Türkei

„Aus Hassrede wurden Hassverbrechen“

  • 29.11.2016, 14:26
Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Verbale Beschimpfungen. Gewaltvolle Übergriffe. Mord. Trans*frauen in Istanbul sind mit Hass und Vorurteilen konfrontiert. Morde von und Gewalt gegenüber Trans*frauen werden von der Polizei meist nicht untersucht. Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder begleitete die in Istanbul lebende Trans*frau Ebru Kırancı in ihrem täglichen Kampf gegen eine transfeindliche Gesellschaft mit ihrer Kamera. Das Ergebnis: Trans X Istanbul – ein Film, der die Entwicklung von Hassrede zu gewaltvollen Taten bis hin zum Mord aufzeigt und dabei Verschränkungen von Politik, Gesellschaft und ökonomischen Interessen analysiert. Im Mittelpunkt des Films steht dabei die Rolle von Urbanisierungs- und Gentrifizierungsprozessen, die zur Vertreibung von Trans*frauen führen. Mittlerweile zählt auch Maria Binder zu den Unterstützer*innen des von Ebru Kırancı aufgebauten Trans*-Vereins „Istanbul LGBTT“. Ein Gespräch mit Maria Binder über die Situation von Trans*frauen in Istanbul und welche Rolle dabei die menschenverachtende Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie die damit einhergehende eingeschüchterte Zivilgesellschaft spielt.

progress: Du greifst in deinen Filmen immer wieder das Thema Menschenrechte auf. In Trans X Istanbul geht es, wie der Name schon verrät, um die Rechte von Trans*frauen in Istanbul. Wie bist du auf das Thema gekommen?
Maria Binder: 2001 recherchierte ich zu Frauen in der Türkei, die verfolgt wurden, weil sie öffentlich darüber sprachen, dass sie vom Staat, also der Polizei, dem Militär vergewaltigt wurden. Im Zuge der Filmarbeiten, die ich gemeinsam mit Verena Franke gemacht habe, lernten wir die Trans*frau Hülya kennen. Sie hat als Sexarbeiterin in Istanbul gearbeitet, ist mehrfach entführt und vergewaltigt worden. In diesen Recherchen wurde uns klar, dass es Überschneidungen gibt, wie Unterdrückung von Frauen-, Trans*gender und LGBT*-Personen systematisch funktioniert. Wobei ich denke, dass es nochmal ein Unterschied zwischen Trans* und Gay gibt.

Kannst du darauf genauer eingehen?
Der Bildungshintergrund ist ein anderer. Outen sich Trans* gegenüber der Familie, ist das sichtbar. Oft verstößt die Familie Trans*personen, insbesondere Trans*frauen. Trans*frauen werden bei der Geburt männlich zugeordnet, was als das stärkere Geschlecht von der Gesellschaft gesehen wird und sie wählen dann das schwache Geschlecht. Patriarchal ist das als eine Art Entehrung der Männlichkeit definiert. Durch den Ausschluss von Trans*frauen aus der Familie, fällt die Schule weg. Es gibt einen Bruch in der Bildung. Wenn du keine Bildung hast, ist es schwierig einen Job zu finden. Und selbst wenn du Bildung hast, findest du als Trans*frau oft keinen anderen Job außer in der Sexarbeit. Schwule und Lesben haben diesen Knick in der Biographie meistens nicht so schnell. Das Coming-Out kann noch eher hinaus gezögert werden. Der Bildungsweg ist dadurch nicht so gebrochen.

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Kommen wir zurück zum Film: Im Film geht es unter anderem, um einen transfeindlichen Konflikt zwischen verschieden Hausparteien im Istanbuler Stadtteil Avcılar. Ebru spricht dabei immer wieder den Satz aus „Aber ihr ward doch Freund*innen“. Wie kann es sein, dass sich diese Freund*innenschaft in Transfeindlichkeitumgewandelt hat?
Da gab es ganz verschiedene Ebenen der Eskalation: Aus Hassrede (hate speech) wurden Hassverbrechen (hate crime). Allein die Hassrede hat dabei diverse Entwicklungen durchgemacht. Früher sind die Konfliktparteien tatsächlich zusammen gesessen, haben gemeinsam Tee getrunken. Hürriyet, die eine der Protagonist*innen des Kampfs gegen Trans* ist, hat vorher für eine Trans*frau Vorhänge gekauft und genäht. Dieser Häuserblock, um den es da geht, ist jetzt in einem Flächennutzungsplan. Als der Wert dieser Gegend stieg, hieß es, wir wollen keine Prostitution in unserem Haus. Obwohl schon davor klar war, dass hier Sexarbeiter*innen arbeiteten. Daraus wurde dann, wir wollen keine Trans*. Daraus wiederum wurde, wir haben die PKK besiegt, wir werden auch die Trans* besiegen. Die PKK ist aus deren Sicht eine Terrororganisation und wurde mit Waffen beschossen. Das heißt Trans* wurde mit Terror gleichgesetzt. Man sieht hier, wie sich Hasssprache entwickelt. Hass verstanden als systemischer und nicht als ein Gefühlsbegriff, wo verschiedene Mosaiksteine zusammen spielen und sich verschränken. Dadurch kann der Hass so eine Zugkraft entfalten. Da gehören Medien dazu, da gehört der Staat dazu. Und irgendwann kippt diese Stimmung. Die Personen, die gegen Trans* kämpfen, standen plötzlich jeden Samstag als demonstrierender Mob vor der Tür. Trans*personen wurden beim Arbeiten von Männergruppen mit Stöcken überfallen. Samen, eine alten Freund*in von Ebru, wurden Sofas vor ihrer Wohnungstür gestellt und angezündet, während sie in der Wohnung war. Ihr wurde auch in die Wohnung geschossen. Das ist Terror gegen Leib und Leben, aber auch Psychoterror. Dann kommt noch das Zusammenspiel mit der Polizei dazu, die nicht ermittelt. Stattdessen werden die Wohnungen der Trans*personen versiegelt, sie müssen ausziehen.

Du hast die Rolle der Medien angesprochen. Ebru kritisierte, dass selten über Morde an Trans*personen berichtet wird, die Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Welche Rolle spielen die Medien hier?
Viel kann ich dem nicht hinzufügen. Außer vielleicht, dass es sich nach dem Putsch erheblich verschärft hat. Es gab vorher zunehmend linke Medien, die darüber berichteten. Bis 2010 gab es eine Form von Boykott, das hat sich durch unsere Arbeit, durch die Trans*-Organisation geändert. Aber jetzt gibt es einen Rollback. Die Medien haben Angst zu berichten. Erdoğan sagte, dass sich diejenigen, die mit LGBT*-Organisationen zusammenarbeiten, schuldig machen, den Terror unterstützen.

International wird sehr wohl berichtet, dass Morde an Trans* in der Türkei zunehmen. Gibt es gar kein Bemühen von staatlicher Seite etwas zu ändern? Vor allem mit dem Hintergrund, dass die Türkei um den EU-Beitritt ansuchen will?
Vor den Wahlen, die Erdoğan wiederholen ließ, gab es Druck seitens der LGBT-Organisationen auf die Stadtverwaltungen. Es gab LGBT-freundliche Stellungnahmen vor der Wahl von der CHP und der HDP. Die Stadtverwaltungen von Beşiktaş, Kadıköy und Şişli haben uns geholfen: Anfang des Jahres ist unser Vereinssitz ausgebrannt. Die Stadtverwaltung von Beşiktaş hat uns das Geld gegeben, um den Verein wieder herrichten zu lassen. Danach hieß es von den Besitzern, dass sie uns nicht mehr haben wollen. Und warum? Weil sie es nun gewinnbringend vermieten konnten. Da verschränkt sich die Profit-Ebene mit der Politik, mit Erdoğan, der auffordert LGBT-Organisationen nicht zu unterstützen. Es ist so ähnlich wie in Cihangir. Das ist ein Istanbuler Stadtteil, der mit dem Prenzlauer Berg in Berlin verglichen werden kann. Eine Hochpreisgegend. Alles ist schick und cool, Künstler*innen sitzen rum. Vorher haben hier Trans* gewohnt, aber sie sind systematisch vertrieben worden. Das passiert überall nach dem gleichen Muster. Im Endeffekt ist das nicht typisch türkisch, sondern transkulturell: Wie jemand aufgrund eines äußeren Merkmals ausgegrenzt und das mit ökonomischen Interessen gekoppelt wird. Wenn es gleichzeitig eine starke Zivilgesellschaft gibt, dann wird das aufgefangen. Im Moment ist die Zivilgesellschaft in der Türkei aber so verängstigt, weil es diesen Mob auf der Straße gibt. Vor dem Putsch gab es politisch auch eine sehr breit aufgestellte Opposition. Durch die Kriminalisierung von der HDP ist aber einiges gebröckelt. Auf diese Form von Öffentlichkeit müsste man sich beziehen, aber die trauen sich nicht, weil die Hegemonie auf der Straße die Anderen haben. Wie auch nach der Trump-Wahl, wo sich so viele plötzlich ermuntert fühlen mit ihrer rechten Gesinnung in Wort und Tat in die Öffentlichkeit zu treten, sich wieder zu trauen. Das ist in der Türkei ganz ähnlich.

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Ebru wollte 2014 für die HDP Istanbul kandidieren. Das hat aber nicht geklappt. Wieso nicht?
Ebru war in der Vorwahl. Die Partei wählt dann diejenigen, die einen Listenplatz bekommen. Damals ist entschieden worden, dass keine Trans* auf eine Liste kommen soll. Stattdessen ist Barış Sulu, ein Freund von uns, auf die Liste in Eskişehir gewählt worden. Mittlerweile ist er im Exil in Berlin, weil er aufgrund seiner Kandidatur vom IS verfolgt worden ist. Im IS-Magazin wurde ein Bild veröffentlicht mit dem Aufruf zur Tötung. Im Nachhinein bin ich daher froh, dass es nicht geklappt hat. Ebru wäre heute vielleicht im Knast. Oder an einer Parteiveranstaltungen von der HDP, die immer wieder tätlich angegriffen werden, verletzt worden. Wenn man es positiv sehen will: Es war klug von der Partei, Ebru nicht noch zusätzlich zur Zielscheibe zu machen.

Ebru versucht bereits seit Jahren die türkische Gesellschaft zu verändern, natürlich insbesondere eine Besserstellung von Trans*personen zu erreichen. Hat sie in diesem Kampf auch Erfolge erreicht?
Ein großer Erfolg ist, dass wir ein Trans*-Haus für Geflüchtete aus dem Irak, dem Iran, aber vor allem aus Syrien aufbauen konnten. Das ist ausschließlich Community-finanziert und hält sich bereits vier Jahre lang. Mit Hilfe des holländischen Konsulats konnten wir auch ein Jahr lang Traumatherapie anbieten. Es fanden Workshops statt, die gleichzeitig die Funktion hatten, Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen, weil plötzlich hast du nicht nur ein Sprachproblem, sondern Identität fängt wieder an eine Rolle zu spielen. Ein anderer Erfolg ist, dass wir Fortbildungsmaßnahmen in Form eines interaktiven Trainings für Lehrer*innen, Rechtsanwält*innen und Journalist*innen durchführen konnten.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Österreich ist kein sicheres Land“

  • 23.10.2015, 15:23

Vor sechs Jahren wurde der Kurdin Evin Timtik in Österreich Asyl gewährt. Nun wird ihr plötzlich kein Pass mehr ausgestellt: Sie sei eine Gefahr für den Staat.

Vor sechs Jahren wurde der Kurdin Evin Timtik in Österreich Asyl gewährt. Nun wird ihr plötzlich kein Pass mehr ausgestellt: Sie sei eine Gefahr für den Staat. 

Seit mehr als sechzig Tagen hält Evin Timtik nun schon Mahnwache. Sie sitzt an ihrem Infotisch vor dem Parlament, verteilt Flugblätter, spricht mit Passanten und Passantinnen und sammelt Unterschriften für ihr Anliegen. Auf ihrem T-Shirt und auf einem großen Plakat steht: „Ich will meinen Konventionspass und meine Reisefreiheit zurück!“

In der Türkei studierte Timtik an der Universität Erzincan und war in einem lokalen Jugendverein tätig. Die überzeugte Sozialistin war auch aktivistisch tätig und engagierte sich für Demokratie und Menschenrechte, nahm an verschiedenen Kundgebungen teil. Nach einem Friedhofsbesuch wurde sie festgenommen und misshandelt. Als sie zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden war, floh Timtik nach Österreich. Den Behörden konnte sie ihre politische Verfolgung durch Fotos, Gerichtsdokumente und andere Schriftstücke glaubwürdig machen und so wurde ihr im März 2010 Asyl gewährt.

GEHEIME QUELLEN. 2015, fünf Jahre später, ist der Konventionspass, der ihr ausgestattet wurde, abgelaufen. Sie ging zur Behörde und stieß dort zunächst auf Schweigen: „Es gab plötzlich irgendwelche Verzögerungen, alles wurde hinausgeschoben“, sagt Timtik. Monate später dann das Schreiben: Timtik könne kein Pass mehr ausgestellt werden, weil die „gerechtfertigte Annahme bestünde, sie würde mit ihrem Aufenthalt im Ausland die innere und äußere Sicherheit des Landes gefährden“. Diese Information hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) „von einer Quelle des Bundesministeriums für Inneres“.

ZURÜCKGENOMMENE RECHTE. „Hier wird mir ein Recht, das Recht auf Reisefreiheit nämlich, das ich mir erkämpft habe, wieder weggenommen“, beschwert sich die Kurdin. Sie kritisiert auch die Intransparenz der Entscheidung: Die Behörden verweigern nämlich die Einsicht in den entscheidenden Akt des Innenministeriums. Prinzipiell kann die Ausstellung eines Reisepasses nach Paragraf 92 des Fremdenpolizeigesetzes verwehrt werden. Timtiks Anwalt Clemens Lahner dazu: „Die Verweigerung der Ausstellung eines Passes aufgrund einer bloßen Behauptung ist nicht zulässig. Wenn eine Behörde einen Antrag abweist, muss sie die Ablehnung begründen, damit man in einer Beschwerde Gegenargumente vorbringen kann.“ Gegen den Vorwurf und den Vorgang hat Timtik nun vor dem Bundesverwaltungsgericht Einspruch erhoben. „Einfach zu sagen ‘Nein, weil ich es sage’, das geht vielleicht in Nordkorea, aber nicht in einem Rechtsstaat“, so Lahner. Die Einschränkung der Akteneinsicht wird vom Paragrafen 17 Abschnitt 3 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes abgeleitet, gibt BMI-Sprecher Karl-Heinz Grundböck Auskunft. Dort steht, dass die Akteneinsicht eingeschränkt werden kann, wenn die Einsichtnahme eine „Schädigung berechtigter Interessen“ oder eine “Gefährdung der Aufgaben der Behörde oder den Zweck des Verfahrens“ darstellt. Evin Timtik wird nicht nur vorgeworfen, eine Gefahr für den österreichischen Staat, sondern auch eine Gefahr für ihr eigenes Verfahren zu sein.

(c) Olja Alvir

KEIN AUSWEIS. Momentan hat Timtik überhaupt keinen Ausweis. Auch die „Identitätskarte für Fremde“ wird ihr vom BFA nicht augestellt, da dies „grundsätzlich so lange nicht passiert, so lange ein Verfahren zur Ausstellung eines Konventionspasses läuft“, so Grundböck.

Sie kann nun auch einfache Alltagsaufgaben wie ein Konto zu eröffnen oder einen eingeschriebenen Brief bei der Post abzuholen nicht erledigen. „Ich werde wie eine Kriminelle behandelt, obwohl ich nichts gemacht habe. Ich lebe in einem offenen Gefängnis“, fasst Timtik ihre Situation zusammen. „Inwiefern das irgendeinen Sinn ergeben soll, wenn meine Mandantin schon fünf Jahre lang einen Konventionsreisepass hatte und damit auch gereist ist, ohne dass ihr jemals irgendwo ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht worden wäre, verschweigt das BFA“, fügt Lahner hinzu.

BÜROKRATISCHE SCHIKANE. „Ich flüchte wegen Repression aus der Türkei und dann werde ich in Österreich wieder mit ihr konfrontiert. Ich fühle mich nicht mehr sicher; Österreich ist kein sicheres Land“, sagt die Kurdin aus der Türkei auch im Hinblick auf die Behandlung syrischer Geflüchteter. Sie sieht ihren Kampf um Reisefreiheit auch in einem größeren Kontext. „Ich befürchte, dass aus meinem Fall ein Präzendenzfall gemacht wird und dass nun auch anderen Menschen mit Asylstatus Ähnliches droht“ sagt sie. Über Versagungen von Konventionspässen aus Gründen der Gefährdung der Sicherheit werden laut Grundböck keine statistischen Aufzeichnungen geführt.

REPRESSION. In Österreich engagierte sich Timtik im Vorstand der Anatolischen Föderation, einem nicht unumstrittenen linken Verein. Zwei seiner Mitglieder wurden diesen Sommer in Deutschland wegen Verbindungen zur in der Türkei verbotenen marxistisch-leninistischen Partei DHKP-C unter einem ebenfalls umstrittenen Paragraphen verurteilt. Der österreichische Verfassungsschutz stufte die Anatolische Föderation Österreich bis vor Kurzem allerdings als unbedenklich ein. Am 13. Oktober führte die Polizei dann im Wiener Vereinslokal eine Razzia durch, bei der auch Timtik vorübergehend zur Datenaufnahme in Haft genommen wurde. Auffällig ist, dass in Österreich und Deutschland solche Polizei-Aktionen gegen kurdische Vereine vor dem Hintergrund der Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei zur aktuellen Geflüchtetensituation vermehrt stattfinden. Die aktuelle Offensive und die Repression ihr und ihren Vereinskollegen und Kolleginnen gegenüber sieht Timtik als Teil der aktuellen Außenpolitik Österreichs im Kontext mit den Beziehungen zwischen EU und Türkei.

„Das Recht auf Asyl ist Menschenrecht, es ist kein Geschenk, dass der Staat Österreich gütig übergibt“, möchte Timtik die aktuelle Mediendebatte zurechtrücken. „Das Recht auf Asyl wurde mitunter blutig erkämpft“, mahnt sie. Seit 20. Oktober befindet sie sich nun in Hungerstreik.

 

Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Universität Wien.

Wege ohne Heimkehr. Das armenische Leben vor und nach dem Genozid in der Türkei

  • 23.04.2015, 11:51

Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. Progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.

Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.

Das armenische Leben in der Türkei ist nach wie vor durch Diskriminierung, Hass und die fortdauernde Leugnung des Genozids von 1915 gekennzeichnet. Bis heute verhindert der türkische Staat die geschichtliche Aufarbeitung des Genozids und versucht auch international die Anerkennung des Völkermords zu verhindern.

progress: Der Völkermord löschte die armenische Bevölkerung im Gebiet der heutigen Türkei weitgehend aus. Gibt es noch eine lebendige armenische Gemeinschaft in der Türkei?

Corry Guttstadt: Heute leben schätzungsweise 60.000 Armenier in der Türkei, Tendenz fallend. Sie leben fast ausschließlich in Istanbul, wo es mehrere armenische Schulen, die beiden armenischen Tageszeitungen Jamanak und Marmara sowie die Wochenzeitung AGOS und etwa dreißig armenische Kirchen gibt, wenn man dies als Gradmesser einer „lebendigen Gemeinschaft“ ansehen möchte.

In Anatolien leben so gut wie keine Armenier mehr. Dies ist nicht allein eine Folge des Genozids sondern auch eine Folge der erneuten Vertreibung und Ermordung des in der Türkei als „Befreiungskrieg“ bezeichneten Krieges von 1919-1920. Dieser richtete sich gegen die Rückkehr überlebender Armenier im Schutz französischer Besatzungstruppen nach Kilikien und die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates im Nordosten Anatoliens. Es kam erneut zu Massakern an armenischen Zivilisten, die als Fortsetzung des Völkermords angesehen werden können. Nach der Gründung der Republik Türkei sollte nach der Auslöschung der armenischen Bevölkerung auch ihre Geschichte ausradiert werden. So wurden außerhalb von Istanbul zahlreiche Kulturbauten zerstört, die Namen von Dörfern und Städten türkisiert, und überall Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt.

Die aggressive nationalistische Politik führte während der folgenden Jahrzehnte zur Schließung von Schulen und Gemeindeeinrichtungen und in Folge dessen zu einem weiteren Fortzug der verbliebenen Armenier aus Ostanatolien.

Wie der Titel meines Buches „Wege ohne Heimkehr“ zum Ausdruck bringt, gab es nach dem Völkermord auch für die überlebenden Armenier keine „Heimkehr“: Muslime hatten ihre Häuser und ihren Besitz beschlagnahmt. Mehrere der Erzählungen in dem Band beschreiben dies: Hagop Mintzuri bezeichnet seine Situation in Istanbul als das Leben „einer Geisel“, die Großmutter „Garine“ in der Erzählung Karin Karakașlıs hat nur durch Konversion zum Islam überlebt und ihre armenische Identität bis zum Tode verborgen.

Wie sieht die rechtliche Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten und die der armenischen Gemeinschaft  in der Türkei im Speziellen aus?

Formalrechtlich gesehen sind die Armenier Staatsbürger des Landes und genießen die gleichen Rechte wie muslimische Türken. Außerdem sind ihre Rechte als Minderheit – also auf Unterhalt eigener Schulen und Gemeindeeinrichtungen, Gebrauch der eigenen Sprache etc. – wie die der Griechen und Juden im Lausanner Vertrag von 1923 festgeschrieben. In der Realität hat die Politik der Türkei von Beginn an zwischen „echten“ (muslimischen) Türken und den nichtmuslimischen Bürgern unterschieden.

Armenier und andere Nichtmuslime waren zahlreichen Beschränkungen unterworfen: Sie wurden elementarer Rechte wie der Freizügigkeit, Meinungs- und Organisationsfreiheit beraubt und waren im Alltag zahlreichen Diskriminierungen und Beschränkungen ausgesetzt; bis heute ist ihnen z.B. im Staatsdienst oder in der Armee ein Aufstieg verwehrt.

Anstatt das Leben seiner (nichtmuslimischen) Bürger zu schützen, sind es immer wieder Politiker und staatliche Stellen, die den Hass gegen Armenier schüren und die Aufklärung von Gewalttaten (wie z.B. dem Mord an Hrant Dink, Journalist und Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos) verschleppen.

Welche Auswirkung hat eine Politik des türkischen Staates, die den Genozid leugnet, auf die ArmenierInnen?

Die Leugnung beschränkt sich nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung von Fakten, sondern Armenier werden weiterhin als „Feinde und Verräter“ bezichtigt, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords - vor allem seitens außerhalb der Türkei lebender Armenier - als weiterer Beweis ihres „Verrats“ gewertet wird.

Begleitet wird dies durch die Kontinuität antiarmenischer Propaganda und Taten seitens großer Teile der türkischen Gesellschaft und politisch Verantwortlicher. Schulbücher enthalten antiarmenische Aussagen, die den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, eine Petition mehrerer hundert Intellektueller diese Bücher zu korrigieren blieb unbeantwortet. Die staatliche Gazi-Universität in Ankara rief zu einem Plakatwettbewerb auf, welche die armenischen Gräueltaten darstellen sollten.

Hat sich die Lage der ArmenierInnen unter der AKP-Regierung verbessert oder eher verschlechtert? Gibt es inzwischen Bestrebungen, die ethnische und religiöse Pluralität der türkischen Gesellschaft anzuerkennen und zu fördern?

In ihren ersten Regierungsjahren hat die AKP – zum Teil wohl in der Hoffnung auf eine Aufnahme in die EU – eine Reihe von Reformen durchgeführt, die unter liberalen Intellektuellen sowie unter Angehörigen der Minderheiten Hoffnungen auslösten.

Ein Gesetz von 2011 sieht die Rückgabe des widerrechtlich beschlagnahmten oder eingefrorenen Eigentums der christlichen und jüdischen Stiftungen an diese vor. In der Praxis verläuft die Rückgabe äußerst schleppend und wird von staatlichen Stellen immer wieder behindert. In ihrer Rhetorik propagiert die AKP das „Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften“, das zu osmanischen Zeiten angeblich so friedvoll war.

Die Ideologie der AKP ist nicht nur islamistisch, sondern immer auch nationalistisch: Es war der AKP-Bildungsminister, der die antiarmenische  Propaganda in den Schulunterricht brachte. Während des Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen im letzten Sommer sagte Erdoğan, man habe ihn „sogar“  - und dann entschuldigte er sich für das schlimme Wort - „als Armenier bezeichnet“.

Die Lockerungen, die wir in der Türkei erleben – z.B. dass die Bezeichnung des Völkermords als Völkermord nicht mehr zur Strafverfolgung führt - sind der Erfolg der Zivilgesellschaft, des unerschrockenen und unermüdlichen Engagements von mutigen Publizisten und Menschenrechtsaktivisten.


Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler. Gerade arbeitet er an einem Sammelband über den Kampf um Kobanê, der voraussichtlich im Sommer 2015 bei edition assemblage erscheint.

Türkei: Auf dem Weg zum Polizeistaat?

  • 22.02.2015, 17:57

Die Opposition kämpft gegen neue, äußerst repressive Sicherheitsgesetze – im Parlament wie auf der Straße.

Die Opposition kämpft gegen neue, äußerst repressive Sicherheitsgesetze – im Parlament wie auf der Straße.

Bilder von prügelnden Abgeordneten und Stühlen, die durch Luft fliegen, gingen um die Welt, als im türkischen Parlament um die neuen Sicherheitsgesetze debattiert werden sollten. Zuvor hatte die Opposition versucht, mit hunderten Änderungsanträgen und formalistischen Tricks die Debatte in die Länge zu ziehen und so die Abstimmung zu verhindern. Als dann zur späten Stunde der Parlamentsvorsitzender aus der Regierungspartei AKP einen Redebeitrag der Opposition unterband, entstand ein Wortgefecht, dass recht rasch in einer nonverbalen Auseinandersetzung endete.

Über den weiteren Verlauf kursieren unterschiedliche Darstellungen – sicher ist, dass anschließend AKP-Abgeordnete mit Stühlen und stumpfen Gegenständen Abgeordnete aus den Oppositionsreihen angegriffen und fünf von ihnen verletzt haben. Die Auseinandersetzungen gingen auf der Straße weiter. Aber weder die Demonstrationen mit tausenden Menschen noch eine Sitzblockade von Oppositionsabgeordneten im Parlament konnten die Abstimmung verhindern. Inzwischen sind die neuen Sicherheitsgesetze mit Stimmen der AKP-Mehrheit im Parlament beschlossen worden.

AUTORITÄRE WENDE. Nun sind weder Schlägereien im Parlament noch umstrittene Gesetzesreformen in der Türkei ein Novum. Der derzeitige Vorstoß reiht sich vielmehr in eine Menge von Gesetzen und Beschlüssen ein, die insgesamt eine autoritäre Wende der AKP-Regierung in den letzten Jahren dokumentieren.

Dabei schien es zur Beginn der AKP-Ära so, als könnte ein (wenn auch begrenzter) demokratischer Reformprozess angestoßen werden. Die moderat-islamische AKP-Partei erlangte 2002 die Regierungsmacht, und in der Türkei kam es zu einer ganzen Reihe von innen- und außenpolitischen Veränderungen.

Insbesondere schien das Schielen der AKP-Regierung auf einen möglichst schnellen EU-Beitritt der Türkei ein Hebel zu sein, um politische Reformen durchzusetzen. Die Hoffnung war, dass die EU demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards verlangen würde, die die AKP-Regierung umsetzen würde, um den Beitrittskandidatenstatus zu erlangen.

REPRESSIONSWELLEN. Es gab zwar schon damals kritische Stimmen, die auf die autoritären Tendenzen der AKP-Regierung hinwiesen. Aber es war leicht, diese Stimmen als kemalistisch und nationalistisch abzutun, zumal die kemalistische CHP in diesen Jahren das Anti-AKP-Lager dominierte und die Kritik an AKP als mit diesen alten Eliten verbunden war. . Die AKP-Regierung konnte bei ihrem Machtkampf darauf setzen, dass die alten politischen Eliten von vielen gesellschaftlichen Gruppen aus unterschiedlichen Motiven heraus abgelehnt wurden. So gab es wegen der zahlreichen Festnahmen und Inhaftierungen gegen kemalistische und nationalistische PolitikerInnen, Militärs, Intellektuelle und JournalistInnen im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ab 2007 lange Zeit wenig Kritik. Es kam erst dazu, als nicht mehr zu übersehen war, dass die AKP-Regierung den Prozess dazu nutzte, RegimegegnerInnen zu inhaftieren. Auch jetzt noch fehlen Beweise dafür, dass die Inhaftierten tatsächlich Mitglieder einer nationalistischen Verschwörungsgruppe seien, die einen Putsch plane.

Ab 2009 kam es zu einer zweiten Repressionswelle, dieses Mal gegen vermeintliche Mitglieder der PKK-nahen KCK. Bis jetzt wurden mehrere tausend Menschen verhaftet, darunter zahlreiche PolitikerInnen, JournalistInnen, GewerkschafterInnen, WissenschaftlerInnen und AnwältInnen.

(NOCH) MEHR RECHTE FÜR POLIZEI. Die neuen Sicherheitsgesetze sichern diese autoritäre Wende juristisch ab und geben der Polizei mehr Befugnisse, Protest und Opposition stärker zu unterbinden. Die Polizei darf in Zukunft Personen und Fahrzeuge ungehindert durchsuchen und benötigt dafür keine richterliche Erlaubnis. Ebenso darf die Polizei ohne Absprachen bis zu 48 Stunden lang Kommunikationen abhören und aufzeichnen, bisher war eine Höchstdauer von 24 Stunden an Überwachung erlaubt. Personen dürften nach den neuen Sicherheitsgesetzen auch ohne Anklage bis zur 48 Stunden festgehalten werden.

Weil es weder eine richterliche oder sonstige Kontrolle über die Polizeieinsätze noch ein Beschwerdeverfahren gegen möglicherweise unrechtmäßige Einsätze gibt, ist der politische Missbrauch dieser bereits vorprogrammiert. Sehr problematisch ist eine weitere Bestimmung, wonach die Polizei (ebenfalls nach Gutdünken) Menschen „entfernen“ und „festhalten“ kann. Dies hört sich zuerst nach einem Platzverweis an, wie er etwa auch von der deutschen Polizei durchgeführt wird. Allerdings ist im türkischen Gesetzentwurf nicht beschrieben, wo die „entfernten“ Personen „festgehalten“ werden – und was überhaupt dieses „festhalten“ genau meint.

AUF DEMONSTRANTINNEN SCHIESSEN ERLAUBT. Neben diesen Befugnissen, die verdacht- und anlassunabhängig gegen jeden und jede angewendet werden können, sind weitere Bestimmungen vorgesehen, die sich konkret gegen wehrhafte Protestierende richten. Widerstand gegen Polizeirepression kann nun härter niedergeschlagen werden: So ist eine Haftstrafe für bis zur fünf Jahren ist vorgesehen, wenn man bei einer Demonstration eine Schleuder oder Feuerwerkskörper bei sich führt – der bloße Besitz reicht völlig für die Verhängung der Haftstrafe. Ebenfalls eine Haftstrafe von fünf Jahren gibt es für Vermummung bei Demonstrationen. Das Tragen von Symbolen von „illegalen Organisationen“ wird mit bis zur drei Jahren Haft bestraft.

Besonders umstritten ist die neue Bestimmung, nach der die Polizei die Erlaubnis erhält, Schusswaffen gegen DemonstrantInnen einzusetzen, die Brandsätze, Sprengstoff, brennbare Stoffe oder sonstige „verletzende Waffen“ tragen oder benutzen. Diese lange Liste trifft auf zahlreiche Gegenstände zu, die keine unmittelbare Gefahr darstellen und so eigentlich keinen Schusswaffeneinsatz durch die Polizei notwendig machen, wie z.B. „bengalisches Feuer“ oder Fahnenstangen aus Metall. Diese neue Bestimmung dürfte die Zahl von DemonstrantInnen, die durch  Polizeieinsätze getötet werden, deutlich steigern. Dabei kommt es  bereits jetzt – ohne diese Bestimmung – immer wieder zur Tötung von Protestierenden durch die Polizei, wie etwa bei den Kobanê-Protesten im Oktober 2014, wo über 40 Menschen starben.

Insgesamt wird noch zu beobachten sein, wie intensiv die AKP-Regierung die neuen Polizeibefugnisse gegen die Opposition einsetzt. Dies ist eine politische Frage, denn eine juristische Kontrolle der Befugnisse ist nicht vorgesehen. In Kombination mit Informationen von Whistleblowern wie etwa von Fuat Avni, dass die AKP-Regierung bei den Parlamentswahlen  im Juni auf massive Wahlfälschung zurückgreifen könnte, entsteht ein eher düsteres Szenario.

 

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler. Gerade arbeitet er an einem Sammelband über den Kampf um Kobanê, der voraussichtlich im Sommer 2015 bei edition assemblage erscheint.