soziale Sicherheit

Null-Euro-Jobs als Zukunft der Arbeit

  • 12.05.2017, 21:47
Wie Arbeitskraft verstaatlicht wird.

Wie Arbeitskraft verstaatlicht wird.

Unter dem Hartz-IV-System in Deutschland vollzog sich eine grundlegende Transformation des Verhältnisses der Arbeitslosen zum Staat. Der Zwang, am sektionierten Arbeitsmarkt der sogenannten Ein-Euro-Jobs teilzunehmen, kommt einer Verstaatlichung der Arbeitskraft gleich. In Österreich drohen nun ähnliche Entwicklungen. In jener Phase des Kapitalismus, die Karl Marx beobachten und analysieren konnte, als er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das „Kapital“ schrieb, war das Verhältnis der LohnarbeiterInnen zu ihrem jeweiligen Staat klar: Sie waren doppelt frei in jenem Sinne, dass es ihnen zum einen als Rechtssubjekten ermöglicht war, frei von unmittelbarem Zwang ihrer ökonomischen Betätigung nachzugehen; zum anderen waren sie jedoch auch frei von eigenen Produktionsmitteln, weshalb der „stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx) ihnen keine andere Möglichkeit bot, als durch Verkauf ihrer Arbeitskraft am Markt ihren Unterhalt zu besorgen. Die Lohnabhängigen waren in dieser Phase weitgehend auf Gedeih und Verderb dem Marktgeschehen ausgeliefert; konnten sie ihre Arbeitskraft zeitweilig nicht verkaufen, zählten sie zur „industriellen Reservearmee“ und warteten – unterstützt durch Almosen oder später durch staatliche Sozialhilfe – darauf, wieder zum Zug zu kommen.

VERSTAATLICHUNG DER ARBEITSKRAFT. Heute hat man sich in den meisten westlichen Ländern mit einer Sockelarbeitslosigkeit abgefunden, das heißt mit einem Anteil an Arbeitslosen in der Bevölkerung, die selbst bei vollständiger Auslastung der Produktionskapazitäten in der Wirtschaft ihre Arbeitskraft nicht verkaufen könnten. In Deutschland führte diese Akzeptanz der Sockelarbeitslosigkeit zu jenen Maßnahmen, die unter dem Namen Hartz IV bekannt sind: Dazu zählen einschneidende Kürzungsmaßnahmen bei Nicht-Einhaltung der vielen Regeln, die EmpfängerInnen der Sozialhilfe einzuhalten haben (Residenzpflicht, Arbeitssuche, regelmäßige Termine im Job-Center etc.). Berühmt-berüchtigt wurden etwa die im Rahmen von Hartz IV eingeführten Ein-Euro-Jobs. Dabei handelt es sich um von Staats wegen generierte Arbeitsplätze, meist in „gemeinnützigen“ Arbeitsbereichen, die bei vollem Gehalt ökonomisch nicht rentabel wären. Der Staat nimmt nun die Rolle ein, die ökonomisch nicht verwertbare Arbeitskraft der Langzeitarbeitslosen mit der nicht vollwertig bezahlbaren Arbeitsstelle zusammenzuführen. Mit anderen Worten: Wer Hartz IV bezieht, weil er/sie niemanden findet, der auch nur den Mindestlohn für die eigene ungebrauchte Arbeitskraft bezahlt, wird vom Staat gezwungen, sie eben unter ihrem Wert zu verkaufen – wer bei den Ein-Euro-Jobs nicht mitmacht, bekommt schlicht und einfach keine Sozialhilfe mehr. Die „doppelt freien“ ArbeiterInnen werden heute also zunehmend doppelt unterdrückt: Nicht mehr nur der „stumme“ Zwang dieser Gesellschaft rückt ihnen an den Leib, sondern zunehmend auch der Staat.

ÖSTERREICH GOES HARTZ IV. Ähnliche Entwicklungen bahnen sich schon länger in Österreich an. Die hier unter dem Namen „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ bekannte Sozialhilfe war zwar von 2010 bis Jahresanfang 2017 bundesweit gesetzlich garantiert, jedoch in föderalistischer Manier von den neun Bundesländern ausgezahlt; die Höhe und die mit ihr einhergehenden Auflagen und Zwänge konnten also seit jeher höchst unterschiedlich ausfallen. Seit es ab dem 1.1.2017 gar keine bundesweiten Bestimmungen mehr gibt, gilt etwa in Niederösterreich die neue Regelung, wonach BezieherInnen der Mindestsicherung zu befristeten und „zumutbaren“ gemeinnützigen Tätigkeiten gezwungen werden können. Durch die Medien ging etwa erst Ende Februar ein Fall, bei dem die niederösterreichische Stadtgemeinde Horn eine 84jährige Pensionistin zur Arbeit zwingen wollte. Der Aufschrei, der dann folgte, galt lediglich dem Umstand, dass hier eine Pensionistin bzw. in anderen Fällen chronisch kranke Menschen zur gemeinnützigen Arbeit aufgefordert wurden – gegen die Verstaatlichung der Arbeitskraft, die sich hier ankündigt, wurde aber kein Einspruch erhoben.

SOBOTKA UND KURZ. Angesichts des Auslaufens der alten bundesweiten Regelung mit Anfang 2017 entspann sich eine mehrere Monate anhaltende Diskussion um ein neues Gesetz. Im Zuge dieser Debatte wurde klar, wohin die Reise zumindest für die ÖVP gehen soll. So stieß etwa Innenminister Sobotka mit dem Vorschlag vor, ebenfalls Ein-Euro- Jobs für BezieherInnen der Mindestsicherung, und damit eine Angleichung an das deutsche Modell einzuführen. Da bis heute keine einheitliche Regelung im Bund erzielt werden konnte, steht es den Bundesländern aber ohnehin frei, Sobotkas Vorschläge zu erwägen. Ob die restlichen Bundesländer es Niederösterreich in Zukunft gleichtun wollen, oder sich mit Kürzung und Deckelung, wie etwa im Burgenland, begnügen, bleibt offen und hängt von den jeweiligen politischen Entwicklungen ab. Dem neuen sogenannten Integrationspaket der Regierung nach zu urteilen, eilt man Sobotkas Vorschlägen aber auch bundesweit hinterher, vermochte es doch Sebastian Kurz für die ÖVP durchzusetzen, dass künftig Asylberechtigte, die Mindestsicherung beziehen, auch gemeinnützige Arbeit leisten müssen – oder Null-Euro-Jobs, wie Kurz die Zwangsarbeit euphemistisch betitelte. Obwohl es in Teilen der SPÖ noch erheblichen Widerstand dagegen gibt, den Arbeitszwang von Staats wegen auch für die autochthone Bevölkerung einzuführen, ist es nicht zu leugnen, dass nun auch in Österreich in puncto Zwangsarbeit ganz deutlich ein Damm gebrochen ist.

Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

„Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.“

  • 16.06.2016, 19:59
Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

progress: Du hast eine krasse Zeit hinter dir.
Claudius Holler: Ich habe mich knapp eineinhalb Jahre durch ein tiefes Tal gemüht, um kurz vorm Anstieg noch mal richtig auf die Nase zu bekommen. Mein Leben war zuletzt wirklich kräftezehrend und entmutigend, schließlich schien es jedoch wieder bergauf zu gehen. Dann drängelte sich auf einmal der Krebs in mein Leben.

Was war vorher los?
Mein Bruder und ich haben 2010 aus unserer Werbeagentur heraus ein eigenes Produkt herausgebracht: 1337Mate. Das wurde mehr und mehr zu unserem Hauptprojekt, weil uns die Arbeit daran endlich wieder erfüllte und Spaß machte. Es lief gut und immer besser. Alles sprach dafür, dass wir langfristig davon leben und dabei sozial wirtschaften könnten. Leider ging völlig unerwartet mitten in der Produktion unser beauftragter Abfüllbetrieb insolvent. Wir reden, vorsichtig geschätzt, von einer sechsstelligen Summe, die wir dabei verloren haben. Geholfen hat uns da niemand, als Start-up stehst du bei sowas oft ganz allein im Regen.

Du hast dich entschieden, deine wirtschaftlichen Probleme und deine Erkrankung öffentlich zu machen. Warum?
Ich fühlte mich hoffnungslos ausgeliefert und sah meine eh schon ramponierte Existenz zerschellen. Krankheiten im Allgemeinen, Krebs im Besonderen, kommen zeitlich immer ungelegen. Ich war zudem auch noch unversichert. Natürlich war allein die Diagnose schon ein krasser Schock, auf Krebs ist kein Mensch vorbereitet. Die Aufnahme des Videos war eine Kurzschlussreaktion. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich veröffentlichen würde. Am nächsten Tag ging ich all-in, ich hatte eh nichts mehr zu verlieren.

Welche konkreten Folgen hatte die Videoaktion für dich?
Die spürbarste Folge war eine komplette Woche im Paralleluniversum. Ich konnte das Ganze nur von außen betrachten, obwohl ich ja Protagonist war. Klar, ich kenne mich ein bisschen in diesem Internet aus und bin ein wenig vernetzt. Das, was direkt nach der Veröffentlichung passierte, hat mich aber komplett überrollt. Tausende kommunizierten mit mir, bedachten mich mit lieben Worten, Genesungswünschen und ließen mich an ihren Geschichten teilhaben. Dazu kam ein multimediales Echo über alle Kanäle hinweg. Am ersten Tag ohne Kamerateam um mich herum war ich erstmal verwirrt. Ganz ehrlich, das war bis zur Operation die bestmögliche Ablenkung. Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.

Wie kommt es, dass in einem Land mit einem sehr guten Gesundheitssystem Leute einfach durch das Raster fallen?
Irgendwann bemerkte die Bundesregierung, dass hunderttausende Menschen ohne Versicherungsschutz sind und suchte nach Abhilfe. Die Lösung durfte aber nichts kosten. Die Versicherungspflicht nahm den Staat dann aus der Verantwortung, jetzt konnte ja keine Person mehr unversichert sein, denn es war verboten. Leider wurde ignoriert, dass Menschen nicht deswegen unversichert sind, weil sie das so lässig finden oder sich bereichern wollen, sondern weil es ihnen schlicht am Geld dafür fehlt. Hast du wenig Geld, ist dein Beitrag im Verhältnis dazu unanständig hoch, weil die prozentualen Beiträge nach unten hin gedeckelt sind. Die politische Lösung hat also vornehmlich eine Schuldenfalle aufgestellt, bei der schnell fünfstellige Summen aufgehäuft werden und zwar bei denen, die eh schon knapp bei Kasse sind.

Also ein kalkulierter Systemfehler?
Dass der kalkuliert ist, will ich nicht mal unterstellen. Aber es ist dreist, dass mit Hilfe der Ich-AG eine politisch gewollte Form der Selbstständigkeit zur Schönung von Arbeitslosenstatistiken dient, die Risiken aber gänzlich auf ein wachsendes Selbstständigen- Prekariat abgewälzt werden. Auch der Trend zum erzwungenen Subunternehmertum, weil Arbeitgeber_innen Festanstellungen umgehen wollen, verstärkt diese Entwicklung. Die nötige Absicherung für schlechte Zeiten und Gesundheitskosten, die sich am realen Einkommen bemessen, fehlen leider. Auch dass Menschen ohne Papiere in der Not keinerlei Hilfe bekämen, ist beschämend für ein so reiches Land wie Deutschland. Mittlerweile gibt es spendenfinanzierte Kliniken, wie die Praxis ohne Grenzen, die explizit für die Versorgung dieser Gruppe gegründet wurden. Die zeigen sich erstaunt, wie viele ihrer Patient_innen Selbstständige sind.

Kommst du mit den vielen traurigen Geschichten klar, die du nun sicher hörst?
Das tue ich, aber mich erschreckt, wie wenig ich ein Einzelschicksal bin. Es ist unwürdig für dieses reiche Land, wie viele Menschen keine ausreichende Krankenversicherung, aber horrende Schulden ans Gesundheitssystem haben. Die Krankheitsgeschichten, einige wesentlich dramatischer als meine, sind derart gebündelt natürlich hart, andererseits war da auch ganz viel Mut und Stärke herauszulesen. Ich kenne mittlerweile über fünfzig Menschen, die auch keine zwei Hoden mehr haben, sogar aus meinem Bekanntenkreis, die bisher nie davon erzählt hatten.

Du konntest dir von den Spenden eine Hodenoperation „leisten“. Hast du jetzt auch genug für die Nachsorge und eine Versicherung?
Ja. Also ich weiß noch nicht, was in diesem Sommer auf mich zukommt. Ein Lymphknoten in der Bauchgegend ist noch kritisch zu beobachten und könnte mit Pech noch mindestens eine Operation oder sogar eine Chemotherapie nach sich ziehen. In jedem Fall bin ich jetzt wieder versichert und wäre dafür gewappnet.

Wie fühlt es sich an, wenn deine Eier plötzlich Schlagzeilen schreiben?
Ich twitterte irgendwann irritiert „Liebes 13-jähriges Ich, das da zwischen deinen Beinen wirst du dereinst vor tausenden Menschen kommunizieren. Und das ist voll okay“. Dann wissen halt fünf Prozent der Menschen in Deutschland von deiner Weichteil- Flickschusterei. Auch das ist okay. Die Reaktionen geben mir recht. Es sind ja weniger meine Eier, um die es geht, sondern das Thema, welches sie transportieren, und das fristete bisher ein tabuisiertes Schattendasein.

Die ganze Welt ist voller Phallussymbole. Und trotzdem werden weder Schwänze in Filmen gezeigt, geschweige denn Schwanzprobleme benannt. Warum?
Wir sind auch und gerade in unserer übersexualisierten Welt maximal verklemmt. Der weltgrößte Macker wird mit seinem Wurmfortsatz hadern. Die ganzen Phallussymbole sind nur billige Proxies, die derbe Männlichkeit simulieren sollen. Verletzlichkeit und Fehlbarkeit zwischen den Beinen sind mit solchen Ängsten verbunden, dass Hege und Pflege vernachlässigt werden. Ein echter Mann schleppt sich nicht zum Arzt und lässt sich erst recht nicht zwischen die Beine fassen. Ich versuche gezwungenermaßen, mich davon frei zu machen.

Ist der kranke Schwanz ein unmännlicher Schwanz?
Erschreckend, oder? Nicht umsonst haben wir ein umfassendes Beleidigungsarchiv, das auf das männliche Geschlechtsorgan und dessen ausbleibende Superkräfte abzielt. Dabei gibt es bei vielen gesundheitlichen Herausforderungen funktionierende Lösungen. Es darf nur nicht darüber geredet werden.

Glaubst du, junge Menschen wissen ausreichend Bescheid über Gesundheitsvorsorge? Für Mädchen ist es ja normal, schon früh in der Gynäkologie vorbeizuschauen, in Teenager- Zeitschriften gibt es Tipps, wie „das erste Mal Frauenarzt“ vorbereitet werden kann, für Jungs gibt es sowas nicht.
Ich habe seit meinem Film mit vielen Männern darüber gesprochen, wie oft sie in ihrem Leben die Urologie besucht haben. Abgesehen von Menschen mit diesbezüglichen Krankheiten, gingen die Antworten von „noch nie“ bis maximal dreimal. Ich glaube, der Sexualkundeunterricht an unseren Schulen, die Aufklärung zu Hause, aber auch das Gesundheitswesen an sich klammern das Thema Anatomie, Funktionalität, Vorsorge und Pflege zu sehr aus. Diese Tabuisierung spiegelt sich unter anderem in erschreckenden Unterhaltungen wider, die ich nach meinem Schritt in die Öffentlichkeit geführt habe. Ich habe einige Personen massiv überreden müssen, mit den von ihnen selbst diagnostizierten – teilweise schmerzhaften – Auffälligkeiten unbedingt in ärztliche Behandlung zu gehen. Die waren voller Angst und verschleppten es teilweise schon mehrere Jahre.

Viele Transgender- oder intergeschlechtliche Menschen bekommen keine adäquate Gesundheitsversorgung. Wenn eine Frau mit einem Penis Probleme hat, wird sie nicht richtig behandelt oder ist sogar Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt.
Hier kommt zur Problematik fehlender Versicherung noch hinzu, dass wir gesellschaftlich immer noch nicht in der Realität angekommen sind. Binäre Geschlechtszuweisung ist auch oder gerade im Gesundheitssystem keine Ausnahme. Ich durfte per Zufall in einem Krankenhaus behandelt werden, das diese binäre Sicht offensichtlich nicht teilt. Ich lernte in meiner Aufenthaltszeit mehrere Transgender-Menschen kennen, die dort (im Rahmen einer Angleichung) zu ihrem Körper fanden.

Nicht alle haben dein Netzwerk und deinen Mut. Was rätst du Menschen in ähnlichen Lagen?
Wir können nicht jeden Einzelfall mit Solidaritäts-Flashmobs auffangen. Das muss gesamtgesellschaftlich und politisch gelöst werden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, diesem Missstand ein wenig Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vieles von meinem Wissen hätte ich mir schon vorher gewünscht. Dass die gesetzliche Grundversorgung zum Beispiel die Behandlung von Krebserkrankungen nicht zwingend einschließt, weil sie nicht akut lebensbedrohlich sind, ist blanker Hohn. Das möchte ich valide aufarbeiten und zusammentragen, so dass Wege aus dieser Zwickmühle heraus sichtbar werden.

Bei deinem Vortrag gibst du unversicherten Menschen den Tipp, zur Behandlung nach Dänemark zu fahren.
Mir selbst waren viele Informationen, auch mangels Auffindbarkeit, nicht bekannt. So können auch Selbstständige über Hartz IV aufstocken und es gibt Wege, die Krankenversicherungsrate abzumildern. Ich bereite gerade die Gründung einer gemeinnützigen GmbH vor, die sich dem Thema „Unversichert“ annimmt. Dort will ich Informationen zusammentragen, wie Betroffene offiziell oder über legale Grauzonen aus ihrer misslichen Lage kommen können. Das werden Hilfestellungen gegenüber Ämtern und Krankenkassen sein, aber auch eine Möglichkeit, politische Forderungen zu platzieren.

Auf Twitter hat jemand geschrieben, dass du wahrscheinlich mehr Reichweite hast als alle staatlichen Gesundheits- und Präventionsprogramme zusammen.
Meine eigene Bekanntheit ist – vor allem gemessen an der Reichweite von #hollerkaputt – recht überschaubar. Sehr populäre Twitter-Accounts teilten meine Geschichte. YouTube selbst war da ein kleiner Hebel, der schnell von den klassischen Medien überholt wurde. Ich komme ja aus der Werbung und darf deswegen auch Plattitüden raushauen: Content is King. Die Themen „Unversichert“ und „Krebs“ waren kritisch und emotional genug, ihre Reichweite selbst zu generieren. Ich habe die Aufmerksamkeit schnell genutzt, um mein Einzelschicksal zurückzunehmen und als Testimonial zu agieren. So etwas fehlt trockenen Kampagnen oft: Authentizität beim Thema.

Das klingt abgeklärt. Wie geht es dir, wenn du offline bist?
Krebs ist ein Arschloch. Dieses Arschloch bestimmt jetzt erstmal hart mein Leben. Ich muss mich damit arrangieren, es ertragen und mich dagegen wehren. Das schlaucht und in manchen Momenten schleichen sich Angst und Trauer heran. Aber dann überrascht mich der Frühling, aus den Boxen rollt der Bass und zur Not ploppt auch mal ein Bier auf. Ich will mich nicht noch weiter runterziehen lassen. Ich bin mir aber sicher, dass da noch ein paar Momente auftauchen werden, in denen ich mich klein, schwach und tieftraurig fühle.

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin. Daneben ist sie freiberufliche Marketing- und Event-Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Verhärtete Fronten

  • 22.01.2014, 17:01

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

 

Die konfliktgeladene Debatte rund um das Verbot von Sexkauf ist in Österreich und Deutschland neu entflammt. Damit verbunden sind komplexe Fragestellungen zu Menschenrechten, Migrationspolitik und sozialer Sicherheit.
Ein Kommentar von Brigitte Theißl.

„Wir fordern: Prostitution abschaffen! Ändert endlich das Zuhälter-Gesetz“, ist auf der Titelseite der aktuellen Emma zu lesen. 90 prominente Persönlichkeiten, die ihren „Appell gegen Prostitution“ unterzeichnet haben – unter ihnen etwa Heiner Geißler, Senta Berger und Sarah Wiener –, hat Alice Schwarzer um sich geschart. Der Appell richtet sich an den Deutschen Bundestag, der 2001 ein Prostitutionsgesetz verabschiedete, das im europäischen Ländervergleich zu den liberalsten zählt. Zeitgleich zum Start der Kampagne veröffentlichte Schwarzer ihr neues Buch „Prostitution – Ein deutscher Skandal“. Wer zum Emma-Jahres-Abo greift, erhält als Geschenk das ebenfalls 2013 erschienene „Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf“ – Schwarzer produziert am laufenden Band. Und was Deutschlands berühmteste Feministin sagt, hat Gewicht: Ihre Bestseller werden im Spiegel und in der Bild besprochen, sie ist Dauergast in TV-Talkshows. Feministische Themen, die kaum Eingang in Mainstream-Medien finden, erhalten erst mithilfe von Schwarzer Nachrichtenwert.

Sexkaufverbot. Die in Österreich schon seit einigen Monaten heftig geführte Debatte rund um Prostitution – beziehungsweise Sexarbeit – hingegen wurde bisher vorrangig von feministischen und alternativen Medien abseits des „Malestreams“ aufgegriffen. Auslöser für das erneute Aufflammen der Diskussion war ein Petitionstext: Im April 2013 veröffentlichte der neu gegründete Verein feministischer Diskurs den „Wiener Appell“, der sich am schwedischen Gesetzesmodell orientiert und ein Verbot von Sexkauf fordert. In Schweden ist Sexkauf bereits seit 1999 verboten – unter Strafe gestellt ist dort also nicht das Anbieten der sexuellen Dienstleistung, sondern der Kauf derselben durch die Freier. Was für den Verein feministischer Diskurs und Emma als Vorzeigemodell gilt, wird von vielen Sexarbeiter_innen-Verbänden und NGOs, die sich für die Betroffenen einsetzen, heftig kritisiert. Die feministische Migrantinnen-Organisation LEFÖ pocht etwa auf „eine klare Differenzierung zwischen Frauenhandel, Gewalt in jeglichem Sinn einerseits und (freiwilliger) Sexarbeit andererseits“ und kämpft für die Ausweitung der Rechte von Sexarbeiter_innen in Österreich.

Rund 80 Prozent der Dienstleister_innen, die in Bordellen, Privatwohnungen oder den wenigen erlaubten Zonen am Wiener Straßenstrich, unter zumeist schlechten Bedingungen arbeiten, sind Migrant_innen. Schwarzer und andere Aktivist_innen, die sich für ein Verbot der Prostitution stark machen, sehen Sexarbeiter_innen vorrangig als Opfer von Menschenhandel, als Zwangsprostituierte, die von Zuhältern mit falschen Versprechungen von Ost- nach Westeuropa gelockt wurden. Wie es den zugewanderten Frauen, den wenigen Männern und Transpersonen, die in diesem Sektor arbeiten, tatsächlich geht, darüber gibt es aber – sowohl vonseiten staatlicher Behörden als auch von Wissenschafter_innen – nur wenig aussagekräftiges Datenmaterial. Sexarbeiter_innen sind vielfach von rassistischer und sexistischer Diskriminierung (unter anderem durch Gesetze) betroffen und stehen als eine Art Gegenbild zur bürgerlich-sittsamen Frau im gesellschaftlichen Abseits.

Die Wiener Soziologin Helga Amesberger hat an einer internationalen Studie zu Prostitution mitgear- beitet und dafür mit einer großen Anzahl von Sexar- beiter_innen gesprochen. Amesberger steht Verbots- Modellen äußerst kritisch gegenüber, wie sie unter anderem in einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse erzählte. In Schweden etwa sei Prostitution nicht zurückgegangen oder Freier abgeschreckt worden, das Geschäft habe sich vielmehr in die Unsichtbarkeit verlagert. Damit habe sich der Druck auf Sexarbeiter_innen erhöht.

Ausblendungen. Auch wenn sich Sexarbeit als äußerst prekärer Sektor darstellt – der Mythos vom schnell und einfach verdienten Geld entstammt vorrangig Drehbüchern –, kritisieren viele Autor_innen das Ausblenden ermächtigender Aspekte von (migrantischer) Sexarbeit: „Durch die Gleichsetzung von Sexarbeit und Frauenhandel werden Migrant_innen generell als naive Opfer konstruiert und darüber hinaus häufig auf eine sehr sensationalistische Art medial präsentiert. Dass die Migration in die Sexarbeit selbst eine Strategie sein kann, um sich zu wehren, sie eine Möglichkeit sein kann, den patriarchalen Strukturen im Herkunftsland zu entkommen und ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen, wird somit völlig ausgeblendet“, schreiben etwa Gergana Mineva, Luzenir Caixeta und Melanie Hamen in der aktuellen Schwerpunkt-Ausgabe des Onlinemagazins Migrazine.at. Die Autorinnen richten ihren Fokus damit auf eine zentrale Perspektive – die ökonomische. Sexarbeit muss vor dem Hintergrund eines wachsenden informellen Dienstleistungssektors und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen analysiert werden. Es ist die alte feministische Forderung der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen, die in Zeiten europäischer Krisenpolitik höchst aktuell ist. Es gilt jedoch auch, sich im Zuge einer berechtigten Abwehr paternalistischer Zuschreibungen nicht im neoliberalen Diskurs der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zu verstricken: Auch Sexarbeiter_innen, die ihren Beruf freiwillig (also ohne Ausübung von Zwang durch andere Personen) gewählt haben, sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse, sexistische und rassistische Gewaltstrukturen eingebettet.

Nicht nur in Österreich und Deutschland wird aktuell über Prostitution diskutiert – so wurde etwa auch in Frankreich ein Gesetzesentwurf zum Verbot von Sexkauf vorgelegt. Angesichts der 2014 anstehenden Wahl zum europäischen Parlament könnte sich die Debatte verschärfen. Diese ist derart vielschichtig, dass ihr eine Zuspitzung auf Legalisierung oder Verbot, auf Freiwilligkeit oder patriarchale Ausbeutung keinesfalls gerecht wird. Auch wenn es dringend Öffentlichkeit für feministische Fragestellungen braucht – die Stärke feministischer Wissensproduktion war immer schon die machtkritische Analyse, nicht die medienwirksame Kampagne.

 

Brigitte Theißl ist Redakteurin des feministischen Monatsmagazins an.schläge, betreibt zusammen mit Betina Aumair den Verein Genderraum und bloggt unter www.denkwerkstattblog.net.