Selbstverwaltung

Abhängiges Tutoriumsprojekt

  • 18.06.2017, 17:20
Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Erste Oktoberwoche, 18. Wiener Gemeindebezirk, Türkenschanzpark. Auf einer Wiese stehen aufgeregte BOKU-Erstsemestrige in kleinen Gruppen. Sie werden bald Kennenlernspiele machen, ihren Campus erkunden und Tipps und Tricks für den Unialltag mit auf den Weg bekommen. Dazu gehören zum Beispiel auch Hinweise, wie sich Lerngruppen organisieren lassen oder für welche Fächer besonders viel gelernt werden muss. An den meisten Hochschulen in Österreich spielen sich zu Semesterbeginn ähnliche Szenen ab: Es handelt sich um das Erstsemestrigentutorium. Die Tutor_innen sind Studierende in höheren Semestern, die alle ein spezielles Seminar absolviert haben. Dort haben sie gelernt, wie sich Gruppen motivieren lassen, wie Teambuilding funktioniert und wie sie Erstsemestrige am besten an das Hochschulleben heranführen können. Finanziert werden diese Seminare, in denen Tutor_innen ausgebildet werden, vom Unabhängigen Tutoriumsprojekt (TutPro) der ÖH-Bundesvertretung. Doch im Tutoriumsprojekt wird sich nach einem Beschluss auf einer Sitzung der Bundesvertretung Mitte Mai vieles ändern – das Tutoriumsprojekt wird eine komplett neue Struktur bekommen und fürchtet deswegen vor allem um seine Unabhängigkeit.

Anders als die meisten Projekte der ÖH-Bundesvertretung werden Tutorien und Trainer_innenausbildungen des TutPro überwiegend nicht aus den Mitgliedsbeiträgen der Studierenden, sondern zu drei Viertel vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (bmwfw) bezahlt. Die Erstsemestrigentutorien stellen den Löwenanteil der finanzierten Tutorien dar: Rund 90 Prozent der Tutorien dienen Neulingen an den Hochschulen zur Orientierung. Besonders wichtig ist dies für Studierende, deren Eltern und Familie keinen akademischen Background haben: Arbeiter_innenkinder haben es besonders in der ersten Zeit schwer an Unis und Hochschulen. Manchmal gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Studienvertretungen, Universitätsvertretungen, Fakultäten oder ganzen Hochschulen. Grundsätzlich findet die Organisation aber in selbstverwalteten Gruppen statt, den sogenannten Projektgruppen. Neben den Erstsemestrigentutorien finanziert das TutPro auch sogenannte „Thementutorien“. Diese richten sich auch an höhersemestrige Studierende und befassen sich meistens mit Diskriminierungsformen und Möglichkeiten, diesen entgegenzutreten. So gab es zum Beispiel immer wieder Tutorien zum Thema Geschlecht, HomoBiTrans-Tutorien, solche für ausländische Studierende und in diesem Studienjahr auch erstmals ein Tutorium, das sich mit Alter als Diskriminierungsfaktor auseinandersetzte. „Bei den Thementutorien, die ich trainiert habe, ging es vor allem um Self-Empowerment. Teilgenommen haben meist Menschen, die sich mit dem Thema schon auf irgendeine Art und Weise auseinandergesetzt haben. Natürlich hatten trotzdem alle unterschiedliche Erfahrungen und Wissensstände, was durchaus eine Herausforderung war“, erzählt Sarah Kanawin, die seit 2006 Tutorien anbietet und mittlerweile Trainerin ist, also Tutor_innen ausbildet.

SELBSTORGANISIERT. Mit den klassischen Tutorien, die innerhalb der Universität zur Vertiefung einzelner Fächer eingesetzt werden, haben aber weder Erstsemestrigen- noch Thementutorien etwas zu tun. Die Anfänge des TutPro liegen in den 1970er Jahren. Im Zuge der Studierendenbewegung lernten Studierende an technischen Universitäten in selbstverwalteten Gruppen. Aus dieser Bewegung entwickelten sich dann die ersten Erstsemestrigentutorien und das TutPro. Wichtigster Gedanke war damals die Emanzipation von der Hochschule und von Lehrplänen als „allwissende“ Instanzen, hin zu einer Selbstermächtigung und -organisation. Statt von einer einzigen Autorität sollten die Studierenden auch von- und miteinander lernen, was besonders beim Infragestellen von Diskriminierungsstrukturen ein entscheidender Faktor ist. Auch die Selbstorganisation war dem TutPro immer schon wichtig – engagierte Studierende sollten die Tutorien selbst organisieren und dies nicht Fakultäten und Hochschulen überlassen. Im TutPro werden also seit über 40 Jahren jene Fähigkeiten vermittelt, die heute unter dem Begriff Soft Skills Hochkonjunktur haben und mittlerweile auch in Studienpläne Einzug gefunden haben. Die Idee dahinter ist jedoch nicht der neoliberale Geist der Selbstoptimierung, der das Sammeln von möglichst vielen Skills beinhaltet, sondern das solidarische Vermitteln von Fähigkeiten, die den Universitätsalltag erleichtern.

KOMPLEXE STRUKTUR. Dieser emanzipatorische Grundgedanke erklärt auch, dass das TutPro im Lauf der Jahre eine relativ komplexe Struktur entwickelt hat, die dazu beitragen soll, dass einerseits die Unabhängigkeit von Hochschul-, Partei- und Fraktionsinteressen gewahrt bleibt und andererseits möglichst viele Menschen sich an dem Projekt beteiligen können. Die Verankerung innerhalb der ÖH-Bundesvertretung entstand Ende der 90er Jahre, als die Hochschulen gesetzlich verpflichtet wurden, die Dropout- Raten zu senken. Gemeinsam mit der Bundesvertretung und dem TutPro wurde sich auf ein dreisäuliges Modell geeinigt, das gemeinsame Finanzierung durch ÖH und Ministerium sowie die Unabhängigkeit des TutPro beinhaltete. Bei Änderungen der Verträge sollten stets alle drei Partner_innen zustimmen. Die kleinste Einheit der „partizipationsorientierten Organisationsstruktur“ des TutPro sind die Projektgruppen. Weil jedes Thema, jede Hochschule und oft auch jedes Institut eigene Anforderungen hat, gibt es autonome Projektgruppen, die die jeweiligen Tutorien organisieren, zum Beispiel ein Erstsemestrigentutorium an der Uni Klagenfurt oder ein Thementutorium zum Thema Rassismus einer Projektgruppe in Wien. In Wien und Graz existieren Regionalkreise, die den Tutor_innen in diesen Städten Raum bieten, sich auszutauschen und zu vernetzen. Außerdem organisieren die Regionalkreise Workshops zur Projekteinreichung und sorgen so dafür, dass die Eintrittsschwelle für neue Projektgruppen möglichst niedrig bleibt.

[[{"fid":"2467","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto einer Studentin in den Gängen der Universität Wien. Sie ist scharf zu sehen, alle anderen sind verschwommen. Es entsteht ein Eindruck von Orientierungslosigkeit","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Sarah Langoth"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto einer Studentin in den Gängen der Universität Wien. Sie ist scharf zu sehen, alle anderen sind verschwommen. Es entsteht ein Eindruck von Orientierungslosigkeit","title":"Foto: Sarah Langoth","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

 

Strukturelle Entscheidungen werden auf sogenannten Koordinationstreffen getroffen. Dreimal im Jahr fahren Menschen aus Projektgruppen auf diese Treffen, auf denen konsensorientiert über Themen wie Grundsätze, Richtlinien für Tutorien und Verhandlungen, aber auch über finanzielle Fragen wie Trainer_innenhonorare und Sätze für Übernachtungskosten diskutiert wird. Wie in fast jeder basisdemokratischen Gruppe gab es auch im TutPro immer wieder Diskussionen und Kritik wegen informeller Hierarchien. Mittels verschiedenster Ansätze wurde versucht, diese so weit wie möglich zu beseitigen. „Das TutPro war nie ein rein linkes Projekt, für viele Beteiligte war es die erste politische Erfahrung. Natürlich haben dadurch Prozesse oft lange gedauert, aber es wurde immer versucht, einen Konsens zu finden. Dieser Prozess war wichtig für viele“, erklärt Sarah Kanawin. Alle administrativen Aufgaben erledigt die Zentralkoordination, die über ein Büro in den Räumlichkeiten der ÖH-Bundesvertretung in der Wiener Taubstummengasse verfügt. Die Mitglieder der Zentralkoordination sind Sachbearbeiter_ innen der ÖH-BV und werden vom Koordinationstreffen bestimmt. Doch mit dieser selbstverwalteten Struktur wird nun Schluss sein.

 

AUSSCHUSS STATT PLENUM. Kurz vor der letzten ÖH-Wahl beschloss die Bundesvertretung mit den Stimmen von FLÖ, VSStÖ, RFS und AG einen Antrag, der die Struktur des TutPros komplett neu regelt. An die Stelle der Sachbearbeiter_innen der Zentralkoordination tritt eine festangestellte Person, die administrative Aufgaben übernehmen soll. Die Entscheidungen, die auf dem Koordinationstreffen getroffen wurden, werden künftig von einem Ausschuss der ÖH-BV übernommen. Dieser besteht aus elf Personen, die von den Fraktionen gemäß Wahlergebnis entsendet werden. Einzig die Fachschaftslisten haben noch im Wahlkampf Stellung zu dieser Änderung genommen. Sie argumentieren vor allem damit, dass die administrativen Aufgaben so besser erledigt werden könnten und dass Anträge künftig nach klareren Richtlinien entschieden würden. Insgesamt wird dem TutPro Willkür vorgeworfen, so seien Menschen von Koordinationstreffen weggeschickt worden. Das TutPro hat in einer ausführlichen Stellungnahme auf die Argumente der FLÖ geantwortet und beruft sich auf die geltenden Richtlinien, die klar und transparent seien. Somit seien Menschen, die sich in ÖH-Fraktionen engagieren, bei Entscheidungen, die sie als fraktionierte Menschen betreffen, nicht stimmberechtigt, dies sei aber klar kommuniziert gewesen. Über Jahre waren fraktionierte Tutor_ innen immer wieder ein Streitpunkt. Das Erstsemestrigentutorium bietet sich für ÖH-Fraktionen natürlich an, um gleich in der ersten Uniwoche Rekrutierungsund Agitationsversuche zu starten. „Es gab auch immer wieder Versuche, das TutPro politisch zu instrumentalisieren, ob positiv oder negativ. Meistens war den Fraktionen das TutPro aber egal, wenn nicht gerade Wahlzeit war“, so Gerda Kolb, die ihre Karriere als hauptberufliche Trainerin im TutPro begonnen hat und Ende der 90er Teil der Zentralkoordination war. Durften bisher nur 20 Prozent der Tutor_innen einer Fraktion angehören, so wird dieser Anteil nun auf 50 Prozent erhöht. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade jene Fraktion, die sich im Wahlkampf für eine „offene ÖH“ und gegen ein „Freunderlwirtschaftssystem“, bei dem Posten vor allem an fraktionierte Personen verteilt werden, ausspricht, die offene Struktur des TutPro beendet. Der neue TutPro-Vertrag, in dem ÖH und Ministerium die Finanzierung und Struktur des TutPro festlegen, wurde angeblich gemeinsam von FLÖ und AG im Vorfeld verhandelt. Die Trainer_ innen wissen aktuell nicht, wie es weitergehen wird – für viele sind TutPro-Seminare eine Einnahmequelle. „Von Seiten der BV gab es null Kommunikation“, beklagt Gerda Kolb.

In dem Konflikt um das TutPro sind zwei Philosophien aufeinandergetroffen. Die emanzipatorische, offene Struktur, deren basisdemokratische Entscheidungen längere Zeit in Anspruch nehmen und das vor allem durch das Engagement vieler Freiwilliger lebte auf der einen Seite, das serviceorientierte, an Fraktionsinteressen gebundene Finanzierungsinstrument für Erstsemestrigentutorien auf der anderen Seite.

„Das wirkliche Potential des Projektes lag für mich darin, Menschen mit Diskriminierungsstrukturen vertraut zu machen, die zum ersten Mal davon hören, und zu sehen, dass ein Reflexionsprozess beginnt“, sagt Sarah Kanawin. Ob die emanzipatorischen Grundsätze des TutPro auch zukünftig an kommende Tutor_innen-Generationen und damit auch Erstsemestrige weitergegeben werden, bleibt zu bezweifeln. Zu befürchten ist, dass die Fraktionen nun verstärkt Einfluss auf Tutorien und Tutlinge nehmen werden.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Ein Leben (fast) ohne Supermarkt

  • 10.06.2014, 16:04

Auf der Suche nach nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln schließen sich immer mehr Menschen zu Foodcoops zusammen. progress hat sich angesehen, wie ein Leben fast ohne Supermarkt funktionieren kann.

Auf der Suche nach nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln schließen sich immer mehr Menschen zu Foodcoops zusammen. progress hat sich angesehen, wie ein Leben fast ohne Supermarkt funktionieren kann.

Dienstagabend in einem Kellergeschoss im 15. Wiener Gemeindebezirk. In den Räumen des PerpetuuMobile 2.3 stapeln sich Kisten mit Gemüse, Getreide, Nudeln und Sojaprodukten. Dazwischen wuseln Menschen umher, vergleichen den Inhalt der Kisten mit Listen und wiegen Erdäpfel, Frühlingszwiebeln, Salat, Rüben und Pastinaken ab. Es ist Abholtag in der vegan food coop, einer von über 20 Foodcoops in Österreich. Gerade ist eine Lieferung eingetroffen, frisch vom Bauernhof.

„Ich hatte sehr lange Zeit eine Biokiste, aber ich wollte dann noch einen Schritt weiter gehen. Ich wollte wissen, wo mein Essen herkommt“, erzählt Christina. Sie studiert an der BOKU und ist seit anderthalb Jahren Mitglied der vegan food coop. Der Kontakt zu Produzent_innen ist ihr besonders wichtig: „Ich kann hier wirklich sehen und nachprüfen, wie meine Lebensmittel angebaut werden. Wir organisieren öfters Reisen zu Bauernhöfen und können uns anschauen, wie die wirtschaften.“

Genossenschaftlich organisiert. Foodcoops oder Lebensmittelkooperativen sind keine neue Erfindung. Schon im 19. Jahrhundert wurde in Großbritannien die erste Konsumgemeinschaft gegründet. Im Kontext der beginnenden Industrialisierung schlossen sich Arbeiter_innen zusammen, um der Abhängigkeit von Händler_innen, denen oft Betrug und der Verkauf minderwertiger Ware vorgeworfen wurden, zu entfliehen und organisierten den Einkauf ihrer Lebensmittel gemeinsam. Eine Foodcoop funktioniert im Prinzip genauso: Gemeinsam wird entschieden, was und wo eingekauft wird. Auch heute ist die Motivation vor allem das fehlende Vertrauen in die vorhandenen Strukturen wie Supermärkte oder Diskonter. „Für manche Dinge gehe ich schon noch in den Supermarkt, nicht alles kann ich über die Foodcoop besorgen. Aber immer öfters verlasse ich in den Supermarkt, ohne etwas gekauft zu haben, weil ich alles, was mir interessant erscheint, auch in der Foodcoop bekomme“, sagt Christina.

Nicht weit entfernt vom PerpetuuMobile 2.3, das sich die vegan food coop mit einer Siebdruckerei und diversen anderen linken Projekten teilt, hat eine der ältesten Foodcoops Wiens ihr Lokal. In den hellen Räumlichkeiten von D’Speis riecht es wie im Bioladen, neben Gemüse stehen hier auch Wein, Bier, Öl und Essig in den Regalen. Lange Bestelllisten hängen an der Wand, in verschiedenen Kühlschränken warten Milchprodukte, Tofu und Fleisch darauf, abgeholt zu werden. Samuel, der seit fast zwei Jahren bei D’Speis aktiv ist, hat auch davor schon Bio-Lebensmittel gekauft und ist dumpstern gegangen. „Für mich gab es mehrere Gründe, einer Foodcoop beizutreten: Einerseits natürlich die Qualität und der Preis der Lebensmittel. Andererseits ist eine Foodcoop auch ein politisches Statement. Wir sind nicht von Supermärkten oder Großhändler_innen abhängig, sondern bestimmen selbst, was wir wann einkaufen und unterstützen damit Kleinbäuer_innen.“ Dazu kommt für Samuel noch die soziale Komponente. Er grinst und erzählt: „Wenn ich mein Zeug in der Speis abhole, muss ich dafür immer mindestens eine Stunde einrechnen. Nicht, weil das Abholen so lange dauert, sondern weil ich hier Menschen treffe und mit ihnen plaudere.“ Dabei schätzt der Student es sehr, aus seinem gewohnten Umfeld herauszukommen und sich auch mal mit älteren Menschen auszutauschen.

Gemüsekisten in einer foodcoop

Unregelmässige Regelmässigkeit. In der vegan food coop wird es derweil ruhiger, der große Andrang ist vorbei. Jede Woche ist eine andere Person dafür zuständig, das Lokal aufzusperren, damit alle Mitglieder der Foodcoop ihre bestellten Lebensmittel abholen können. „In unregelmäßiger Regelmäßigkeit kann sich jede_r online für diesen Dienst eintragen“, erklärt Christina. Alle Aufgaben in der Foodcoop werden abwechselnd übernommen: Die Bestellungen werden online gesammelt und an die Produzent_innen übermittelt, neue Produzent_innen oder Produkte, die für die Foodcoop interessant sein könnten, werden gesucht und der Kontakt mit den Produzent_innen muss aufrecht erhalten werden. „Wir nennen das Produzent_innenrelationshipmanagement“, erklärt die Studentin. Bei welchen Bäuer_innen bestellt wird, entscheidet die Foodcoop basisdemokratisch im Plenum. Dort werden auch für eine rein vegane Gruppe heikle Diskussionen geführt. Etwa, ob sich Produkte wie Honig mit den Prinzipien der Foodcoop vereinen lassen. Diese Selbstbestimmung kostet Zeit und Engagement. Christina wird nachdenklich, als sie erklärt, dass Foodcoops nicht für jede_n das Richtige seien: „In den Supermarkt zu gehen, ist bequem, in der Foodcoop musst du die Arbeit der Kassiererin selbst übernehmen und den Preis deiner Bestellung auf einem Kontoblatt ausrechnen. Wer in einer Foodcoop einkaufen will, muss bereit sein, Aufgaben zu übernehmen.“

Basisdemokratie für Anfänger_innen. Bei D’Speis, die ungefähr 70 Mitglieder zählt, überlegt man sich, wie damit umgegangen werden kann, wenn nicht alle, die von der Foodcoop profitieren, auch Aufgaben übernehmen: „Grundsätzlich ist unser Motto, dass sich alle entsprechend ihrer Fähigkeiten einbringen sollen, aber leider gibt es schon aktivere und weniger aktive Leute. Für Neulinge wollen wir ein Buddy-System einführen, damit sie anfangs von erfahrenen Mitgliedern lernen, wie die einzelnen Arbeitsschritte in der Foodcoop erledigt werden“, erzählt Samuel. Die Foodcoop versucht auch, gezielt Menschen aus der Nachbarschaft anzusprechen und einzubinden. So beteiligen sich neben Studierenden auch einige ältere Menschen, vor allem Frauen – trotz Hürden, wie Samuel berichtet: „Das ist schwierig, weil unsere Organisationsform auf den ersten Blick chaotisch wirkt. Viele erleben bei uns zum ersten Mal ein basisdemokratisches Plenum und müssen sich erst mit dieser Art der Entscheidungsfindung anfreunden.“ Das monatliche Plenum von D’Speis läuft aber gut, auch wenn es schon mal voll werden oder lange dauern kann. Große ideologische Fragen werden auf Klausuren geklärt und verschiedene Arbeitskreise entlasten das Plenum bei alltäglichen Arbeiten. 

Beim Salzkörndl gibt es noch keine Probleme mit untätigen Mitgliedern. Die Foodcoop hat sich im letzten Sommer in Salzburg gegründet und besteht derzeit aus 35 bis 40 Leuten, vor allem Studierenden. Luisa ist eine von ihnen, sie kannte das Prinzip der Foodcoops von Freund_innen aus Berlin. „Aus meinem erweiterten Freundeskreis erfuhr ich, dass geplant war, in Salzburg eine Foodcoop zu gründen. Ich war also von Anfang an dabei. Die Gründung war ein langer Prozess, schon die Namensfindung war nicht so leicht, und dann mussten wir auch noch ein Lokal finden.“ Die junge Foodcoop trifft sich alle zwei Wochen und versucht gemeinsam, neue Lieferant_innen zu finden, um das Produktsortiment zu erweitern. Dieses besteht derzeit aus Gemüse, Eiern, Milchprodukten, Brot, Getreide und Hülsenfrüchten, die alle regional und biologisch angebaut werden. „Nicht alle Produzent_innen haben das Bio-Siegel, auch wenn sie nach diesen Kriterien anbauen. Wir schauen uns die Betriebe genau an und wenn wir ihnen vertrauen, müssen die Lebensmittel nicht zertifiziert sein. Persönlicher Kontakt ist dafür natürlich eine Voraussetzung“, erzählt Luisa. Neben den regionalen Produkten gibt es bei Salzkörndl auch Fairtrade-Kaffee und Selbstgemachtes: „Jede Woche macht eine andere Person von uns einen Aufstrich, der dann gegen freie Spende mitgenommen werden kann. Manchmal organisieren wir auch BrotbackWorkshops.“

Wenn Samuel und Christina von den nicht-regionalen Lebensmitteln erzählen, die die Wiener Foodcoops gemeinsam bestellen, klingen sie beinahe so, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Neben Kaffee von linken Genossenschaften aus Südamerika gibt es Zitrusfrüchte und Avocados aus Italien. „Unsere Lebensmittel sind regional, mit Ausnahmen, wo es nicht anders geht. Zusätzlich versuchen wir, unsere Sachen möglichst unverpackt oder mit Pfandsystemen zu bekommen“, erklärt Samuel die Kriterien von D’Speis. Neben den Avocados und Zitronen bestellen die gut vernetzten Wiener Foodcoops auch andere Lebensmittel gemeinsam, zum Beispiel Nudeln, Hülsenfrüchte oder Getreide. Um Letzteres selbst weiterverarbeiten zu können, besitzt D’Speis eine Getreidemühle und eine Haferflockenpresse, die von allen Mitgliedern der Lebensmittelkooperative benutzt werden kann. Eine kooperativenübergreifende Brotbackgruppe bäckt mit dem selbst gemahlenen Mehl. „Es gibt auch eine Tofugruppe, die für alle Wiener Foodcoops Tofu produziert“, erzählt Samuel begeistert und beginnt zu träumen: „In Zukunft wäre es toll, auch eigene Felder oder Gärten in der Umgebung zu haben und Foodcoops mit der Ernte zu beliefern.“ So könnte nach und nach eine kleine Wirtschaft nach den Vorstellungen der Lebensmittelkooperativen entstehen: solidarisch, regional, nachhaltig und selbstverwaltet.

Grenzen des Wachstums. Eine andere alternative Form der Lebensmittelbeschaffung ist Community Supported Agriculture (CSA), das wie eine Art Crowdfunding für Landwirt_innen funktioniert: Bereits vor dem Anbau wird gemeinsam entschieden, was angebaut wird. Durch zugesicherte Abnahmemengen können die Bäuer_innen besser planen und sind finanziell abgesichert. „Foodcoops und CSA gehen Hand in Hand“, erklärt Christina: „Die vegan food coop ist auch eine Abholstelle für einen CSA-Hof. Die Foodcoop selbst hat aber keine Anteile und kein Mitbestimmungsrecht.“

Foodcoops werden zunehmend zu einer Konkurrenz für (Bio-)Supermärkte, denn viele von ihnen wachsen stetig. Auch das Salzkörndl will größer werden: „In Zukunft wollen wir bis zu 60 Mitglieder haben. Alles darüber ist zu groß“, so Luisa. Bei D’Speis hat man diese Erfahrung schon gemacht. Samuel berichtet von einer freundschaftlichen Abspaltung: „Als wir zu viele wurden, haben einige von uns eine neue Foodcoop gegründet. Sie konnten dabei von unseren Erfahrungen profitieren. Das ist das Ziel: viele kleine Foodcoops, in jedem Grätzel eine!“

 

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Webtipp: Verzeichnis aller österreichischen Foodcoops: foodcoops.at