Sexualität

Die Flucht in die Polyamorie

  • 12.05.2017, 12:54
Polyamorie präsentiert sich als Gegenentwurf zur romantischen Zweierbeziehung. Doch das Patriarchat wird dadurch alleine noch nicht angegriffen.

Polyamorie präsentiert sich als Gegenentwurf zur romantischen Zweierbeziehung. Doch das Patriarchat wird dadurch alleine noch nicht angegriffen.

Jede Person, die offen damit umgeht, mehrere Partnerschaften gleichzeitig zu haben, kennt das: „Das geht nie gut“, „Das funktioniert nicht“, „Eine*r kommt immer zu kurz“. Die essentialisierende Annahme, dass Monogamie normal sei und deswegen funktioniere, schwingt bei jeder dieser Aussagen mit. Wenn man dann allerdings antwortet, dass monogame Beziehungen oft nicht funktionieren und Untreue einer der häufigsten Trennungsgründe ist, wird meist darauf verwiesen, dass nicht die Monogamie schuld an der Trennung sei.

Ob in Filmen, im Fernsehen oder in Büchern: Die ideale romantische Liebe ist die treue Beziehung zwischen zwei meist heterosexuellen Menschen. Mit der zunehmenden Normalisierung von Homosexualität gibt es nun auch Erzählungen, in denen zwei Männer oder zwei Frauen ihr Glück in der romantischen Zweierbeziehung finden. Sind in einer Erzählung jedoch mehrere Personen miteinander verbandelt, muss das Beziehungsgeflecht am Ende in klare Bahnen gelenkt werden. Gerade im Young Adult Genre muss sich eine junge Frau oft zwischen zwei Männern entscheiden, siehe Twilight oder The Hunger Games. Es ist nicht einmal denkbar, dass am Ende alle drei miteinander glücklich werden könnten. Immer und immer wieder wird so Monogamie normalisiert und als die einzige Lebensform dargestellt, die dem „Wesen des Menschen“ entspricht. Die Argumentationsmuster verweisen oft auf die Evolutionsbiologie, die die Monogamie naturalisiert. So sei es zur Kinderaufzucht am besten und wird mit HöhlenmenschenVergleichen unterfüttert. Die gleiche Argumentationskette wird dann auch verwendet, um Homosexualität mal als Spielart der Natur, mal als Abartigkeit darzustellen.

AUSWEG POLYAMORIE. Polyamorie setzt sich aus dem griechischen „poly“ (mehrere) und dem lateinischen „amor“ (Liebe) zusammen und ist ein Obergriff für die Praxis, mit mehreren Menschen gleichzeitig Beziehungen zu führen. Dies geschieht mit vollem Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Polyamorie als Praxis stellt sich gegen das hegemoniale Bild der monogamen romantischen Zweierbeziehung (RZB) und trifft deshalb oftmals auf Verwunderung, Ablehnung und Diskriminierung.

Polyamorie Praktizierende grenzen sich zum Teil ganz bewusst von offenen Beziehungen ab, um das Image zu vermeiden, dass es sich bei Polyamorie um „anything goes“ handle. Vielmehr stellt man die Verbindlichkeit in den Vordergrund: „Mein Herz hat Platz für mehr als einen Partner. Ich suche keine Abenteuer, ich mag es langfristig. Ich betrüge nicht, ich handle einvernehmlich. Ich lüge nicht, ich mache es transparent. Ich bin kein Freiwild, ich trage Verantwortung. Ich liebe tiefer als nur zum Spaß. Ich bin Poly. Ich lebe die Liebe.“ So lautet das Motto einer der größten deutschsprachigen polyamourösen Gruppen auf Facebook. In diversen Facebook-Gruppen und Foren wird der Eindruck vermittelt, dass man sich der Ideologie der Monogamie nicht entgegenstellt, sondern sie als auserwählte Gruppe überwunden hat. Unterschwellig schwingt mit, man hätte eine neue Stufe des Bewusstseins erreicht, in der alle achtsam miteinander umgehen. So folgt jeder Vorstellung neuer Mitglieder ein ganzer Wust an Definitionen zwischen poly, bi, vegan und spirituell.

IDENTITÄT POLYAMORIE. Man liest in vielen Foren: „Gerade bin ich mono, fühle aber poly“ oder „Single und Poly“ und in der Reportage „Unter Anderen – Wahre Lieben“ spricht eine interviewte Person davon „polyamor geboren zu sein“. Als Person, die offen damit umgeht, mehr als eine Partnerschaft zu führen, lebt man ständig gegen die gesellschaftliche Erwartung an. Die Welt scheint nicht für einen gemacht zu sein; ständiger Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck führen dazu, dass man es sich wohl lieber in Nischen der eigenen Szene gemütlich macht als Gegenwehr zu leisten. Anstatt Biologismen in die Wüste zu schicken, werden Artikel geteilt, die die angeblich non-monogame Natur des Menschen bezeugen. Man erklärt sich gerne bereit, Journalist*innen für Interviews und Reportagen zur Verfügung zu stehen, um zur Normalisierung beizutragen, präsentiert sich dann aber in Klischees. In der Reportage Unter Anderen – Wahre Lieben wird Attmann Wicka, prominenter Aktivist der Poly-Szene interviewt und dabei gefilmt, wie zwei seiner Freundinnen sich kennen lernen. In einer mit esoterischem Kitsch überladenen Wohnung bittet er dann beide, am Boden sitzend mit einer Klangschale zu spielen. Haremskonnotationen kommen auf und dies wird an keiner Stelle problematisiert.

Sexismus scheint grundsätzlich kaum ein Thema in Poly-Kreisen zu sein. Es sind meistens die Frauen in Partnerschaften, die mehr Beziehungs- und emotionale Arbeit leisten. In Poly-Beziehungen führt das zu Mehrfachbelastungen, die nicht diskutiert werden. Man will die Monogamie überwinden, aber am Patriarchat wird nicht gerüttelt.

KEINE GEGENWEHR. Polygame Menschen sind konfrontiert mit Ablehnung, Anfeindungen, Zwang zur Verheimlichung und struktureller Diskriminierung. Polygame Ehen sind verboten, womit die Gleichstellung zur hegemonialen Norm verwehrt wird. Polygam Lebende dürfen zusammen nicht gleichberechtigt die Sorge für Kinder übernehmen oder auch nur ein Konto eröffnen. Doch anstatt gegen den Primat der Monogamie anzukämpfen, sich gegen die strukturelle Diskriminierung zu wehren und für mehr Rechte zu kämpfen, flüchten sich viele polygame Menschen in die Nestwärme der eigenen Szene. So wird die Hegemonie der Monogamie sicher nicht gebrochen.

Anne Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Pornos an der Schule

  • 11.05.2017, 20:15
Pornographie hat längst im kulturellen und sozialen Leben von Kindern und Jugendlichen Fuß gefasst. Wieso sollte sie nicht Gegenstand des Sexualunterrichtes sein?

Pornographie hat längst im kulturellen und sozialen Leben von Kindern und Jugendlichen Fuß gefasst. Wieso sollte sie nicht Gegenstand des Sexualunterrichtes sein?

Pornographie ist ein Konsumgut unserer Gesellschaft. Man kann ganz nach eigenem Belieben im Internet darauf zugreifen. Die Suchkategorien sind vielzählig. Die Industrie richtet sich stark nach männlichen Interessen und expandiert, um möglichst viele sexuelle Vorlieben anzusprechen. Etwa 1,5 Milliarden Besucher_innen pro Monat verzeichnen allein die drei beliebtesten Seiten (Pornhub, xHamster und Redtube).

OMNIPRÄSENTES THEMA. Wir beschäftigen uns aktiv mit unserer Sexualität und tauschen uns mit Freund_innen über Erfahrungen aus. Gönnen wir uns kurz eine Pause, konfrontieren uns Medien und Werbung mit dieser Thematik. Pornografische Inhalte umgeben uns somit täglich und der soziale Druck ist da. Diese Einflüsse übertragen sich auch auf Kinder und Jugendliche. Trotzdem wird Pornographie tabuisiert und erscheint als Randthematik in der schulischen Sexualerziehung.

PURE ROMANTIK. An der University of Arkansas ergab eine inhaltliche Analyse der meist konsumiertesten Porno-Filme, dass in 89 % physische Aggression und in 49 % verbale Aggression angewendet wird, die hauptsächlich von Männer ausgeübt und von Frauen mit Vergnügen oder einem neutralen Verhalten geduldet wird. Bringt der offene und in vielen Fällen unkontrollierte Zugang zu Pornographie eine neue Generation kleiner gewaltbereiter Sexist_innen hervor, die von Liebe und Lust nichts wissen möchten?

In „Alles Porno?“ befasst sich Laura Kuhle anhand verschiedener Studien mit dem Sexualverhalten heutiger Kinder und Jugendlicher. Der Erstkontakt mit Pornographie erfolge durchschnittlich im Alter zwischen elf und zwölf Jahren. Etwa die Hälfte der befragten 16 bis 19-Jährigen geben an, mindestens einmal in der Woche Pornos zu konsumieren. Wo Mädchen Neugier, Spaß und Lernen angeben, steht die sexuelle Erregung und Selbstbefriedigung für Buben im Vordergrund. Um Auswirkungen und Einfluss des Pornographiekonsums zufriedenstellend zu erforschen, wären Langzeitstudien nötig. Mit keiner der herangezogenen Studien ließen sich jedoch „schädliche Auswirkungen auf das Sexualleben Jugendlicher und ihrer Lebensgestaltung“ belegen.

ÄNGSTE UND SORGEN. Dieses Differenzieren beherrschen aber nicht alle in gleichem Maße. Zwar lassen die Studien keine Rückschlüsse auf gewalttätige, sexistische oder misogyne Verhaltensweisen, doch stellt Kuhle gleichermaßen fest, dass Kinder durch Pornographie einen Leistungsdruck verspüren und damit überfordert, verunsichert und verängstigt seien. Die entscheidenden Komponenten hinsichtlich einer negativen Beeinflussung der Psyche und des Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen sind „Medienkompetenz, eigene sexuelle Erfahrung, wahrgenommene Realitätsnähe der pornographischen Skripte, sowie das soziale und kulturelle Umfeld der Jugendlichen“. Sind diese Bereiche nicht genug entwickelt, erfolgt keine Differenzierung zwischen diesen Welten. Wo Mädchen sich fragen, ob sie gewisse Praktiken ausführen oder unterwürfig sein müssen, bedienen sich Buben des Porno-Jargons, um an ihrer männlichen Identität zu basteln und beschäftigen sich mit Leistungsfaktoren wie Ausdauer und Penisgröße.

KLARTEXT IN DER SCHULE. Es ist wichtig, dass sich Eltern möglichst früh mit der Aufklärung der Kinder beschäftigen und Fragen beantworten. Laut dem deutschen Sexualberatungsverband ProFamilia gehen diese Fragen mit zunehmendem Alter eher zurück, da dieser intime Thematik als unangenehm empfunden wird. Stattdessen wenden sich Kinder und Jugendliche an Gleichaltrige, um sich auszutauschen. Deswegen sollte die Auseinandersetzung mit Pornographie Teil der Sexualerziehung im schulischen Kontext darstellen.

In Großbritannien versucht man den Zugang zur Pornographie für Minderjährige mittels Gesetzen und Blockaden zu erschweren. Ob dieser Ansatz Früchte tragen wird, ist fraglich, wenn man bedenkt, wie technologieaffin jüngere Generationen sind. Während die dänische Forderung, Porno-Videos als Unterrichtsmaterial zu zeigen, etwas gewagt wirkt, könnten Lehrer_innen zumindest gezielt auf das Halbwissen der Kinder eingehen und damit arbeiten. Ein wesentliches Problem sei, laut dem Sexualwissenschaftler Konrad Weller, die nicht stattfindende frühzeitige Begleitung sexueller Sozialisation. Stattdessen werde eine Verwahrlosungsdebatte geführt, in der Kinder und Jugendliche zu „präsexuellen Wesen verklärt werden“.

M. Liebon studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien.

Behinderung* ist sexy und hip!

  • 23.02.2017, 19:31
Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Ist Sex wirklich nur etwas für nichtbehinderte* Lebensweisen? Behinderung* ist eine vielfältige Variante menschlicher Lebensrealität, jedoch wird sie in vielen Kontexten noch immer nicht als solche betrachtet. Besonders die Thematik Sex und Dis_ability scheint unangebracht, abnormal und unerwünscht zu sein. Wir haben es also mit der „Compulsory Ableness“ zu tun, der zwanghaften Unversertheit sexualisierter Körperlichkeit(en).

Sex ist etwas für nicht-behinderte Körperlichkeit(en).Alles, was nicht normative Sexualität ist, wird unterdrückt und tabuisiert, denn Sexualität ist eine Angelegenheit der Ablebodied People; Disabledness ist unsexy. „Sexualität ist oft der Punkt unserer tiefsten Unterdrückung und jener unseres tiefsten Schmerzes. Denn es ist einfacher, über Arbeit, Bildung und Wohnen zu sprechen und Strategien gegen diesbezügliche Diskriminierung zu formulieren als es über unsere Exklusion von Sexualität und Reproduktion ist“, konstatierte die DisAbility- Aktivistin Anne Finger schon vor mehr als 10 Jahren in einem Erklärungsmanifest.

Dis_abled Sex ist queer. „Was genau machst du beim Sex?“ ist eine an Menschen mit Dis_ability häufig gestellte Frage. Eine Frage, die auch an viele Queers gerichtet wurde. Die Situation von Queeren Personen und Communitys wie auch Cripped People und Communitys weisen in vielen Bereichen eine große Ähnlichkeit auf. Sie werden jedoch noch immer nicht zusammen gedacht und in intersektionelle, das heißt Diskriminierungskategorien übergreifende Verwobenheiten, einbezogen. Diese Verknüpfungen und Verwobenheiten sollten erkannt und für Austausch und Vernetzung genutzt werden.

Plural gedacht bezieht queer als (politisch- strategischer) Überbegriff auch alle Menschen und Handlungen mit ein, die nicht den gesellschaftlich konstruierten Normen entsprechen können oder wollen. Aus dieser Perspektive kann Dis/ability als queer betrachtet werden. Unterschiedliche Begehren sind vielfältige Varianten menschlichen Daseins! Doch noch immer wird Sex in Zusammenhang mit Behinderung als pervers betrachtet: Ihm wird Unnatürlichkeit, Unfähigkeit, Zeugungsunfähigkeit etcetera zugeschrieben und er wird als Abnormalität tituliert, anstatt als vielfältige Variante – genauso wie Homound Bi*sexualitäten, intergeschlechtliche und trans* Körper und viele mehr. Was steht also dieser Öffnung hin zur Vielfalt im Weg?

Behinderte(s) Begehren? Unsere Mitmenschen mögen es oft als (moralisch) verwerflich ansehen, wenn Menschen mit DisAbility begehrt werden. Doch was finden sie daran moralisch verwerflich? Kulturellen Repräsentationen nach werden Menschen mit Dis_ability in „unserer“ Gesellschaft sehr häufig als asexuelle Wesen positioniert. Behinderung* und Sex und Begehren werden – wenn überhaupt – lediglich stereotypisierend in zweierlei Varianten gedacht: Erstens als Sex zwischen behinderten Menschen, zweitens mit einer Übersexualisierung von Disability in Form von speziellem Begehren: Devoteeismus beziehungsweise Amelotatismus. Es wäre schlichtweg falsch anzunehmen, dass nur Devotees Menschen mit Behinderung begehren. Devoteeismus wird, sowohl gesellschaftlich gesehen als auch von manchen Menschen mit Dis/ability selbst, oft als sehr ambivalent betrachtet. Denn das spezielle Begehren von Menschen mit Dis_ability ist in den Augen der Gesellschaft nicht anerkannt und erwünscht. Es kann sich deshalb häufig in Objektivierung und Fetischisierung behinderter* Körperlichkeit oder Seinsweisen und mitunter auch in sehr sexistischem und Street Harassment ähnlichem Verhalten äußern. Devotees begehren den Gegensatz des normativ erwünschten Körpers oder der perfekten Seiensweise, nämlich Ekel und Verabscheuung; oder anders formuliert das normativ Verabscheute. Diese Pathologisierung lastet stark auf Menschen, die behinderte* Personen begehren und lieben.

Behinderte*(s) Begehren für alle? Personen mit DisAbility können ihre behinderte* Seiensweise als eine Quelle der Lust begreifen und in ihre sexuellen Fantasien inkorporieren. Dies alles hat nichts mit Devoteeismus zu tun. Ganz im Gegenteil könnte mensch, so die Begründerin der Queer-Dis_ability Studies und Dis_ability Rights Aktivistin Alison Kafer, eine Sexualität und ein Begehren imaginieren, die reich und robust sind – und dies nicht trotz oder wegen der Beeinträchtigung*. Also eine Sexualität und ein Begehren, die nicht aufgrund von DisAbility fetischisierend sind, aber in Beziehung zu Behinderung* stehen. Wie queere und feministische Menschen und Communities, müssen also auch Menschen mit Dis_ability ihre Wege finden. Wege zu einem möglichen Umgang mit Normen um daran zu arbeiten, die eigenen nicht-normativen Körper wertzuschätzen und neu zu bewerten, zu inkludieren und zu erotisieren.

Es geht demnach also darum, diese Normvorstellung zu brechen und neue Wege zu finden Behinderung*, behinderte* Körperlichkeiteb und deren unterschiedliche Sexualitäten zu inkludieren. Denn: Menschen mit Dis-ability haben ein Sexleben: Sie kämpfen um ihre „intime Bürger_innenschaft“, wie es der Soziologe und Queer Dis/ ability Richts Activist Kenneth Plummer treffend bezeichnet, und darum, sich sexuelle Identitäten* anzueignen! Behinderung ist sexy. Wir sind so sexy und hip wie wir uns selbst beschreiben. Wir wollen teilhaben! Wir wollen interessante Menschen treffen! Wir wollen Begegnungsorte für ALLE!

Elisabeth Magdlener, Verein CCC** – Change Cultural Concepts, ist Trainerin und Vortragende im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Tänzerin, Mitglied der weltweiten Community- Tanzbewegung DanceAbility und A.D.A.M. (Austrian DanceArt Movement). Sie studiert(e) Gender Studies & Pädagogik in Wien.

Messerscharfe Nippel

  • 16.06.2016, 20:11
1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus.

1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus. Der Klingelbeutel hat die Form eines Riesenkondoms. Wird das Geld verweigert, ertönt Babygeschrei, das erst durch eine Spende wieder zum Verstummen gebracht werden kann. Auch in Wien lässt sich die gruselige Braut im selben Jahr blicken – hier allerdings im Rollstuhl, in der Galerie Modern Art. Die Düsseldorfer Aktion führte dazu, dass die Künstlerin, Renate Bertlmann, von den folgenden Stationen der Ausstellung in Eindhoven und Paris wieder ausgeladen wurde. Die Videodokumentation der Wiener Performance ist nun in der Vertikalen Galerie der Sammlung VERBUND zu sehen.

Anhand von zahlreichen Werken aus den 1970er- und ’80er Jahren wird Bertlmanns konsequent-ambivalente Auseinandersetzung mit Materialien, Formen und Themen hier wohltuend un-didaktisch präsentiert. In ihren Zeichnungen, Fotografien, Objekten und Installationen ragen Messerspitzen aus Nippeln, enden Fingerkuppen in Schnullern, hängen Latex-Nabelschnüre an einer Wäscheleine, und Kondome – inszeniert als Brüste – liebkosen einander. AMO ERGO SUM – Ich liebe, also bin ich – lautet Bertlmanns Motto seit den 1970er-Jahren, das nun auch Titel der Einzelschau der 1943 in Wien geborenen Künstlerin ist. Der Untertitel, „Ein subversives Politprogramm“, scheint sarkastisch auf ihren Austragungsort anzuspielen – ist doch die Firmenspitze des Stromunternehmens ausschließlich mit Männern besetzt. Dass sich ausgerechnet die Sammlung VERBUND der Aufarbeitung der „feministischen Avantgarde“ verschrieben hat, ist ebenso bemerkenswert wie ironisch. Und in diesem Fall äußerst treffend – teilt Renate Bertlmann doch ihr Gesamtwerk in die drei Bereiche Pornografie – Ironie – Utopie. Gleichzeitig verdeutlicht eben diese Diskrepanz, dass Bertlmanns Arbeiten drei Jahrzehnte nach Produktion immer noch aktuell sind. Nichtsdestotrotz weht durch die acht Stöcke der Vertikalen Galerie ein leichter Wind der Vergangenheit – ein Blick in das gegenwärtige Schaffen der Künstlerin wäre wünschenswert gewesen.

„Renate Bertlmann. AMO ERGO SUM. Ein subversives Politprogramm“
Kuratorin: Gabriele Schor
Vertikale Galerie in der VERBUND Zentrale, Wien
Bis 30. Juni 2016

Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Sex, Natur und Utopie

  • 25.02.2014, 14:56

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

„Sex ist eines der essentiellsten Dinge der Natur. Für uns hat es Sinn gemacht, unsere Natur zu nutzen, um die Natur zu schützen“, so Tommy Hol Ellingsen, Gründungsmitglied von Fuck For Forest, in einem Interview. Seit 2003 betreiben die Umweltaktivist_innen eine Homepage, auf der (häufig im Wald oder in der Öffentlichkeit gedrehte) Do-it-yourself-Pornos gegen Bezahlung angeboten werden. Das Ungewöhnliche daran: Sämtliche Einnahmen sollen Regenwald- und Wiederaufforstungsprojekten zugute kommen. Dabei wählt man Methoden, die mitunter auch auf heftigen Widerspruch stoßen. Freie, „natürliche“ Sexualität, die einerseits zu individueller Befreiung, andererseits zur Veränderung der Welt beitragen soll – dieses Konzept kommt uns bekannt vor. Wir haben uns deshalb auf die Suche nach prominenten und weniger bekannten Vorgänger_innen gemacht, die vergleichbare Utopien entwickelten oder gleich versuchten, diese Utopien zu leben.

Fuck For Forest 2008. Foto: Mutter Erde

„Edle Wilde“ in Utopia

Drehen wir die Zeit um etwa 250 Jahre zurück, in die Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau die Vorstellung des „Edlen Wilden“ entwickelte.  Der „Edle Wilde“ repräsentierte ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“ und diente als Gegenpol zur als dekadent empfundenen europäischen Gesellschaft. Parallel dazu ließ die Entdeckung des Südpazifiks durch europäische Seefahrer und teils fiktive Reiseberichte das bis heute existierende Klischee des Südseeparadieses entstehen: friedliche und herrschaftslose Gesellschaften im Einklang mit der Natur, die ihre Sexualität frei und ohne Tabus ausleben. Gegenüber dem vorherrschenden Diskurs von indigenen Gesellschaften als „Barbaren“ war dieses Bild zweifellos ein kleiner Fortschritt, dennoch handelte es sich um Stereotype und Wunschvorstellungen, die auf die Bewohner_innen der Südseeinseln projiziert wurden und deren teils sehr strengen Sexualnormen komplett ignorierten.

Der Frühsozialist Charles Fourier suchte das Paradies hingegen nicht in der Ferne: Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine Gesellschaftsutopie, für die er exakte Pläne erstellte. Fourier war der Ansicht, dass sich die menschliche Natur nicht ändern lässt, aber zumindest entfalten kann. Da die menschlichen Triebe von der bestehenden, gewalttätigen Gesellschaftsordnung unterdrückt werden, müsse man die Gesellschaftsverhältnisse der menschlichen Natur anpassen. Als Hauptquelle der Unterdrückung sah er den Handel und die monogame Ehe an. Für Fourier war die Befreiung der Arbeit nur mit gleichzeitiger Befreiung der Sexualität möglich, deshalb wollte er die Gesellschaft in selbstverwaltete Großkommunen aufteilen, die sowohl Wirtschafts- als auch Liebesgemeinschaften sein sollten. Sein Ziel war die freie Entfaltung der Individuen, eine Verbindung von Arbeit und Genuss, die die ökonomische Produktivität steigern sollte. Trotz oder wegen vieler origineller und fortschrittlicher Ideen wurde Fourier jahrzehntelang als Spinner angesehen, einige Aspekte seines Werks – etwa surrealistisch anmutende Vorschläge wie die Verwandlung des Meeres in Zitronenlimonade und essbares Gelee – machten es seinen Kritiker_innen leicht. Auch Karl Marx und Friedrich Engels lehnten den utopischen Sozialismus als unwissenschaftlich ab. Dennoch hatte Fourier posthum großen Einfluss auf eine Reihe von Utopien des 20. Jahrhunderts.

Einmal Utopie und wieder zurück

Anfang des 20. Jahrhunderts wirbelte die Psychoanalyse um Sigmund Freud und dessen widerspenstigen Schüler Wilhelm Reich, der als Vater der sexuellen Revolution gilt, die bürgerliche Sexualmoral ordentlich durcheinander. Auch gab es einige Enklaven, in denen so etwas wie freie Liebe tatsächlich kurzfristig entstehen konnte, etwa im Berlin der 1920er, der Zeit von Varieté, Marlene Dietrich und einer ausgeprägten Lesbenkultur, oder im Russland nach der Oktoberrevolution 1917, als durch das Wirken der Volkskommissarin Alexandra Kollontaj das Eherecht gelockert, Schwangerschaftsabbruch legalisiert und kollektive Kindererziehung eingeführt wurde. Dieser kurzen Zeit der Freiheit wurde in Berlin durch den Nationalsozialismus, in Russland spätestens durch den Stalinismus ein abruptes Ende gesetzt.

Ein Revival erlebten die sexuellen Utopien in den 1960er Jahren. Es begann eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, den verbliebenen autoritären Strukturen versuchte man freie Liebe und Persönlichkeitsentfaltung entgegenzusetzen. Die Kämpfe um Bürger_innenrechte und sexuelle Freiheit gaben der Lesben- und Schwulenbewegung Auftrieb.  Parallel dazu entkoppelte die Erfindung der Antibabypille erstmals Geschlechtsverkehr von der Fortpflanzung. Es entstanden hunderte Kommunen, die das Leben in der Kleinfamilie ablehnten und eine hierarchiefreie, offene Gesellschaft etablieren wollten. Zu den bekanntesten zählten die Kommune I in West-Berlin und ab Anfang der 1970er Jahre die AA-Kommune um den Aktionskünstler Otto Muehl, die vom burgenländischen Friedrichshof ihren Ausgang nahm.

Otto Muehl übernahm Rousseaus Aufforderung „Zurück zur Natur!“ und Fouriers Visionen von sexueller Freiheit und kollektiver Lebensweise. In der „Aktionsanalyse“ sollten durch „natürliche“, frei ausgelebte Sexualität, öffentliche Selbstdarstellungen und „Körperbehandlungen“ die individuellen Schädigungen durch die Kleinfamilien-Gesellschaft – „Charakterpanzer“ genannt – überwunden werden. „Seine Mittel reichen vom Streicheln, Abschmusen, Küssen, Kitzeln, Drücken, Kneten zum Zwicken, Schlagen, Anschreien bis zum Anspucken, Speien und Anbrunzen“, wie eine Kommunardin in ihrem Tagebuch vermerkte. Zweierbeziehungen galten als Keimzelle der bürgerlichen Unterdrückung und wurden verboten, durch das Tragen von Glatzen und Latzhosen grenzten sich die Kommunard_innen sowohl vom Bürgertum als auch von den restlichen Protestbewegungen ab.

Die Kommune wollte die Gesellschaft nicht über die Ökonomie, sondern über die Sexualität verändern – diese Weltanschauung machte sie zu einer interessanten Alternative zu marxistischen Gruppen. Zur Hochzeit der Kommune gab es mehr als 600 Mitglieder sowie Zweigstellen in mehreren Ländern. Im Laufe der Jahre kippte die Basisdemokratie in ein faschistoides und streng hierarchisches System, an dessen Spitze Otto Muehl als selbsternannter Monarch stand. 1988 zerbrach die Kommune, Muehl wurde wegen sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung Minderjähriger zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nicht nur Otto Muehl wurde die vermeintliche „Befreiung der kindlichen Sexualität“ zum Verhängnis, wie man an der Pädophilie-Debatte im letzten deutschen Wahlkampf sehen konnte.

"This is still a demo" - Regenbogenparade 2013. Foto Dieter Diskovic

Von der Abschaffung des Leibes, politischem Lesbianismus und Ökofeminismus

Die sogenannte zweite Frauenbewegung  kritisierte die vermeintliche sexuelle Befreiung jedoch als reine Befreiung der männlichen Sexualität, während es Frauen dem Zwang der permanenten Verfügbarkeit und einem „Orgasmus-Terror“ aussetzte. Auch die konservative Arbeitsteilung innerhalb der Linken wurde angegriffen.

Die radikale Feministin Shulamith Firestone richtete ihre Kritik nicht nur gegen die Kleinfamilie, sondern sah insbesondere in der Reproduktionsfähigkeit der Frau die Basis der Frauenunterdrückung. Nur die Abschaffung des biologischen (gebärenden) Körpers kann die (sexuelle) Befreiung der Frau ermöglichen, weswegen sie auch eine vehemente Befürworterin von Reproduktionstechnologien war – oder in den Worten von Claudia von Werlhof: „Ohne Leib keine Leibeigenschaft“. Firestones ideale Gesellschaft kommt also ohne biologische Familien aus, die Abschaffung der natürlichen Reproduktion soll zur sexuellen Befreiung führen.

Die Forderung nach dem Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung war anfangs mit Heterosexualität gleichgesetzt. Durch die Festlegung der Heterosexualität als Norm wurde lesbische Sexualität nicht nur ignoriert, sondern auch als nicht „normal“ und „unnatürlich“ aufgefasst. Dies führte zum lesbischen Feminismus, der die Fragen aufwarf, ob heterosexuelles Begehren von Frauen tatsächlich natürlich sei oder ob dieses nicht in patriarchalen Gesellschaften erzwungen werde. Weibliche Homosexualität wurde weniger mit einer natürlichen Präferenz begründet, sondern als politische Praxis gelebt – unter dem Motto „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“.

In den 1980ern entstand – beeinflusst von der Umweltbewegung – der Ökofeminismus, der einen Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Natur und der Frauen herstellte. Aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit wurden der Frau eine besondere Nähe zur Natur und eine wichtige Rolle für die ökologische Erneuerung unterstellt. Diese Konzepte von einer „natürlichen Weiblichkeit“, die Stereotype begünstigen, konnten sich jedoch innerhalb der feministischen Theorien nicht lange halten. Bereits Mitte der 1980er entstand in der feministischen Theorie die Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, der Geschlechtsidentität, die durch Sozialisierung entsteht.

Gibt es eine natürliche Sexualität?

Insbesondere die Theorien von Michel Foucault brachten die Vorstellung einer „natürlichen“ Sexualität ins Wanken. Laut Foucault sind unsere heutigen Vorstellungen von Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, als moderne Staaten begannen, sich für die Reproduktion der Bevölkerung – und damit für ihre Sexualität – zu interessieren. Diese vom Staat betriebene „Bio-Politik“ äußert sich u.a. in Form von Abtreibungsgesetzen, Gesundheitsmaßnahmen oder Geburtenstatistiken. Sexualität ist also historisch und sozial konstruiert und immer mit Machtverhältnissen verbunden. Es gibt daher auch keine naturgegebene „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität. Die Philosophin Judith Butler übernahm diesen Gedanken und ging einen Schritt weiter: Butler sieht weder gender noch sex als naturgegebenen an. Das biologische Geschlecht bzw. die Zweigeschlechtlichkeit wird durch die vorherrschende Zwangsheterosexualität hervorgebracht – und hat mit Natur nichts zu tun. 

Dem naturalistischen Modell wurden aber auch zahlreiche kultur- und sozialanthropologische Studien entgegengesetzt. Sie konnten zeigen, dass Sexualität in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich konzipiert wird – es gibt also eine Vielfalt von Sexualitäten anstatt einer natürlichen Sexualität.

Sex sells... Foto: Dieter Diskovic

Was bleibt?
Die sexuelle Revolution hat nachhaltige Spuren hinterlassen, unzählige Tabus und Schranken sind gefallen. Während jedoch die Promiskuität der beruflich erfolgreichen Menschen der Mittel- und Oberschicht gefeiert wird, gilt dies weniger für Menschen der Arbeiter_innenklasse (man vergleiche den Glamour-Sex von Sex and the City und die Figur der Vicky Pollard in Little Britain). Auch ist das neoliberal-kapitalistische System weit davon entfernt, sich von Änderungen der Sexualmoral gefährdet zu fühlen. Vielmehr wurden die subkulturellen Strömungen vereinnahmt, die Sexualität zum großen Geschäft. Gerade die Vorstellung von einer authentischen oder natürlichen Sexualität findet sich in unzähligen Kursen und Ratgebern wieder – die freie Sexualität ist zu einem Markenprodukt geworden.

Auch von einer „Generation Porno“ ist die Rede, also von jungen Menschen, die durch die ständige Verfügbarkeit von pornographischem Material mit den übertriebenen Inszenierungen der Pornoindustrie aufwachsen und dadurch einem sexuellen Leistungsdruck unterliegen. Vermarktbarkeit und Leistungsdruck – damit haben sich die Vorstellungen von Sexualität an die Paradigmen der gegenwärtigen Ökonomie angepasst. Die Kämpfe sexueller Minderheiten um vollständige Anerkennung und Gleichstellung können auf der einen Seite Erfolge vorweisen, auf der anderen Seite ist in vielen Ländern ein reaktionärer Backlash wahrnehmbar, etwa in Spanien, wo das Abtreibungsgesetz wieder verschärft werden soll oder in Russland, wo „homosexuelle Propaganda“ in der Öffentlichkeit verboten wurde. Experimente mit kollektiver Sexualität dienen mittlerweile eher der Selbstfindung oder als hedonistisches Vergnügen. Die Propagierung einer „natürlichen“ Sexualität als gesellschaftsverändernde Praxis hat hingegen ihre politische Relevanz verloren.

 

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.