Südafrika

„Fuck White Tears“

  • 13.05.2017, 13:48
Ein Film, der eigentlich nicht existieren kann. Interview mit der Filmemacherin Annelie Boros.

„Ich denke, du solltest diese Frage dir selbst stellen. Ich kann sie nicht für dich beantworten.“ Kopfschütteln. Kurze Pause. „Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht fähig wäre in deine Welt zu kommen, um einen Film über dein Leben zu machen.“ Die südafrikanische Dozentin, Aktivistin und Filmemacherin Zethu Matebeni beantwortet die Frage der deutschen, weißen Filmemacherin Annelie Boros sehr ehrlich: Was die Dozentin denn davon halte, dass sie als Weiße einen Film über die Studierendenproteste in Südafrika macht? Die Antwort Matebenis ist nur ein Beispiel der Kritik, mit der die junge Filmemacherin in Südafrika konfrontiert war. Boros wurde gezwungen, sich mit ihrem „white privilege“ auseinanderzusetzen und gleichzeitig Protagonistin ihres eigenen Films zu werden. Auf dem diesjährigen Ethnocineca-Filmfestival erhielt sie dafür den „Ethnocineca Students Shorts Award“. progress sprach mit ihr über ihre Erfahrungen.

Du bist nach Südafrika gefahren, um einen Film über die dortigen Studierendenproteste zu machen. Von mehreren deiner Protagonist*innen kommt die Kritik, dass diese „Art von Geschichten nicht von weißen Menschen erzählt werden sollten“. Wieso wolltest du gerade diese Geschichte erzählen?
Ich studiere in München Dokumentarfilm, Regie und Fernsehjournalismus. Den Film machte ich im Rahmen eines Seminars. Die Universität wählt jedes Mal ein Land aus. In diesem Fall Südafrika. Als ich angefangen habe zu recherchieren, bin ich auf die Studierendenproteste gestoßen, auf eine junge Generation Südafrikas, die Anfang der 1990er geboren wurde, also nach der Freilassung Nelson Mandelas und seiner Ernennung zum Präsidenten. Diese Generation wird auch „Born Frees“ genannt. Es ist eine Generation, die angeblich frei ist und die gleichen Rechte wie Weiße haben sollte. Das Problem ist allerdings, dass sie diese Freiheit nicht wirklich erfahren. Viele sind täglich mit Gewalt konfrontiert, wohnen mit ihrer Familie auf engstem Raum, merken wie Weiße bei der Job- und Wohnungssuche bevorzugt werden. Sie sind tagtäglich mit Rassismus konfrontiert. Wenn man angeblich frei ist, das aber nicht so erlebt, ist es klar, dass die Frustration steigt. Schließlich hat man nur dieses eine Leben, diese eine Jugend, um Bildung zu erlangen, um zur Schule, zur Uni zu gehen.

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Wie kam es dann zu diesen Protesten und wie entwickelten sie sich weiter?
Die Studierendenproteste gehen schon länger, aber es gab mehrere Kampagnen, die sich parallel entwickelten. In meinem Film behandle ich den Beginn der Kampagne #RhodesMustFall. Rhodes war ein großer Kolonialherr, dessen Statuen noch in ganz Südafrika stehen. Das ist so, als ob man in Deutschland die Hitler-Statuen nicht abgerissen hätte. Darüber wurde noch nicht genug geredet, die Verarbeitungsprozesse in der Gesellschaft sind noch nicht vorangeschritten. Daher ging es los mit #RhodesMustFall, das entwickelte sich zu #ZumaMustFall und dann eben #FeesMustFall. Die Proteste stellten sich gegen die Regierung, gegen den Präsidenten und gegen Studiengebühren, um Gleichheit durch freie Bildung zu ermöglichen.

Weißt du, wie die Situation heute ausschaut?
Die Proteste gibt es nach wie vor. Das Problem ist in keinster Weise gelöst. Aber mein persönlicher Eindruck ist, dass deutlich mehr über die bestehenden Probleme gesprochen wird. Gleichzeitig geht es jedoch oft um die Frage, wie weit man für die Aufmerksamkeit eines Protestes gehen darf. Es wird viel über Gewalt gesprochen, die von den Demonstrierenden ausgeht und da bleiben die Inhalte manchmal auf der Strecke.

Letztendlich stehen nicht die Studierendenprostete im Fokus deines Films, sondern wie die Menschen dir begegnen. Wann hast du für dich entschieden, dass du nicht die Studierendenproteste, sondern dich in das Zentrum des Films stellst?
Das war tatsächlich die erste Demonstration. Wir sind in Südafrika angekommen und es gab eine große Demonstration anlässlich der „State of the Nation Adress“ – also der großen Ansprache des Präsidenten zur Lage der Nation. Zu diesem Anlass gibt es jährlich große Demonstrationen. Es ist fast schon eine Tradition, dass die Gegner des Präsidenten auf die Straße gehen. Dort haben wir nach Studierenden gesucht, die auch demonstrierten. Als wir die Studierenden fanden, wurden wir angegriffen dafür, dass wir als Weiße mit der Kamera auf sie zeigen und sie – nach Wortlaut eines Protagonisten – zu Tiere degradieren, auf sie runterschauen, nur um eine gute Geschichte zu bekommen. Das war die erste Konfrontation. Ich nahm das sehr ernst und mir war sofort klar, dass ich keinen Film mehr über die Studierendenproteste dort machen kann, wenn ich von den Studierenden gesagt bekomme, dass das unmöglich ist, was ich hier mache. Danach gab es eine kleine Krise bei mir. Ich bin zum Entschluss gekommen, das Konzept zu ändern: Nicht mehr die Studierenden stehen im Fokus, sondern meine Erfahrung und damit auch ich als Protagonistin.

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Aber du sagst selber „Fuck White Tears ist ein Film über einen Film, den ich nicht machen kann, weil ich weiß bin“, trotzdem gibt es ihn.
Für mich ist es immer noch ein großes Paradox, dass es den Film gibt, weil es genau so ist, wie du sagst: Es ist ein Film, den ich nicht machen kann und trotzdem existiert er. Auch im Schnittraum war es für mich noch wochenlang eine große Schwierigkeit, dass ich Leute am Bildschirm sehe, die mir sagen, dass ich den Film nicht machen darf. Natürlich war das schwierig und natürlich habe ich darunter gelitten. Aber ich bin ganz froh darüber, da durchgegangen zu sein. Mir haben auch Freunde erzählt, dass sie sich die ganze Nacht gestritten haben, nachdem sie den Film sahen. Das ist meine Legitimation: Ich hoffe, dass die Diskussionen und die Erkenntnisse, die die Zuschauer in Europa, aber auch die weißen Zuschauer in Südafrika haben, es wert sind, diesen Film gemacht zu haben.

Eine Kritik im Film an dich als europäische, weiße Filmemacherin war auch, dass du nach Südafrika kommst, dir die Geschichte holst und dann nicht mehr zurückkommst. Lief der Film auch in Südafrika? Hast du ihn auch deinen Protagonist*innen gezeigt? Wie war die Reaktion?
Für mich ist das Zurückkommen, wie es die Protagonisten genannt haben, kein persönliches Zurückkommen. Ich glaube, dass es mehr um die Frage geht, was ich danach für sie mache. Am Ende des Films kommt die Aussage, dass ich mit meiner Botschaft zu anderen Weißen gehen, ihnen erzählen soll, was ich gelernt habe – in der Hoffnung, dass auch sie etwas lernen. Trotzdem versuche ich, den Film in Südafrika zu zeigen. Zethu Matebeni hat ihn zweimal in ihrer Klasse gezeigt. Wahrscheinlich hat sie ihn danach auseinandergenommen, aber es wird auch irgendetwas drinnen sein, von dem die Menschen etwas mitnehmen können.

Du sagst, dass du froh über die Erfahrung bist. Hat „Fuck White Tears“ auch deine Arbeit, deinen Zugang zum Filmemachen verändert?
Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, ganz viel mitgenommen zu haben, auch für aktuelle Projekte. Gerade arbeite ich mit einer Freundin, die unter Depressionen leidet, an einem Film zu eben diesem Thema: Depressionen. Durch „Fuck White Tears“ habe ich gelernt, dass ich nicht einfach einen Film über jemanden machen kann, sondern es viel wichtiger ist, einen Film mit jemanden zu machen. Ich wusste das zwar in der Theorie, aber konnte es nicht umsetzen. Beim Film über Depressionen stelle ich mir die gleiche Frage: Darf ich als „Gesunde“ einen Film über „Kranke“ machen und wenn ja, wie?

Der Film „Fuck White Tears“ ist online auf dem Vimeo Channel des Seminars Close Up der HFF München und auf dem Dok.network Afrika YouTube Channel verfügbar.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.


 

Die Geschichte einer Kämpferin

  • 17.06.2013, 19:46

Aktivist_in Nosphokzai Fihlani wurde Opfer einer homophoben Vergewaltigung*. Für progress Online erzählte sie der Gastautorin Caelyn Woolward ihre Geschichte und warum sie sich von dieser Erfahrung nicht unterkriegen lässt.

Die Aktivist_in Nosphokzai Fihlani wurde Opfer einer homophoben Vergewaltigung*. Für progress online erzählte sie der Gastautorin Caelyn Woolward ihre Geschichte und warum sie sich von dieser Erfahrung nicht unterkriegen lässt.

** Der erste Teil des Artikels erzählt Nosphokzai´s Geschichte, die evtl. ein Trigger sein kann. In dem Fall empfehlen wir, ab dem zweiten Unterpunkt "Gegenwehr" anzufangen. Anm. der Redaktion **

Nosphokzai’s Geschichte. Im Juni 2011 war Nosphokzai Fihlani nach einem Abend mit FreundInnen auf dem Weg nach Hause. Es war dunkel und gefährlich, aber sie ging diesen Weg oft und es war ihre Stadt. Sie hatte nichts zu befürchten. Eine Gruppe Männer lief hinter ihr. Sie fingen an, sie zu verspotten und machten grobe homophobe Kommentare. „Die Beleidigungen waren scheußlich und sie wurden immer schlimmer. Ihr Verhalten wurde heftig und ich bekam Angst. Also versuchte ich zu flüchten.“ Als Fihlani von den Männern wegrannte, liefen sie ihr hinterher. „Ich schaute zurück und sah, wie ein Mann mir hinterherlief. Ich rief um Hilfe, aber niemand hörte mich. Ich rannte in eine öffentliche Toilette und da gab es kein Entkommen mehr. Ich hatte keine andere Wahl, als mich zu wehren“, erzählt sie.

„Er versuchte, meine Hände festzuhalten, sodass ich mich nicht wehren konnte. Als ihm das nicht gelang, schlug er meinen Kopf gegen die Wand. Er hatte ein Messer und begann, zuzustechen“. Die Wörter strömen aus Nosphokazi Fihlanis Mund, als habe sie die Geschichte schon hundert Mal erzählt. Vor mehr als einem Jahr wurde die im Hlalani Township lebende Frau belästigt, angegriffen, gestochen, vergewaltigt und dem Tode überlassen. Der Überfall war nicht zufällig, das Motiv war eindeutig. Fihlani wurde vergewaltigt, weil sie lesbisch ist.

Die Narben an ihren Händen und ihrem Rücken sind noch immer sichtbar. Sie wehrte sich so gut sie konnte, aber letztendlich traf sie einer so hart, dass sie das Bewusstsein verlor: „Ein paar Stunden später wachte ich auf. Ich war nackt, allein und mir war kalt. Meine Kleider waren gestohlen. Ich wurde vergewaltigt, weil ich eine Lesbe bin.“

Gegenwehr: Ihre Geschichte ist nur eine von vielen Vorfällen von homophoben Vergewaltigungen in Südafrika. Diese richten sich gegen Lesben und werden von Männern durchgeführt, die glauben, dass Frauen ihre sexuelle Orientierung ändern, wenn sie Sex mit Männern haben. Manche sind der Ansicht, dass Frauen für ihre Homosexualität bestraft werden müssten.

„Sie glauben, dass das, was sie mir angetan haben mich ändern wird. Aber das wird es nicht. Ich bin noch immer derselbe Mensch. Ich werde mich durch sie nicht unterkriegen lassen. Ich möchte, dass die Leute wissen, was mit mir geschehen ist, denn wenn ich schweige, werden sie weitermachen.“ Da viele Fälle homophober Vergewaltigungen nicht angezeigt werden, kennt man die genaue Statistik nicht. Aber Fihlani bleibt stark: „Ich werde mich nicht verstecken und mich schämen. Alle in meiner Nachbarschaft wissen, dass ich lesbisch bin und dass ich das vor niemandem verbergen werde.“

Eine Gemeinde im Krieg. „Menschen werden vergewaltigt, aber bekommen keine Hilfe. Die Gemeinde wendet sich gegen sie.“ Als die Gemeinde gefragt wurde, was sie von den homophoben Vergewaltigungen halten, waren die Antworten insbesondere von Männern eindeutig. Sie glauben oft, dass niemand außer einem Mann eine Frau befriedigen kann. „Ich hasse Lesben. Ich hasse sie. Es ist eine Abscheulichkeit” und „Vielleicht sollte die Regierung all diese Menschen aufgreifen, sie in ein anderes Land schicken und sie wegsperren“, sind nur zwei der Meinungen, die sich bei Männern in der Gemeinde wiederfinden. Als gefragt wurde, ob sie der Meinung wären, dass dies eine Art von Missbrauch sei, sagte einer: „Missbrauch ist nicht gut, aber es ist ein Weg, queere Frauen zu ändern.“

Inspirierende Personen. Zanele Nqokoqa, Nosiphokazis Freundin hält zu ihr. „Sie ist noch immer derselbe Mensch, den ich vorher kannte. Manche Männer sind eifersüchtig. Sie wollen das, was sie hat. Ich aber auch: Sie ist eine inspirierende Frau und ich bin sehr stolz darauf, wie stark sie ist.“ Eine Freundin von Nosiphokazi, Nolubabalo Matshoba, sagt, dass Fihlani sogar einen Trend unter den Lesben in Grahamstown gesetzt hat: „Sie trägt einen Anzug. Das ist untypisch, weil man sich in Grahamstown sehr informell kleidet. Sie sehen, wie schick sie im Anzug aussieht und sie schließen sich ihr an. Sie sehen, wie mutig sie ist und werden von ihr inspiriert. Sie fangen an zu akzeptieren wer sie sind und haben keine Angst sich zu outen.“

Matshoba hatte auch erst Angst, sich öffentlich zu ihrer Homosexualität zu bekennen. „Die Gegend in der wir leben ist kein sicherer Ort für Lesben. Aber als ich sie sah, und auch sah wie mutig sie ist, dachte ich, ich sollte auch so sein. Sie sagte mir, ich sollte akzeptieren wer ich bin.“

Nicht viele Frauen sind mutig genug, es Fihlani nachzutun. Aber hoffentlich werden sie durch ihre Geschichte und ihre Tapferkeit ermutigt, sich nicht zu verstecken und sich Gehör zu verschaffen.

Nosphokazi Fihlani setzt mit ihrer formellen Kleidung ein Zeichen: sie lässt sich nicht unterkriegen. Foto: Rosanna Scott

* in Anlehnung an die Kritik am geläufigeren Begriff „corrective rape“ („korrigierende Vergewaltigung“) wird der Begriff „homophobe Vergewaltigung“ vorgezogen. Anm. der Übersetzerin.

 

Der Text wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Lisa Zeller.

Rainbow Nation unter Druck

  • 29.09.2012, 02:39

In Kapstadt wird soziale Ungleichheit in Autominuten gemessen: Zehn davon liegen zwischen dem reichen Zentrum und den informal Settlements. Dort herrscht Armut, und Widerstand. Besonders aktiv in Südafrikas einflussreicher Zivilgesellschaft sind feministische Organisationen. Zwei Monate Südafrika, zwischen diesen Extremen: Ein Reisebericht.

In Kapstadt wird soziale Ungleichheit in Autominuten gemessen: Zehn davon liegen zwischen dem reichen Zentrum und den informal Settlements. Dort herrscht Armut, und Widerstand. Besonders aktiv in Südafrikas einflussreicher Zivilgesellschaft sind feministische Organisationen. Zwei Monate Südafrika, zwischen diesen Extremen: Ein Reisebericht.

„For Nozizwe! Viva Nozizwe, viva!“ Eine Gruppe von etwa tausend Menschen hat sich vor der St. Georges Cathedral versammelt, Sprechchöre hallen in isiXhosa, Afrikaans und Englisch durch die Reihen. Ein Meer an Flugzettel, Bannern und lila T-Shirts rauscht durch die Straßen um sich schließlich in der Kathedrale im Herzen von Kapstadt einzufinden. Drinnen findet eine Kundgebung zur Bewusstseinsbildung für HIV/AIDS statt.

Ferienparadies statt Aidsbekämpfung. Die Kundgebung mehrerer Nichtregierungsorganisationen steht im Zeichen der Entlassung der stellvertretenden Gesundheitsministerin Nozizwe Mbela-Routledge. Der Grund für die Amtsenthebung: Neben dem Ausbau der Gesundheitseinrichtungen sprach sie sich auch dafür aus, HIV/AIDS nicht mehr totzuschweigen. „Südafrika leidet unter einer HIV/AIDS-Pandemie“, diesen Satz wollten einige nicht hören. Als Reaktion auf das Abweichen von der offiziellen Linie der Regierungspartei African National Congresses (ANC) wurde sie ihres Amtes enthoben.
Für viele NGOs und Gewerkschaften machen die Ereignisse Mbela-Routledge zur Heldin. Sie hat ein zentrales Problem angesprochen, Südafrika kämpft mit dem HI-Virus. Seit 1998 hat sich die Sterberate im Land bei den 20- und 40-jährigen um 150 Prozent erhöht. Aktuellen Schätzungen zufolge leben etwa 5 ½ Millionen SüdafrikanerInnen mit HIV/AIDS und jeden Tag sterben bis zu 1000 Menschen daran.
Die „Rainbow Nation“ steht innenpolitisch wie international unter Druck. Seit dem Ende der Apartheid, das sich unter weltweiter Beobachtung vollzog, gilt Südafrika als Vorzeigeprojekt für internationale Demokratisierungs- und Transformationsprozesse. Was diesem Bild nicht entspricht, schweigt die Regierung tot. Denn: die internationalen InvestorInnen und TouristInnen sollen nicht beunruhigt werden. Nicht jetzt, wo es um den Aufschwung des Landes geht.
Atemberaubend ist die Ansicht Kapstadts vor dem Hintergrund des Tafelberges, Blick auf das Meer. Zu einem international bedeutenden Zentrum und einer beliebten Reisedestination soll die Stadt werden. Und die Ernüchterung: Hinter diesen Wünschen stehen die wirtschaftlichen Interessen und Überlegungen der reichen, weißen Bevölkerung. Sie sind es auch, denen der Aufschwung hauptsächlich zu Gute kommt.

Unser Stolz. Entlang der Stadtautobahn N2 breiten sich so genannte informal settlements oder Townships aus, die einen Großteil der Bevölkerung Kapstadts beheimaten. Im Zuge der Segregation von Menschen nach Hautfarbe während des Apartheid-Regimes wurden viele in diesen Niederlassungen ausgesetzt. Die Standards unterscheiden sich von Township zu Township: Da gibt es Hütten und Verschläge – genannt Shacks – aus Wellblech, Holz, Plastik, alten Autoteilen oder Stroh, teilweise ohne Strom, fließendes Wasser oder Heizung. In den „besseren Gegenden“ sind die Häuser aus Backstein, die allerdings ungefähr 2000 Rand kosten. Das sind 200 Euro und mehr, als viele im Monat zur Verfügung haben.
Die Townships tragen Namen wie Unser Stolz, Mond, Sonne, Neue Heimat. Dort konzentrieren sich Armut, Arbeitslosigkeit (in manchen Townships liegt sie bei geschätzten 70 Prozent), HIV/AIDS aber auch politische Aktivität. Die Bevölkerung der Townships ist multikulturell und ethnisch vielfältig, sie hat aber Eines gemeinsam. Es klingt wie aus einer anderen Zeit: Sie ist nicht weiß.
Aber nicht still. In der politischen Debatte kommen die Township-BewohnerInnen und ihre Anliegen wenig bis gar nicht vor. „Es gibt kein HIV/AIDS-Problem“, sagt die amtierende Gesundheitsministerin Manto Tschabalala-Msimang und ist damit auf ANC-Linie. In der Kathedrale zu St. James begegnet man diesem Satz mit Wut und Sprechchören, obwohl viele der Anwesenden selbst ANC-VeteranInnen oder AnhängerInnen sind. Die starke Zivilgesellschaft Südafrikas ist ein Erbe aus dem Kampf gegen das Apartheid-Regime.
Besonders feministische Organisationen machen sich momentan für Mbela-Routledge, oder Nozizwe, wie sie von ihren UnterstützerInnen genannt wird, stark. „Es ist ein Zeichen, dass gerade an einer Politikerin ein Exempel statuiert wird,“ meint Edwina von der Organisation New Women’s Movement in der anschließenden Rede. „Und es ist auch ein Exempel, dass sie gerade für ein Thema einstehen wollte, dass Frauen betrifft und so viele andere Bereiche berührt. Frauen und Gewalt, Frauen und Sexualität, Frauen und Verhütung.“

New Women’s Movement ist eine Organisation, die in den Townships aktiv ist und sich speziell an Frauen richtet. Mit über 5000 Mitgliedern und Aktivistinnen, ist New Women‘s Movement eines der größten Frauennetzwerke in Kapstadt. Wie alle Organisationen, die eine regierungskritische Position einnehmen, erhält sich NWM von Mitgliedsbeiträgen und Spenden.
Zu den Finanzierungsschwierigkeiten kommen weitere Probleme hinzu, denn es ist schwierig die Frauen in den Townships zu erreichen. Viele von ihnen sind einer doppelten und dreifachen Belastung ausgesetzt: Kinder, Gelegenheitsarbeit und politische Aktivität. „Es braucht alles viel Zeit, abwaschen, kochen, Wäsche waschen“, erzählt Noma, eine der jungen Aktivistinnen des New Women’s Movment. „Wir haben keinen Strom, wenn das Geld aus ist. Und gleichzeitig machen sie auf SABC (einem staatlichen Fernsehkanal) Werbung für Geschirrspüler, weil es Wasser spart.“
Im September war „Heritage Month“ in Südafrika. Ziel sei es, dem gemeinsamen kulturellen Erbe zu gedenken und sich der Bedeutung der Republik bewusst zu werden. Doch einfach ist dieser Prozess der Bewusstseinsbildung nicht immer: Ob Noma schon einmal auf der Gefängnisinsel Robben Island war, wo Nelson Mandela die meiste Zeit seiner 27-jährigen Haft verbrachte? Nein, der Eintritt kostet 150 Rand, das sei die Hälfte von dem, was sie im Monat zur Verfügung habe.
Und im Sommer sind die Touren meist ohnehin von TouristInnen ausgebucht.

Maude Lake studiert Theologie in Linz.

„Mawubuye umhlabawethu!”

  • 29.09.2012, 02:24

„Lasst uns unser Land zurückholen!” – Unter diesem Motto versucht eine Gruppe von knapp 400 Menschen im südafrikanischen Barberton an der Grenze zu Swaziland, das durch Kolonial- und Apartheidregierungen enteignete Land ihrer Vorfahren zurück zu holen.

„Lasst uns unser Land zurückholen!” – Unter diesem Motto versucht eine Gruppe von knapp 400 Menschen im südafrikanischen Barberton an der Grenze zu Swaziland, das durch Kolonial- und Apartheidregierungen enteignete Land ihrer Vorfahren zurück zu holen.

Land spielte in der Geschichte des südlichen Afrikas schon immer eine zentrale Rolle. Als fundamentale Ressource in der politischen Ökonomie, aber auch als kultureller Faktor, der komplexe historische Bedeutungen und Identitäten konstruiert(e) und reflektiert(e). Mit Ende der Apartheid 1994 waren rund 87 Prozent der Fläche in „weißer“ Hand. Die neue demokratische Regierung stand einer Herausforderung von politischer, ökonomischer, aber ebenso sozialer wie auch symbolischer Bedeutung gegenüber. Von sicheren Besitzverhältnissen über Landzugang von Landlosen und Frauen, bis hin zu kommerziell genutzter Landwirtschaft reichten die Anforderungen an die Landreform, die zugleich historische Wiedergutmachung und nationale Versöhnung vorantreiben sollte. Die von der Weltbank beeinflusste Strategie zur sozialen Transformation verfolgte das Ziel 30 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche innerhalb der ersten fünf Jahre an die ehemals benachteiligten Gruppen umzuverteilen. Mit einem Drei-Säulen-Modell der Restitution, Redistribution und Bodenrechtsreform versuchte nun die Regierung die historisch gewachsenen Ungleichheiten zu beheben.

Kaufwillig. Welche Ergebnisse kann man nun 13 Jahre nach Implementierung dieses Modells festhalten und schafft das Programm eine effektive und nachhaltige Transformation der sozioökonomischen Verhältnisse marginalisierter Bevölkerungsgruppen? Die südafrikanische Regierung wählte den neoliberalen Ansatz des „willing buyer, willing seller“, um die soziale und ökonomische Transformation voran zu treiben. Dieser geht davon aus, dass der freie Markt selbst den besten Regelungs- und Umverteilungsmechanismus darstellt. Der Landmarkt ist aber kein apolitischer und ahistorischer Raum, sondern gemeinsam mit Nachfrage und Angebot das Ergebnis historisch sozialer Konstruktionen. Durch das Restitutionsprogramm soll Land, welches mit der Implementierung des Gesetzes zur Schaffung von Reservaten im Jahr 1913 enteignet wurde, an die rechtmäßigen BesitzerInnen zurückgegeben werden. Zu diesem Zweck kauft der Staat selbst teilweise Land auf dem freien Markt. Daneben gibt es aber auch staatliche Zuschüsse, um Land über die Redistribution an ehemals benachteiligte Gruppen zu verteilen. Da diese jedoch bescheiden ausfallen, bedarf es des Zusammenschlusses vieler Menschen, um Land um den verhältnismäßig hohen Marktpreis überhaupt kaufen zu können. Wie Untersuchungen auf Weinfarmen rund um Kapstadt sowie diversen anderen sozioökonomischen Entitäten im Osten des Landes zeigen, kommt es nach dem Landtransfer vermehrt zu Schwierigkeiten in Bereichen der rechtlichen Besitztitel sowie zur Fortsetzung ökonomischer und diskursiver Abhängigkeitsverhältnisse. Wurde zum Beispiel kommerziell genutztes Land an FarmarbeiterInnen übertragen und Partizipationsprojekte eingerichtet, wie es u.a. auf einigen Weinfarmen der Fall war, stellt sich meistens auf Grund des Fehlens ökonomischen Kapitals und grundlegender Produktionsmittel eine Situation ein, die durch die weiterhin notwendige Lohnarbeit jener neuen LandbesitzerInnen in den „Mutterbetrieben“, gar zu einem verstärkten Abhängigkeitsverhältnis führt. Daneben haben sich auf Farmen oft auch paternalistische Dependenzen, d.h. komplexe asymmetrische Machtbeziehungen zwischen meist männlichen Farmern und ihren ArbeiterInnen, festgeschrieben.

Farm-Management. Neben den durch das wirtschaftsliberale Modell limitierten staatlichen Interventionsmöglichkeiten ergeben sich in Folge auch Schwierigkeiten bei der Nutzung und Aufrechterhaltung agrarischer Produktion sowie der generellen Sicherstellung und Errichtung rudimentärer Infrastruktur, wie z. B. Wasser und Kanalisation. Trotz der offiziellen Maxime eines deregulierten Marktes bedarf es direkter Eingriffe des Staates in Produktion und Vertrieb, um die Nahrungssicherheit für das südliche Afrika auch in Zukunft zu gewährleisten. Daher liegt das Hauptaugenmerk seit einiger Zeit auf Ausbildung und Training von FarmarbeiterInnen, weil es ihnen grundsätzlich an Management-Wissen fehlt. Kommerzielle Farmen sollen dann nach der Umverteilung nicht mehr zu reinen Wohnsiedlungen verkommen. Ob diese Maßnahmen zur Aufrechterhaltung landwirtschaftlicher Produktion beitragen, oder doch zu einer ähnlich chaotischen Situation wie in Simbabwe führen, werden wohl erst die nächsten Jahre zeigen.

Rechtsunsicherheit. Die Organisationsform des neu erworbenen Landes kann grundsätzlich von den NutznießerInnen selbst entschieden werden. Neben herkömmlicher Wohn- und Subsistenznutzung sowie kommerzieller Landwirtschaft werden auch traditionelle Autoritäten und Institutionen vermehrt zur Verwaltung dieser Gebiete eingesetzt. Sie repräsentieren vor allem Fragen der Zugehörigkeit und Identität sowie die Durchsetzung lokaler Autonomie gegen die globalisierenden und modernisierenden Bestrebungen des Staates. Problematisch sind diesem Kontext Tendenzen zur weitgehenden Isolation dieser Entitäten, weil Theorie und Praxis menschenrechtlicher Aspekte oft weit auseinander klaffen und insbesondere Landrechte von Frauen und Jüngeren teilweise beschnitten werden. Im Hinblick auf rechtliche Besitztitel reproduziert die südafrikanische Landreform hier eine Problematik der Rechtsunsicherheit, die seit der Etablierung der Reservate zu teilweise chaotischen Systemen der Landvergabe führte. Diesen BewohnerInnen sowie ArbeiterInnen auf kommerziellen Farmen sollen durch die Bodenrechtsreform eine Anerkennung ihrer Besitz- und Nutzungsrechte garantiert werden. Bis dato wurden jedoch nur marginale Erfolge erzielt und die Situation, vor allem von Frauen, bleibt prekär. Sie unterliegen nach wie vor einer multidimensionalen Unterdrückung aus Rassismen und Sexismen kapitalistisch-patriarchaler Gesellschaftsstrukturen. Bis zum Jahr 1999 wurde lediglich ein Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Südafrikas mit Hilfe der Landreform transferiert. Anfang 2005 waren es immerhin vier Prozent. Das neue Ziel zur Erreichung der 30 Prozent Quote und somit der Armutsbekämpfung, sozialen Durchlässigkeit und Gendergerechtigkeit, ist auf das Jahr 2015 verschoben worden. Ob dies erreicht werden kann, hängt zu einem beträchtlichen Teil von den Möglichkeiten der Partizipation und Selbstbestimmung aller benachteiligten Gruppen in Südafrika ab.

Severin Lenart studiert Kultur- und Sozialanthropologie in Wien.

WM im gespaltenen Land

  • 13.07.2012, 18:18

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika steht kurz bevor. Der Weltfußballverband FIFA verspricht ein Freudenfest, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Doch zum Feiern ist vielen SüdafrikanerInnen eigentlich nicht zu Mute. Zu groß sind die Probleme im eigenen Land.

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika steht kurz bevor. Der Weltfußballverband FIFA verspricht ein Freudenfest, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Doch zum Feiern ist vielen SüdafrikanerInnen eigentlich nicht zu Mute. Zu groß sind die Probleme im eigenen Land.

In ihren Augen waren wir keine Menschen. “Als der 24-jährige Mathematiker MarcusSolomon 1964 seine 15-jährige Haftstrafe wegeniderstandes gegen die Staatsgewalt im Hochsicherheitsgefängnis von Robben Island antrat, wurden er und die anderen Häftlinge „wie Säcke von Kipplastern abgeladen“, erzählt Solomon. Hier, auf der Gefängnisinsel zwölf Kilometer vor Kapstadt, schlug die Unmenschlichkeit des Apartheid-Regimes mit voller Wucht zu. Unter der Woche mussten die 1.400 Insassen im Steinbruch bis zur völligen Erschöpfung arbeiten. Am Wochenende wurden sie wie Tiere in ihre Zellen gepfercht. Das Ziel der Handlanger des Buren-Regimes war klar: Der Wille der politisch unangenehmen Häftlinge sollte gebrochen werden. Es war aber weniger die kraftraubende Arbeit im Steinbruch, die den Insassen zu schaffen machte, als vielmehr die strikte Isolation und gähnende Langeweile an den Wochenenden. „Wenn wir doch wenigstens ein bisschen an die frische Luft gehen und Fußball spielen könnten“, dachte sich Solomon von den ersten Tagen an. Seine Mitinsassen waren von dieser Idee sofort begeistert, doch bei den Wärtern stießen sie auf taube Ohren. Dennoch: Drei lange Jahre brachten die Häftlinge Woche für Woche immer wieder den gleichen Wunsch vor: „Wir wollen Fußball spielen.“ Die Gefängnisdirektion antwortete mit Prügel und Essensentzug.

Boykott der Freiheitskämpfer. Im Dezember 1967 wurden aber einige Häftlinge auf den Hinterhof der Barracken geführt. Dort erhielten sie einen Ball und die Erlaubnis, für eine halbe Stunde Fußball zu spielen. „Endlich hatten wir zumindest ein kleines Stück unserer Freiheit zurück“, erinnert sich Solomon. Die Häftlinge blieben aber den Wärtern ausgeliefert: Sie bestimmten, wer aus den Zellen raus durfte und wie lange gespielt wurde. Hatten die Insassen zu offensichtlich Spaß, setzten sie dem Spiel jäh ein Ende. Als zwei Jahre später auf Druck des Internationalen Roten Kreuzes die Gefängnisleitung durch eine gemäßigtere ausgetauscht wurde, durften die Häftlinge endlich ihre eigenen Spiele organisieren. Es dauerte nicht lange bis auf Robben Island ein eigener Verband gegründet wurde. Dabei wurde jeder Häftling, der mitmachen wollte, mit einer Aufgabe bedacht. Wer in keinem der acht Vereine unterkam, der half als Schiedsrichter, Funktionär, Trainer oder Platzpfleger mit. Robben Islands berühmtester Häftling Nelson Mandela durfte im Gegensatz zum heutigen Staatspräsidenten Jacob Zuma, der als linker Verteidiger spielte, nicht auf den Platz. Über ihn war eine Isolationshaft verhängt worden. Er konnte allerdings zu Beginn die Spiele von seinem Zellenfenster aus mitverfolgen. Als die Gefängnisleitung das bemerkte, ließ sie eine Mauer vor dem Fenster errichten. „Wir waren Idealisten. Die Organisation des Verbandes und die Spiele waren der Versuch,in einem barbarischen Umfeld zivilisiert miteinander umzugehen“, sagt Solomon.
Die Geschichte der Fußball spielenden Häftlinge auf Robben Island war landesweit bekannt, aber knapp 15 Jahre nach dem Ende des Apartheid-Regimes interessierte sie niemanden mehr. Erst mit der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an Südafrika wurde das Interesse daran wieder geweckt. Für den Weltfußballverband FIFA war es ein gefundenes Fressen. FIFA- Präsident Joseph Blatter reiste mehrere Male nach Robben Island, um dort mit Tränen in den Augen und „tief bewegt“, wie er sagte, den kickenden Freiheitskämpfern zu gedenken. Solomon und seine ehemaligen Weggefährten können dieser Inszenierung nichts abgewinnen. „Uns ging es ums Allgemeinwohl, die FIFA aber denkt nur ans Geschäft. Welchen Sinn macht es, wenn Stadien errichtet werden, die keiner braucht, obwohl unsere Kinder in den Townships absolut nichts haben“, kritisiert Solomon die PolitkerInnen seines Landes und den Weltfußballverband. Er selbst hat für sich schon die Konsequenzen gezogen: Er wird die Weltmeisterschaft im eigenen Land boykottieren.

Tötet die Buren. Tatsächlich ist Südafrika heute nicht nur hinsichtlich der WM ein gespaltenes Land. Die Spannungen zwischen der schwarzen und weißen Bevölkerung nahmen in der jüngsten Vergangenheit wieder zu. Das brutale soziale Ungleichgewicht innerhalb des afrikanischen Vorzeigelandes ist auch in der Post-Apartheid-Ära nicht vom Tisch. Obwohl inzwischen auch einige Schwarze den Aufstieg in die Oberklasse geschafft haben, lebt ein Großteil von ihnen heute noch immer in bitterer Armut, ohne Bildung, medizinische Versorgung und die Chance auf einen sozialen Aufstieg. Wie fragil das Gebilde Südafrika ist, zeigten die Spannungen der vergangenen Wochen. Als Eugene Terre‘Blanche, Führer der rechtsextremen Afrikaner Weerstandsbeweging (AWB), höchstwahrscheinlich von Bediensteten schwarzer Hautfarbe ermordet wurde, riefen seine AnhängerInnen offen zur blutigen Rache auf und drohten damit, das Land ins Chaos zu stürzen. Inzwischen hat der AWB-Sprecher Pieter Steyn aber erklärt, „dass seine Organisation in diesem Fall aller Gewalt abschwört.“ Julius Malema, der Anführer der ANC-Jugendliga und politische Ziehsohn von Präsident Zuma, heizte die Lage noch einmal zusätzlich an. Vor 500 Studierenden der Universität von Johannesburg stimmte er das ehemalige Kampflied der Freiheitsbewegung mit den Zeilen „Tötet die Buren, tötet die Farmer“ an.
Und das alles just in dem Moment, in dem die gesamte Weltöffentlichkeit in Erwartung der Weltmeisterschaft gespannt nach Südafrika blickt. „Ich fahre da nicht hin. Ich war nie ein großer Freund einer WM in Südafrika oder überhaupt auf dem afrikanischen Kontinent, solange Sicherheitsaspekte nicht zu 100 Prozent geklärt sind“, sagte Bayern München-Präsident Uli Hoeneß schon Anfang dieses Jahres. Mit dieser Meinung steht Hoeneß nicht alleine da. Die FIFA räumte inzwischen ein, dass anstatt der ursprünglich erwarteten 450.000 TouristInnen aus Übersee wohl nur knapp 350.000 die Reise ins südlichste Land Afrikas antreten werden. Die südafrikanische Regierung korrigierte die Zahl in ihren Berechnungen mittlerweile auf 300.000 BesucherInnen herunter. Die politische Führung des Landes sieht als Grund dafür die negative Medienberichterstattung in Übersee an. Dass die Sicherheitslage in Südafrika aber wirklich prekär ist, zeigt ein Blick in die Kriminalstatistik: 50 Menschen werden täglich in Südafrika ermordet. Die Dunkelziffer liegt laut ExpertInnen noch viel höher. Der Kampf gegen die Kriminalität ist inzwischen für viele SüdafrikanerInnen zur obersten Priorität geworden. So erklärte Max Price, der Vizerektor der University of Capetown, in einer viel beachteten Rede anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten des ermordeten Studenten Dominic Giddy, „dass die Apartheid zusammengebrochen ist, als die Zivilgesellschaft entschieden hat, dass sie am Ende ist. Jetzt müssen wir als Gesellschaft beschließen, dass Schluss sein muss mit der Kriminalität.“ Einen wesentlichen Teil der Schuld sieht Giddy in den PolitkerInnen des Landes. „Ihr müsst endlich beweisen, dass ihr es ernst meint. Wenn ihr das macht, unterstützen wir euch. Aber wenn Ihr, wie bisher, leichtfertig mit unseren Leben umgeht, werden wir euch den Mittelfinger zeigen und euch abwählen.“ Der Protest gegen Gewalt und Verbrechen findet immer mehr AnhängerInnen. So wurden vor kurzem auf eine Initiative der größten unabhängigen Gewerkschaftsbewegung des Landes 18 Schubkarren voll mit 107.000 Briefen, die zum Kampf gegen die Kriminalität auffordern, persönlich bei Präsident Zuma abgegeben.

Schwer bewaffnete Spezialeinheiten. Die WM-TouristInnen werden die Gewalt wohl dennoch nicht zu fürchten haben. Insgesamt 88.000 PolizistInnen, darunter schwer bewaffnete Spezialeinheiten, sollen die BesucherInnen von den „dunklen Seiten“ Südafrikas abschirmen. FIFA-Boss Blatter ist zuversichtlich: „Wir können nur für ein Minimum an Sicherheit garantieren, doch für den Rest haben wir von Anfang an Südafrika vertraut. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, die WM-Premiere in Afrika könne kein Erfolg werden. Wir ziehen doch nicht in den Krieg, wir sprechen über ein Fest“, erklärte er im März. Ein Fest, das von 88.000 Truppen beschützt werden muss.
Die finanziellen Mittel, die die südafrikanische Regierung für die Ausrichtung der WM in die Hand nimmt, sind enorm. Alleine in den Neubau bzw. die Renovierung der zehn WMStadien fließen € 1,25 Milliarden. Für Infrastrukturmaßnahmen rund um die Stadien stellt die Regierung rund € 570 Millionen bereit. Als Teil eines viel größeren Investitionsprogramms zur Verbesserung der Infrastruktur im Land wurden in den letzten vier Jahren insgesamt etwa € 36 Milliarden investiert. Zum Vergleich: Die bis dato teuersten Olympischen Spiele waren die jüngsten in Peking, wo die Kommunistische Partei Chinas rund € 28 Milliarden in die Hand nahm. Ein Teil-Nutzen dieses Programms für die Bevölkerung, die dadurch künftig zum Beispiel auf ein verbessertes öffentliches Verkehrswesen zurückgreifen kann, ist unbestritten. Wie viel Geld die WM im Gegensatz dazu in die Kassen des südafrikanischen Staates spülen wird, ist hingegen mehr als umstritten. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Austragung solcher sportlichen Großereignisse manchmal weit weniger bringt als erwartet wird. Mitunter kann ein Event dieser Größenordnung auch ins Negative umschlagen. Die kanadische Stadt Montreal, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1976, konnte sich erst 30 Jahre später von den daraus resultierenden Schulden befreien. In Südafrika rechnet die Regierung mit einem Plus von € 1,7 Milliarden alleine aus den Steuereinnahmen. € 760 Millionen sollen die WM-TouristInnen im Land lassen.
Wichtigste Aufgabe der WM in Südafrika ist aber ohnehin nicht die Erwirtschaftung vonmöglichst viel Geld, sondern vielmehr die Förderung einer landesweiten, einheitlichen Identität. Sportliche Erfolge spielen in der jungen Geschichte der Post-Apartheid-Ära eine wichtige Rolle. So brachte der Gewinn des Afrika-Cups 1996 im eigenen Land eine riesige Welle der Begeisterung mit sich. Für kurze Zeit waren alle sozialen Probleme im Land vergessen, im Freudentaumel schienen für kurze Zeit alle gleich. „Wir müssen den Sport nützen, um unser Volk in die Richtung eines vom Rassismus befreiten Südafrikas zu lenken. Wir müssen ihn für unser Nationbuilding nutzen, um Selbstwertgefühl und Nationalstolz zu stärken“, erklärte der ehemalige Sportminister Makhenkesi Stofile.

Blatter und der Friedensnobelpreis. Die „Bafana Bafana“, wie die SüdafrikanerInnen ihre Landesauswahl nennen, könnte Stofile einen Strich durch die Rechnung machen. Seit Jahren sucht die Mannschaft, die vom Brasilianer Carlos Alberto Parreira für eine Millionen-Gage trainiert wird, den Anschluss an die afrikanische Spitze. Nur wenn das Team rund um Spielmacher Steven Piennar über sich hinauswächst, kann ein Aus in der Vorrunde vermieden werden. Sollten sich die Gastgeber aber bereits vorzeitig aus dem Turnier verabschieden, was angesichts der Gruppengegner Frankreich, Mexiko und Uruguay sehr wahrscheinlich ist, dann ist es mit der Euphorie schnell wieder vorbei. Ein blamabler Auftritt der „Bafana Bafana“ könnte sich für die ganze WM als Sicherheitsrisiko erweisen.
Joseph Blatter hingegen will von alledem nichts wissen. Seit Monaten tourt der 73-jährige Schweizer rund um den Globus, um gute Stimmung für „seine“ WM in Südafrika zu machen. Als im Dezember 2009 der offizielle WM-Ball „Jabulani“ in Kapstadt der Öffentlichkeit präsentiert wurde, bekam diese auch einen völlig losgelösten FIFA-Präsidenten zu sehen. „Jabulani, ich liebe dich“, war der mächtige Funktionär nicht mehr zu halten. Nach der erfolgreichen Vergabe der WM an Südafrika hat der „Sonnenkönig“, so Blatters Spitzname, neben einer vierten Amtszeit als oberster Fußball-Funktionär, bereits ein weiteres Ziel vor Augen. Nicht weniger als den Friedensnobelpreis soll Blatter im Visier haben. Er sprach von diesbezüglichen „Initiativen“, die jetzt an ihn „herangetragen werden“. Unbescheiden wie er ist, sagte er aber auch: „Wenn wir einen Nobelpreis bekommen sollten, dann gebührt dieser der gesamten FIFA und nicht einem Mann.“ Falls die Auszeichnung aber doch direkt an ihn gehen würde? „Dann würde ich ihn nicht ablehnen. Natürlich nicht. Das gehört sich doch nicht.“