soziale Gerechtigkeit

Kann Schule soziale Ungleichheit verringern?

  • 20.06.2017, 20:40
Stefan Hopmann ist international anerkannter Professor für Vergleichende Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Mit progress spricht er über Schulkultur, Standardisierung und die Flucht des Mittelstandes.

Stefan Hopmann ist international anerkannter Professor für Vergleichende Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Mit progress spricht er über Schulkultur, Standardisierung und die Flucht des Mittelstandes.

progress: Unser Schulsystem ist in vielen Dingen gut, aber schlecht darin, soziale Ungerechtigkeit zu verringern, stimmen Sie zu?
Stefan Hopmann: Ja, da stimme ich zu. Allerdings mit einem Nachsatz: Wieso nehmen wir eigentlich an, dass Schule Ungleichheit verringern kann oder soll? Meiner Meinung nach ist diese Ansicht Teil des großen Kompromisses, auf dem unsere Gesellschaft aufgebaut ist: Wir tauschen Steuern gegen Beteiligung am Risiko geboren zu sein, also Alter, Krankheit, Bildung.

In bürgerlichen Institutionen werden deshalb formal alle gleich behandelt. So auch im österreichischen Schulsystem: Alle sollen gleich behandelt werden, obwohl sie eigentlich verschieden sind. Das bedeutet, dass formal Chancengleichheit besteht, weil ja allen die gleichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Leider geht diese Rechnung in der Praxis aber nicht auf, da die SchülerInnen wie gesagt aus unterschiedlichen Kontexten kommen. Schwächere SchülerInnen bräuchten gezielte Förderungen, um die gleichen Chancen zu haben wie ihre KollegInnen. Reformen wie die Ganztagsschule sind diesem Gedanken widersprüchlich, weil sie eben diese Unterschiede nicht ausgleichen. Wir sprechen deshalb von einem kontrafaktischen Gleichheitsverständnis.

Wer kann Ungleichheit vermindern, wenn nicht die Schule?
Aktuell sind alle westlichen Gesellschaften von einem Anstieg an Ungleichheit gekennzeichnet, die Bildung alleine ist überfordert, wenn die Gesellschaft nicht ebenfalls versucht, Gleichheit zu schaffen. Dass Schule alleine überfordert ist, zeigt sich zum Beispiel an Leistungstests, also an Überprüfungen von SchülerInnenleistung wie PISA: Oft ist hier das Problem, dass sozial schwächere SchülerInnen auch schlechter abschneiden. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was die Ursache dafür ist: Liegt das schlechtere Ergebnis vor allem an LehrerInnen, SchülerInnen, didaktischen Methoden oder der Schulstruktur? Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur 10 bis 15 Prozent der Unterschiede lassen sich überhaupt auf Strukturen in der Schule zurückführen. Viel prägender sind Faktoren wie Herkunft, Muttersprache oder finanzielle Situation und Bildungsgrad der Familie. Wenn man also wirklich weniger Ungleichheit in der Gesellschaft schaffen will, muss man beginnen, auch Vermögen radikaler umzuverteilen.

Was ist das Problem am österreichischen Bildungssystem? Braucht es mehr Budget?
Nein, es braucht sicher kein größeres Budget. Wir haben bereits eines der teuersten Schulsysteme der Welt und geben mehr Geld aus als Länder wie Finnland oder Norwegen. Das Problem in Österreich ist also nicht die Größe, sondern die „gießkannenartige“ Verteilung der finanziellen Mittel. Man versucht, ganz im Sinne des oben beschriebenen Prinzips, allen möglichst gleich viele finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Viel effektiver wäre es meiner Meinung nach, statt großflächigen Reformen wie dem Pflichtkindergarten bedürftige Kinder und Einrichtungen gezielt zu unterstützen.

Sie sind Professor für Vergleichende Bildungsforschung – gibt es ein Land, das es richtig macht?
Ja und nein. Einerseits ist natürlich kein Schulsystem perfekt, andererseits gibt es schon Länder, von denen wir einiges lernen können. So werden zum Beispiel in manchen skandinavischen Ländern die Eltern viel stärker in den Schulbetrieb miteinbezogen. Zudem sind die Gestaltungsspielräume für Schulen viel größer. Oft ist die Schule Mittelpunkt einer Gemeinde und wird als sehr wichtig angesehen – da ist es dann selbstverständlich, dass sich der BürgermeisterInnen um den Sportplatz kümmern.

Natürlich leiden aber alle westlichen Gesellschaften unter dem Problem, dass es zu wenig soziale Durchmischung an Schulen gibt. Wir bezeichnen dies auch als „Flucht des Mittelstandes“. In allen westlichen Gesellschaften, also auch in Österreich, ist zu beobachten, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder privat einschulen. Gesellschaftspolitisch ist das problematisch, man kann es aber nur durch mehr Qualität in den öffentlichen Schulen verhindern.

Wie kann man diesem Phänomen entgegenwirken?
Gezielte Förderungen schwächerer Schulen könnten der „Flucht des Mittelstandes“ entgegenwirken. Weil Bildung sehr wichtig ist, wird darin investiert. In vielen Ländern ist es nicht ungewöhnlich, einen Kredit aufs Haus aufzunehmen, um den Privatschulbesuch des Nachwuchses zu finanzieren. Eltern sind bereit, an allen Rädchen zu drehen, die sie nur irgendwie finden können, damit ihre Kinder auf die „richtige“ Schule kommen – und die ist eben oft privat. Die einzige Art, das zu unterbinden, ist an öffentlichen Schulen eine Qualität zu schaffen, die die „Flucht ins Private“ unnötig macht. Denn letztendlich sind es die Eltern, die die Schulentscheidung treffen und auf jeden Fall das Beste für ihr Kind wollen.

Welche Rolle spielen die LehrerInnen in der Umsetzung neuer Konzepte?
Eine Schlüsselrolle. Das Problem dabei ist, dass LehrerInnen nicht so sehr durch die Universität oder Ausbildung geformt werden wie durch den ersten Arbeitsplatz. Dort werden die neu Dazugekommenen nach dem Motto „Hier machen wir das so“ eingewiesen. Dadurch ändert sich sehr wenig an der Unterrichtsart an Schulen.

Dennoch gibt es auch Positivbeispiele und neue Konzepte wurden angenommen – zum Beispiel in Norwegen. Hier wird nun nicht länger in Klassen unterrichtet, sondern viel freier. Für die LehrerInnen hat das natürlich eine große Umstellung bedeutet: Sie wussten am Anfang eines Tages nicht mehr, was sie erwarten würde, mussten plötzlich viel spontaner sein und sich an neue Situationen anpassen. Anfangs hat das großes Misstrauen erweckt, doch nach einiger Zeit lernten sie die Vorteile schätzen. Allerdings brauchen solche Implementierungsprozesse immer Zeit, um die LehrerInnen von der Umstellung zu überzeugen. Dazwischen liegt ein „Jammertal“, eine Phase der Umgewöhnung und Ablehnung, die zu überwinden man den LehrerInnen helfen muss. Man sollte ihnen also vor Augen führen, warum sich die Umstellungen lohnen könnten und Engagement belohnen.

Hinzu kommt noch ein weiteres Problem: Als beispielsweise die Neue Mittelschule (NMS) eingeführt wurde, gab es viele LehrerInnen, die Initiative ergriffen haben und tolle, neue Konzepte ausgearbeitet haben. Als die NMS dann zur Regelschule erklärt wurde, wurden viele dieser Konzepte verboten. Natürlich ist so etwas sehr frustrierend und hemmt den Willen der LehrerInnen, sich auf Neues einzulassen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Standardisierung und Chancengleichheit?
Ja, aber einen kontrafaktischen: Die Begründung von Standardisierung ist eigentlich, dass die Besten durchkommen, wenn man allen die gleichen Ressourcen gibt. Wenn also alle einen Standard erfüllen müssen und das gleiche Maß an Unterstützung bekommen, sollte Herkunft kein ausschlaggebender Faktor zum Schulerfolg sein. In der Realität ist das aber oft anders herum.

Grund dafür ist einerseits, dass diejenigen mit mehr Ressourcen auch mehr Ressourcen haben, um auf neue Standards zu reagieren. So können sich SchülerInnen aus reicheren Familien beispielsweise Zusatzmaterialien zu neuen Standards wie der Zentralmatura leisten, die für finanziell weniger starke KollegInnen schwerer zugänglich sind. Außerdem profitieren Kinder aus bildungsnäheren Familien von der längeren Schulerfahrung der Eltern.

Hinzu kommt noch, dass im Zuge der zunehmenden Standardisierung SchülerInnenleistungen immer öfter überprüft werden. Das bedeutet auch, dass von dem, was die SchülerInnen leisten, auf die Leistung von Schule und Lehrenden geschlossen wird. Dass so ein linearer Schluss nicht treffend ist, mag logisch erscheinen, in der Praxis wird aber genau auf diese Weise argumentiert. So stehen Lehrende und Schulen unter Druck – plötzlich müssen sie sich rechtfertigen, wieso ihre Klasse oder ihr Jahrgang etwas kann oder nicht kann. LehrerInnen neigen deshalb dazu, sich auf das mittlere Leistungsfeld zu konzentrieren, denn hier ist es am einfachsten, Zugewinne zu generieren. Dabei geht das Augenmerk auf SchülerInnen, die über- oder unterdurchschnittliche Leistungen erbringen, verloren. VerliererInnen der Standardisierung sind also die sozial Schwachen.

Sie stellen dem das Konzept der starken Schule entgegen.
So ist es. In der Schule gibt es zwei wichtige Pole, zwischen denen den SchülerInnen Wissen vermittelt wird: Einerseits ist das Qualifizieren, also das Erlernen bestimmter Fähigkeiten bzw. Kompetenzen, ein wichtiger Aspekt. Andererseits von großer Bedeutung ist das Kultivieren, also das Sozialisieren, das dazu führt, dass Kinder Teil einer Gemeinschaft und letztlich Mitglieder unserer Gesellschaft werden.

Ich reise aktuell mit einer Vortragsreihe zum Thema „starke Schule“ durchs Land, da ich überzeugt bin, dass der Fehler, der gerade gemacht wird, ist, dass zu viel Fokus auf Qualifizierung gelegt wird. Dabei geht die Schulkultur verloren.

Eine Schule ist stark, wenn sie eine starke Schulkultur hat. Das bedeutet, dass klar ist, warum die SchülerInnen da sind, was sie machen sollen und wie. Meiner Ansicht nach ist das einer der Hauptgründe, warum SchülerInnen an Privatschulen meist gute Ergebnisse erzielen. Solche Schulen haben eine klare Identität, mit der man sich identifizieren kann. Allen Kindern ist klar, was die Schule, die sie besuchen, ausmacht.

Wie profitieren sozial schwächere Kinder von dem Konzept der starken Schule?
So eine starke Schulkultur macht es neuen oder sozial schwächeren SchülerInnen einfacher, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Untersuchungen haben ergeben, dass durch starke Schulkultur langfristig alle SchülerInnen bessere Ergebnisse in Leistungstests erzielen. Kinder, die an Schulen wie „die Schotten“ gehen, fühlen sich als Teil eines Ganzen und sind stolz auf ihre Schule. Darum helfen sie sich gegenseitig und sind motivierter, weil man das so macht hier. Solche sozialen Dynamiken sind extrem wirkungsvoll.

Clara Porak studiert Deutsche Philologie und Bildungswissenschaften an der Universität Wien.

Zurückbleiben bitte!

  • 12.06.2013, 10:32

In Österreich erreichen nur fünf Prozent jener Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss aufweisen, einen Hochschulabschluss. Claudia Aurednik hat mit dem Bildungssoziologen Ingolf Erler über die Probleme von Studierenden und AkademikerInnen aus der sogenannten „Workingclass“ sowie über die Fallstricke des österreichischen Bildungssystems gesprochen.

In Österreich erreichen nur fünf Prozent jener Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss aufweisen, einen Hochschulabschluss. Claudia Aurednik hat mit dem Bildungssoziologen Ingolf Erler über die Probleme von Studierenden und AkademikerInnen aus der sogenannten „Workingclass“ sowie über die Fallstricke des österreichischen Bildungssystems gesprochen.

Ausschnitt aus dem Interview:

„Folgende Parameter sind für die Bildungslaufbahn entscheidend: der Geburtsort, der schulische Abschluss der Eltern und des sozialen Umfeldes, das Wohnviertel, die Lage der nächsten Schule, das Geschlecht des Kindes, das Einkommen der Eltern usw. Wenn man die Parameter weiß, so kann man relativ gut einschätzen wo das Kind einmal später landen wird. […]

Natürlich ist es ein Unterschied, ob man seine ganze Kindheit über AkademikerInnen am Sonntagstisch beim Essen gehabt hat, oder ob man AkademikerInnen nur als ÄrztInnen, ApothekerInnen und Lehrer in der Schule kennt. Kinder aus AkademikerInnenfamilien haben da einen ganz anderen Bezug. Sie merken, dass AkademikerInnen keine natürlichen Autoritäten sind, sondern Menschen mit denen man ganz normal reden kann. In Studien zeigt sich, dass gerade bei mündlichen Prüfungen dieser Unterschied ganz stark hervortritt. Denn bei in der Prüfungssituation ist die Inszenierung besonders wichtig. Zudem lassen sich Menschen aus unterprivilegierten Familien viel leichter einschüchtern und suchen die Fehler vor allem bei sich selbst. Auch die Autorität der Lehrenden wird von ihnen kaum hinterfragt. […]

Der universitätere Habitus wirkt auf „Workingclass Students" oft einschüchternd. Foto: Wolfgang Bankowski

Das Bildungssystem wird über Steuern finanziert und das ist auch sinnvoll. […] Aber da das Bildungssystem über Steuern finanziert wird, müssen die Universitäten und die höheren Schulen darauf achten, dass sie die öffentlichen Ausgaben auch wieder an die Gesellschaft zurückgeben. Eine der Grundvoraussetzungen dafür ist, dass sie halbwegs sozial und gleichberechtigt Leute aufnehmen und auch gleichberechtigt ihr Wissen an die Gesellschaft zurückgeben. Und das nicht nur einmal im Jahr bei einer ‚Langen nach der Forschung‘, sondern das ganze Jahr über. Das würde bedeuten, dass sich die Universitäten öffnen müssten, was wiederum dem Bild der Universität als elitäre Einrichtung widerspricht [...] Aber wenn Forschung und Lehre nur an wenige Gruppen in der Gesellschaft weitergegeben werden, dann darf man sich nicht wundern, dass die ÖsterreicherInnen so intellektuellen- und wissenschaftsfeindlich sind."

 

Ingolf Erler (Hg.): Keine Chance für Lisa Simpson? Soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Wien: Mandelbaum Verlag 2007.

Ingolf Erler: http://www.ingolferler.net/

Wenn Bildung vererbt wird

  • 13.05.2013, 15:05

Trotz des Anstiegs der Studierendenzahlen sind Personen aus nichtakademischem Milieu an den Universitäten stark unterrepräsentiert. Claudia Aurednik hat mit „working class academics“ über die Probleme von Kindern aus nicht privilegierten Elternhäusern im Bildungssystem gesprochen.

Trotz des Anstiegs der Studierendenzahlen sind Personen aus nichtakademischem Milieu an den Universitäten stark unterrepräsentiert. Claudia Aurednik hat mit „working class academics“ über die Probleme von Kindern aus nicht privilegierten Elternhäusern im Bildungssystem gesprochen.

„Einmal hat uns ein Student erzählt, dass er Germanistik studieren wollte und das Studienfach im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien nicht gefunden hat. Daraufhin hat er ein anderes Studienfach inskribiert, weil ihm die Bezeichnung Deutsche Philologie unbekannt war“, erzählt der Bildungssoziologe Ingolf Erler (35). Erler hat während seines Studiums an der Universität Wien ein Referat für Kinder aus nicht privilegierten Elternhäusern gegründet, in dem er sich gemeinsam mit anderen theoretisch mit Ausschlussmechanismen des österreichischen Bildungssystems auseinandergesetzt hat. 2007 hat er das Buch Keine Chance für Lisa Simpson? Soziale Ungleichheit im Bildungssystem herausgegeben. Erler selbst ist in einem kleinen Industrieort in der Obersteiermark aufgewachsen. Sein Vater hatte einen Installateurbetrieb und seine Mutter war Bürokauffrau: „Zu Beginn waren sie angesichts meines Soziologiestudiums etwas irritiert, weil ich zuvor eine HTL gemacht hatte. Dennoch haben sie meine Entscheidung akzeptiert.“ Im Laufe seines Studiums wurde Ingolf Erler von den Schriften Pierre Bourdieus geprägt. „In unserer Gesellschaft zählt Bildung zu den Dingen, die Ungleichheit erzeugen, ohne dass dies gleich auffällt.“ Dieser Aspekt hat auch auf die Selbstwahrnehmung der Betroffenen enorme Auswirkungen, ergänzt Erler: „Denn diejenigen, die im Bildungssystem scheitern, suchen die Schuld bei sich selbst. Sie machen nicht die strukturellen Bedingungen dafür verantwortlich.“ Die Universität betrachtet Erler als Teil des gesamten österreichischen Bildungssystems: „Das Schulsystem funktioniert wie eine Pyramide. Unten kommen alle rein und oben an der Spitze befinden sich nur wenige. Denn Bildung hat die Funktion, Menschen zu selektieren und nur bestimmte in gewisse Positionen aufrücken zu lassen. Zudem geht die Universität immer davon aus, dass sie eine elitäre Ausbildung ist.“ Ingolf Erler erläutert, dass an der Hochschule auch subtile Mechanismen wirken: „Es gibt dort eine Unmenge an Abkürzungen und Hierarchien. Menschen aus einem nichtakademischen Milieu müssen erst lernen, mit ProfessorInnen auf Augenhöhe zu sprechen. Leute, die in einem akademischen Umfeld aufwachsen, fällt es viel leichter, sich vor ProfessorInnen zu inszenieren.“ Doch gerade die symbolische Ebene und die subtilen Mechanismen werden nach Erler oft übersehen und in Untersuchungen vernachlässigt. Eine Problematik stellt auch dar, dass im österreichischen Bildungssystem besonders früh selektiert wird. In Ländern mit hohem AkademikerInnenanteil ist das anders. „Im Bildungssystem der skandinavischen Länder steht die Förderung der einzelnen Personen viel stärker im Vordergrund. Dort lässt man die Leute in einem gemeinsamen Schulverband und fördert gerade jene, die Schwierigkeiten haben. Bei uns wird eher nach der Elitenförderung gefragt und so werden Leute, die bereits einen akademischen Background haben, gefördert.“ Erler betont dabei auch die unterschiedliche Verantwortung für Bildung: „In den skandinavischen Ländern ist die Gesellschaft für das einzelne Kind verantwortlich. Und die hat natürlich viel bessere Möglichkeiten Kinder zu fördern als die einzelnen Eltern.“

Für Personen aus nichtakademischen Familien werden in bildungspolitischen Debatten unterschiedliche Begriffe verwendet. Oft wird von „Personen aus bildungsfernen Schichten“, „kulturell und sozial benachteiligten Personen“ oder „Arbeiterkindern“ gesprochen. „Die Bezeichnung der Arbeiterklasse ist schwierig, weil Klasse in der Alltagssprache nicht als soziologischer, sondern als ideologischer Begriff verstanden wird. Gleichzeitig ist das oftmals dahinterstehende Bild des weißen, männlichen Fabrikarbeiters überholt“, erklärt Ingolf Erler: „Außerdem zählen häufig auch Kinder von LandwirtInnen zu dieser Gruppe, obwohl sie sich selbst dieser kaum zuordnen würden.“ Begriffe wie „bildungsferne Schicht“ oder „kulturell und sozial benachteiligte Person“ sind für ihn noch schwieriger fassbar: „Denn kein Mensch würde sich selbst so bezeichnen.“

Initiative Arbeiter-kind.at In Deutschland hat Katja Urbatsch 2008 die Initiative Arbeiterkind. de gegründet. Die Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil von Kindern aus nichtakademischen Familien an den Hochschulen zu erhöhen und unterstützt betroffene Menschen auf ihrem Weg zu einem erfolgreichen Studienabschluss. Mittlerweile umfasst das Netzwerk 5000 ehrenamtliche MentorInnen und 70 lokalen Gruppen. Arbeiter-Kind.at ist der österreichische Ableger des sozialen Netzwerks, bei dem auch Natascha Miljkovic (34) aktiv ist. Sie hat mit dem Begriff Arbeiterkind keine Probleme und hat sich von der Initiative gleich angesprochen gefühlt: „Vor zwei Jahren habe ich in einem Magazin ein Interview mit Katja Urbatsch gelesen und darin meine eigene Lebensgeschichte wiedererkannt. Denn mein Vater war ein Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien, der in den 1970er Jahren nach Österreich gekommen ist und in Oberösterreich meine Mutter kennengelernt hat.“ Natascha Miljkovic hat vor einigen Monaten eine Firma gegründet und ist als Wissenschaftsberaterin an Universitäten tätig. 2007 hat sie ihre Dissertation am Institut für Zoologie abgeschlossen. Bei Arbeiter-Kind.at ist sie im Organisationsteam tätig. Dort kümmert sie sich primär um die Bekanntheit des Netzwerks an den Universitäten. Außerdem ist sie in Wien als Mentorin für Studierende der Naturwissenschaften aktiv. Eine höhere Ausbildung zu absolvieren war ainnert sich: „In der Volksschule wurde meinen Eltern noch gesagt, dass ein Kind aus einer Gastarbeiterfamilie nicht ins Gymnasium gehen muss. Doch meine Eltern haben sich trotzdem dafür entschieden, weil sie selbst nicht den Zugang zu höherer Bildung gehabt hatten.“

Während des Studiums an der Universität Wien hatte Natascha Miljkovic keine Probleme mit ihrer familiären Herkunft. Doch im Gymnasium hatte sie ihre soziale Stellung deutlich zu spüren bekommen: „Dort wurde mir vermittelt, ich wäre ein Nichts. MitschülerInnen aus Anwalts- oder Arztfamilien wurden viel besser behandelt als ich. Eine derart extreme, ungerechte Behandlung habe ich nachher nie wieder erlebt.“ Die negativen Erfahrungen aus der Schulzeit haben sich auch auf Miljkovics Verhalten zu Beginn ihres Studiums ausgewirkt: „Durch die permanente Demotivation in der Schule war ich in der ersten Zeit sehr schüchtern. Ich habe mich beispielsweise nicht getraut, jemanden nach dem Hörsaal zu fragen. Aber nachdem ich meine Zurückhaltung überwunden hatte, habe ich keine größeren Probleme während meines Studiums gehabt.“ Miljkovic erzählt, dass ihre Eltern sich nicht in ihre Studienwahl eingemischt hätten: „Meine Eltern wollten nur, dass ich die Matura mache. Und ich denke, dass ein Studium, das man sich selbst aussucht, für einen selbst viel mehr Wert hat.“ Natascha Miljkovic reflektiert über die gesellschaftliche Stellung von Menschen aus nichtakademischen Familien: „Bis heute ist es ein Stigma, aus einer Arbeiterfamilie zu kommen. Deshalb sind wir bei Arbeiter-Kind.at auch stolz darauf, dass die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer unser erstes Testimonial war. Dass sie aus einer Bergarbeiterfamilie kommt, wissen nur wenige.“ Miljkovic merkt an, dass viele Studierende aus nichtakademischen Familien besondere Probleme haben: „Viele haben zu wenig Selbstbewusstsein und sehen ihre Möglichkeiten nicht. Das ist schade, denn dabei geht sehr viel Potenzial verloren.“

ArbeiterInnenmilieu „Meine Eltern haben sich gewünscht, dass ich einen polytechnischen Lehrgang und eine Lehre mache oder mich für eine HAK oder HTL entscheide“, erzählt Bernhard Bergler (22) und ergänzt: „Ich habe mich nach der Hauptschule bei meinen Eltern durchsetzen müssen, um aufs Gymnasium zu gehen. Nach der Matura war es dann für sie nachvollziehbar, dass ich ein Studium beginnen werde.“ Vor zwei Jahren war Bernhard Bergler Sprecher der Initiative Arbeiter-Kind.at. Das Engagement musste er dann aufgrund des Studiums ruhen lassen. Derzeit macht er seinen Bachelorabschluss am Institut für Politikwissenschaft und studiert Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Bergler kommt aus dem Bezirk Liezen in der Obersteiermark. Sein Vater war Koch und Konditormeister und arbeitet derzeit als Hausmeister. Seine Mutter ist seit seiner Geburt Hausfrau. Unter dem Studium der Politikwissenschaft haben sich seine Eltern nichts vorstellen können: „Mit Medizin oder Jus können Menschen etwas anfangen. Aber es fällt ihnen schwer sich vorzustellen, was ein Studium der Politikwissenschaft ist und welche beruflichen Aussichten man mit diesem hat.“ Die Unterschiede zwischen ihm und Kindern aus akademischen Familien hat Bergler während seines Studiums rasch bemerkt: „Für Akademikerkinder ist es selbstverständlich, dass die Eltern helfen und die Arbeiten korrigieren. Oft habe ich in Gesprächen bemerkt, dass sie aus einer mir unbekannten Welt kommen.“ Bis heute hat er das Problem, dass er nicht genügend akademische FreundInnen hat, die seine Arbeiten Korrektur lesen und mit ihm über diese diskutieren. Außerdem hätten Studierende aus dem akademischen Milieu, nach Bergler, den Vorteil, während ihres Studiums auch mental unterstützt zu werden. „Bei anderen Eltern ist es selbstverständlich, dass das Kind auf eine höhere Schule geht und anschließend ein Studium beginnt. Von nichtakademischen Eltern werden Studierende oftmals entmutigt, während Kinder aus Akademikerfamilien ermutigt werden“, reflektiert Bergler.

Auch der akademische Habitus ist für ihn befremdend. Er erinnert sich an eine Episode während des Erstsemestrigen-Tutoriums an der Politikwissenschaft: „Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mit anderen Arbeiterkindern an der Wand gestanden bin und wir uns sehr unsicher verhalten haben. Da ist einer geradlinig zum Studiendekan gelaufen und hat mit ihm über handgemachte italienische Schuhe gesprochen. Damit hab ich überhaupt nichts anfangen können.“ Doch trotz der Probleme an der Universität lässt sich Bernhard Bergler nicht entmutigen. Für StudienanfängerInnen mit einer ähnlichen Ausgangsposition hat er folgende Ratschläge: „Man sollte niemals aufgeben und sich rechtzeitig Hilfe holen. Auch die Schwierigkeiten an der Universität sollte man nicht auf sich beziehen, denn oft krankt es an der Struktur des Hochschulsystems.“

Gegen Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren

  • 04.01.2013, 14:46

Am 5. Dezember 2012 fand in Wien die Demonstration gegen Zugangsbeschränkungen und gegen Studiengebühren statt. Die Demonstrantinnen und Demonstranten protestierten gegen die von SPÖ und ÖVP geplanten Zugangsbeschränkungen. Claudia Aurednik interviewte Protestierende.

Am 5. Dezember 2012 fand in Wien die Demonstration gegen Zugangsbeschränkungen und gegen Studiengebühren statt. Die Demonstrantinnen und Demonstranten protestierten gegen die von SPÖ und ÖVP geplanten Zugangsbeschränkungen. Claudia Aurednik interviewte Protestierende.

Angst und Bange

  • 09.11.2012, 17:43

Der Hochschulzugang war in Österreich noch nie frei. Die Bundesregierung hat beschlossen, die Barrieren auszubauen.

Der Hochschulzugang war in Österreich noch nie frei. Die Bundesregierung hat beschlossen, die Barrieren auszubauen.

Architektur, Biologie, Informatik, Pharmazie und Wirtschaftswissenschaften: Nach dem derzeitigen Stand der Verhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP sollen diese fünf Studienfächer in Zukunft beschränkt werden – also nur nach erfolgreich bestandenem Aufnahmetest studiert werden können. Von Seiten der Bundesregierung hält man sich über die Bestätigung genannter Fächerauswahl zwar noch bedeckt, die Auswahl gilt jedoch als sehr wahrscheinlich.

More of the same. Seit Monaten verhandeln SPÖ-
Wissenschaftssprecherin Andrea Kuntzl und Wissenschaftsminister Karl-Heinz Töchterle (ÖVP) bereits über neue Zugangsbeschränkungen im Hochschulbereich. Diese läuten eine neue Zeit der Zugangsbeschränkungen jedoch nicht erst ein, sondern sind lediglich eine weitere Draufgabe zu den bisherigen Regelungen. Bereits 2011 wurde mit der verschärften Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) eine Zugangsbeschränkung eingezogen, die für viele auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar war: Die neuen Bestimmungen sollten Studierenden offiziell lediglich zu mehr Orientierung und Klarheit bezüglich ihrer Studienwahl verhelfen. Die Umsetzung der neuen Orientierungsphase wurde den Universitäten weitgehend autonom überlassen, die gesetzlichen Bestimmungen hielten die Universitäten zum Beispiel nicht zwingend an, nur zwei Prüfungsantritte zu ermöglichen, mit denen sich viele StudienanfängerInnen aber konfrontiert sahen. Die verpflichtende STEOP wurde von vielen RektorInnen als willkommenes Instrument zum Rausprüfen von Studierenden aus Studienrichtungen mit nicht ausreichenden Kapazitäten verwendet. Besonders rigoros wurde die STEOP an der Uni Wien gehandhabt, die Durchfallsquoten waren enorm. Nur sieben Pharmazie-StudienanfängerInnen konnten beispielsweise die STEOP beim ersten Versuch positiv abschließen, bei einer Umfrage der ÖH Bundesvertretung unter knapp 2000 STEOP-Prüflingen gaben rund 80 Prozent an, die STEOP verursache verglichen mit ihrem Nutzen zu viel Druck, knapp 65 Prozent finden nicht, dass „die STEOP die im Gesetz genannten Ziele erreicht“. Auch nach den katastrophalen Erfahrungen mit der STEOP und der Einsicht von Wissenschaftsminister Töchterle, dass diese von den Universitäten „teilweise missbraucht“ werde, werden flächendeckene Zugangsbeschränkungen als Fortführung der STEOP verhandelt.

Doch auch vor der Einführung der STEOP gab es keinen freien Hochschulzugang in Österreich. An vielen Hochschulen wie Fachhochschulen oder den Pädagogischen Hochschulen, Kunstuniversitäten sowie einzelnen Studienrichtungen an den wissenschaftlichen Universtitäten gab und gibt es Aufnahmeprüfungen, die eineN für das jeweilige Studium erst berechtigen. Die Matura oder die Studienberechtigungsprüfung als Studiumsvoraussetzung reicht an vielen Hochschulen längst nicht mehr aus. Für viele StudienanfängerInnen heißt es nach der Matura gleich Weiterlernen für die erste Prüfung auf der Uni, noch bevor das Studium überhaupt begonnen hat. Teure Vorbereitungskurse und Insiderinfos werden für viele zum unbezahlbaren Vorteil, um das eigene Wunschstudium aufnehmen zu können. Carina Strasser, Studienanfängerin an der Uni Wien, holte sich bereits nach dem ersten Überfliegen der Prüfungslektüre für ihr Wunschstudium Psychologie in Wien Hilfe: „Ich habe mit anderen zusammen gelernt und zusätzlich einen Vorbereitungskurs besucht, der rund 200 Euro gekostet hat. Dafür ging mein Erspartes drauf.“ Doch nicht alle können sich den Luxus eines Vorbereitsungskurses leisten, auch wenn dieser oft notwendig ist, um die Prüfung zu bestehen. Der Konkurrenzdruck unter den Prüflingen war spürbar groß: „2000 AnwärterInnen, die mit mir um einen Studienplatz rangen, machten mir schon Angst und Bange.“

Diese Prozedur steht David Riegler, Absolvent eines BORG im ländlichen Oberösterreich, noch bevor. David kann sich einen Vorbereitungskurs nicht leisten: „Die sind sehr teuer. Ich könnte mir auch während des Studiums keine Nachhilfe oder kostenpflichtige Kurse leisten.“ Er bereitet sich so wie viele andere StudienanwärterInnen im Selbststudium vor. „Das ist natürlich auch mit Kosten verbunden.“

Wirklich geeignet? Auf die meisten StudienanfängerInnen übt die Tatsache, dass es für das jeweilige Wunschstudium Zugangsbeschränkungen gibt, einen großen Einfluss aus. Auch Carina und David haben sich ihre Studienwahl mehr als einmal überlegt, obwohl sie für Psychologie am meisten Interesse gezeigt haben: „Man muss sich absolut sicher sein, noch bevor das Studium überhaupt begonnen hat“, sagt David.

Besonders bei prestigeträchtigen Studienrichtungen wie Medizin wirken sich Beschränkungen fatal auf die sogenannte soziale Durchmischung aus: Vergleicht man den Anteil von ArbeiterInnenkindern im Medizinstudium mit dem ähnlich prestigeträchtigen Jusstudium, das ohne Aufnahmetest auskommt, muss man feststellen, dass sich die StudentInnenschaft in ersterm wesentlich elitärer zusammensetzt. Werden nun auch die Medizin-Ausweichstudien Biologie und Pharmazie beschränkt, wird sich dieser Trend verstärken.

Auch anerzogene Geschlechterrollenbilder werden durch Beschränkungen verstärkt: Während mehr Frauen Psychologie als Wunschstudium anstreben, streben zugangsbeschränkte technische Studienrichtungen unverhältnismäßig mehr Männer an. Die Wahrscheinlichkeit, ein Studienfach zu wählen, das außerhalb der rollenbilderbehafteten Normen liegt, wird durch Beschränkungen verringert. Diese Erkenntnisse gehen unter anderem aus dem Studierendensozialbericht 2011 hervor, der gerade vom Institut für höherere Studien (IHS) präsentiert wurde.

Im Kontrast dazu steht das Orientierungs- und Informationsangebot über die verschiedenen Studienrichtungen in den Schulen. Besonders außerhalb Wiens, im ländlichen Raum, ist es schwierig, nicht nur oberflächliche Informationen durch engagierte KlassenlehrerInnen zu bekommen. Carina hat es schließlich geschafft, sie darf nun ihren Bachelor in Psychologie machen: „Insgesamt hätte ich ohne Kurs den Test sehr wahrscheinlich nicht bestanden, da ich diese speziellen Fragen und Methoden nicht gekannt hätte. Es war ein großer Teil zum Lehrbuch, circa fünf Seiten Statistik-Fragen und ein vierseitiger Text zu englischer Fachliteratur, weit weg von Englisch auf Maturaniveau.“

StudienanfängerInnen als Management-Aufgabe. Sieht man von der sozialen Chancenungerechtigkeit bei Zugangsbeschränkungen ab, und versteht Hochschulen als Unternehmen, die sich ihre MitarbeiterInnen selbst aussuchen können, bliebe immer noch die Möglichkeit, durch Aufnahmetests die Geeignetsten der BewerberInnen herauszufiltern. Doch auch die birgen ihre Tücken: Barbara König hat nach ihrer Matura an einem niederösterreichischen Gymnasium die Aufnahmeprüfung für die FH Campus Wien geschafft. Neben einem mathematischen und allgemeinbildenen Prüfungsteil folgte ein personenbezogener Teil, der dazu dienen sollte, die StudienanfängerInnen besser kennenzulernen. „Dort wurden mir Fragen gestellt wie: Werden sie leicht aggresiv? Fühlen Sie sich in ihrem FreundInnenkreis wohl? Oder Mögen Sie sich selbst? Das finde ich dann doch zu persönlich.“

Nachlese:

Was heißt Gerechtigkeit?

Gesichter der STEOP

Reaktionäre Reaktionen

Was heißt Gerechtigkeit?

  • 09.11.2012, 17:02

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg
traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

progress: Wie bist du zu dem Projekt gekommen?

Barbara Rothmüller: Das hat 2008 begonnen, als es an der Akademie eine Arbeitsgruppe zum Thema Antidiskriminierung gab. Man wollte sich einerseits anschauen, wer sich überhaupt für das Studium bewirbt und andererseits, ob im Zuge der Zulassungsprüfung bestimmte BewerberInnengruppen benachteiligt werden.

progress: Gibt es Verfahren, die fairer sind, als andere?

Rothmüller: Das ist schwierig. Es gibt unterschiedliche Probleme bei den verschiedenen Verfahren. Bei offenen Verfahren wie zum Beispiel an dem untersuchten Institut für bildende Kunst an der Akademie gibt es den Vorteil, dass man auf die Bedürfnisse der BewerberInnen besser eingehen kann, was ein Problem ist bei den stark standardisierten Verfahren wie dem EMS (Aufnahmetest für das Medizinstudium, Anm. d. Red.). Man muss sich überlegen, was Fairness in diesem Zusammenhang heißt. Wenn das Gleichbehandlung heißt, kann das der EMS gut sicherstellen.

progress: Aber bei standardisierten Tests haben Persönlichkeitsmerkmale trotzdem einen starken Einfluss.

Rothmüller: Ja, das ist das andere Problem, dass solche Tests natürlich nie neutral sind. Sie können auch indirekt benachteiligen, wenn sie Kriterien anwenden, die bestimmte Gruppen systematisch seltener erfüllen können. Auf der Medizin hat man aber auch einen geringen Anteil von Leuten mit niedriger sozialer Herkunft, das ist schon ein relativ elitäres Studium. Mit der Einführung des Tests ist der Anteil nochmal zurückgegangen.

progress: Verstärken Zugangsbeschränkungen die sozialen Hürden also?

Rothmüller: Was bei unserer Befragung auffällig war, war dass der Anteil von BewerberInnen niedriger sozialer Herkunft im Zuge des Verfahrens nochmal geringer wurde. Und dabei war es sowieso eine geringe Anzahl, die sich überhaupt beworben hat aus dieser Gruppe.

progress: Welch besondere Rolle nehmen Kunstuniversitäten da ein?

Rothmüller: Es gibt in den letzten Jahren den Versuch, die formale Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, das heißt, dass man zum Beispiel nicht nur mit der klassischen Matura studieren kann, der Zugang also erleichtert wird. Dadurch erhofft man sich, die so genannten „bildungsfernen Schichten“ eher ins Studium zu leiten. Was man an den Kunstunis jetzt sehr gut sehen kann, ist, dass diese Strategie eigentlich nur begrenzt aufgehen wird. Weil die meisten Kunststudien konnten immer schon ohne Matura, also ohne formale Voraussetzungen, studiert werden. Und trotzdem ist das offenbar kaum eine Option für Leute mit niedriger sozialer Herkunft. Wenn nicht mehr alle Matura haben müssen, dann versucht man im Gegenzug die Vorkenntnisse über diese Zulassungsverfahren zu kontrollieren.

progress: Ist das finanzielle Aushungern der Unis eine bewusste Taktik, um Zugangsbeschränkungen argumentierbar zu machen?

Rothmüller: Das hat tatsächlich die SPÖ mal in ihrem Bildungsprogramm geschrieben, da war sie aber noch in der Opposition. Sie hat gesagt: Man zwingt die Unis zu Zugangsbeschränkungen, weil ihnen das Geld fehlt, das sie brauchen. Aus einer Organisationslogik heraus macht das auch Sinn, wie soll man mit den Ressourcenengpässen umgehen? In Wirklichkeit ist das natürlich ein Problem, das von der Politik kommt und an die Unis weitergegeben wird, die das wiederum an die Studierenden weitergeben.

progress: Inwiefern kann der Begriff des offenen Hochschulzugangs als Euphemismus gesehen werden?

Rothmüller: Der offene Hochschulzugang ist ein Idealbild, das mit der Realität schon länger nicht viel zu tun hat. Bei den Kunstunis, den FHs und den Sportstudien gab es immer schon Zulassungsverfahren. Und interessanterweise sind die Studierendenproteste 2009 ja von der Akademie ausgegangen, gleichzeitig ist es dort sehr traditionsreich, Zulassungsverfahren zu haben, und das wird auch nicht in Frage gestellt. Das fand ich fast schon ein bisschen irritierend. Wenn man von „offenem Hochschulzugang erhalten“ spricht, übersieht man also, dass es da schon längst Einschränkungen gibt.

progress: Gab es überhaupt jemals so etwas wie einen offenen Zugang?

Rothmüller:Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Bildungs- und Berufswahl war und ist in Österreich extrem sozial selektiv. Weil diese Selbstselektion, wie das in der Bildungssoziologie heißt, so stark ist, hat es vielleicht sogar so lange einen zumindest theoretisch offenen Zugang gegeben. Selbstselektion ist aber auch ein problematischer Begriff – er spielt auf eine naturhafte Auswahl, eine Auslese an, als wäre das nicht ein sozial ausverhandelter Prozess. Und er suggeriert, dass es da um eine Auseinandersetzung der Individuen mit sich selbst ginge, und möglicherweise sogar noch eine bewusste. Tatsächlich kann man aber sehen, dass diese Selbstausschlussprozesse hochkomplex und meistens eine Folge von sozialem Ausschluss sind, der auf eine bestimmte Art verinnerlicht wird.

progress: Wie kann man mehr Leuten ermöglichen, diesen Ausschlüssen zu entgehen?

Rothmüller: Das ist nicht nur, aber schon auch Aufgabe der Unis. Weil wenn uns bekannt ist, dass Frauen, oder Menschen je nach sozialer Herkunft, in bestimmte Richtungen driften, dann müssen die Unis bis zu einem gewissen Grad auch Verantwortung übernehmen und gegensteuern. Und sich Konzepte überlegen, wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrer Anteile auch an den Unis repräsentiert sind. Ich finde, es gibt gute Gründe, dass man das gesellschafts- und hochschulpolitisch als Ziel hat.

progress: Warum gibt es beim EMS so starke geschlechtsspezifische Unterschiede?

Rothmüller: Darüber zerbrechen sich einige ForscherInnen den Kopf, darauf gibt es verschiedene Antworten. Möglicherweise liegt es am Schulsystem. Man hatte früher ein ähnliches Problem in den USA beim zentralisierten SAT-Test. Da gab es zuerst eine Benachteiliung der Männer, daraufhin wurde der Test korrigiert. Dann waren umgekehrt die Frauen benachteiligt und dann wollten sie ihn nicht mehr korrigieren. Es ist also immer auch eine Machtfrage. Es gibt natürlich noch andere Benachteiligungskategorien, die man sich anschauen müsste. Soziale Herkunft etwa klingt immer so abgedroschen, ist aber nach wie vor ein Riesenproblem.

                                                                                                                                                                                           

progress: Gibt es eine Möglichkeit von fairen Zugangsbeschränkungen?

Rothmüller: Naja, ich will nicht ausschließen, dass das irgendwie erreichbar ist, aber im Moment sicher nicht so einfach, wie die Leute sich das vorstellen. Vor allem sehe ich keine Debatte darüber, was soziale Gerechtigkeit beim Studienzugang heißt. Wenn Leute bestimmter Fraktionen oder Parteien sagen: „Es muss fair sein“ denk ich mir ja natürlich muss es fair sein, kein Mensch würde sagen: „Ich bin für unfaire Zulassungsverfahren!“ Aber es macht sich niemand drüber Gedanken, was heißt das, Fairness und soziale Gerechtigkeit? Wie ist es systematisch sicherzustellen? Das muss endlich gesellschaftlich ausverhandelt werden und nicht nur als Rhetorik verwendet werden, um möglichst wenig Widerspruch gegen die Einführung von allen möglichen Verfahren zu haben.

progress: Woran liegt es, dass es so wenig Datenmaterial in diesem Bereich gibt?

Rothmüller: Ich weiß es nicht, möglicherweise daran, dass Gerechtigkeit insgesamt nur von eingeschränktem Interesse ist.

Nachlese:

Angst und Bange

Gesichter der STEOP

Reaktionäre Reaktionen

Reaktionäre Reaktionen

  • 29.09.2012, 17:04

Seit 2006 gibt es ihn – den EMS-Test als Zugangsbeschränkung zur MedUni Wien (MUW). Seither zeigen die Ergebnisse, dass Frauen bei dem Test schlechter abschneiden als Männer. Das soll sich jetzt ändern. Ein Kommentar von Mirijam Müller.

 

Seit 2006 gibt es ihn – den EMS-Test als Zugangsbeschränkung zur MedUni Wien (MUW). Seither zeigen die Ergebnisse, dass Frauen bei dem Test schlechter abschneiden als Männer. Das soll sich jetzt ändern. Ein Kommentar von Mirijam Müller.

EMS – Die unendliche Geschichte. Im vergangenen März wurde bekannt, dass die Aufnahmeprüfung an der Medizinischen Universität Wien zukünftig anders ausgewertet werden soll. Zielsetzung ist, den Nachteil, den Frauen durch die Zusammensetzung des EMSTests haben, auszugleichen. Zugegebenermaßen eine etwas späte Reaktion, ist doch seit Jahren bekannt, dass die Chancen für Frauen, gute Testergebnisse zu erzielen, wesentlich geringer sind, als die von Männern. Bereits 2008 kam die Bildungspsychologin Christiane Spiel zu dem Schluss, dass die Unterschiede zwischen dem Prozentsatz jener Frauen, die sich zum Test angemeldet hatten und dem Anteil derer, die letztendlich gut genug waren, um einen Studienplatz zu bekommen, im EMS-Test System haben. Selbst der damalige Wissenschaftsminister Hahn bezeichnete die Ergebnisse der sogenannten Spiel-Studie als „Kritikpunkte mit ziemlicher Schwere“. Einige der Untertests, in die der EMS unterteilt wird, führen zu einer strukturellen Diskriminierung von Frauen. Die passiert aufgrund von unterschiedlicher Bildungssozialisation bereits in der Schule. Schließlich leistet ein Großteil der Männer vor Beginn des Studiums Präsenz- oder Zivildienst, während Frauen zwischen Matura und Testzeitpunkt nur wenige Tage zur intensiven Vorbereitung bleiben. Trotz dieser mittlerweile breit anerkannten Feststellung hat sich jahrelang nichts geändert.

Kommt jetzt die Wende? Nun gab die neuernannte Vizerektorin für Lehre und Forschung, Karin Gutièrrez-Lobos, die bereits seit mehreren Jahren auch zuständig für Gender und Diversity an der MUW ist, bekannt, dass die Auswertung des EMS geändert werden solle, um der strukturellen Diskriminierung von Frauen entgegenzuwirken. Der Erfinder des EMS behauptet, durch den Test nicht die Qualifikation als zukünfigeR ÄrztIn zu prüfen, sondern einzig den Studienerfolg vorauszusagen. Zumindest in Bezug auf die Ergebnisse der beiden Geschlechter eine Falschaussage. Denn obwohl Frauen beim Eingangstest schlechter abschneiden, sind sie bei fünf der sechs Prüfungen im Medizinstudium besser als die männlichen Studierenden. Es gilt als wissenschaftlicher Standard, dass Ergebnisse von psychologisch-kognitiven Tests wie dem EMS geschlechtsspezifisch ausgewertet werden, nichts anderes soll die neue Auswertung erreichen. Anstatt von allen KandidatInnen einen gemeinsamen Mittelwert zu ermitteln, werden zukünftig für Frauen und Männer getrennt Mittelwerte evaluiert, was zu einem Ausgleich der unterschiedlichen Ergebnisse führen soll.

Reaktionäre Reaktionen. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Erschreckend war vor allem der sofort ertönende Protest der ÖH an der MUW, die von der ÖVP-nahen Fraktion der Aktionsgemeinschaft an der Medizinuni, der  ÖMU, dominiert wird. Diese ortete Diskriminierung von Männern, das Abstempeln von weiblichen Bewerberinnen als Quotenfrauen, wörtlich sprach sie sogar „vom Verschenken von Testpunkten an Frauen“. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten und Vorfälle im AKH, bei denen sich PatientInnen nicht mehr von Frauen behandeln lassen wollten, da sie ja nur aufgrund ihres Geschlechts durchs Studium gekommen wären, wurden bekannt. Die  StudentInnenvertreterInnen an der MUW schweigen also jahrelang angesichts der Diskriminierung von Frauen durch das Testverfahren, kaum soll das geändert werden, wird aber zum Kampf gegen eine Schlechterstellung von Männern geblasen? Sogar ein Gutachten eines Professors, der selbst beim Gleichbehandlungsausschuss seiner Universität Beschwerde führte, weil eine Frau statt ihm Rektorin wurde, wurde von der lokalen ÖH herangeschafft, um gegen die Änderung vorzugehen. Laut Gutachten sei die Regelung  gesetzeswidrig. Über die Gründe für diesen Aufstand kann nur gemutmaßt  werden. Klar ist jedoch, dass der Kampf um Gleichbehandlung, egal in welchen Bereich, ob es um die Einführung von verpflichtenden Quoten, das Schließen der  Lohnschere, Schutzrechte für Frauen als Opfer von Gewalt oder eben die Auswertung eines EMS-Tests geht, immer ein harter und langwieriger Kampf gegen viele Widerstände unserer immer noch männerdominierten Gesellschaft war und ist.

Positive Diskriminierung als Mittel. Die neue Art der Auswertung des Medizintests ist keine klassische Form der positiven Diskriminierung. Dennoch stellt sich im Zuge der Debatte rund um das Thema die Frage der Zulässigkeit von positiver Diskriminierung als Mittel zur schnelleren Erlangung von Gleichberechtigung. Es ist nicht einzusehen, dass Frauen weiterhin darauf warten sollen, bis Männer sich freiwillig dazu bereit erklären, einen Teil ihrer Macht an Frauen abzugeben. Wir sind über den Punkt hinaus, wo eine offensichtliche Diskriminierung von Frauen übersehen wird, dennoch prägen gerade versteckte und strukturelle Unterdrückungsmechanismen nach wie vor gesellschaftliche Teilbereiche und Situationen, wie zum Beispiel den Arbeitsmarkt. Auch in der Frage der Quoten musste sogar die dem konservativen Lager zuzurechnende EU-Kommissarin Viviane Reding einsehen, dass nur die verpflichtende Einführung Ergebnisse zeigen kann. Das EMS-Beispiel zeigt wie viele andere, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Es gilt, vor allem jungen Frauen möglichst früh aufzuzeigen, welchen Mechanismen unsere Gesellschaft nach wie vor unterliegt, damit wir uns gemeinsam stark machen können. Es bleibt zu hoffen, dass sich eine weitere Diskussion über die Vorgangsweise beim EMS-Test erübrigt, indem die leidliche Zugangsbeschränkung überhaupt aufgehoben wird, auch wenn dieses Ziel momentan unerreichbar scheint.

Verhindern wir gemeinsam ein postdemokratisches Europa

  • 28.09.2012, 20:48

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Wir erleben gerade die schlimmste ökonomische und politische Krise der Europäischen Union. Warum? Weil es der Finanzmarktindustrie gelungen ist, ihre falsche Erzählung über die Ursache der Krise durchzusetzen. Sie wird nun nicht mehr als Krise der Finanzinstitute und ihrer Fehlspekulationen wahrgenommen, sondern als Staatsschuldenkrise. Dabei sind die tatsächlichen Ursachen der  Krise am besten mit drei U zu beschreiben: Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen, Ungleichgewichte bei der Vermögensverteilung und die Unterregulierung der Finanzmärkte. Einige Fakten zur Verdeutlichung: Die reichsten 10 Prozent verfügen über circa zwei Drittel des Vermögens.

Europaweit ist die Lage ähnlich: Die 3,1 Millionen Dollar-Millionäre verfügen laut dem World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch gemeinsam über 10,2 Billionen USDollar Netto-Vermögen. Diesem Reichtum in den Händen von circa einem Prozent der Bevölkerung steht eine immer weiter steigende Armutsquote gegenüber. In der EU sind heute mehr als 16 Prozent der Menschen von Armut betroffen. Die Schattenbanken, auch bekannt als Hedgefonds, haben inzwischen einen finanziellen Umfang, der jenem der normalen Geschäftsbanken nahekommt. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss der Exportnation Deutschland beträgt 170 Milliarden Euro. Als Folge der Krisenerzählung der  Finanzwirtschaft wurde in Europa unter deutschem Druck der „Fiskalpakt“ durchgesetzt. Er verpflichtet die unterzeichnenden Staaten, eine  Schuldenbremse in ihren Verfassungen zu verankern, die weitere  Kreditaufnahmen faktisch verbietet. Übersteigt die Verschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollen sie bestraft werden. Das klingt zunächst  vernünftig. Wer hat schon gerne Schulden?

Dabei weiß jedeR EigenheimbesitzerIn mit Durchschnittseinkommen, dass das eigene Domizil nur über einen Kredit finanziert werden kann. Die Schuldenquote der EigenheimbesitzerInnen ist in Bezug auf ihr Jahreseinkommen schnell höher als die der Staaten, die als hochverschuldet gelten. Aber nicht nur Menschen oder Unternehmen müssen manchmal investieren. Das Gleiche gilt für Staaten.  Straßen, Schulen und Schwimmbäder werden über Jahrzehnte genutzt. Deshalb ist es nur logisch, dass diese Investitionen auch über Jahre finanziert werden. Staatliche Investitionen führen in der Regel sogar zu mehr Einnahmen. Der Staat investiert in Infrastruktur und Bildung und schafft damit die Voraussetzung, dass Unternehmen Gewinne und Menschen gute Löhne erzielen können. Durch gezielte Investitionen kann der Staat sogar einem Absinken der Einnahmen in einer Krise entgegenwirken. Diese Logik galt  übrigens als Grundgesetz, bis sie durch die Schuldenbremse ersetzt wurde.

Kritisch wird es für den Staat erst, wenn seine Einnahmen zurückgehen – so wurden die Spitzensätze der Einkommenssteuer in den USA von 1950 bis heute von 90 Prozent auf 35 Prozent, in Deutschland von 95 Prozent auf 45 Prozent und in Frankreich von 60 Prozent auf 40 Prozent gesenkt. Der Spitzensatz der Einkommenssteuer ist zwischen 1998 und 2007 EU-weit um 4,9 Prozentpunkte zurückgegangen. Auch vermögensbezogene Steuern sind immer weiter gesunken. Heute beträgt ihr Aufkommen als Anteil des BIP in der EU noch 2,1 Prozent. Diese seit Jahrzehnten betriebene Politik des Einnahmeverzichtes ist letztlich der Grund für die Schuldenkrise der Staaten. Doch von einer stärkeren Besteuerung von Reichtum ist heute kaum die Rede.

Unverbindliche Lyrik. Den Fiskalpakt als „Schuldenbremse“ zu bezeichnen, ist ein Euphemismus. Treffender ist, ihn als Investitionsbremse zu bezeichnen. Das faktische Investitionsverbot ist volkswirtschaftlich kontraproduktiv. So als würde man einem Unternehmen verbieten, in neue Maschinen zu investieren und es zwingen, weiter mit nicht mehr wettbewerbsfähigen zu arbeiten. Die Folge ist klar: Die Pleite wird wahrscheinlicher, nicht unwahrscheinlicher. Der Fiskalpakt wird Deutschland zwingen, jährlich 25 Milliarden Euro einzusparen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik weist allerdings darauf hin, dass in Deutschland ein zusätzlicher Investitionsbedarf von mindestens 75 Milliarden Euro pro Jahr besteht. Bei konsequenter Umsetzung der Schuldenbremse setzt das eine extreme Erhöhung der Steuereinnahmen voraus, die nicht mit einer europäischen Transaktionssteuer oder einer leichten Erhöhung der  Einkommensteuer zu erzielen ist. Der Fiskalpakt wird also notwendige Investitionen verhindern und zu Sozialabbau führen.

Postdemokratische EU. Im Fiskalpakt manifestiert sich zudem der postdemokratische Zustand der europäischen Gesellschaft. Der von oben verordnete Sparzwang erhält auf einmal europaweit Verfassungsrang. Der europäische Demos wird nicht gefragt. Eigentlich hätte der Fiskalpakt eine Modifikation der europäischen Verträge nötig gemacht. Aber die Exekutiven haben den Fiskalpakt am Europarecht vorbei als völkerrechtlichen Vertrag  durchgesetzt. Mit dem Fiskalpakt steht der Kontinent, auf dem einst das Demokratieprinzip geboren wurde, vor einer autoritären Wende. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist der Kern der Demokratie, nämlich, dass Parlamente über die Verwendung von Steuern, über Investitionen und Einsparungen eigenständig entscheiden.

Setzt sich die Logik des Fiskalpakts durch, vollziehen die Parlamente letztlich nur noch die neoliberale Spardoktrin. Die Demokratie wird in eine Zwangsjacke der Alternativlosigkeit gesteckt. Sie wird zu einer Veranstaltung von  TechnokratInnen, bei der einzig darum gestritten werden darf, wer am effektivsten spart, wer Frauenhäuser, Universitäten und Sozialsysteme am besten zusammenstreicht. Mit dem Fiskalpakt haben die Neoliberalen ihr ökonomisches Paradigma in Marmor gemeißelt.

Das Projekt Europa steht am Scheideweg. Mit dem Fiskalpakt werden die Weichen in Richtung Sozialabbau gestellt. Der Euro wird scheitern. Eine  gemeinsame Währung kann die verstärkten sozialen Unterschiede in Europa einfach nicht aushalten. Um das zu sehen, muss man kein Linker sein. Selbst der US-Präsident Barack Obama kann dem Sparkurs nichts abgewinnen. In Deutschland klagt meine Partei, DIE LINKE, deshalb gegen Fiskalpakt und  EURettungsschirm. Beide sind mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Sozialstaat nicht vereinbar. Ein Vertrag, der so stark in die demokratischen und sozialen Rechte eingreift, sollte nur per europaweiter Volksabstimmung beschlossen werden. Zwei Alternativen könnten zur Auswahl stehen. Zum einen der Fiskalpakt, also Investitionsbremse und Sozialabbau. Diesen Weg möchte Schwarz-Gelb gemeinsam mit Rot-Grün einschlagen. Oder zum anderen eine Politik, die an der Wurzel der Krise ansetzt und endlich eine europäische Wirtschafts- und Sozialunion auf den Weg bringt. Dafür ist eine Umverteilung von oben nach unten und über eine couragierte Regulierung der Finanzmärkte unabdingbar.

So eine Abstimmung könnte auch einen positiven Aspekt verstärken: Lange galt die EU als ein Projekt der Bürokraten in Brüssel. Die Öffentlichkeit konzentrierte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das eigene Land. Doch immer mehr Menschen  blicken über den nationalen Tellerrand. Die Wahlen in Griechenland und Frankreich wurden auch in Deutschland mit großem Interesse verfolgt.

Namen wie Alexis Tsipras und François Hollande sind in aller Munde, als handle es sich um Fußballstars. Eine europäische Öffentlichkeit und ein europäischer Demos sind auf einmal da. Sie sind der Hoffnungträger für eine soziale und demokratische Erneuerung der EU. Vorerst werden sie die europäische Idee vor  dem Fiskalpakt erteidigen müssen.

Die Dresdnerin Katja Kipping (Jahrgang 1978) wurde im Juni 2012 mit 67 Prozent zur Bundesvorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt. Als Vertreterin der innerparteilichen Strömung der emanzipatorischen Linken, die nicht an die „Erwerbsarbeit als allein selig machende Bestimmung des Menschen“ glaubt, tritt sie trotz Gegenwind aus der eigenen Partei als vehemente Befürworterin des Bedingungslosen Grundeinkommens auf. Die deklarierte Feministin ist  außerdem Mitbegründerin des Instituts Solidarische Moderne sowie des Magazins prager frühling.

Gesichter der STEOP

  • 13.07.2012, 18:18

Mit der Begründung, StudienanfängerInnen einen Einblick in ihr Studium geben zu wollen, wurde im Wintersemester 2011/12 die Studieneingangsphase (STEOP) verschärft und verpflichtend am Anfang des Studiums an allen österreichischen universitäten eingeführt. Wieviel dieser Einblick gebracht hat, erzählen drei STEOP-Prüflinge.

Mit der Begründung, StudienanfängerInnen einen Einblick in ihr Studium geben zu wollen, wurde im Wintersemester 2011/12 die Studieneingangsphase (STEOP) verschärft und verpflichtend am Anfang des Studiums an allen österreichischen universitäten eingeführt. Wieviel dieser Einblick gebracht hat, erzählen drei STEOP-Prüflinge.

Seit dem Wintersemester 2011/12 gibt es an allen österreichischen Universitäten eine verpflichtende Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP). Die Umsetzung dieser wird allerdings nicht einheitlich gehandhabt. So kommt es vor, dass den StudienanfängerInnen an fast allen Wiener Unis sowie in Graz, Klagenfurt, Salzburg und Leoben drei Prüfungsantritte pro STEOP-Prüfung zugestanden werden, während die Uni Linz und Uni Wien eine rigorose Umsetzung mit nur zwei Antritten beschlossen haben. Meist sind die Prüfungen, die man innerhalb der STEOP absolvieren muss, klar vorgeschrieben, vereinzelt können die StudienanfängerInnen wählen. Immer aber kann man mit negativ absolvierter STEOP keine anderen Lehrveranstaltungen abschließen, was nun viele Studierende vor immense Beihilfen- oder Stipendienprobleme stellt.

Alexandra, Johanna und Stefan erzählen dem PROGRESS ihre Geschichte:

 

Foto: Johanna Rauch

„Es sind nur 26 Leute angetreten“

Die Linzerin Johanna Mayr (18) studiert Mathematik im Bachelor an der Karl Franzens Universität in Graz:

„Meine STEOP besteht aus einer Orientierungslehrveranstaltung und einer Vorlesung zu Linearer Algebra, insgesamt ist sie 6,5 ECTS wert. Neben den Leuten aus dem ersten Semester, die den Mathe-Bachelor angefangen haben, sitzen da auch die Lehramtsleute aus dem dritten Semester drinnen. Es ist also vielleicht nicht die beste Idee, gerade diese Vorlesung in eine STEOP reinzupacken. Ich finde, sie war relativ schwierig.

Die Prüfung sieht so aus, dass es zuerst einen schriftlichen Teil gibt, und erst, wenn du den bestehst, darfst du zur mündlichen Prüfung antreten. Bei der schriftlichen Prüfung hat es drei Fragen gegeben, wobei wir die erste so nie durchgemacht haben. Zu der Prüfung sind nur 26 Leute angetreten, weil sie als so schwierig gilt. 14 Leute haben 8,5 Punkte und dürfen zur mündlichen Prüfung antreten, zwölf haben weniger. Ich hab 8,5 Punkte und darf antreten. Ich habe mir in der Schule recht leicht getan mit dem Lernen, mein Maturazeugnis hat einen 1,0-Schnitt. Aber für die Uni muss ich viel mehr lernen, und viele sind die anderen Prüfungsmodalitäten auch noch nicht gewöhnt. Mathe in der Schule und Mathe auf der Uni sind halt zwei ganz verschiedene Dinge. Zum Glück werde ich auch finanziell von meinen Eltern unterstützt. Wenn ich nebenbei 20 Stunden die Woche arbeiten müsste, wäre sich das mit der STEOP nie ausgegangen.

Ich würde die STEOP abschaffen, was sonst? Sie hat überhaupt nicht zu meiner Orientierung beigetragen. Ich finde das nicht sinnvoll, weil es nur Stress schafft. In Graz hat man zwei normale Antritte und der dritte ist kommissionell. Wenn ich weiß, ich hab jetzt zwei Antritte und dann sitz ich vor der Kommission, dann glaub ich nicht, dass man da gut rausfinden kann, ob das das richtige Studium für einen ist. Wie soll eine Prüfung darüber entscheiden? Die meisten Leute kommen direkt von der Schule oder nach dem Zivi, und die sind schon generell von der Abstraktion am Anfang überfordert.“

 

Foto: Johanna Rauch

„Es ist eine Selektionsphase“

Stefan Kastel ist Mitbegründer der Stop-STEOP-Bewegung in Wien und wollte Deutsch und Geschichte auf Lehramt studieren:

„Ich hab mir nach der Schule überlegt, welchen Beruf es gibt, wo ich mit Menschen in Kontakt kommen kann und anderen helfen kann. Das war dann der Lehrerberuf, und da bin ich auch mit viel Begeisterung an die Sache rangegangen. Mit der STEOP ist das dann immer weniger geworden. Ich wollte Deutsch- und Geschichtelehrer werden, und habe auch in beiden Fächern alle Prüfungen und Übungen positiv absolviert. Nur die Pädagogikprüfung, die hab ich verhaut. Die Pädagogikprüfung ist für alle, die Lehramt studieren wollen, gleich. Das war ein Single Choice Test. Da sind die meisten gescheitert, ich denke, ein paar hundert.

Diese Prüfung sagt überhaupt nichts darüber aus, ob du als Lehrer geeignet bist oder nicht. Aus der Sicht von vielen waren bei den Fragestellungen mehrere Antworten möglich, das war teilweise einfach nur realitätsfremd. Eine Frage war zum Beispiel: ‚Was ist ein symbolhaftes Tier für den Unterricht?“ Esel wär‘s gewesen, keine Ahnung. Das Problem ist aber sowieso eher grundsätzlich: Bei einem Test mit 40 Fragen kannst du nicht herausfiltern, ob du für den Beruf geeignet bist oder nicht. Aber das interessiert die Uni anscheinend nicht. Meine Erwartungen waren, dass es zuerst mal die Möglichkeit gibt, sich wirklich zu orientieren, genug Zeit für sich selber zu haben, und he- rauszufinden, was wichtig ist fürs Studium. In der Realität war es dann so, dass sie uns in der zweiten Woche gesagt haben: ‚Ihr habt zwei Antritte, dann fliegt ihr raus.‘ Vom Stress her war das sicherlich wesentlich mehr als bei der Matura.

Die Stimmung im Studium war einfach nur angepisst. Alle haben sich das anders vorgestellt, orientierungsmäßiger, ruhiger, und nicht so zukunftsabhängig. Die Studieneingangs- und Orientierungsphase soll ihrem Namen gerecht werden, jetzt ist das eine Selektionsphase. Ich glaube, es wurde gezielt so angelegt, dass einige Studenten keine Chance haben, weiter zu studieren. In Pädagogik war es so, dass ein paar zuerst 20 von 40 Punkten hatten und kurz vor der Prüfungseinsicht waren‘s dann auf einmal 21. Töchterle finde ich extrem arrogant. Wie kann ein Mensch, der alles erreicht hat und sicher gut verdient, so herablassend mit den Zukunftsplänen anderer Menschen umgehen?“

 

Foto: Jakob Burtscher

„Dem Töchterle ist das scheißegal“

Alexandra Eisenmenger (33) ist alleinerziehende Mutter und wollte Biologie an der Uni Wien studieren:

„Ich bin eine Nachzüglerin. Ich habe vor sechs Jahren die Matura an der Abendschule nachgeholt, und letztes Wintersemester Biologie inskribiert.
Ich bin draufgekommen, dass mich Biologie extrem interessiert, dass ich gerne ins Labor gehen würde. Ich komme aus der kaufmännischen Richtung und wollte weg von dort. Da ich alleinerziehende Mutter bin, habe ich mich um ein Stipendium gekümmert, und das auch bekommen.
Ich habe mich sehr darauf gefreut und war irrsinnig motiviert. Ich war bestimmt 80 Prozent der Vorlesungen anwesend, hab das immer irgendwie gedeichselt, außer wenn ich krank war oder es nicht gegangen ist wegen meiner Tochter. Ich habe auch parallel schon andere Vorlesungen besucht.

Bei der ersten von zwei Prüfungen habe ich mich gefragt, ob ich da wirklich auf der Uni bin. Die Prüfung hat 15 Minuten später gestartet, weil sie zu wenig Prüfungsbögen hatten, die Fragen hatten überhaupt nichts mit Wissen zu tun. Wir waren so eine Vierer-Mädls-Lernpartie, die haben alle zu mir gesagt, ich könne das in- und auswendig. Es hat dann geheißen, das Ergebnis komme vor Weihnachten, erfahren hab ich es dann nach Jahreswechsel: Nicht geschafft. Das war wirklich das totale Aussiebverfahren, 56 Prozent sind durchgefallen. Ich hab mich aber wieder hingesetzt, alles gelernt, ich hab mir gedacht: ‚Bitte fragt’s mich das alles, ich kann’s ja!’ Bei der zweiten Prüfung war’s aber dasselbe in grün. Ich find’s irrsinnig traurig, wie man Leuten wie mir, die halt erst später draufkommen, was sie machen wollen, noch mehr Steine in den Weg legen kann. Die Fragen waren viel zu detailliert und teilweise auch nicht mal aus dem Stoffgebiet. Die Stimmung unter den Studierenden war absoluter Wahnsinn, wir haben uns alle angeschaut und gefragt, was das für ein Theaterstadl ist! Warum kann man denn da keine normalen Fragen stellen? Ich bin wiedermal in ein großes Loch gefallen. Von der Stipendienstelle hab ich bestimmte Auflagen bekommen, und man kann ja keine anderen Prüfungen machen, solange man die STEOP nicht abgeschlossen hat. Ich muss jetzt knapp 5.000 Euro zurückzahlen, außer ich finde eine andere Lösung. Ein mündlicher Antritt – ich würd’ alles dafür geben.

Ich bin 33, ich bin nicht alt, das weiß ich schon – aber für gewisse Sachen bleibt die Zeit nicht stehen, die rennt. Irgendwann geht’s einfach nicht mehr mit Ausbildung und Hin und Her. Ich hab nicht wirklich ein anderes Fach, das ich studieren will. Viele haben auch gesagt; ‚Na dann geh doch nach Graz studieren!’, aber die stellen sich das auch ziemlich einfach vor: Ich bin alleinerziehend mit einem siebenjährigen, schulpflichtigen Kind. Ich kann nicht einfach alle Sachen packen und gehen!
Mein Lernaufwand war sehr hoch. Neben 20 Stunden die Woche Arbeiten und meinem Kind habe ich zwei Monate intensiv gelernt. Es gibt natürlich immer welche, die’s heraußen haben. Ich hab seit sechs Jahren nichts mehr gelernt, trotzdem war ich supergut vorbereitet. Jetzt bin ich lebenslang für Biologie gesperrt.
Überall liest man: Bildung! Bildung! Bildung! Wir wollen alle bilden und stellen alles zur Verfügung! Da kannst du dir doch nur an den Kopf greifen, wenn dann sowas rauskommt. Aber so Leuten wie dem Töchterle, denen is das im Prinzip alles scheißegal.“