SchülerInnen

Kann Schule soziale Ungleichheit verringern?

  • 20.06.2017, 20:40
Stefan Hopmann ist international anerkannter Professor für Vergleichende Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Mit progress spricht er über Schulkultur, Standardisierung und die Flucht des Mittelstandes.

Stefan Hopmann ist international anerkannter Professor für Vergleichende Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Mit progress spricht er über Schulkultur, Standardisierung und die Flucht des Mittelstandes.

progress: Unser Schulsystem ist in vielen Dingen gut, aber schlecht darin, soziale Ungerechtigkeit zu verringern, stimmen Sie zu?
Stefan Hopmann: Ja, da stimme ich zu. Allerdings mit einem Nachsatz: Wieso nehmen wir eigentlich an, dass Schule Ungleichheit verringern kann oder soll? Meiner Meinung nach ist diese Ansicht Teil des großen Kompromisses, auf dem unsere Gesellschaft aufgebaut ist: Wir tauschen Steuern gegen Beteiligung am Risiko geboren zu sein, also Alter, Krankheit, Bildung.

In bürgerlichen Institutionen werden deshalb formal alle gleich behandelt. So auch im österreichischen Schulsystem: Alle sollen gleich behandelt werden, obwohl sie eigentlich verschieden sind. Das bedeutet, dass formal Chancengleichheit besteht, weil ja allen die gleichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Leider geht diese Rechnung in der Praxis aber nicht auf, da die SchülerInnen wie gesagt aus unterschiedlichen Kontexten kommen. Schwächere SchülerInnen bräuchten gezielte Förderungen, um die gleichen Chancen zu haben wie ihre KollegInnen. Reformen wie die Ganztagsschule sind diesem Gedanken widersprüchlich, weil sie eben diese Unterschiede nicht ausgleichen. Wir sprechen deshalb von einem kontrafaktischen Gleichheitsverständnis.

Wer kann Ungleichheit vermindern, wenn nicht die Schule?
Aktuell sind alle westlichen Gesellschaften von einem Anstieg an Ungleichheit gekennzeichnet, die Bildung alleine ist überfordert, wenn die Gesellschaft nicht ebenfalls versucht, Gleichheit zu schaffen. Dass Schule alleine überfordert ist, zeigt sich zum Beispiel an Leistungstests, also an Überprüfungen von SchülerInnenleistung wie PISA: Oft ist hier das Problem, dass sozial schwächere SchülerInnen auch schlechter abschneiden. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was die Ursache dafür ist: Liegt das schlechtere Ergebnis vor allem an LehrerInnen, SchülerInnen, didaktischen Methoden oder der Schulstruktur? Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur 10 bis 15 Prozent der Unterschiede lassen sich überhaupt auf Strukturen in der Schule zurückführen. Viel prägender sind Faktoren wie Herkunft, Muttersprache oder finanzielle Situation und Bildungsgrad der Familie. Wenn man also wirklich weniger Ungleichheit in der Gesellschaft schaffen will, muss man beginnen, auch Vermögen radikaler umzuverteilen.

Was ist das Problem am österreichischen Bildungssystem? Braucht es mehr Budget?
Nein, es braucht sicher kein größeres Budget. Wir haben bereits eines der teuersten Schulsysteme der Welt und geben mehr Geld aus als Länder wie Finnland oder Norwegen. Das Problem in Österreich ist also nicht die Größe, sondern die „gießkannenartige“ Verteilung der finanziellen Mittel. Man versucht, ganz im Sinne des oben beschriebenen Prinzips, allen möglichst gleich viele finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Viel effektiver wäre es meiner Meinung nach, statt großflächigen Reformen wie dem Pflichtkindergarten bedürftige Kinder und Einrichtungen gezielt zu unterstützen.

Sie sind Professor für Vergleichende Bildungsforschung – gibt es ein Land, das es richtig macht?
Ja und nein. Einerseits ist natürlich kein Schulsystem perfekt, andererseits gibt es schon Länder, von denen wir einiges lernen können. So werden zum Beispiel in manchen skandinavischen Ländern die Eltern viel stärker in den Schulbetrieb miteinbezogen. Zudem sind die Gestaltungsspielräume für Schulen viel größer. Oft ist die Schule Mittelpunkt einer Gemeinde und wird als sehr wichtig angesehen – da ist es dann selbstverständlich, dass sich der BürgermeisterInnen um den Sportplatz kümmern.

Natürlich leiden aber alle westlichen Gesellschaften unter dem Problem, dass es zu wenig soziale Durchmischung an Schulen gibt. Wir bezeichnen dies auch als „Flucht des Mittelstandes“. In allen westlichen Gesellschaften, also auch in Österreich, ist zu beobachten, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder privat einschulen. Gesellschaftspolitisch ist das problematisch, man kann es aber nur durch mehr Qualität in den öffentlichen Schulen verhindern.

Wie kann man diesem Phänomen entgegenwirken?
Gezielte Förderungen schwächerer Schulen könnten der „Flucht des Mittelstandes“ entgegenwirken. Weil Bildung sehr wichtig ist, wird darin investiert. In vielen Ländern ist es nicht ungewöhnlich, einen Kredit aufs Haus aufzunehmen, um den Privatschulbesuch des Nachwuchses zu finanzieren. Eltern sind bereit, an allen Rädchen zu drehen, die sie nur irgendwie finden können, damit ihre Kinder auf die „richtige“ Schule kommen – und die ist eben oft privat. Die einzige Art, das zu unterbinden, ist an öffentlichen Schulen eine Qualität zu schaffen, die die „Flucht ins Private“ unnötig macht. Denn letztendlich sind es die Eltern, die die Schulentscheidung treffen und auf jeden Fall das Beste für ihr Kind wollen.

Welche Rolle spielen die LehrerInnen in der Umsetzung neuer Konzepte?
Eine Schlüsselrolle. Das Problem dabei ist, dass LehrerInnen nicht so sehr durch die Universität oder Ausbildung geformt werden wie durch den ersten Arbeitsplatz. Dort werden die neu Dazugekommenen nach dem Motto „Hier machen wir das so“ eingewiesen. Dadurch ändert sich sehr wenig an der Unterrichtsart an Schulen.

Dennoch gibt es auch Positivbeispiele und neue Konzepte wurden angenommen – zum Beispiel in Norwegen. Hier wird nun nicht länger in Klassen unterrichtet, sondern viel freier. Für die LehrerInnen hat das natürlich eine große Umstellung bedeutet: Sie wussten am Anfang eines Tages nicht mehr, was sie erwarten würde, mussten plötzlich viel spontaner sein und sich an neue Situationen anpassen. Anfangs hat das großes Misstrauen erweckt, doch nach einiger Zeit lernten sie die Vorteile schätzen. Allerdings brauchen solche Implementierungsprozesse immer Zeit, um die LehrerInnen von der Umstellung zu überzeugen. Dazwischen liegt ein „Jammertal“, eine Phase der Umgewöhnung und Ablehnung, die zu überwinden man den LehrerInnen helfen muss. Man sollte ihnen also vor Augen führen, warum sich die Umstellungen lohnen könnten und Engagement belohnen.

Hinzu kommt noch ein weiteres Problem: Als beispielsweise die Neue Mittelschule (NMS) eingeführt wurde, gab es viele LehrerInnen, die Initiative ergriffen haben und tolle, neue Konzepte ausgearbeitet haben. Als die NMS dann zur Regelschule erklärt wurde, wurden viele dieser Konzepte verboten. Natürlich ist so etwas sehr frustrierend und hemmt den Willen der LehrerInnen, sich auf Neues einzulassen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Standardisierung und Chancengleichheit?
Ja, aber einen kontrafaktischen: Die Begründung von Standardisierung ist eigentlich, dass die Besten durchkommen, wenn man allen die gleichen Ressourcen gibt. Wenn also alle einen Standard erfüllen müssen und das gleiche Maß an Unterstützung bekommen, sollte Herkunft kein ausschlaggebender Faktor zum Schulerfolg sein. In der Realität ist das aber oft anders herum.

Grund dafür ist einerseits, dass diejenigen mit mehr Ressourcen auch mehr Ressourcen haben, um auf neue Standards zu reagieren. So können sich SchülerInnen aus reicheren Familien beispielsweise Zusatzmaterialien zu neuen Standards wie der Zentralmatura leisten, die für finanziell weniger starke KollegInnen schwerer zugänglich sind. Außerdem profitieren Kinder aus bildungsnäheren Familien von der längeren Schulerfahrung der Eltern.

Hinzu kommt noch, dass im Zuge der zunehmenden Standardisierung SchülerInnenleistungen immer öfter überprüft werden. Das bedeutet auch, dass von dem, was die SchülerInnen leisten, auf die Leistung von Schule und Lehrenden geschlossen wird. Dass so ein linearer Schluss nicht treffend ist, mag logisch erscheinen, in der Praxis wird aber genau auf diese Weise argumentiert. So stehen Lehrende und Schulen unter Druck – plötzlich müssen sie sich rechtfertigen, wieso ihre Klasse oder ihr Jahrgang etwas kann oder nicht kann. LehrerInnen neigen deshalb dazu, sich auf das mittlere Leistungsfeld zu konzentrieren, denn hier ist es am einfachsten, Zugewinne zu generieren. Dabei geht das Augenmerk auf SchülerInnen, die über- oder unterdurchschnittliche Leistungen erbringen, verloren. VerliererInnen der Standardisierung sind also die sozial Schwachen.

Sie stellen dem das Konzept der starken Schule entgegen.
So ist es. In der Schule gibt es zwei wichtige Pole, zwischen denen den SchülerInnen Wissen vermittelt wird: Einerseits ist das Qualifizieren, also das Erlernen bestimmter Fähigkeiten bzw. Kompetenzen, ein wichtiger Aspekt. Andererseits von großer Bedeutung ist das Kultivieren, also das Sozialisieren, das dazu führt, dass Kinder Teil einer Gemeinschaft und letztlich Mitglieder unserer Gesellschaft werden.

Ich reise aktuell mit einer Vortragsreihe zum Thema „starke Schule“ durchs Land, da ich überzeugt bin, dass der Fehler, der gerade gemacht wird, ist, dass zu viel Fokus auf Qualifizierung gelegt wird. Dabei geht die Schulkultur verloren.

Eine Schule ist stark, wenn sie eine starke Schulkultur hat. Das bedeutet, dass klar ist, warum die SchülerInnen da sind, was sie machen sollen und wie. Meiner Ansicht nach ist das einer der Hauptgründe, warum SchülerInnen an Privatschulen meist gute Ergebnisse erzielen. Solche Schulen haben eine klare Identität, mit der man sich identifizieren kann. Allen Kindern ist klar, was die Schule, die sie besuchen, ausmacht.

Wie profitieren sozial schwächere Kinder von dem Konzept der starken Schule?
So eine starke Schulkultur macht es neuen oder sozial schwächeren SchülerInnen einfacher, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Untersuchungen haben ergeben, dass durch starke Schulkultur langfristig alle SchülerInnen bessere Ergebnisse in Leistungstests erzielen. Kinder, die an Schulen wie „die Schotten“ gehen, fühlen sich als Teil eines Ganzen und sind stolz auf ihre Schule. Darum helfen sie sich gegenseitig und sind motivierter, weil man das so macht hier. Solche sozialen Dynamiken sind extrem wirkungsvoll.

Clara Porak studiert Deutsche Philologie und Bildungswissenschaften an der Universität Wien.

Pornos an der Schule

  • 11.05.2017, 20:15
Pornographie hat längst im kulturellen und sozialen Leben von Kindern und Jugendlichen Fuß gefasst. Wieso sollte sie nicht Gegenstand des Sexualunterrichtes sein?

Pornographie hat längst im kulturellen und sozialen Leben von Kindern und Jugendlichen Fuß gefasst. Wieso sollte sie nicht Gegenstand des Sexualunterrichtes sein?

Pornographie ist ein Konsumgut unserer Gesellschaft. Man kann ganz nach eigenem Belieben im Internet darauf zugreifen. Die Suchkategorien sind vielzählig. Die Industrie richtet sich stark nach männlichen Interessen und expandiert, um möglichst viele sexuelle Vorlieben anzusprechen. Etwa 1,5 Milliarden Besucher_innen pro Monat verzeichnen allein die drei beliebtesten Seiten (Pornhub, xHamster und Redtube).

OMNIPRÄSENTES THEMA. Wir beschäftigen uns aktiv mit unserer Sexualität und tauschen uns mit Freund_innen über Erfahrungen aus. Gönnen wir uns kurz eine Pause, konfrontieren uns Medien und Werbung mit dieser Thematik. Pornografische Inhalte umgeben uns somit täglich und der soziale Druck ist da. Diese Einflüsse übertragen sich auch auf Kinder und Jugendliche. Trotzdem wird Pornographie tabuisiert und erscheint als Randthematik in der schulischen Sexualerziehung.

PURE ROMANTIK. An der University of Arkansas ergab eine inhaltliche Analyse der meist konsumiertesten Porno-Filme, dass in 89 % physische Aggression und in 49 % verbale Aggression angewendet wird, die hauptsächlich von Männer ausgeübt und von Frauen mit Vergnügen oder einem neutralen Verhalten geduldet wird. Bringt der offene und in vielen Fällen unkontrollierte Zugang zu Pornographie eine neue Generation kleiner gewaltbereiter Sexist_innen hervor, die von Liebe und Lust nichts wissen möchten?

In „Alles Porno?“ befasst sich Laura Kuhle anhand verschiedener Studien mit dem Sexualverhalten heutiger Kinder und Jugendlicher. Der Erstkontakt mit Pornographie erfolge durchschnittlich im Alter zwischen elf und zwölf Jahren. Etwa die Hälfte der befragten 16 bis 19-Jährigen geben an, mindestens einmal in der Woche Pornos zu konsumieren. Wo Mädchen Neugier, Spaß und Lernen angeben, steht die sexuelle Erregung und Selbstbefriedigung für Buben im Vordergrund. Um Auswirkungen und Einfluss des Pornographiekonsums zufriedenstellend zu erforschen, wären Langzeitstudien nötig. Mit keiner der herangezogenen Studien ließen sich jedoch „schädliche Auswirkungen auf das Sexualleben Jugendlicher und ihrer Lebensgestaltung“ belegen.

ÄNGSTE UND SORGEN. Dieses Differenzieren beherrschen aber nicht alle in gleichem Maße. Zwar lassen die Studien keine Rückschlüsse auf gewalttätige, sexistische oder misogyne Verhaltensweisen, doch stellt Kuhle gleichermaßen fest, dass Kinder durch Pornographie einen Leistungsdruck verspüren und damit überfordert, verunsichert und verängstigt seien. Die entscheidenden Komponenten hinsichtlich einer negativen Beeinflussung der Psyche und des Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen sind „Medienkompetenz, eigene sexuelle Erfahrung, wahrgenommene Realitätsnähe der pornographischen Skripte, sowie das soziale und kulturelle Umfeld der Jugendlichen“. Sind diese Bereiche nicht genug entwickelt, erfolgt keine Differenzierung zwischen diesen Welten. Wo Mädchen sich fragen, ob sie gewisse Praktiken ausführen oder unterwürfig sein müssen, bedienen sich Buben des Porno-Jargons, um an ihrer männlichen Identität zu basteln und beschäftigen sich mit Leistungsfaktoren wie Ausdauer und Penisgröße.

KLARTEXT IN DER SCHULE. Es ist wichtig, dass sich Eltern möglichst früh mit der Aufklärung der Kinder beschäftigen und Fragen beantworten. Laut dem deutschen Sexualberatungsverband ProFamilia gehen diese Fragen mit zunehmendem Alter eher zurück, da dieser intime Thematik als unangenehm empfunden wird. Stattdessen wenden sich Kinder und Jugendliche an Gleichaltrige, um sich auszutauschen. Deswegen sollte die Auseinandersetzung mit Pornographie Teil der Sexualerziehung im schulischen Kontext darstellen.

In Großbritannien versucht man den Zugang zur Pornographie für Minderjährige mittels Gesetzen und Blockaden zu erschweren. Ob dieser Ansatz Früchte tragen wird, ist fraglich, wenn man bedenkt, wie technologieaffin jüngere Generationen sind. Während die dänische Forderung, Porno-Videos als Unterrichtsmaterial zu zeigen, etwas gewagt wirkt, könnten Lehrer_innen zumindest gezielt auf das Halbwissen der Kinder eingehen und damit arbeiten. Ein wesentliches Problem sei, laut dem Sexualwissenschaftler Konrad Weller, die nicht stattfindende frühzeitige Begleitung sexueller Sozialisation. Stattdessen werde eine Verwahrlosungsdebatte geführt, in der Kinder und Jugendliche zu „präsexuellen Wesen verklärt werden“.

M. Liebon studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien.

­Coming Out in der Schule?!

  • 25.05.2016, 23:44
Nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen ist die Frage nach der sexuellen Orientierung bzw. Identität ein Thema am Arbeitsplatz Schule.

Nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen ist die Frage nach der sexuellen Orientierung bzw. Identität ein Thema am Arbeitsplatz Schule.

Lesbischen, schwulen, bisexuellen und queeren Lehrer*innen und anderen Bildungsarbeiter*innen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, werden nach wie vor große Vorbehalte entgegengebracht. Obwohl die rechtliche Situation eine einigermaßen große Sicherheit bietet, Beratungsstellen bei Problemen und Mobbingfällen bereitstehen, sind offen queere Lehrer*innen nach wie vor die Ausnahme. Es ist ein Widerspruch, dass es einerseits Projekte für Schüler*innen zu nicht-heteronormativen Lebensweisen gibt, die nicht-hetero oder cissexuelle Lehrkraft in punkto Sichtbarkeit jedoch die große Ausnahme darstellt.

Die Tabuisierung dieser Themen führt auf mehreren Ebenen zu Problemen. Erstens trifft sie Kinder und Jugendliche, die sich in ihrer geschlechtlichen Entwicklung nicht mit den vorhandenen Normen identifizieren, denn sie bleiben mit ihren Fragen und Positionen allein. Nicht selten hat dieses Orientierungsvakuum negative Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung der Heranwachsenden. Zweitens bedeutet eine Tabuisierung nicht-heteronormativer Lebensweisen die Vielfalt gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht kennen zu lernen und in Folge keinen selbstsicheren Umgang damit zu finden. Verständnis für Differenzen und Anerkennung der realen gesellschaftlichen Diversität wären Teile des staatlichen Bildungsauftrags.

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Schließlich kann die genannte Tabuisierung zu einer erheblichen Belastung von Lehrkräften selbst führen, die homo-, bi-, trans- oder intersexuell leben. Das Coming Out ist nicht nur für Schüler*innen einfacher, wenn sie Unterstützungsstrukturen, Austauschmöglichkeiten und role models zur Verfügung haben. Auch für Eltern, aber vor allem für Lehrer*innen sowie angehende Pädagog*innen ist dies der Fall.

Deshalb wurde in Wien die offene Gruppe „EDUqueer. LGBTIQ Lehrpersonen in Österreich“ gegründet. Im Rahmen der monatlichen Treffen sind einerseits Austausch über Erfahrungen und Strategien möglich, andererseits auch politische Bewusstseinsbildung – etwa im Sinne der Selbstermächtigung.

Die Treffen finden jeweils am dritten Dienstag im Monat um 18 Uhr im Gruppenraum der Türkis Rosa Lila Villa (6., Linke Wienzeile 102, 1. Stock) statt.

Die nächsten Termine vor der Sommerpause sind der 17. Mai und der 28. Juni 2016. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten gibt es auf unserer Facebookseite und auf unserer Homepage: www.eduqueer.at

Der geheime Lehrplan

  • 11.08.2014, 15:23

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Wenn es um Schule ging, war die Zentralmatura in den letzten Monaten das meistdiskutierte Thema. Unfaire Bewertungssysteme, mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse individueller SchülerInnen und der jüngste Skandal um einen Text bei der Deutschmatura, der den Holocaust verharmlost – die Zentralmatura sorgt für heftige Diskussionen. Aber nicht nur sie gibt Anlass zur Kritik. Als elementarer Bestandteil des Unterrichts haben Schulbücher einen großen Einfluss auf SchülerInnen. Die meisten Schulbücher regen aber keineswegs zum kritischen Denken an, wie eine Studie des Historikers Christoph Kühberger zeigt. Im Gegenteil: Sie stellen ihre Inhalte meist so dar, als wären sie objektiv und allgemein gültig. Dass dahinter die subjektiven Perspektiven einer/s oder mehrerer AutorInnen stehen und Begriffsdefinitionen häufig einseitig sind, wird selten deutlich. „Die wenigsten Schulbücher beinhalten eine Anleitung, wie man kritisch mit ihnen umgehen kann“, sagt auch Christa Markom, Ethnologin und Sozialpädagogin. Wenn sich die vermittelten Ansichten mit jenen des/r Lehrers/in decken, akzeptieren die SchülerInnen sie als Wahrheit. „Was LehrerIn und Schulbuch sagen, stimmt für die SchülerInnen und wird meist nicht hinterfragt“, so Markom.

In dem Projekt „Migration(en) im Schulbuch“ hat Christa Markom zusammen mit Heidemarie Weinhäupl und Christiane Hintermann analysiert, wie Migration in Schulbüchern verschiedener Fächer repräsentiert wird. Ziel war auch, SchülerInnen Wissenschaft näherzubringen. Im Rahmen von Workshops wurde deshalb gemeinsam mit Schulklassen erarbeitet, wie man im Unterricht kritischer mit Themen und Begriffen umgehen kann. „Das war ein völlig neuer Zugang für die SchülerInnen“, berichtet Herbert Pichler, Lehrer und selbst Schulbuchautor, der mit einer seiner Klassen am Projekt teilnahm. „Die Schulbücher zerpflücken und kritisieren zu dürfen, das kannten sie vorher nicht“, erzählt er. Dabei sei das von enormer Bedeutung.

Undurchsichtig. Bevor ein Schulbuch tatsächlich in die Hände eines Schülers oder einer Schülerin gelangt, durchläuft es einen Prozess, der zwei bis drei Jahre dauert – weshalb jedes Schulbuch zwangsläufig veraltet ist. Zunächst erhalten AutorInnen (meistens in Teams) den Auftrag, ein Schulbuch zu schreiben. Ist das getan, wird es von GutachterInnen des Ministeriums auf Basis bestimmter Richtlinien überprüft. „Dabei spielen durchaus auch Anti-Diskriminierungsrichtlinien oder zum Beispiel Gender-Richtlinien eine Rolle“, erklärt Christa Markom. Trotz dieser Approbation gelangen aber viele Bücher auf die Schulbuchliste, die diskriminierende Inhalte haben. Zwar sind viele GutachterInnen sehr bemüht, dies zu vermeiden, allerdings fehlt teilweise auch Hintergrundwissen zu verschiedenen Diskriminierungsformen. Laut Herbert Pichler sind die MitarbeiterInnen des Ministeriums auch manchmal selbst Teil jener Teams, die Schulbücher verfassen. Außerdem haben einige der Verlage großes Interesse daran, dass ihre Bücher approbiert werden. „Sie üben einen enormen Druck auf das Ministerium aus“, erklärt Herbert Pichler.

LehrerInnen können sich zwar theoretisch aussuchen, welches Schulbuch sie verwenden wollen. In der Realität sieht das aber oft anders aus. „Der Griff zu einem altbekannten Buch ist häufig naheliegend“, sagt Christa Markom. Es kommt also durchaus vor, dass Schulbücher, die einseitige Darstellungen oder diskriminierende Repräsentationen und Stereotype beinhalten, als Unterrichtsmaterial fungieren. Laut einer Umfrage des Projekts „Migration(en) im Schulbuch“ verwenden 80 Prozent der LehrerInnen Schulbücher, um ihren Unterricht zu strukturieren. Dieser wird durch die oft einseitige Aufbereitung von Themen in den Schulbüchern entsprechend beeinflusst.

Repräsentation von Migration. Am Beispiel der Darstellung von Migration beziehungsweise von MigrantInnen in Schulbüchern zeigt sich, wie Stereotype und Vorurteile reproduziert werden. „Eines unserer wichtigsten Ergebnisse war, dass Migrationsthemen in Schulbüchern noch immer hauptsächlich in einem Problemdiskurs abgehandelt werden“, sagt Christa Markom. Einerseits betrifft das die Positionierung des Themas, das in einem Schulbuch zum Beispiel in der Nähe des Themenkomplexes „Terrorismus“ angesiedelt war. Andererseits spielen Überschriften wie „Migration – eines der zentralen Probleme Europas“ hier eine Rolle. Auch darüber hinaus wird Migration meist in einem negativen Kontext dargestellt. „Dadurch entstehen keine positiven Identifikationsmöglichkeiten für SchülerInnen mit Migrationsbiographien“, erklärt Markom. Wird Migration ausnahmsweise nicht als Problem dargestellt, dann wird sie meist in einem Nützlichkeitsdiskurs behandelt, in dem wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Fragen im Mittelpunkt stehen. Dass Migrationsgeschichten aus der Perspektive von MigrantInnen erzählt werden, kommt hingegen kaum vor.

Auch Begriffe werden im Kontext von Migration in Schulbüchern kaum umfassend erklärt. So fehlt beispielsweise eine Auseinandersetzung damit, welche Bedeutungen hinter dem Begriff „Integration“ stecken können, oder damit, warum eine Bezeichnung wie „ZigeunerIn“ beleidigend und abwertend ist. Und das, obwohl SchülerInnen großes Interesse daran haben, wie Begriffe verwendet werden und wie sie Diskriminierungen in ihrer Sprache vermeiden können: „Natürlich interessiert mich das, ich brauch’ das ja täglich“, meint ein Schüler einer BHS: „Wenn ich die Erklärungen dazu nicht in Schulbüchern finde, wo dann?“ Laut Christa Markom würden sich die SchülerInnen auch historische Ableitungen der Begriffe erwarten. Sie wollen wissen, aus welchem historischen Kontext ein Begriff kommt, um seine Verwendung in der Gegenwart zu verstehen. Als Teil der österreichischen Geschichte wird Migration aber ohnehin kaum dargestellt. Im Gegenteil: Schulbücher behandeln Migration meist als neueres Phänomen, das von der österreichischen Geschichte abzugrenzen ist. „Das führt dazu, dass SchülerInnen Migration nicht in die österreichische Wir-Konstruktion miteinbeziehen“, erklärt Christa Markom.

Die Macht der Bilder. Diese Tendenzen spiegeln sich nicht nur in Texten wider. Auch in Bildern wird stark mit Klischees gearbeitet. Ein Aspekt, dem laut Herbert Pichler besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Wenn es um Migration geht, sind in Schulbüchern häufig Bilder von Frauen mit Kopftüchern, mit denen meist die Türkei assoziiert wird, abgedruckt. „Warum ist es eigentlich so, dass wir mit ‚Ausländer’ nur die Türken meinen?“, fragte deshalb eine Schülerin im Projekt „Migration(en) im Schulbuch“. Dass Deutsche die größte Migrationsgruppe in Österreich sind, wird durch diesen Fokus verschleiert.

Wenn es um Flucht und Asyl geht, werden wiederum meist AfrikanerInnen dargestellt, die in die „Festung Europa“ wollen. Sowohl auf Bildern, die AfrikanerInnen in überfüllten Booten zeigen, als auch in Texten. In einem Geographiebuch der Sekundarstufe 2 ist dazu Folgendes zu lesen: „Täglich stehen z.B. in Nordafrika tausende Menschen vor den Toren Europas, um in eine bessere Welt zu gelangen. Bilder von Flüchtlingstragödien, z.B. von überfüllten Flüchtlingsschiffen, gelangen in unsere Medien. Auch wenn das überalterte Europa langfristig Einwanderer benötigt, kann es den globalen Migrationsdruck nicht entschärfen. Wird das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt nicht eingeschränkt und werden Arbeitslosigkeit und Hunger und Umweltprobleme nicht nachhaltig bekämpft, wird der Migrationsdruck weiter steigen.“ Problematisch ist das einerseits, weil Afrika durch derartige Darstellungen pauschal mit negativen Bildern verbunden wird. Andererseits wird innerafrikanische Migration nicht thematisiert. „Es wird so dargestellt, als würden alle Flüchtenden und Migrierenden nach Europa kommen, was ja überhaupt nicht der Fall ist“, erklärt Markom: „Wie Migrationsströme tatsächlich verlaufen, wird verschleiert.“

Handlungsoptionen. Selbst das schlechteste Schulbuch kann aber im Unterricht das beste Schulbuch werden, wenn die LehrerInnen gut damit umgehen, ergänzt Markom. Ob entsprechende Kompetenzen in der pädagogischen Ausbildung vermittelt werden, ist jedoch fraglich. Das kritische Hinterfragen der Schulbücher werde in der LehrerInnenausbildung kaum thematisiert. Es sei aber wichtig, einen machtkritischen Blick zu entwickeln, Begriffe zu kritisieren und Lehrmedien nicht als objektiv zu betrachten. Auch die Schulbücher selbst sollten laut Markom stärker dazu anregen, sich kritisch mit Begrifflichkeiten und Inhalten auseinanderzusetzen.

Für den Unterricht wäre es wichtig, mehr Diskussionsräume zu schaffen. Sinnvoll sei deshalb auch, verstärkt Vorträge, Ausstellungen oder Workshops und damit auch Leute von außerhalb der Schule in den Unterricht zu integrieren. Dadurch bringe man neue Dynamiken in eine Klasse und schaffe ein Bewusstsein für verschiedene Themen wie Diskriminierung und Rassismus. Dabei können SchülerInnen abseits von Notendruck und Prüfungsangst lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. „Durch das Projekt‚ Migration(en) im Schulbuch‘ sind die SchülerInnen jetzt viel kritischer als zuvor“, berichtet auch Herbert Pichler.

Was die Schulbücher betrifft, sieht Christa Markom in der Multiperspektivität großes Potential. „Man sollte möglichst viele Sichtweisen auf ein Thema zeigen. Auch mit lebensgeschichtlichen Zugängen kann man da sehr gut arbeiten.“ Wenn es um Migration geht, hätten sie das Potential, die negativen Konnotationen in Frage zu stellen. Interviews wären zum Beispiel eine Möglichkeit, auch Raum für positive Migrationsgeschichten zu schaffen. Für Herbert Pichler ist vor allem die Positionierung des Schulbuchs im Unterricht wichtig: „Ich selbst verwende Schulbücher als Steinbruch, als eine Sammlung von Materialien, die man in bestimmten Unterrichtssequenzen gezielt verwenden kann.“

Zum Schluss betont Christa Markom auch, dass durchaus eine positive Entwicklung der Schulbücher zu beobachten ist. „Da hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr viel getan. Es gibt noch immer Probleme, das ist keine Frage. Aber das ist keineswegs
eine statische Sache.“

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.