Sex

Liebe machen Lernen

  • 20.06.2017, 21:42
Wie der Name schon erahnen lässt, geht es in „Make Love“ um Seeex. Das aber weniger spektakulär, sondern eher spießig. Ich kann mich nicht erinnern, über eine Sendung je so zwiegespalten gewesen zu sein.

Wie der Name schon erahnen lässt, geht es in „Make Love“ um Seeex. Das aber weniger spektakulär, sondern eher spießig. Ich kann mich nicht erinnern, über eine Sendung je so zwiegespalten gewesen zu sein.

Zum Plot: Wir begleiten die Sexologin Ann-Marlene Henning bei ihrer Arbeit, das heißt vor allem in Beratungsgesprächen mit Paaren. Wir begleiten sie aber auch in Caféhäuser, auf Baustellen oder Biker-Treffen, wo sie alle möglichen Leute über ihr Sexualleben ausfragt. Soweit entspricht das Format gängigen Sozialdokumentationen, folgt aber keiner Skandalisierungslogik. Wir sollen ja etwas dazulernen. Sex erscheint als Thema, über das brave BürgerInnen besser informiert werden müssen. Wobei wir hier von klassischen heterogepaarten BürgerInnen sprechen. LGBTIQA und Disability werden nur peripher oder überhaupt nicht thematisiert. Die Thematisierung von Geschlecht fand ich dafür größtenteils angenehm: Frauen werden beim Sex aktiv gezeigt, Schönheitsideale häufig ignoriert und Henning holt bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, ihre Stoff-Vagina heraus, weil es besonders wichtig ist, dass ALLE nach einer Begegnung mit ihr wissen, wie „das da unten“ funktioniert. Diese Bezeichnung für Vagina wird zwar durchgehend problematisiert, aber kaum durch eine andere ausgetauscht.

Etwas trashig, ist jede Folge mit Expert_inneninterviews und anatomischen Bildern gespickt, die in Landschaftsaufnahmen eingeblendet oder an Hauswände projiziert werden. Über weitläufige Sequenzen ist Klaviermusik gelegt, die eine Atmosphäre rührender Tierschicksals-Reportagen erzeugt, was meiner Meinung nach nicht ganz zum Thema passt. Trotz aller Skurrilitäten ist „Make Love“ sehr informativ: Ein bisschen wie die Sendung mit der Maus, wo erklärt wird, wie ein Geschirrspüler funktioniert. Eine Sachgeschichte über Sex, zwischen spießig, trashig und lehrreich. Zum Fremdschämen ist auch immer was dabei, weil Henning sehr schrill wird, wenn sie nicht recht weiß, wie sie reagieren soll. Wer willens ist, das hinzunehmen, kann aus der Sendung durchaus was mitnehmen. Aber eher nicht alles!

„Make Love“ läuft seit 2013 auf MDR, SWR und ZDF. Für die kommende Staffel werden noch Paare gesucht. ;-)

Carina Brestian studiert Soziologie an der Universität Wien.

Behinderung* ist sexy und hip!

  • 23.02.2017, 19:31
Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Braucht es ein spezielles Begehren? Behinderte(s)* Begehren ist Begehren für alle!

Ist Sex wirklich nur etwas für nichtbehinderte* Lebensweisen? Behinderung* ist eine vielfältige Variante menschlicher Lebensrealität, jedoch wird sie in vielen Kontexten noch immer nicht als solche betrachtet. Besonders die Thematik Sex und Dis_ability scheint unangebracht, abnormal und unerwünscht zu sein. Wir haben es also mit der „Compulsory Ableness“ zu tun, der zwanghaften Unversertheit sexualisierter Körperlichkeit(en).

Sex ist etwas für nicht-behinderte Körperlichkeit(en).Alles, was nicht normative Sexualität ist, wird unterdrückt und tabuisiert, denn Sexualität ist eine Angelegenheit der Ablebodied People; Disabledness ist unsexy. „Sexualität ist oft der Punkt unserer tiefsten Unterdrückung und jener unseres tiefsten Schmerzes. Denn es ist einfacher, über Arbeit, Bildung und Wohnen zu sprechen und Strategien gegen diesbezügliche Diskriminierung zu formulieren als es über unsere Exklusion von Sexualität und Reproduktion ist“, konstatierte die DisAbility- Aktivistin Anne Finger schon vor mehr als 10 Jahren in einem Erklärungsmanifest.

Dis_abled Sex ist queer. „Was genau machst du beim Sex?“ ist eine an Menschen mit Dis_ability häufig gestellte Frage. Eine Frage, die auch an viele Queers gerichtet wurde. Die Situation von Queeren Personen und Communitys wie auch Cripped People und Communitys weisen in vielen Bereichen eine große Ähnlichkeit auf. Sie werden jedoch noch immer nicht zusammen gedacht und in intersektionelle, das heißt Diskriminierungskategorien übergreifende Verwobenheiten, einbezogen. Diese Verknüpfungen und Verwobenheiten sollten erkannt und für Austausch und Vernetzung genutzt werden.

Plural gedacht bezieht queer als (politisch- strategischer) Überbegriff auch alle Menschen und Handlungen mit ein, die nicht den gesellschaftlich konstruierten Normen entsprechen können oder wollen. Aus dieser Perspektive kann Dis/ability als queer betrachtet werden. Unterschiedliche Begehren sind vielfältige Varianten menschlichen Daseins! Doch noch immer wird Sex in Zusammenhang mit Behinderung als pervers betrachtet: Ihm wird Unnatürlichkeit, Unfähigkeit, Zeugungsunfähigkeit etcetera zugeschrieben und er wird als Abnormalität tituliert, anstatt als vielfältige Variante – genauso wie Homound Bi*sexualitäten, intergeschlechtliche und trans* Körper und viele mehr. Was steht also dieser Öffnung hin zur Vielfalt im Weg?

Behinderte(s) Begehren? Unsere Mitmenschen mögen es oft als (moralisch) verwerflich ansehen, wenn Menschen mit DisAbility begehrt werden. Doch was finden sie daran moralisch verwerflich? Kulturellen Repräsentationen nach werden Menschen mit Dis_ability in „unserer“ Gesellschaft sehr häufig als asexuelle Wesen positioniert. Behinderung* und Sex und Begehren werden – wenn überhaupt – lediglich stereotypisierend in zweierlei Varianten gedacht: Erstens als Sex zwischen behinderten Menschen, zweitens mit einer Übersexualisierung von Disability in Form von speziellem Begehren: Devoteeismus beziehungsweise Amelotatismus. Es wäre schlichtweg falsch anzunehmen, dass nur Devotees Menschen mit Behinderung begehren. Devoteeismus wird, sowohl gesellschaftlich gesehen als auch von manchen Menschen mit Dis/ability selbst, oft als sehr ambivalent betrachtet. Denn das spezielle Begehren von Menschen mit Dis_ability ist in den Augen der Gesellschaft nicht anerkannt und erwünscht. Es kann sich deshalb häufig in Objektivierung und Fetischisierung behinderter* Körperlichkeit oder Seinsweisen und mitunter auch in sehr sexistischem und Street Harassment ähnlichem Verhalten äußern. Devotees begehren den Gegensatz des normativ erwünschten Körpers oder der perfekten Seiensweise, nämlich Ekel und Verabscheuung; oder anders formuliert das normativ Verabscheute. Diese Pathologisierung lastet stark auf Menschen, die behinderte* Personen begehren und lieben.

Behinderte*(s) Begehren für alle? Personen mit DisAbility können ihre behinderte* Seiensweise als eine Quelle der Lust begreifen und in ihre sexuellen Fantasien inkorporieren. Dies alles hat nichts mit Devoteeismus zu tun. Ganz im Gegenteil könnte mensch, so die Begründerin der Queer-Dis_ability Studies und Dis_ability Rights Aktivistin Alison Kafer, eine Sexualität und ein Begehren imaginieren, die reich und robust sind – und dies nicht trotz oder wegen der Beeinträchtigung*. Also eine Sexualität und ein Begehren, die nicht aufgrund von DisAbility fetischisierend sind, aber in Beziehung zu Behinderung* stehen. Wie queere und feministische Menschen und Communities, müssen also auch Menschen mit Dis_ability ihre Wege finden. Wege zu einem möglichen Umgang mit Normen um daran zu arbeiten, die eigenen nicht-normativen Körper wertzuschätzen und neu zu bewerten, zu inkludieren und zu erotisieren.

Es geht demnach also darum, diese Normvorstellung zu brechen und neue Wege zu finden Behinderung*, behinderte* Körperlichkeiteb und deren unterschiedliche Sexualitäten zu inkludieren. Denn: Menschen mit Dis-ability haben ein Sexleben: Sie kämpfen um ihre „intime Bürger_innenschaft“, wie es der Soziologe und Queer Dis/ ability Richts Activist Kenneth Plummer treffend bezeichnet, und darum, sich sexuelle Identitäten* anzueignen! Behinderung ist sexy. Wir sind so sexy und hip wie wir uns selbst beschreiben. Wir wollen teilhaben! Wir wollen interessante Menschen treffen! Wir wollen Begegnungsorte für ALLE!

Elisabeth Magdlener, Verein CCC** – Change Cultural Concepts, ist Trainerin und Vortragende im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Tänzerin, Mitglied der weltweiten Community- Tanzbewegung DanceAbility und A.D.A.M. (Austrian DanceArt Movement). Sie studiert(e) Gender Studies & Pädagogik in Wien.

Frisurloses FischFleisch

  • 23.02.2017, 18:29
Häh, bi? Gibt's das noch? Und wenn ja, wo sind die richtigen bi-Personen? Über fehlende Labels und Revolution bi-Style Now.

Häh, bi? Gibt's das noch? Und wenn ja, wo sind die richtigen bi-Personen? Über fehlende Labels und Revolution bi-Style Now.

„Is there a bisexual option available?“ – „No, sir, this option is no longer available since about last summer, due to several operational problems.“ Was in „The Lobster“ als düsterer Eingangsgag wirkt, ist für viele bisexuelle Personen keine Dystopie, sondern Realität. „Für mich als bi-Person interessiert sich kaum jemand besonders“, meint Anja. Die 26-jährige Soziale-Arbeit-Studentin sieht die mangelnde Aufmerksamkeit, die bi-Personen zu Teil wird, als eine Medaille mit zwei Seiten: „Positiv ist, dass man als bi-Person oft kein großes Outing hat. Negativ dagegen ist das klischeehafte Porno-Bild vieler Männer und die geringe Akzeptanz einiger lesbischer Frauen gegenüber bi-Frauen.“ Für Anja ist die Diskriminierung, die sie aus der lesbischen Szene erfährt, besonders verletzend. „Sprüche wie ‚Du bist nicht Fisch und nicht Fleisch‘, ‚Du bist irgendwas‘, ‚Jetzt sagst du, du bist bi, aber vermisst dann doch einen Mann‘ sind von lesbischen Frauen mir gegenüber oft gefallen“, so Anja.

LGT. Das Gefühl zu haben, als bi-Person weder in hetero- noch in homo-Räume zu passen, ist für viele schwierig. Sanna, 25, machte ähnliche Erfahrungen: „Bei LGBT-Treffen kamen negative Reaktionen, wenn klar wurde, dass ich bi bin. Ich persönlich muss nicht mit einem bi-Button rumlaufen, aber ich möchte als bi-Person nicht aus LGBT-Räumen ausgegrenzt und rausgedacht werden.“ Um mehr bi- Empowerment zu schaffen, startete Sanna während ihres Studiums Media and Culture Studies 2015 das Projekt „Still Loving BI“. Dafür entwickelte sie eine Kampagne mit Facebookpage, Twitteraccount und einer Superheld_innen-Fotoaktion. Neben fehlender Sichtbarkeit und Vorurteilen, gegen die bi-Personen ankämpfen, fiel Sanna im Zuge ihres Projekts auf, dass bi-Personen oft Zweifel bezüglich ihres bi-Lebens haben: „In vielen Gesprächen mit bi-Personen kam die Frage auf: Wer ist eigentlich richtig bi?“

BISEUDO. Ist eine bi-Frau, die mit einem Typen zusammen ist, oder eine Person, die auf non-binary Personen steht, überhaupt bi oder nur pseudo-bi? „Für mich heißt bi, auf mehr als ein und eventuell verschiedene Gender zu stehen. Egal, welche Gender das dann sind und welche Erfahrungen eins schon gemacht hat. Es geht darum, ob eins das Potential hat, auf verschiedene Leute zu stehen“, so Sanna. Shiri Eisner setzt sich in ihrem Buch „Bi: Notes for a Bisexual Revolution“ mit dieser von der bi-Aktivistin Robyn Ochs stammenden Definition und anderen auseinander. Sie bleibt aber nicht nur bei der Auseinandersetzung mit Stereotypen und bi-Feindlichkeit. Ausführlich arbeitet sie Monosexismus als Struktur heraus, die Personen, die auf nur ein Geschlecht stehen, privilegiert und nichtmonosexuelle Personen systematisch bestraft. Sei es, wenn es um Gesundheit, Job oder persönliche Beziehungen geht.

BI CLASSIC. Julia* möchte ihren Namen nicht preisgeben. Sie befürchtet ungewollt vor Familienmitgliedern und Arbeitgeber_innen als bi geoutet zu werden, falls ihr Name öffentlich wird. „Ich war im Juli auf der dritten European Bisexual Conference in Amsterdam. Dort haben mich andere Teilnehmer_innen vor Problemen am Arbeitsplatz gewarnt“, so Julia. Wenn die 23-Jährige sonst von der EuroBiCon, dem größten bi-Treffen Europas, erzählt, kommt sie ins Schwärmen: „Ich musste mich nicht einmal für meine Bisexualität rechtfertigen. Die EuroBiCon war für mich eine Bubble aus Glücklichkeit.“ Auf die Frage hin, ob dort ein „bi- Code“ zu beobachten gewesen sei, erwidert Julia: „Wie eine klassische bi-Person aussieht und lebt, war eine Frage der Konferenz. Der Schluss war jedoch: In der bi-Community gibt es keine stereotype bi-Person und wir wollen und brauchen für die Sichtbarkeit auch keine ‚eigenen‘ Codes.“ Julia sieht auch in ihrer lokalen bi-Gruppe „VisiBIlity Austria“ keine Ansätze dahingehend.

INCONSISTENT BI SLUT. Geht das überhaupt, bi leben ohne eigene bi-Frisur? Bei dem monatlichen Treffen der „VisiBIlity Austria“-Gruppe in Wien scheint das kein Thema zu sein. Die bi-Gruppe ist heterogen und groß. Zu jedem Treffen kommen zwanzig bis dreißig Leute und die Gruppe wächst. „Heute sind sechs oder sieben neue da. Dafür fehlen die alten Hasen“, schätzt ein Teilnehmer. „Die alten Hasen“ sind eine Handvoll bi-Personen, die im Sommer vor zwei Jahren „VisiBIlity“ gründeten. Das Ziel der Gruppe ist es „Netzwerk und Anlaufstelle für Bisexuelle und Pansexuelle in Österreich sowie deren Freund_innen/Angehörige/ Unterstützer_innen zu sein“. Beim Treffen sammeln die Anwesenden, „unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität“, Ideen für Locations für die Bi-Visibility-Day-Party, diskutieren Themen für zukünftige bi-Inputs und tauschen Lieblingsserien mit queeren Charakteren aus. Was etwas chaotisch daherkommt, ist aber auch flexibel und offen für Neues. Es gibt Picknicks, Wandertage und Spieleabende – aber auch eine gewisse Trägheit, Personen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, einzubinden. Die werden mit Snacks besänftigt. Dabei müssten bi-Personen nicht ruhig halten. Im Druck, der auf bi-Personen ausgeübt wird, indem sie als „unentschlossen“, „slutty“ oder „inexistent“ bezeichnet werden, zeigen sich indirekt gesellschaftliche Ängste. Gleichzeitig bedeutet dies, dass bi-Personen nicht nur das Potential haben, auf verschiedene Leute zu stehen; sie haben auch großes revolutionäres Potential. Wie Shiri Eisner schreibt: „While we address monosexism, biphobia, and bisexual erasure, we must also keep in mind that the very powers that oppress us also give us the crack through which to break the system.“

*Name von der Redaktion geändert

Marlene Brüggemann hat Philosophie an der Universität Wien studiert.

„Klitoris? Wir haben das nicht verwendet“

  • 22.11.2016, 14:44
In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Um diese zwei Fragen dreht sich der Kurzfilm „Clitorissima“, der im Rahmen des Transition-Festivals gezeigt wurde. progress sprach mit der queeren Filmemacherin Gia Balestra.

In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Um diese zwei Fragen dreht sich der Kurzfilm „Clitorissima“, der im Rahmen des Transition-Festivals gezeigt wurde. progress sprach mit der queeren Filmemacherin Gia Balestra.

„Noch eine Geschichte! Bitte!“, ruft Gia Balestra laut und leicht flehend in den dunkeln Kinosaal im Wiener Schikaneder. Sie macht gerade den Rolls Royce unter den Vibratoren zum Testen bereit. Hie und da hört man Gekichere. Noch vor einigen Minuten lief ihr Kurzfilm „Clitorissima“ auf der Leinwand. Jetzt gibt es die Möglichkeit sich im geschützten Rahmen unter Frauen*, Trans* und Inter*-Personen auszutauschen – über die eigene Erinnerung an die erste „Clitoris Awareness“.

In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Balestra konfrontierte zuerst ihre weiblichen Familienmitglieder mit diesen zwei Fragen. Danach Personen, die sie auf Events zum Thema Sexualität, interviewte. Und jetzt das Publikum im Schikaneder. Eine Hand streckt sich im Kinosaal: „Ich war vier und dachte, dass ich dieses Gefühl erfunden habe. Es war so schön. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir niemand zuvor davon erzählt hat.“ Das Gekichere schlägt in freudiges Lachen um. Gemeinsam wird die Klitoris zelebriert. Genau das will Gia Balestra erreichen.

Die gebürtige Italienerin vereint viele Facetten in sich. Selbst- und Fremdzuschreibungen: Sie ist Überlebende einer Vergewaltigung. Laut ihrer jüngeren Schwester sei sie eine „Kinderklitorisausbildnerin“. Ihren Künstlerinnen-Name „Vulvah Van Klitt“ entwickelte sie als persönlichen „Comic Relief“. Nach dem ganzen Drama, brauchte sie etwas worüber sie lachen konnte. Laut Freund*innen aus Italien ist sie besessen von der Klitoris. Sie selber bestätigt das ganz selbstbewusst: „Yes! I am obsessed!“. Kurzum: Ein außergewöhnliches Gespräch mit einer außergewöhnlichen Person.

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progress: Angestoßen wurde deine Auseinandersetzung mit der Klitoris durch einen Vorfall mit deiner Schwester bzw. mit ihrer Tochter Virginia, die sich mit drei Jahren ihrer Klitoris bewusst geworden ist. Kannst du erzählen was damals, vor zwanzig Jahren, passiert ist?
Gia Balestra: Ich kann dir die Szene genau schildern: Sommerzeit in Bassano del Grappa, ein kleines Dorf in der Nähe von Venedig. Wir sitzen im Garten. Meine Schwester nähert sich mir. Sie flüstert in mein Ohr: „Gia, hast du Virginia die Klitoris gezeigt?“ Virginia begann ihren Körper zu erforschen und meine Schwester zeigte mit den Finger auf mich. Sie flippte aus. Ich flippte aus. Ich musste Italien verlassen und zog nach Berlin. Ich brauchte 16 Jahre, um meine Schwester zu konfrontieren und stellte ihr immer wieder verschiedene Fragen, unter anderem: Wieso ich? Als ersten Grund nannte sie mir, dass ich im Haus war. Als ich mich mit der Antwort unzufrieden zeigte, sagte sie mir, dass es nur ein Scherz war. Ich fragte, was das für ein schlechter und böser Scherz sein soll. Und dann kam die richtige Antwort: Weil ich immer über Sex rede. Es ist jedoch das „Ich“ als Überlebende einer Vergewaltigung, die über Sex spricht. Ich musste vor Anwält*innen und Richter*innen über meine Sexualität sprechen, über das was passierte.

Nach dieser Erfahrung hast du beschlossen deinen weiblichen Familienmitgliedern zwei Fragen zu stellen: In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner Klitoris bewusst? Wie reagierte deine Familie?
Sie waren total gewillt mir davon zu erzählen. Als ich meine Mutter interviewte, begann ihre Alzheimer. Das war nicht einfach für mich, ich hab gezittert und konnte ihr nur die Frage mit dem Alter stellen. Ich war nicht fähig weiter zu gehen. Als Kind erzählte mir meine Mutter, dass Kinder keinen Orgasmus haben können. Erst, wenn sie 18 sind, wären sie dazu fähig. Eine falsche Erzählung, die ich jedoch 100%ig akzeptierte. Ich hatte keine Zweifel daran. Meine Schwester erzählte mir, dass sie ihre erste „clitoris awareness“ mit 16 hatte. Danach ging sie in die Bibliothek und las alles darüber. Auch bei meinen anderen Schwestern und meine Cousinen war es mit 17. Das ist so spät. Das alles ist wohl mit ein Grund, wieso meine Schwester es nicht verstanden hat, als ihre kleine Tochter mit drei begann ihren Körper zu erforschen.

Danach hast du entschieden, diese zwei Fragen auf unterschiedlichen Sex- und Erotik-Veranstaltungen in Berlin zu stellen. Aus diesen Interviews besteht der Film „Clitorissima“. Gab es einen Unterschied zwischen den Generationen, was die Reaktionen anging?
Ich denke schon, ja. Viele Personen zwischen 20 und 30 geben schnell eine Antwort, teilen ihre Erfahrungen. Manche ältere Frauen sagten „Klitoris? Wir haben das nicht verwendet“. Als hätten sie gar keine Klitoris.

Kannst du von ein oder zwei Geschichten aus deinen Interviews erzählen, die dir als besonders interessant oder lustig hängen geblieben sind?
Da gab es die Geschichte von zwei Zwillingsschwestern, die in einem Stockbett schliefen. Die Schwester, die im unteren Bett lag, hatte keine Privatsphäre, um zu masturbieren, während die Schwester, die oben schlief, machen konnte, was sie wollte. Die Beiden teilen nun diese Geschichte miteinander. Das fand ich ziemlich spannend. Oder eine andere Person hatte ihre erste „clitoris awareness“ mit einer Aprikose, die wohl irgendwie zum Gleitmittel wurde. Das ist sehr süß.

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Die Filmvorstellung und die anschließende Diskussion im Rahmen vom Transition-Festival war für Frauen*, Trans* und Intersex*-Personen. Was willst du diesen Personen mitgeben?
Verwendet den Begriff „clitoris awareness“! Es wird nicht darüber gesprochen, aber die meisten Frauen wissen sofort, was ich mit diesem Begriff meine. Manche sagten mir sogar, dass sie sich immer schon ihrer Klitoris bewusst waren. Die Glücklichen! Bei mir war es mit 19. Wenn ich vor Männern den Begriff „clitoris awareness“ verwende, schauen sie mich an als wäre ich eine Idiotin. Männer haben ihren Penis seit ihrer Geburt vor sich. Sie wissen, wenn du den Penis berührst, dann fühlst du etwas. Bei Mädchen ist es nicht so. Ich denke mir oft, dass als ich klein war und meinen Körper entdeckte, ein Kindermädchen mich auf irgendeine Art und Weise bestraft haben muss. Es ist nur eine Vermutung. Aber wie kann ich sonst 19 Jahre lang meine Klitoris vergessen? Als ich sechs Jahre alt war, ging ich öfters reiten. Nicht auf einem Pony, sondern auf einem riesigen Pferd. Aber nichts ist passiert!

Stichwort Erziehung: Dein Film richtet sich auch an Mütter. Wie sollten Mütter mit ihren Töchtern über die Klitoris sprechen?
Sie sollen sagen: Clitoooriissssiimmaaaa! Es soll wie eine Party klingen! Clitoooriissssiimmaaaa! Mit Animationen und netten Bildern kann das Thema anschaulich gemacht werden. Es wäre auch schön, wenn Mädchen bereits in der Vorschule gemeinsam darüber sprechen, sich ihre Klitoris gemeinsam anschauen, damit sie ihren Körper kennenlernen. Das ist jedoch undenkbar. Wir haben immer noch eine Mauer im Kopf, wenn es um die weibliche Sexualität geht.

Wieso existiert diese Mauer deiner Meinung nach immer noch?
Ich glaube, es ist ein Cocktail von Werten aus einer patriarchalen Gesellschaft mit einem Hauch von Katholizismus, der dir einredet, dass dein Körper dreckig ist, der Teufel ist. Natürlich ist das auch bei anderen Religionen so. Egal ob im Islam oder im Buddhismus, der genau so eine sexistische Religion ist. Die Gesellschaft ist sexistisch. Das ändert sich nur langsam.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Der Wunsch nach Sex als Scheidungsgrund

  • 21.06.2016, 22:03
Frauen vor den Gerichten der Frühen Neuzeit.

Frauen vor den Gerichten der Frühen Neuzeit.

„Let’s talk about sex, baby“: Der Wunsch nach erfüllter Sexualität ist nicht nur ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, auch in der Neuzeit drehte sich so einiges um das Erfüllen der sexuellen Bedürfnisse – auch bei Frauen, wie uns Fallbeispiele zeigen.

FRAUENBILD. Wenn wir an Frauen im Mittelalter oder in der Neuzeit denken, haben wir sofort das Bild der frommen, dem Mann unterworfenen Frau vor Augen, deren primäre Aufgabe die Zeugung von Nachwuchs war. Ohne Zweifel war das 16. Jahrhundert von Emanzipation weit entfernt, so passiv und rechtlos, wie wir denken, waren Frauen aber nicht. Besonders wohlhabende Frauen konnten ihren sozialen Status ausnutzen, um sich mehr Macht und Vorteile in der Ehe zu verschaffen. Aber auch weniger wohlhabende klagten ihre Rechte vor dem Konzistorium ein, auch ihr Recht auf Sexualität.

Durch die Revolution von Martin Luther veränderte sich, die katholische Kirche grundlegend, besonders aber auch die Sichtweise auf Sexualität. Laut der Historikerin Claudia Jarzebowski („Sexualität“ in der Enzyklopädie der Neuzeit) war für Luther Sexualität Teil der menschlichen Natur und konnte nicht unterdrückt werden, womit man auch das Nichteinhalten des Zölibats protestantischer Geistlicher rechtfertigt konnte. Man sprach beiden Geschlechtern, auch der Frau, ein Recht auf Sexualität zu, wobei die Frau als ein ihren Trieben ausgesetztes Wesen gesehen wurde, deren Anziehung Männer oft zum Opfer fielen.

MEDIZIN UND HYGIENE. Einen anderen Blickwinkel auf Sexualität in der Neuzeit liefern Mediziner im Zuge des Hygienediskurses ab dem 18. Jahrhundert. Diese beschäftigten sich nicht nur mit Geschlechtskrankheiten, sondern unterschieden auch zwischen gesunder und ungesunder Sexualität. Was war also laut Medizinern des 18. Jahrhunderts ungesunder Geschlechtsverkehr? Laut Philip Sarasin (Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers. 1765–1914) waren all jene sexuellen Handlungen, die außerhalb einer Ehe stattfanden, exzessiv oder dienten der Selbstbefriedigung. Die schier unersättliche Lust der Frauen solle laut den Hygienikern also gedämpft werden durch regelmäßigen Sex in der Ehe. Den Orgasmus der Frau sah man jedoch nicht als Voraussetzung für eine gelungene Zeugung von Nachkommen.

Betrachten wir also die protestantische Reformation als Meilenstein im Hinblick auf die Wahrnehmung auch weiblicher Sexualität, so bleibt trotzdem eine Sache essenziell: Der einzige Ort, an dem man Sex für legitim hielt, war die Ehe, sowohl was das kirchliche Credo betraf, als auch jenes der Hygieniker. Die Verweigerung der ehelichen Pflichten, zu denen Geschlechtsverkehr ganz zentral zählte, wurde bei Männern mit körperlichen Problemen in Verbindung gebracht, während man bei Frauen eher dazu geneigt war, die Ursache im Nichtfunktionieren der Ehe selbst zu suchen. Sexualität und vor allem das Nichtgewähren von Geschlechtsverkehr seitens des Ehepartners / der Ehepartnerin wurde daher oft zum Gegenstand von Gerichtsurteilen. Laut Alexandra Lutz wurden sowohl die Untreue des Ehepartners / der Ehepartnerin als auch die nichtvollzogene Ehe eingeklagt.

Nicht selten waren es auch Frauen, die vor dem Kirchengericht ihren Wunsch nach sexueller Befriedigung einklagten, wie auch im, von Alexandra Lutz (Ehepaare vor Gericht) präsentierten Fall von Maria Gosau 1715. Diese beklagt dass „sie auch Fleisch und Blut an sich habe, und so viele Jahre ohne Mann nicht leben könne“, weshalb sie, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, das Gericht bat, erneut heiraten zu dürfen, ohne jeglichen Erfolg.

NEBENKLAGE. In einem anderen Fall, gefunden im Diözesanarchiv Wien, zwischen Stuhlpfarrer Rosalia und ihrem Mann Peter 1779 bringt die Ehefrau vor, ihr Mann erfülle schon seit 2 Jahren seine ehelichen Pflichten nicht mehr. Außerdem würde er sie wie eine Dienstmagd behandeln und habe sie aus dem Haus geworfen. Deutlich wird durch Fälle wie diesen auch, dass das Einklagen von Sexualität nie als Hauptklagegrund verwendet wird, sondern in den meisten Fällen als eine Art Nebenklagepunkt. Spannend ist auch, dass dieser Grund nahezu nie für eine Scheidung reicht, vermutlich weil die sexuelle Befriedigung der Frau weniger bedeutend war als das Fortführen einer, wenn auch nicht glücklichen, Ehe.

Zusammenfassend kann man also festhalten, dass die Frauen auch in der Neuzeit theoretisch ein Recht auf ihre Sexualität hatten, das ihnen von verschiedenen Instanzen aus unterschiedlichen Gründen zugeschrieben wurde. In der Praxis wurde die Klage nach sexueller Befriedigung seitens der Frau nie als Hauptklagepunkt in derartigen Eheverfahren verwendet. Das Fehlen eines erfüllten Sexuallebens war nie Grund genug, dass ein Ehepaar hätte geschieden werden können.

Julia Roschitz studiert Italienisch und Geschichte an der Universität Wien.

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Alternative Beziehungsformen

  • 10.03.2016, 18:18
Poly, offene Beziehung, Freundschaft Plus, usw. – die Liste möglicher Beziehungskonstellationen ist lang. progress hat Statements von Menschen, die nicht in der bekannten romantischen Zweierbeziehung (RZB) leben, gesammelt. Was ist toll, was nervt sie und wie lieben sie?

Poly, offene Beziehung, Freundschaft Plus, usw. – die Liste möglicher Beziehungskonstellationen ist lang. progress hat Statements von Menschen, die nicht in der bekannten romantischen Zweierbeziehung (RZB) leben, gesammelt. Was ist toll, was nervt sie und wie lieben sie?

Freundschaften plus.
Wenn meine Beziehungsform ein Label hätte, dann wohl „solo poly“. Aber eigentlich sag ich lieber: Es gibt in meinem Leben mehrere Personen, die ich gern habe bzw. liebe, und mit denen ich gelegentlich Sex habe. Bis vor zwei Jahren nannte ich es: Single mit mehreren Freundschaften Plus. Dann wies mich eine dieser Freundschaften darauf hin, dass da sehr viel Romantik zwischen uns ist, und wir eh quasi „zusammen“ sind. Seither nenne ich es Polyamorie. Die Beziehungen sind alle verschiedenartig, aber gleich wertig. Ich lebe alleine, bin gern selbstständig und unabhängig, – aber eben trotzdem verliebt und für die Menschen da, die mir wichtig sind und mit denen ich einen Teil meines Lebens verbringen möchte.
Sasha

Beziehungsformen sind politisch.
Ich habe zwei Partner, also zwei einzelne gleich wichtige und fast gleich lange Beziehungen. Alle haben dieser Konstellation zugestimmt und sind damit glücklich. Jede_r kann zusätzlich treffen und lieben, wen er_sie will. Davon erzählen wir uns dann möglichst gegenseitig. Ich hätte aber auch Verständnis dafür, wenn jemand mal etwas lieber für sich behält, solange es nicht in ein geheimes Doppelleben ausartet. Von life advice über Polyamorie halte ich ungefähr so viel wie von allen anderen Beziehungsratschlägen in Medien: Ich mag sowas nicht. Wenn ich in meinen Beziehungen Fragen, Ängste oder Probleme habe, wende ich mich lieber an den betreffenden Partner, liebe Freund_innen – oder mich selbst. Für mich ist meine Beziehungsform kein Lifestyle und schon gar keine sexuelle Orientierung; politisch ist sie schon – wie jede andere Form von Lebensgemeinschaft auch.
Lara

Ehemänner tendenziell sicher.
Ich habe zwei Freunde. Der Plural wirkt missverständlich, was soll ich sagen, Partner? Beziehungen? Ich kann nichts daran ändern, dass die deutsche Sprache da so ungenau ist. Hauptsache, ich weiß, was Sache ist, und mehr geht ja auch nicht alle was an. Wobei – dass ich niemanden hintergehe, das möchte ich schon festhalten. Nein, wir haben nichts zu dritt, und nein, ich bin nicht ständig auf der Suche nach Frischfleisch, und ja, dein Ehemann ist vor mir tendenziell sicher. Konflikte lösen wir stets partnerschaftlich – die beiden sind gewerkschaftlich organisiert. Leider musste ich in der letzten Verhandlung über Sockenlagerung Zugeständnisse machen.
Paulina

Kapitalverhältnis & Poly-Beziehung.
Schwierig wird es für mich dann, wenn unsere poly-Beziehung auf den Alltag im Kapitalismus trifft. Dass wir eine Fernbeziehung führen, hilft da wahrlich nicht. Wenn wir uns tagelang nicht mal bei Skype sehen können, weil Lohnarbeit, Studium, Aktivismus, Reproduktionsarbeit und self care jede freie Sekunde verschlingen, dann ist es schwer, wenn meine Partnerin die paar freigeschaufelten Momente auch noch zwischen ihre_r/m Freund_in und mir aufteilen muss. Jene Person, die auch noch näher wohnt, sie häufiger trifft, wenn mir nur Skype und längere Treffen in wesentlich selteneren Intervallen bleiben … Da entstehen bei mir plötzlich Eifersucht und Verlustgefühle, wo sonst kaum welche sind. Chris

Sexistische Zuschreibungen.
An die Rechtfertigungen dafür, mehrere individuelle Beziehungen zu führen, habe ich mich mit der Zeit gewöhnt. Was mich aber immer total nervt ist, dass vor allem weiblich gelesenen Personen wie mir dann oft unterstellt wird, mit jedem ins Bett zu gehen. Das ist einfach nur sexistischer Bullshit. Ebenso wie die Behauptung, ich würde schon eine RZB anfangen, wenn ich nur auf „den Richtigen“ träfe, obwohl er*sie weiß, dass ich keine Beziehungen mehr mit cis-hetero-Männern führe. Trotzdem liebe ich diese Beziehungsform, weil sie sehr auf gegenseitiger Wertschätzung, Offenheit und Konsens basiert und die unterschiedlichen Bedürfnisse mehr wahrgenommen und respektiert werden als in meinen RZB.
Liz

Doch nicht gekuschelt.
Seit sechs Jahren bin ich mit einer Person zusammen. Seit 2012 leben wir poly. Es fing alles damit an, dass ich mit einer Freundin von mir kuscheln wollte. Ich sprach es mit meine_r/m Partner_in an, mit de_r/m ich zu der Zeit monogam lebte. Wir einigten uns dann erstmal darauf, dass Kuscheln mit anderen Menschen und eventuell auch mehr okay wäre. Es kommt mir seltsam vor, dass es erst vier Jahre sind, in denen ich polyamorös lebe; so viele spannende, schwierige, gute, nervenaufreibende und identitätsstiftende Erfahrungen habe ich seitdem gesammelt. Übrigens habe ich mit der Freundin, wegen der ich die poly-Geschichte ansprach, doch nie gekuschelt: Ich war zu schüchtern, diesen Wunsch zu formulieren.
Mara

Commitment und Bedürfniserfüllung.
Ich lebe Beziehung nicht in Relation zu anderen Beziehungen. Für mich spielt keine Rolle, was andere von einem gemeinsamen Partner bekommen, so lange meine Bedürfnisse erfüllt werden. Ich muss nicht mehr haben, um meinen Status zu validieren. Ich will nicht weniger haben, um anderer Leute Status zu validieren. Leider hinterfragen die wenigsten Regeln, die nur dazu dienen, Hierarchien zu etablieren. „Love is abundant“ ist Unsinn, wenn man Menschen in Konkurrenz um Zeit und Ressourcen setzt. Bei mir müssen Dinge keinen Namen haben, so lange das nicht bedeutet, Minimalstandards zu untergraben und Vorhersehbarkeit und Commitment zu verweigern.
@sanczny

Offener Umgang mit Eifersucht.
Ich lebe polyamor. Das hat sich für mich zufällig ergeben. Eigentlich wollte ich mich nicht verlieben, sondern einfach eine Weile solo das Leben genießen und plötzlich gab es drei Menschen, die mir unheimlich wichtig wurden. Statt mich zu einer Entscheidung für eine Person zu zwingen, probierten wir Polyamorie aus und stellten fest, dass es für uns gut funktionierte. Mittlerweile gibt es fünf Menschen, die ich als meine Herzmenschen bezeichne. Ich schätze sehr, dass diese Personen alle verschieden sind und mit mir auf völlig unterschiedliche Art harmonieren. Natürlich gibt es auch manchmal Eifersucht, aber ein offener Umgang damit und mit anderen Problemen hilft sehr.
Alina Saalfeld/@andere_grufty

Bürgerliche Konsumhaltung.
Einer der für mich spannendsten deutschsprachigen Texte zum Thema „poly“ stammt von Bäumchen. Xier* schreibt im Artikel „Kein Sex (II): Class/Sex/ Race: Liebe und begehre mich (trotzdem)“ über die Verwobenheit verschiedener Machtachsen, Unterdrückungsformen und poly. Also warum poly eben nicht für alle gleich ist, und warum „immer die falschen Leute poly sind“: „Ich rede von Menschen, die andere Menschen verschleißen, weil sie keine Rücksicht nehmen. Ich glaube, dass poly deshalb eine Konsumhaltung geworden ist, weil es mehrheitlich von der weißen Mittelschicht ausgeübt wird, die vor allem eines kann: konsumieren. Und daran orientiert sich leider auch viel RZB-Kritik. Sie ist so bürgerliche Mittelschicht und weiß, dass ich jedes Mal wieder LOLe. Poly und Class sind so ein riesiges Thema und ich seh’ es nirgendwo richtig angepackt. Race ebenfalls nichts. Wer ‚lebt‘ sich bei poly aus und wer nicht? Wer muss cool bleiben und soll ‚chillen‘?“
Ariel

Offen miteinander.
Wir sind, wie in vielen anderen Beziehungen auch, meist glücklich. Wir reden viel und kuscheln noch mehr – das gibt Sicherheit und tut mir gut. Ich bin KK seit sechs Jahren kinky nahe, wir wohnen weit von einander und sehen uns zwei- bis dreimal im Jahr. Mit F teile ich seit 18 Monaten meine Gedanken, seit über einem Jahr das Bett. Und dann war ich mit J befreundet, bis wir festgestellt haben, dass wir uns auch sexy finden und da jetzt noch mehr ist. Und mit mir bin ich schon sehr lange nahe, und Verwöhnen, Sex und schöne Dinge mit mir mache ich regelmäßig. Ich genieße generell nette Menschen in meinem Umfeld. Und ich genieße alles, so wie es ist. Schön, dass wir offen miteinander sein können, das tut so gut.
Liebhardt

Gegen Vergleiche.
Ich lebe seit drei Jahren in zwei Beziehungen und alles klappt gut. Mehr will ich dazu gar nicht sagen, denn ich denke, es ist genau das Vergleichen und Analysieren von Beziehungen und Beziehungsmodellen, das es vielen Menschen immer schwerer macht, einfach ihre Beziehung(en) so zu gestalten, wie es sich für sie richtig anfühlt. Alle paar Monate lese ich in Tageszeitungen oder Blogs selbstzufriedene Artikel über nicht-monogame Beziehungen, manche kritisch, manche befürwortend – ich brauche das nicht. Ich schöpfe auch keine Identität aus meiner Beziehungsform. Ab und zu lese ich so einen Artikel gerne mit Donald-Duck-Stimme jemandem zum Einschlafen vor. Dieser Beitrag hier klingt am besten mit der Stimme von Towely aus „Southpark“.
Sonja

Intime Fragen.
Ich bin eine Frau mit zwei Boyfriends und aufgrund dieser Konstellation werden mir immer wieder Fragen gestellt. Häufig: „Wissen die voneinander?“ Natürlich wissen sie voneinander, so gut bin ich auch nicht im Geheimnisse-Bewahren. Ja, sie mögen sich. Ja, wir machen Dinge zu dritt. „Habt ihr dann zu dritt Sex?“ Was für dämliche und völlig respektlos intime Fragen man gestellt bekommt! Was dämlich und respektlos ist? Alles was ihr „ganz normale“ heteronormative romantische Zweierbeziehungen nicht fragen würdet!
Stoli Sparkles

Pixelsex

  • 10.03.2016, 17:36
Die weltweit meistverkaufte PC-Spiel-Reihe „Die Sims“ fand 2014 mit der Veröffentlichung von „Die Sims 4“ ihre Fortsetzung. Nach 16 Jahren fehlen jedoch noch immer unverpixelte stillende Personen_*, das Wort Sex statt „Techtelmechtel“ und queere Charaktere.

Die weltweit meistverkaufte PC-Spiel-Reihe „Die Sims“ fand 2014 mit der Veröffentlichung von „Die Sims 4“ ihre Fortsetzung. Nach 16 Jahren fehlen jedoch noch immer unverpixelte stillende Personen_*, das Wort Sex statt „Techtelmechtel“ und queere Charaktere.

Egal ob Stay-at-Home-Parent_ mit Romanzen, verheiratete Künstler_in oder ein_e Geek mit mehreren Freund_innen; seit der Veröffentlichung von „Die Sims“ im Jahr 2000 kann eins in jede erdenkliche Rolle schlüpfen. Was jedoch alle Sims gemeinsam haben: Sex unter der Decke und nackte Pixelkörper. „Bei den ersten ‚Die Sims‘ konnte man nicht mal Spaßsex haben! Nur mit dem vibrierenden Herzbett aus der Erweiterung ‚Das volle Leben‘ konnten die Sims ‚spielen‘. Das hat sich erfreulicherweise geändert“, sagt Laura Tomani und lacht. Die 23-jährige Kulturwissenschaftenstudentin an der JKU in Linz bekam mit zehn „Die Sims“ und ist seitdem Sims-Gamerin. Was Laura daran mag, ist die Verknüpfung aus dem „echtem“ Leben und dass es das gerade nicht ist. „Ich kann Göttin spielen, aber auch der Realität entfliehen“, so Laura.


404 NOT FOUND: FANTASIE. Als Fan weiß Laura aber auch, wo die programmierten Grenzen der Fantasie liegen. „Immer wieder erstellte ich Kommunenhäuser. Da war das einzige Problem die Eifersucht. Das fehlt mir an Sims: Dreiecks-, Vierecks- und andere nicht-monogame Beziehungen.“ Wenig progressiv gehen die Entwickler_ innen auch mit queeren und trans_ Charakteren um. Mit ihrer Offenheit gegenüber Homo-, A- und Bisexualität hatten sie zwar seit der ersten Sims- Generation eine Vorreiter_innenrolle inne. Seitdem hat sich aber nicht viel geändert. Crossdressing, queere oder trans_ Charaktere können auch in „Die Sims 4“ nicht gespielt werden. Aus diesem Mangel heraus entwickelten Gamer_ innen unautorisierte „Sex-Modifikationen“ („Sex-Mods“) des offiziellen Sims-Spiels. Diese machen es zum Beispiel möglich, dass Sim-Männer Kinder bekommen, Sims außerhalb des Bettes öffentlich Doggy-Style-Sex haben oder auch gegen Entgelt eine Schwangerschaft abbrechen können. Und: Nacktheit ist unverpixelt.


SEXPERIMENTE. Nina Kiel erforscht seit einigen Jahren Sex und Geschlecht in Video- und Computerspielen und weiß: „Nackt- und Sex-Mods sind weit verbreitet und eine direkte Konsequenz des von offizieller Seite zurückhaltenden Umgangs mit Sexualität. Solange Sexualität als Zensurgrund gilt, kann dieses Thema auch nicht eingehend interaktiv erforscht werden.“ Sie kritisiert die vorauseilende Zensur von Nacktheit in „Die Sims“ und wünscht sich einen lockeren Umgang mit Körperlichkeit. Was Sex anbelangt, müsse eins mehr differenzieren. „Dass Sex [in ‚Die Sims‘] nicht gezeigt wird, ist plausibel, weil die Zielgruppe in Bezug auf ihr Alter breitgefächert ist. Man übertreibt es aber mit der kindgerechten Darstellung, wenn der Geschlechtsverkehr oder Liebesakt nicht als solcher bezeichnet wird, sondern verschämt ‚WooHoo‘ (Anm. d. Red.: auf Deutsch ‚Techtelmechtel‘) genannt wird. Kann man Sex weder zeigen noch entsprechend benennen, wäre es vielleicht besser, ganz darauf zu verzichten“, so Kiel.

Gerade wegen ihrer Interaktivität bieten Computer- und Videospiele eine spannende Plattform für „aufklärerische, emotionale und horizonterweiternde Sex-Experimente“. „Bei einem Gros der Veröffentlichungen handelt es sich um interaktive Pornos, die ein völlig verzerrtes Bild von Intimität vermitteln, in dem der Mann* als Akteur und die Frau* für gewöhnlich als passives Spielzeug gezeichnet wird. Spiele, die Sex sachlich und unaufgeregt thematisieren oder auf einer persönlich-emotionalen Ebene schildern, gibt es relativ wenige“, so Kiel. Aus diesem Grund stellen besonders Games in denen Trans_Personen, Frauen_, die Nerds sind, oder Queers, ihre sexuellen Erfahrungen schildern, einen wichtigen Beitrag dar.


MMORPGLOVE. Eines dieser gelungenen Computerspiele ist das 2015 von Nina Freeman mit Star Maid Games veröffentlichte autobiografische Spiel „Cibele“. „Es ist ein Spiel über ein normales Pärchen, das den Spieler_innen die Möglichkeit gibt, in die Rolle der jungen Frau in dieser Beziehung zu schlüpfen“, so Freeman. In „Cibele“ spielt eins die 19-jährige Nina, die einen jungen Mann in dem MMORPG (Massively Multiplayer Online Roleplaying Game) „Valtameri“ kennenlernt. Nach und nach zockt eins nicht nur gemeinsam, sondern verabredet sich auch zum Chaten und Telefonieren.


Neben dem Erzählstrang der Liebesgeschichte kann eins sich durch Ninas virtuellen Desktop durchklicken. Dort finden sich Fotodateien, Sicherungen von Blogeinträgen sowie Chat- und Emailverläufe mit Freund_innen von Nina. Je mehr der_die Gamer_in sich durch ihren privaten Computer navigiert, desto klarer entwickelt sich Nina zu einem dreidimensionalen Charakter. Besonders intim kommen einer_m Selfies von Ninas Brüsten oder Nina in einem knappen silbernen Body vor, die sie Blake schickt. Doch Freeman hatte keine Bedenken deswegen: „Die sexy Selfies und Fotos sind dazu da, um die Erzählung zu unterstützen, die Spieler_innen den Charakter Nina besser verstehen zu lassen und eine Geschichte und Atmosphäre zu entwickeln, die sich echt anfühlt. Sexy Selfies zu machen ist eine ziemlich normale Sache und ich versuchte Cibele so menschlich wie möglich und Nina als real fühlende Person darzustellen.“ Freeman ist überzeugt davon, dass (sexuelle) Beziehungen zwischen Gamer_innen weit verbreitet sind: „Seit der Veröffentlichung von ‚Cibele‘ erhielt ich viele Mails von Gamer_innen, die ähnliche Beziehungserfahrungen mit Computer- und Videospielen und online hatten wie ich, als sie jünger waren. Onlinedating ist etwas, das es schon viel länger gibt, als man erwarten würde.“

Sexuelle Beziehungen werden längst real über Games geführt. Was oft fehlt, sind queere Lebens- und Sexrealitäten in den virtuellen Welten der Computer- und Videospiele selbst. Denn bei allem Wer-anderes-sein wollen sich die Gamer_innen in den Spielen wiedererkennen. So auch Laura: „Games bieten dir so viele Möglichkeiten. Und am Ende baue ich meist doch meine Realität ein.“ Manchmal reicht es nicht, die (Sex-)Göttin_ zu sein, wenn Laura Laura spielen will.

Lukas Kitzenmüller studiert Chemie an der Universität Wien.

Das Restl kommt zum Schluss

  • 10.03.2016, 17:02
Die möglichen Spielformen und Konstellationen von Sex sind vielfältig und unzählbar. Viele Techniken und Strategien von Aufriss bis Zeugung werden in Zeitschriften und Ratgebern besprochen, analysiert und kultiviert. An dieser Stelle soll es zur Abwechslung um eine weniger angesehene Art des Beischlafs gehen: das Restlbumsen.

Die möglichen Spielformen und Konstellationen von Sex sind vielfältig und unzählbar. Viele Techniken und Strategien von Aufriss bis Zeugung werden in Zeitschriften und Ratgebern besprochen, analysiert und kultiviert. An dieser Stelle soll es zur Abwechslung um eine weniger angesehene Art des Beischlafs gehen: das Restlbumsen.

Eine andere, eventuell bekanntere – weil standarddeutsche – Bezeichnung für das Restlbumsen ist Resteficken. Im Gegensatz zum Bumsen klingt die Zusammensetzung mit Ficken allerdings so tough und ungemütlich, dass der Kern des gesamten Vorganges nicht genügend beschrieben wird. Bumsen klingt nach zufälligem Ineinanderlaufen, nach einer tollpatschigen Begegnung – und das trifft es ganz gut.

Gehen wir? Das Restlbumsen ist ein Phänomen des (Post-)Nachtlebens. Sobald in der Disko die Musik aus ist und das Licht angeht, sucht man sich möglichst schnell ein geeignetes Gegenüber und macht sich gemeinsam auf den Weg in ein beliebiges Bett. Wer möchte denn schon gern allein schlafen nach einer durchtanzten Nacht? Oder die wichtigere Frage: Wer möchte eine schöne Nacht nicht noch mit Sex toppen? Eventuell die wichtigste Frage: Wer kann nach einer stark alkoholgetränkten Nacht überhaupt allein nach Hause gehen und nicht in sein Kissen weinen vor Einsamkeit?

In der Sekunde, in der der Club das Programm beendet, die letzte Runde an der Bar längst ausgeschenkt ist, die Anlage ab- und aus purer Böswilligkeit das Licht aufgedreht wird, sich alle Anwesenden zum vielleicht ersten Mal ins Gesicht sehen, endlich unterhalten können, ohne sich anzuschreien und man gemütlich ein letztes Mal die Toilette aufsucht, weiß man: Man ist selbst ein Restl. Die anderen sind Restln. Die Übriggebliebenen, die Verlassenen. Den Absprung vor dem Rausschmiss hat man verpasst, dies lässt sich nicht mehr nachholen.

In ganz seltenen Fällen ist die Party zu schnell vorbei gewesen und es gibt die reale Möglichkeit, an einem anderen Ort einfach weiterzufeiern. In dieser speziellen Situation gibt es keine Restln, sondern die Veranstalter*innen sind in die Verantwortung zu nehmen, viel zu früh und zu Unrecht die Feierei beendet zu haben.

Plötzlich auch ein Restl. In allen anderen Fällen gilt aber: Du und alle anderen seid Restln. Es besteht nun die Möglichkeit, es einfach gut sein zu lassen, den Club zu verlassen und allein schlafen zu gehen. Mit viel Glück ist sogar noch das eine oder andere bekannte Gesicht in der kleinen übriggebliebenen Menge und man teilt sich ein Taxi. Im Morgengrauen verabschiedet man sich, schmiert sich zuhause noch ein Brot und legt sich schlafen. Dies ist nicht immer eine Option.

Meistens ist das sogar die Horroralternative. Wie die Münchner Freiheit schon sang: Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein! Und manchmal ist es eben egal, wer die Person neben bzw. unter einem ist. Also heißt es schnell die Restlmenge im Club zu mustern und jemanden auszuwählen. Dies erscheint als der strategisch klügere Zug als zu warten und angesprochen zu werden, denn man hat noch die volle Auswahl und eine Abfuhr ist extrem unwahrscheinlich. Es kann behilflich sein, dass man sich die Diskoszene aus Trainspotting ins Gedächtnis ruft und sie bei Bedarf vor dem inneren Auge abspielen lässt: Renton spricht sehr verzweifelt, aber geschickt Diane an, sie serviert ihn ab, wartet aber im Taxi auf ihn, sie knutschen und bumsen im Anschluss. Perfekt.

So sollte es idealerweise immer laufen. Achtung bei zu betrunkenen Restln (Stichwort: 2 Drunk 2 Fuck). Das gilt auch für einen selbst. Zu betrunken zum Bumsen zu sein ist das Eine – in ein fremdes Klo kotzen zu müssen ist das Andere. Man muss sich zwischen Komplettabsturz und Restlbumsen rechtzeitig entscheiden. Ein kleiner Bonus bei Ersterem ist es, dass man im Superalkmodus ebenfalls gut schlafen kann, in dem Fall allein.

Beim Restlbumsen handelt es sich um eine sehr spezielle Art des Abschleppens. Der reguläre Vorgang des Ansprechens, anschließenden Kennenlernens und Interessezeigens wird auf ein Minimum reduziert. Dementsprechend ist das Gespräch nicht nur kürzer, sondern auch sehr viel entspannter. Im krassen Gegensatz zu einer vollen Tanzfläche mit lauter Musik, unendlich vielen Menschen und dazugehörigen Menschengruppen ist die kleine Gruppe an Übriggebliebenen am Ende einer Clubnacht genau zwischen todmüde und hellwach bzw. ausgepowert und voller Adrenalin. Diejenigen, die übermäßig schnell nach ihrer Jacke suchen und aus dem Raum flüchten, sind entweder absolut desinteressiert an diesem Zirkus, blutige Anfänger*innen, die sich in der Zeit verschätzt haben oder einfach „zu alt für den Scheiß“. Für die anderen gilt: nichts überstürzen, Lage checken, kurz überlegen, ob das eigene Zimmer oder die Wohnung überhaupt aufgeräumt ist, und dann drauflosquatschen. Eine Warnung sollte besonders an die lesenden Männer* ausgesprochen werden. Wie immer gilt: nicht übertreiben, jede Ablehnung akzeptieren, auf alle kleinen Zeichen achten, keine Gruppen ansprechen und so weiter.

Ende gut, alles gut. Alles Weitere ist weniger spektakulär und bekannt. Vermutlich wird es kein Knutschen im Taxi geben, denn dazu ist man zu müde. Im schlimmsten Fall gibt es nicht einmal ein Taxi. Irgendwo angekommen macht man einen Kommentar zur Wohnsituation („Pass bitte auf die Katze auf“, „Meine Mitbewohner schlafen schon“, „Weck bitte meine Eltern nicht auf“ etc.) – genau wie bei einem One Night Stand. Es schickt sich als Gast, möglichst unbemerkt zu verschwinden, so wie es sich für den*die Gastgeber*in schickt, am Morgen einen Kaffee zu machen.

Katja Krüger studiert Gender Studies an der Universität Wien.

Sex, Natur und Utopie

  • 25.02.2014, 14:56

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

„Sex ist eines der essentiellsten Dinge der Natur. Für uns hat es Sinn gemacht, unsere Natur zu nutzen, um die Natur zu schützen“, so Tommy Hol Ellingsen, Gründungsmitglied von Fuck For Forest, in einem Interview. Seit 2003 betreiben die Umweltaktivist_innen eine Homepage, auf der (häufig im Wald oder in der Öffentlichkeit gedrehte) Do-it-yourself-Pornos gegen Bezahlung angeboten werden. Das Ungewöhnliche daran: Sämtliche Einnahmen sollen Regenwald- und Wiederaufforstungsprojekten zugute kommen. Dabei wählt man Methoden, die mitunter auch auf heftigen Widerspruch stoßen. Freie, „natürliche“ Sexualität, die einerseits zu individueller Befreiung, andererseits zur Veränderung der Welt beitragen soll – dieses Konzept kommt uns bekannt vor. Wir haben uns deshalb auf die Suche nach prominenten und weniger bekannten Vorgänger_innen gemacht, die vergleichbare Utopien entwickelten oder gleich versuchten, diese Utopien zu leben.

Fuck For Forest 2008. Foto: Mutter Erde

„Edle Wilde“ in Utopia

Drehen wir die Zeit um etwa 250 Jahre zurück, in die Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau die Vorstellung des „Edlen Wilden“ entwickelte.  Der „Edle Wilde“ repräsentierte ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“ und diente als Gegenpol zur als dekadent empfundenen europäischen Gesellschaft. Parallel dazu ließ die Entdeckung des Südpazifiks durch europäische Seefahrer und teils fiktive Reiseberichte das bis heute existierende Klischee des Südseeparadieses entstehen: friedliche und herrschaftslose Gesellschaften im Einklang mit der Natur, die ihre Sexualität frei und ohne Tabus ausleben. Gegenüber dem vorherrschenden Diskurs von indigenen Gesellschaften als „Barbaren“ war dieses Bild zweifellos ein kleiner Fortschritt, dennoch handelte es sich um Stereotype und Wunschvorstellungen, die auf die Bewohner_innen der Südseeinseln projiziert wurden und deren teils sehr strengen Sexualnormen komplett ignorierten.

Der Frühsozialist Charles Fourier suchte das Paradies hingegen nicht in der Ferne: Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine Gesellschaftsutopie, für die er exakte Pläne erstellte. Fourier war der Ansicht, dass sich die menschliche Natur nicht ändern lässt, aber zumindest entfalten kann. Da die menschlichen Triebe von der bestehenden, gewalttätigen Gesellschaftsordnung unterdrückt werden, müsse man die Gesellschaftsverhältnisse der menschlichen Natur anpassen. Als Hauptquelle der Unterdrückung sah er den Handel und die monogame Ehe an. Für Fourier war die Befreiung der Arbeit nur mit gleichzeitiger Befreiung der Sexualität möglich, deshalb wollte er die Gesellschaft in selbstverwaltete Großkommunen aufteilen, die sowohl Wirtschafts- als auch Liebesgemeinschaften sein sollten. Sein Ziel war die freie Entfaltung der Individuen, eine Verbindung von Arbeit und Genuss, die die ökonomische Produktivität steigern sollte. Trotz oder wegen vieler origineller und fortschrittlicher Ideen wurde Fourier jahrzehntelang als Spinner angesehen, einige Aspekte seines Werks – etwa surrealistisch anmutende Vorschläge wie die Verwandlung des Meeres in Zitronenlimonade und essbares Gelee – machten es seinen Kritiker_innen leicht. Auch Karl Marx und Friedrich Engels lehnten den utopischen Sozialismus als unwissenschaftlich ab. Dennoch hatte Fourier posthum großen Einfluss auf eine Reihe von Utopien des 20. Jahrhunderts.

Einmal Utopie und wieder zurück

Anfang des 20. Jahrhunderts wirbelte die Psychoanalyse um Sigmund Freud und dessen widerspenstigen Schüler Wilhelm Reich, der als Vater der sexuellen Revolution gilt, die bürgerliche Sexualmoral ordentlich durcheinander. Auch gab es einige Enklaven, in denen so etwas wie freie Liebe tatsächlich kurzfristig entstehen konnte, etwa im Berlin der 1920er, der Zeit von Varieté, Marlene Dietrich und einer ausgeprägten Lesbenkultur, oder im Russland nach der Oktoberrevolution 1917, als durch das Wirken der Volkskommissarin Alexandra Kollontaj das Eherecht gelockert, Schwangerschaftsabbruch legalisiert und kollektive Kindererziehung eingeführt wurde. Dieser kurzen Zeit der Freiheit wurde in Berlin durch den Nationalsozialismus, in Russland spätestens durch den Stalinismus ein abruptes Ende gesetzt.

Ein Revival erlebten die sexuellen Utopien in den 1960er Jahren. Es begann eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, den verbliebenen autoritären Strukturen versuchte man freie Liebe und Persönlichkeitsentfaltung entgegenzusetzen. Die Kämpfe um Bürger_innenrechte und sexuelle Freiheit gaben der Lesben- und Schwulenbewegung Auftrieb.  Parallel dazu entkoppelte die Erfindung der Antibabypille erstmals Geschlechtsverkehr von der Fortpflanzung. Es entstanden hunderte Kommunen, die das Leben in der Kleinfamilie ablehnten und eine hierarchiefreie, offene Gesellschaft etablieren wollten. Zu den bekanntesten zählten die Kommune I in West-Berlin und ab Anfang der 1970er Jahre die AA-Kommune um den Aktionskünstler Otto Muehl, die vom burgenländischen Friedrichshof ihren Ausgang nahm.

Otto Muehl übernahm Rousseaus Aufforderung „Zurück zur Natur!“ und Fouriers Visionen von sexueller Freiheit und kollektiver Lebensweise. In der „Aktionsanalyse“ sollten durch „natürliche“, frei ausgelebte Sexualität, öffentliche Selbstdarstellungen und „Körperbehandlungen“ die individuellen Schädigungen durch die Kleinfamilien-Gesellschaft – „Charakterpanzer“ genannt – überwunden werden. „Seine Mittel reichen vom Streicheln, Abschmusen, Küssen, Kitzeln, Drücken, Kneten zum Zwicken, Schlagen, Anschreien bis zum Anspucken, Speien und Anbrunzen“, wie eine Kommunardin in ihrem Tagebuch vermerkte. Zweierbeziehungen galten als Keimzelle der bürgerlichen Unterdrückung und wurden verboten, durch das Tragen von Glatzen und Latzhosen grenzten sich die Kommunard_innen sowohl vom Bürgertum als auch von den restlichen Protestbewegungen ab.

Die Kommune wollte die Gesellschaft nicht über die Ökonomie, sondern über die Sexualität verändern – diese Weltanschauung machte sie zu einer interessanten Alternative zu marxistischen Gruppen. Zur Hochzeit der Kommune gab es mehr als 600 Mitglieder sowie Zweigstellen in mehreren Ländern. Im Laufe der Jahre kippte die Basisdemokratie in ein faschistoides und streng hierarchisches System, an dessen Spitze Otto Muehl als selbsternannter Monarch stand. 1988 zerbrach die Kommune, Muehl wurde wegen sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung Minderjähriger zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nicht nur Otto Muehl wurde die vermeintliche „Befreiung der kindlichen Sexualität“ zum Verhängnis, wie man an der Pädophilie-Debatte im letzten deutschen Wahlkampf sehen konnte.

"This is still a demo" - Regenbogenparade 2013. Foto Dieter Diskovic

Von der Abschaffung des Leibes, politischem Lesbianismus und Ökofeminismus

Die sogenannte zweite Frauenbewegung  kritisierte die vermeintliche sexuelle Befreiung jedoch als reine Befreiung der männlichen Sexualität, während es Frauen dem Zwang der permanenten Verfügbarkeit und einem „Orgasmus-Terror“ aussetzte. Auch die konservative Arbeitsteilung innerhalb der Linken wurde angegriffen.

Die radikale Feministin Shulamith Firestone richtete ihre Kritik nicht nur gegen die Kleinfamilie, sondern sah insbesondere in der Reproduktionsfähigkeit der Frau die Basis der Frauenunterdrückung. Nur die Abschaffung des biologischen (gebärenden) Körpers kann die (sexuelle) Befreiung der Frau ermöglichen, weswegen sie auch eine vehemente Befürworterin von Reproduktionstechnologien war – oder in den Worten von Claudia von Werlhof: „Ohne Leib keine Leibeigenschaft“. Firestones ideale Gesellschaft kommt also ohne biologische Familien aus, die Abschaffung der natürlichen Reproduktion soll zur sexuellen Befreiung führen.

Die Forderung nach dem Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung war anfangs mit Heterosexualität gleichgesetzt. Durch die Festlegung der Heterosexualität als Norm wurde lesbische Sexualität nicht nur ignoriert, sondern auch als nicht „normal“ und „unnatürlich“ aufgefasst. Dies führte zum lesbischen Feminismus, der die Fragen aufwarf, ob heterosexuelles Begehren von Frauen tatsächlich natürlich sei oder ob dieses nicht in patriarchalen Gesellschaften erzwungen werde. Weibliche Homosexualität wurde weniger mit einer natürlichen Präferenz begründet, sondern als politische Praxis gelebt – unter dem Motto „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“.

In den 1980ern entstand – beeinflusst von der Umweltbewegung – der Ökofeminismus, der einen Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Natur und der Frauen herstellte. Aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit wurden der Frau eine besondere Nähe zur Natur und eine wichtige Rolle für die ökologische Erneuerung unterstellt. Diese Konzepte von einer „natürlichen Weiblichkeit“, die Stereotype begünstigen, konnten sich jedoch innerhalb der feministischen Theorien nicht lange halten. Bereits Mitte der 1980er entstand in der feministischen Theorie die Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, der Geschlechtsidentität, die durch Sozialisierung entsteht.

Gibt es eine natürliche Sexualität?

Insbesondere die Theorien von Michel Foucault brachten die Vorstellung einer „natürlichen“ Sexualität ins Wanken. Laut Foucault sind unsere heutigen Vorstellungen von Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, als moderne Staaten begannen, sich für die Reproduktion der Bevölkerung – und damit für ihre Sexualität – zu interessieren. Diese vom Staat betriebene „Bio-Politik“ äußert sich u.a. in Form von Abtreibungsgesetzen, Gesundheitsmaßnahmen oder Geburtenstatistiken. Sexualität ist also historisch und sozial konstruiert und immer mit Machtverhältnissen verbunden. Es gibt daher auch keine naturgegebene „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität. Die Philosophin Judith Butler übernahm diesen Gedanken und ging einen Schritt weiter: Butler sieht weder gender noch sex als naturgegebenen an. Das biologische Geschlecht bzw. die Zweigeschlechtlichkeit wird durch die vorherrschende Zwangsheterosexualität hervorgebracht – und hat mit Natur nichts zu tun. 

Dem naturalistischen Modell wurden aber auch zahlreiche kultur- und sozialanthropologische Studien entgegengesetzt. Sie konnten zeigen, dass Sexualität in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich konzipiert wird – es gibt also eine Vielfalt von Sexualitäten anstatt einer natürlichen Sexualität.

Sex sells... Foto: Dieter Diskovic

Was bleibt?
Die sexuelle Revolution hat nachhaltige Spuren hinterlassen, unzählige Tabus und Schranken sind gefallen. Während jedoch die Promiskuität der beruflich erfolgreichen Menschen der Mittel- und Oberschicht gefeiert wird, gilt dies weniger für Menschen der Arbeiter_innenklasse (man vergleiche den Glamour-Sex von Sex and the City und die Figur der Vicky Pollard in Little Britain). Auch ist das neoliberal-kapitalistische System weit davon entfernt, sich von Änderungen der Sexualmoral gefährdet zu fühlen. Vielmehr wurden die subkulturellen Strömungen vereinnahmt, die Sexualität zum großen Geschäft. Gerade die Vorstellung von einer authentischen oder natürlichen Sexualität findet sich in unzähligen Kursen und Ratgebern wieder – die freie Sexualität ist zu einem Markenprodukt geworden.

Auch von einer „Generation Porno“ ist die Rede, also von jungen Menschen, die durch die ständige Verfügbarkeit von pornographischem Material mit den übertriebenen Inszenierungen der Pornoindustrie aufwachsen und dadurch einem sexuellen Leistungsdruck unterliegen. Vermarktbarkeit und Leistungsdruck – damit haben sich die Vorstellungen von Sexualität an die Paradigmen der gegenwärtigen Ökonomie angepasst. Die Kämpfe sexueller Minderheiten um vollständige Anerkennung und Gleichstellung können auf der einen Seite Erfolge vorweisen, auf der anderen Seite ist in vielen Ländern ein reaktionärer Backlash wahrnehmbar, etwa in Spanien, wo das Abtreibungsgesetz wieder verschärft werden soll oder in Russland, wo „homosexuelle Propaganda“ in der Öffentlichkeit verboten wurde. Experimente mit kollektiver Sexualität dienen mittlerweile eher der Selbstfindung oder als hedonistisches Vergnügen. Die Propagierung einer „natürlichen“ Sexualität als gesellschaftsverändernde Praxis hat hingegen ihre politische Relevanz verloren.

 

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

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