Selbstorganisation

Abhängiges Tutoriumsprojekt

  • 18.06.2017, 17:20
Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Erste Oktoberwoche, 18. Wiener Gemeindebezirk, Türkenschanzpark. Auf einer Wiese stehen aufgeregte BOKU-Erstsemestrige in kleinen Gruppen. Sie werden bald Kennenlernspiele machen, ihren Campus erkunden und Tipps und Tricks für den Unialltag mit auf den Weg bekommen. Dazu gehören zum Beispiel auch Hinweise, wie sich Lerngruppen organisieren lassen oder für welche Fächer besonders viel gelernt werden muss. An den meisten Hochschulen in Österreich spielen sich zu Semesterbeginn ähnliche Szenen ab: Es handelt sich um das Erstsemestrigentutorium. Die Tutor_innen sind Studierende in höheren Semestern, die alle ein spezielles Seminar absolviert haben. Dort haben sie gelernt, wie sich Gruppen motivieren lassen, wie Teambuilding funktioniert und wie sie Erstsemestrige am besten an das Hochschulleben heranführen können. Finanziert werden diese Seminare, in denen Tutor_innen ausgebildet werden, vom Unabhängigen Tutoriumsprojekt (TutPro) der ÖH-Bundesvertretung. Doch im Tutoriumsprojekt wird sich nach einem Beschluss auf einer Sitzung der Bundesvertretung Mitte Mai vieles ändern – das Tutoriumsprojekt wird eine komplett neue Struktur bekommen und fürchtet deswegen vor allem um seine Unabhängigkeit.

Anders als die meisten Projekte der ÖH-Bundesvertretung werden Tutorien und Trainer_innenausbildungen des TutPro überwiegend nicht aus den Mitgliedsbeiträgen der Studierenden, sondern zu drei Viertel vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (bmwfw) bezahlt. Die Erstsemestrigentutorien stellen den Löwenanteil der finanzierten Tutorien dar: Rund 90 Prozent der Tutorien dienen Neulingen an den Hochschulen zur Orientierung. Besonders wichtig ist dies für Studierende, deren Eltern und Familie keinen akademischen Background haben: Arbeiter_innenkinder haben es besonders in der ersten Zeit schwer an Unis und Hochschulen. Manchmal gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Studienvertretungen, Universitätsvertretungen, Fakultäten oder ganzen Hochschulen. Grundsätzlich findet die Organisation aber in selbstverwalteten Gruppen statt, den sogenannten Projektgruppen. Neben den Erstsemestrigentutorien finanziert das TutPro auch sogenannte „Thementutorien“. Diese richten sich auch an höhersemestrige Studierende und befassen sich meistens mit Diskriminierungsformen und Möglichkeiten, diesen entgegenzutreten. So gab es zum Beispiel immer wieder Tutorien zum Thema Geschlecht, HomoBiTrans-Tutorien, solche für ausländische Studierende und in diesem Studienjahr auch erstmals ein Tutorium, das sich mit Alter als Diskriminierungsfaktor auseinandersetzte. „Bei den Thementutorien, die ich trainiert habe, ging es vor allem um Self-Empowerment. Teilgenommen haben meist Menschen, die sich mit dem Thema schon auf irgendeine Art und Weise auseinandergesetzt haben. Natürlich hatten trotzdem alle unterschiedliche Erfahrungen und Wissensstände, was durchaus eine Herausforderung war“, erzählt Sarah Kanawin, die seit 2006 Tutorien anbietet und mittlerweile Trainerin ist, also Tutor_innen ausbildet.

SELBSTORGANISIERT. Mit den klassischen Tutorien, die innerhalb der Universität zur Vertiefung einzelner Fächer eingesetzt werden, haben aber weder Erstsemestrigen- noch Thementutorien etwas zu tun. Die Anfänge des TutPro liegen in den 1970er Jahren. Im Zuge der Studierendenbewegung lernten Studierende an technischen Universitäten in selbstverwalteten Gruppen. Aus dieser Bewegung entwickelten sich dann die ersten Erstsemestrigentutorien und das TutPro. Wichtigster Gedanke war damals die Emanzipation von der Hochschule und von Lehrplänen als „allwissende“ Instanzen, hin zu einer Selbstermächtigung und -organisation. Statt von einer einzigen Autorität sollten die Studierenden auch von- und miteinander lernen, was besonders beim Infragestellen von Diskriminierungsstrukturen ein entscheidender Faktor ist. Auch die Selbstorganisation war dem TutPro immer schon wichtig – engagierte Studierende sollten die Tutorien selbst organisieren und dies nicht Fakultäten und Hochschulen überlassen. Im TutPro werden also seit über 40 Jahren jene Fähigkeiten vermittelt, die heute unter dem Begriff Soft Skills Hochkonjunktur haben und mittlerweile auch in Studienpläne Einzug gefunden haben. Die Idee dahinter ist jedoch nicht der neoliberale Geist der Selbstoptimierung, der das Sammeln von möglichst vielen Skills beinhaltet, sondern das solidarische Vermitteln von Fähigkeiten, die den Universitätsalltag erleichtern.

KOMPLEXE STRUKTUR. Dieser emanzipatorische Grundgedanke erklärt auch, dass das TutPro im Lauf der Jahre eine relativ komplexe Struktur entwickelt hat, die dazu beitragen soll, dass einerseits die Unabhängigkeit von Hochschul-, Partei- und Fraktionsinteressen gewahrt bleibt und andererseits möglichst viele Menschen sich an dem Projekt beteiligen können. Die Verankerung innerhalb der ÖH-Bundesvertretung entstand Ende der 90er Jahre, als die Hochschulen gesetzlich verpflichtet wurden, die Dropout- Raten zu senken. Gemeinsam mit der Bundesvertretung und dem TutPro wurde sich auf ein dreisäuliges Modell geeinigt, das gemeinsame Finanzierung durch ÖH und Ministerium sowie die Unabhängigkeit des TutPro beinhaltete. Bei Änderungen der Verträge sollten stets alle drei Partner_innen zustimmen. Die kleinste Einheit der „partizipationsorientierten Organisationsstruktur“ des TutPro sind die Projektgruppen. Weil jedes Thema, jede Hochschule und oft auch jedes Institut eigene Anforderungen hat, gibt es autonome Projektgruppen, die die jeweiligen Tutorien organisieren, zum Beispiel ein Erstsemestrigentutorium an der Uni Klagenfurt oder ein Thementutorium zum Thema Rassismus einer Projektgruppe in Wien. In Wien und Graz existieren Regionalkreise, die den Tutor_innen in diesen Städten Raum bieten, sich auszutauschen und zu vernetzen. Außerdem organisieren die Regionalkreise Workshops zur Projekteinreichung und sorgen so dafür, dass die Eintrittsschwelle für neue Projektgruppen möglichst niedrig bleibt.

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Strukturelle Entscheidungen werden auf sogenannten Koordinationstreffen getroffen. Dreimal im Jahr fahren Menschen aus Projektgruppen auf diese Treffen, auf denen konsensorientiert über Themen wie Grundsätze, Richtlinien für Tutorien und Verhandlungen, aber auch über finanzielle Fragen wie Trainer_innenhonorare und Sätze für Übernachtungskosten diskutiert wird. Wie in fast jeder basisdemokratischen Gruppe gab es auch im TutPro immer wieder Diskussionen und Kritik wegen informeller Hierarchien. Mittels verschiedenster Ansätze wurde versucht, diese so weit wie möglich zu beseitigen. „Das TutPro war nie ein rein linkes Projekt, für viele Beteiligte war es die erste politische Erfahrung. Natürlich haben dadurch Prozesse oft lange gedauert, aber es wurde immer versucht, einen Konsens zu finden. Dieser Prozess war wichtig für viele“, erklärt Sarah Kanawin. Alle administrativen Aufgaben erledigt die Zentralkoordination, die über ein Büro in den Räumlichkeiten der ÖH-Bundesvertretung in der Wiener Taubstummengasse verfügt. Die Mitglieder der Zentralkoordination sind Sachbearbeiter_ innen der ÖH-BV und werden vom Koordinationstreffen bestimmt. Doch mit dieser selbstverwalteten Struktur wird nun Schluss sein.

 

AUSSCHUSS STATT PLENUM. Kurz vor der letzten ÖH-Wahl beschloss die Bundesvertretung mit den Stimmen von FLÖ, VSStÖ, RFS und AG einen Antrag, der die Struktur des TutPros komplett neu regelt. An die Stelle der Sachbearbeiter_innen der Zentralkoordination tritt eine festangestellte Person, die administrative Aufgaben übernehmen soll. Die Entscheidungen, die auf dem Koordinationstreffen getroffen wurden, werden künftig von einem Ausschuss der ÖH-BV übernommen. Dieser besteht aus elf Personen, die von den Fraktionen gemäß Wahlergebnis entsendet werden. Einzig die Fachschaftslisten haben noch im Wahlkampf Stellung zu dieser Änderung genommen. Sie argumentieren vor allem damit, dass die administrativen Aufgaben so besser erledigt werden könnten und dass Anträge künftig nach klareren Richtlinien entschieden würden. Insgesamt wird dem TutPro Willkür vorgeworfen, so seien Menschen von Koordinationstreffen weggeschickt worden. Das TutPro hat in einer ausführlichen Stellungnahme auf die Argumente der FLÖ geantwortet und beruft sich auf die geltenden Richtlinien, die klar und transparent seien. Somit seien Menschen, die sich in ÖH-Fraktionen engagieren, bei Entscheidungen, die sie als fraktionierte Menschen betreffen, nicht stimmberechtigt, dies sei aber klar kommuniziert gewesen. Über Jahre waren fraktionierte Tutor_ innen immer wieder ein Streitpunkt. Das Erstsemestrigentutorium bietet sich für ÖH-Fraktionen natürlich an, um gleich in der ersten Uniwoche Rekrutierungsund Agitationsversuche zu starten. „Es gab auch immer wieder Versuche, das TutPro politisch zu instrumentalisieren, ob positiv oder negativ. Meistens war den Fraktionen das TutPro aber egal, wenn nicht gerade Wahlzeit war“, so Gerda Kolb, die ihre Karriere als hauptberufliche Trainerin im TutPro begonnen hat und Ende der 90er Teil der Zentralkoordination war. Durften bisher nur 20 Prozent der Tutor_innen einer Fraktion angehören, so wird dieser Anteil nun auf 50 Prozent erhöht. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade jene Fraktion, die sich im Wahlkampf für eine „offene ÖH“ und gegen ein „Freunderlwirtschaftssystem“, bei dem Posten vor allem an fraktionierte Personen verteilt werden, ausspricht, die offene Struktur des TutPro beendet. Der neue TutPro-Vertrag, in dem ÖH und Ministerium die Finanzierung und Struktur des TutPro festlegen, wurde angeblich gemeinsam von FLÖ und AG im Vorfeld verhandelt. Die Trainer_ innen wissen aktuell nicht, wie es weitergehen wird – für viele sind TutPro-Seminare eine Einnahmequelle. „Von Seiten der BV gab es null Kommunikation“, beklagt Gerda Kolb.

In dem Konflikt um das TutPro sind zwei Philosophien aufeinandergetroffen. Die emanzipatorische, offene Struktur, deren basisdemokratische Entscheidungen längere Zeit in Anspruch nehmen und das vor allem durch das Engagement vieler Freiwilliger lebte auf der einen Seite, das serviceorientierte, an Fraktionsinteressen gebundene Finanzierungsinstrument für Erstsemestrigentutorien auf der anderen Seite.

„Das wirkliche Potential des Projektes lag für mich darin, Menschen mit Diskriminierungsstrukturen vertraut zu machen, die zum ersten Mal davon hören, und zu sehen, dass ein Reflexionsprozess beginnt“, sagt Sarah Kanawin. Ob die emanzipatorischen Grundsätze des TutPro auch zukünftig an kommende Tutor_innen-Generationen und damit auch Erstsemestrige weitergegeben werden, bleibt zu bezweifeln. Zu befürchten ist, dass die Fraktionen nun verstärkt Einfluss auf Tutorien und Tutlinge nehmen werden.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Exarchia: Terrornest oder gelebte Utopie?

  • 22.05.2014, 12:53

Um keinen anderen Teil Griechenlands ranken sich so viele moderne Mythen wie um Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel in Athen. Was ist Exarchia nun tatsächlich: Terrornest oder gelebte Utopie? Manu Banu und Didi Diskovic vermitteln unseren Lesern für progress-online einen Einblick in das „Anarchoviertel“ Athens und dessen Bewohner_innen.

Um keinen anderen Teil Griechenlands ranken sich so viele moderne Mythen wie um Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel in Athen. Was ist Exarchia nun tatsächlich: Terrornest oder gelebte Utopie? Manu Banu und Didi Diskovic vermitteln unseren Lesern für progress-online einen Einblick in das „Anarchoviertel“ Athens und dessen Bewohner_innen.

Fünfzehn Jahre lang hatte die Athener Regierung versprochen, ein leerstehendes und mit Bauzäunen abgesperrtes Gelände im Stadtviertel Exarchia zu einem Park zu machen. Als es schließlich zu einer Parkgarage werden sollte, reichte es den Einwohner_innen: am 7. März 2009 rissen sie die Absperrungen nieder, bohrten Löcher in den Beton und pflanzten Bäume. Die Aktion wurde quer durch alle Altersgruppen mitgetragen, bei der Entstehung des Parks halfen Student_innen, Arbeiter_innen und Arbeitslose, Jugendliche, Familien und Pensionist_innen mit.

Dieser breiten Solidarität konnten weder Regierung noch Polizei etwas entgegensetzen: Heute ist der Navarino-Park der erste selbstverwaltete Park Griechenlands, eine kleine Oase im ansonsten dichtverbauten Athen. Im Mai 2014 wurde sein fünfjähriges Jubiläum gefeiert: mit Theater, Live-Musik, Tanz und einer Menge Wein.

Fünfjahresfeier im Navarino-Park. Foto: Dieter Diskovic

Kindertheater im Navarino-Park. Foto: Dieter Diskovic

Geschichten aus dem Widerstand
Diese Episode steht nur stellvertretend für die Widerständigkeit von Exarchia, die ihm auch den Spitznamen „Anarchia“ eingebracht hat. Seinen Ruf erwarb sich der kleine Stadtteil bereits in den frühen 1970er Jahren, als das kleine, an das Polytechnio (Technische Universität) grenzende und studentisch geprägte Viertel zu einem Ort des Widerstandes gegen die Diktatur der rechtsgerichteten Militärjunta wurde. Am 14. November 1973 verbarrikadierten sich Student_innen am Hochschulgelände, installierten einen Radiosender und riefen zum Kampf auf.

Drei Tage später durchbrach ein Panzer des Obristenregimes das Eingangstor, Soldaten stürmten das Polytechnio. Die Niederschlagung des Aufstandes kostete 24 Zivilist_innen das Leben und war gleichzeitig der Anfang des Endes der Diktatur, die nach diesem Gewaltexzess auch die letzte Unterstützung verloren hatte und nur wenige Monate später stürzte.

Denkmal für die Opfer des Aufstands vom November 1973 im Polytechnion. Foto: Dieter Diskovic

Ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Stadtteils wurde am 6. Dezember 2008 geschrieben, als der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos in Exarchia von einem Polizisten erschossen wurde. In der Folge kam es zu einer spontanen Revolte in Athen, die sich bald auf ganz Griechenland ausweitete. Unzählige Polizeistationen, Luxusboutiquen und Banken gingen in Flammen auf. Getragen wurde der Aufstand zu einem großen Teil von Schüler_innen, die sich davor noch nie politisch betätigt hatten.

Nach etwa drei Wochen, kurz vor Weihnachten, beruhigte sich die Lage wieder. Der Mörder wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt. Alexandros Grigoropoulos wurde zu einer Art Ikone der griechischen Anarchist_innen, sein Bild ist auf den Wänden Athens allgegenwärtig.  

Gedenktafel für Alexandros Grigoropoulos. Foto: Dieter Diskovic

Selbstorganisation, Solidarität und Nachbarschaftshilfe

Exarchia ist aber weit mehr als die Aufzählung seiner Kämpfe. Es gehört vielleicht nicht zu den schicksten, aber zu den lebendigsten Gegenden Athens. Wer durch die Straßen Exarchias geht, findet zahlreiche kleine Buchhandlungen neben Tavernen und Bars, unzählige Stekia (soziale Zentren), politische Räume und sogar ein veganes Geschäft – Letzteres eine Rarität in Griechenland. Gegen die vermeintlichen Segnungen der neoliberalen „Stadtteilaufwertung“ hat man sich bis jetzt erfolgreich gewehrt: Luxusbauten, große Supermärkte oder Geldautomaten sucht man hier vergeblich.

Der Mittelpunkt des Viertels ist der Platia Exarchion, wo häufig Open-Air-Konzerte und Solidaritäts-Veranstaltungen stattfinden. Zu jeder Tageszeit sitzen hier junge und nicht mehr ganz so junge Menschen, plaudern und trinken Bier. In der Luft liegt ein süßlicher Geruch. Die Arbeitslosigkeit ist, wie überall in Griechenland, hoch – doch gerade während der Wirtschaftskrise wurde Exarchia zu einem Paradebeispiel für Solidarität und Nachbarschaftshilfe.

Solidaritätskonzert am Platia Exarchion für die selbstverwaltete Fabrik VioMe. Foto: Dieter Diskovic

Beim Platia Exarchion. Foto: Dieter Diskovic

Wer sich von der rot-schwarzen Anarcho-Flagge über dem Eingang des Nosotros nicht abschrecken lässt, kommt in den Genuss der vielbesungenen griechischen Gastfreundschaft und kann sich zwischen Essen zum Selbstkostenpreis, Lesungen, Konzerten und Yoga entscheiden. Im VOX, einem besetzten ehemaligen Kino, können sich Menschen ohne Krankenversicherung kostenlos untersuchen lassen. Das Initiativen-Komitee der Anrainer_innen Exarchias (C.I.R.E.) wiederum kümmert sich um Projekte wie die Betreuung des Navarino-Parks oder die Organisation von Tausch- und Schenkbazaren. Ihre erste Aktion erfolgte vor einigen Jahren, als Telefonanbieter zahlreiche legale und illegale Antennen in Exarchia anbrachten.

Nach einer Krisensitzung montierten Mitglieder des Komitees vier Antennen, die sich in der Nähe von Wohnhäusern und Schulen befanden, kurzerhand wieder ab – dieser Fall wurde von einem Gericht zugunsten von C.I.R.E. entschieden. Heute kümmert sich das Komitee weiterhin um die alltäglichen Probleme der Nachbarschaft, die in regelmäßigen offenen Versammlungen besprochen werden. Selbstorganisation wird in Exarchia groß geschrieben.

„Hände weg, Madame!“ Foto: Dieter Diskovic

Nazifreie Zone

Jeder Zentimeter der Hauswände ist mit Plakaten, Grafitti und politischen Botschaften übersäht – die widerständige Geschichte Exarchias hat sich in das Straßenbild eingeschrieben. Aber auch die Migration hat das Bild Exarchias stark geprägt. „Die Migrant_innen haben das Nachbarschaftsgefühl zurückgebracht. Sie haben einfach ihre Stühle vor die Haustür gestellt, um mit den Mitmenschen zu kommunizieren“, wie ein Einwohner Exarchias erzählt. Diese Nachbarschaftlichkeit erweist sich in der Krise als großer Vorteil: Während in anderen Gegenden Athens rassistischen „Straßensäuberungen“ durch Polizei und rechtsextreme Gruppierungen stattfinden, ist man in hier auf sicherem Terrain. „Hier ist man geschützt, denn den Nazis ist klar: Wenn sie in Exarchia auftauchen, sitzen sie tief in der Scheiße“.

Auch die notorisch rechtslastige Polizei lässt sich hier kaum blicken. Noch vor wenigen Jahren, nach dem Aufstand im Dezember 2008, befand sich Exarchia in einer Art Belagerungszustand: Sämtliche Zufahrtstraßen zum Viertel wurden von Polizisten in Kampfmontur bewacht, Razzien waren an der Tagesordnung. Heute kann davon, von einigen Provokationen und Scharmützeln abgesehen, keine Rede mehr sein. Diese relative Sicherheit zieht viele neue Einwanderer_innen in diesen Stadtteil. Das Diktyo, ein Netzwerk für Immigrant_innen und Flüchtlinge, bietet ihnen neben sozialer und rechtlicher Betreuung auch kostenlose Griechisch- und Computerkurse an. Weiters stehen im „Immigrant_innen-Steki“ regelmäßig Feste, kollektives Kochen oder Theateraufführungen am Programm.

Streetart in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

Streetart in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

Terrornest oder gelebte Utopie?

Aber nicht nur das freundschaftliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft scheint hier zu funktionieren, auch die Durchmischung aller Altersgruppen ist auffallend. In Lokalen, Squats, Stekia und im Park findet man gleichermaßen Teenager wie auch ältere Menschen. „Als die Polizei hier gegen junge Anarchisten vorging, hat eine Oma aus ihrem Fenster einen Kübel Wasser auf die Polizisten geschüttet und ihnen nachgerufen, sie sollen die Kinder in Frieden lassen“, erzählt eine Bewohnerin Exarchias.

Alle scheinen sich hier zu kennen. Schon nach wenigen Tagen fühlt man sich irgendwie zu Hause und hat sein Stammlokal. „Wenn wir etwas Neues erleben wollen, gehen wir auf die gegenüberliegende Seite des Platzes“, scherzt die 28-jährige Katerina, die schon seit ihrer Kindheit hier lebt. Allem revolutionären Gestus zum Trotz kann Exarchia auch das Flair eines Dorfes haben. Es ist weder das Terrornest, zu dem es von rechtskonservativen Medien gerne hochstilisiert wird, noch eine Realität gewordene Utopie. Inspirierend sind die Kreativität, die Solidarität und die Widerständigkeit der Einwohner_innen allemal.  

Exarchia 1899. Im Vordergrund: Archäologisches Nationalmuseum. Foto: Dieter Diskovic

Exarchia 2014. Foto: Dieter Diskovic

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.