaltet auch eine eigene Schauspielschule für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Die Budgets von Werk X und DiverCITYLAB werden übrigens separat verwaltet: Während das Werk X mit über 1,5 Millionen Euro von der Stadt Wien gefördert wird, gehen an Asli Kislal und ihr DiverCITYLAB gerade einmal 100.000 Euro jährlich.

Sara Schausberger ist freie Journalistin und hat in Wien Germanistik studiert.

Nach Europa über das Meer

  • 05.02.2015, 13:29

Theater-Rezension

Theater-Rezension

„Sechs Tage, das ist doch nichts für den Weg ins Paradies.“ Mit diesem zynischen Satz versucht ein Schleuser in Wolfgang Bauers Reportage „Über das Meer – Mit Syrern auf der Flucht nach Europa“ die Schrecken der Flucht über das Mittelmeer kleinzureden. Zynisch ist der Satz nicht zuletzt deshalb, weil die Flüchtlinge im „Paradies“ Europa weiter ausgebeutet werden: Wer ohne gültige Papiere reist, kann sich nirgendwo beschweren. Im Salzburger Landestheater ist Bauers Text Teil einer Vorstellung zum Thema Migration. Drei Wochen vor der Premiere probt das Ensemble unter der Regie von Carl Philip von Maldeghem das Stück „Nach Europa“ der Französin Marie NDiaye. Darin macht sich die von ihrer Familie verstoßene Khady Demba auf den Weg nach Europa. Sie gerät an einen rätselhaften jungen Mann, der ihr einen gefälschten Pass besorgt. Um zu überleben, geht sie der Sexarbeit nach. Die vier SchauspielerInnen erzählen Dembas Geschichte in einer Mischung aus erzählenden und gespielten Passagen. Mal ist eine der beiden Schauspielerinnen Khady Demba, mal die andere und manchmal beide zugleich. Wer zeigt seine wahre Identität und wem kann ich vertrauen? Für die Flüchtlinge sind diese Fragen mitunter überlebenswichtig. Bauers Bericht bildet den zweiten Teil der Vorstellung. Der Journalist hat sich das Vertrauen einiger Flüchtlinge erarbeitet, indem er selbst versuchte, auf einem Flüchtlingsschiff von Ägypten nach Europa zu gelangen. Sein gescheiterter Versuch ist die Basis seines im Herbst erschienenen Buches, das Maren Zimmermann für die Bühne adaptiert hat. Aktueller könne Theater kaum sein, meint Chefdramaturgin Friederike Bernau. Harte Schnitte prägen den Erzählrhythmus von „Über das Meer“. Für die Flüchtlinge ist das Meer gleichermaßen Ziel und Bedrohung und ihre Flucht besteht nicht zuletzt aus Warten und Frustrationen. Die gespielten Passagen werden im Laufe des Stückes weniger und die Informationen dichter. Inhaltlich und formal keine leichte Kost – aber die Mühe lohnt sich.

Marie NDiaye: „Nach Europa“, Wolfgang Bauer: „Über das Meer“
Regie: Carl Philip von Maldeghem 05.02.2015 bis 05.03.2015
Kammerspiele des Salzburger Landestheaters
6 bis 22 Euro

 

Markus Schüssler hat in Salzburg und Bamberg Germanistik studiert.

Auf zur munteren Volksvernichtung

  • 15.03.2014, 12:28

Ist die Leber sinnlos? Die Wiener Gruppe nicht.THEATER geht dieser Frage auf den Grund und inszeniert Werner Schwabs Stück rund um Eskapaden und Familienskandale. Der Zuschauer ist mittendrin statt nur dabei und kann vor Ort seinen technischen und sozialen Skills bei Skype, Facebook und Co frönen. Premiere ist am 15. März.

Ist die Leber sinnlos? Die Wiener Gruppe nicht.THEATER geht dieser Frage auf den Grund und inszeniert Werner Schwabs Stück rund um Eskapaden und Familienskandale. Der Zuschauer ist mittendrin statt nur dabei und kann vor Ort seinen technischen und sozialen Skills bei Skype, Facebook und Co frönen. Premiere ist am 15. März.

 

Es muss scheppern. Die Aussage von Werner Schwab soll für das Ensemble nicht.THEATER der Anlass gewesen sein, Schwabs Stück „Volksvernichtung“ für ihre mittlerweile dritte Produktion auszuwählen. Laut und komisch darf es sein, durchaus auch vulgär und absurd. Mit klassischem Theater können sie scheinbar nicht viel anfangen, gerne aber mit Ausgefallenem und Neuem. Wie steht’s mit der Distanz zum Publikum? Klare Antwort der freischaffenden Theatermacher: Rein in die Interaktion mit dem Publikum, Grenzen verschieben und den Zuschauer lustvoll und auf möglichst viele Arten miteinbeziehen! Die Gruppe nicht.THEATER besteht aus der Regisseurin Rieke Süßkow, einem Produktionsteam und den sieben SchauspielerInnen Aleksandra Corovic, Anna Blumer, Steve Schmidt, Herwig Ofner, Sabine Herget, Miriam Fussenegger und Angela Ahlheim, die sich alle vor ein paar Jahren gesucht und gefunden haben. Vergangene Produktionen sind „Die Beautyqueen von Leenane“ (Oktober 2012) und „Protect Me nach Falk Richter“ (Mai 2013). Das Potenzial des Theaters im 21. Jahrhundert sieht die Gruppe darin, mit zeitgenössischem Theater eine neue haptische, akustische und visuelle Erfahrung zu schaffen. Ihr Credo lautet: Weg aus der Hauptstadt, hin zu den Menschen. Aus diesem Grund wählten sie als Veranstaltungsort die „Blaue Lagune“ bei Wiener Neudorf. Die Anlage bietet mit ihren Fertighäusern eine paradiesisch klingende, familiäre Atmosphäre, die sich das Team für ihr dramatisches Stück zu Nutze machen will, da „Volksvernichtung“ ebenfalls von drei Familien und von der scheinbaren Intimität des Eigenheims handelt.

 

 

Kleckern und Protzen im großen Stil. Die 1991 uraufgeführte Radialkomödie des Grazer Autors Werner Schwab hat für das Ensemble „nichts an Aktualität eingebüßt“. So gewinnt das Publikum bei „Volksvernichtung – Oder meine Leber ist sinnlos“ Einblicke in das Zusammenleben dreier sozial unterschiedlich angesiedelten Familien in einem Mietshaus: Frau Wurm und ihr körperlich beeinträchtigter Sohn Hermann gehören zum unteren Rand der Gesellschaft. Herr Kovacic lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern ein scheinbar glanzvolles Bilderbuchleben, Pensionistin Grollfeuer führt als Hausherrin ein strenges Regiment. Die Welt ist instabil, da bietet das Daheim eine der letzten Konstanten. Der „private“ Wohnraum bewahrt vor der hektischen Welt draußen, aber in der „Volksvernichtung“ verschwimmen die Grenzen.

Den Höhepunkt der Aufführung liefert der dritte von vier Akten, in dem sich alle drei Familien bei einem pompösen Geburtstagsmahl an Speis und Trank sowie dem bittersüßen Leben laben. „Fotzenmaul“ oder „blutige Geburtsscheiße“ sind nur zwei der Phrasen, welche durch ihre Komik die Absurdität des Lebens und das prätentiöse Verhalten der Charaktere entlarven sollen.

Zum Schluss endet alles im noblen Speisezimmer der vornehmen Frau Grollfeuer, die, um die eigene Sinnlosigkeit zu vergessen, ihre „Leber um eine Erträglichkeit strapaziert“. Dem irren Lebenskampf ihrer Mitmenschen setzt sie mit vergiftetem Essen und Getränken ein Ende, um im letzten Akt die angedeutete Volksvernichtung doch nur als Imagination abzuhandeln.

 

 

Big Brother is watching you. In diesem Stück fungiert der Zuschauer als gesellschaftskritischer Voyeur: Im Musterhaus hat er auf zwei Etagen unterschiedliche Räume vor sich, in denen sich das Leben der verschiedenen Familien abspielt. Schonungslos sind die Szenen des scheinbar so intimen Zusammenlebens, die sich vor den Augen des Publikums auftun. „Die Inszenierung funktioniert quasi wie Reality-TV“, so die Produktionsleiterin Lisa Schöttel. Videos und Interviews auf Fernseh-Bildschirmen wechseln sich mit schauspielerischen Szenen ab, langweilig wird dem medienaffinen Beobachter also nicht. Zwei Laptops verbinden das Publikum mit den Darstellern, die via Ipad und Iphone über Skype kommunizieren. Und auch der Facebook-Liebhaber kommt auf seine Kosten, denn Posts und Bilder sind Teil des Schauspiels und können sofort geliked oder kommentiert werden.

Auch das Thema Werbung findet große Bedeutung, meint der Dramaturg Alexander Tilling. „Es geht bei den Bildern um ein Verständnis des Lebensglücks als Werbefläche. In gewisser Weise ist keine der dargestellten Personen authentisch in einem emotionalen Zusammenhang mit Glück zu sehen. […] Es geht eben viel mehr um die Simulation des Glücks.“

Übrigens: Bei den nicht.THEATER-Darstellern geht die Charakter-Identifizierung in Fleisch und Facebook-Name über. So kann man bereits seit einigen Wochen online den einzelnen Mitgliedern und Interaktionen der Familie Kovacic folgen.

Merke: Soziale Medien sind überall. Ebenso die Lust, andere zu beobachten. Dem Leben entkommt sowieso keiner. Eine teuflische Mixtur, die sich in der heutigen Welt da zusammenbraut (und damit meine ich nicht das Gesöff von Frau Grollfeuer).

 

 

nicht.THEATER-Ensemble präsentiert:

„Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“

Von Werner Schwab

Premiere: Samstag, 15. März, 19.30

Weitere Termine: 16., 20., 21., 22., 23., 27., 28., 29. und 30. März

www.nichttheater-ensemble.at

Ein multimediales Theater-Event in der Musterhaussiedlung „Blaue Lagune“