Refugees

„Das zentrale Element ist die Beziehung“

  • 20.06.2017, 20:50
Ohne Anschluss an gleichaltrige ÖsterreicherInnen haben es junge Flüchtlinge schwer. Patenschaften mit StudentInnen verhelfen zu einem gelungenen Neustart.

Ohne Anschluss an gleichaltrige ÖsterreicherInnen haben es junge Flüchtlinge schwer. Patenschaften mit StudentInnen verhelfen zu einem gelungenen Neustart.

Ich bin mit zwei jungen Männern verabredet, die mir von ihrer Freundschaft erzählen wollen. Als Treffpunkt haben wir das Gartenbaukino gewählt, weil sie bei ihrer ersten Verabredung auch im Kino waren und Kung Fu Panda gesehen haben. Yousef ist 23, hat einen melancholischen Blick und trägt einen dichten Bart. Manuel ist 22 und man sieht ihm seine Freundlichkeit auf den ersten Blick an. Ich sehe sie, bevor sie auf mich aufmerksam werden und kann die Vertrautheit zwischen den beiden schon von weitem erkennen.

Im Sommer 2014 hat Yousef seine Heimat Syrien verlassen. Das Regime von Baschar al-Assad hatte ihn mit 20 Jahren festgenommen und für ein Jahr und sechs Monate ins Gefängnis gesteckt. Danach hielt ihn nichts mehr in Damaskus. Als er das Land verlassen hatte, wurden auch seine Mutter und sein Bruder verhaftet. Den Grund seiner Festnahme kennt er bis heute nicht. Wahrscheinlich hat jemand gemerkt, was er von Assad hält.

Ein Jahr später, im Sommer 2015, ist Manuel das erste Mal auf die Situation von Flüchtlingen aufmerksam geworden. In St. Pölten, wo er mit seinen Eltern lebt, hat er davon nichts gemerkt, aber in Wien waren die vielen neu ankommenden Menschen nicht zu übersehen. Als er nach einer Möglichkeit suchte mitzuhelfen, die Situation der „Neuen Österreicher“, wie Manuel sie gerne nennt, zu verbessern, hat er von dem Projekt „Connecting People“ gehört.

CONNECTING PEOPLE. Dabei handelt es sich um eines der Patenschaftsprojekte für junge Flüchtlinge in Wien. Seit 2001 arbeitet ein kleines Team der NGO „Asylkoordination Österreich“ daran, Jugendliche, die neu in Österreich sind und sich eine Bezugsperson wünschen, an ÖsterreicherInnen zu vermitteln. Ähnliche Projekte gibt es auch von der Caritas, der Volkshilfe und dem Integrationshaus.

Was eine Patenschaft ist und wie sie sich gestaltet, ist offen. „Das zentrale Element ist die Beziehung“, sagt Klaus Hofstätter, der das Projekt leitet: „Für uns ist nicht diejenige Patenschaft die beste, wo man sich jeden Tag trifft, sondern die, in der beide Beteiligten das bekommen, was sie sich von einer Patenschaft erwarten.“ Das kann von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. Manche brauchen Unterstützung beim Deutschlernen, andere einfach jemanden, der oder die ihnen Wien zeigen kann. Wieder andere suchen wirklich eine enge Bindung und eine Patenschaft kann dazu führen, dass eine enge Freundschaft entsteht.

GELUNGENER START. Bei Manuel und Yousef scheint der Begriff Patenschaft jedenfalls unpassend. Es ist längst eine Freundschaft entstanden. „Yousef ist ein sehr offener, zugänglicher Mensch. Das hat ihm auch selbst den Start in Wien leichter gemacht“, erklärt Manuel. Mittlerweile hat Yousef Asyl bekommen und einen Job als Mechaniker gefunden. Sein Chef kommt wie er aus Syrien. Jeden Vormittag geht er drei Stunden in den Deutschkurs. Sein Chef ermöglicht das, weil es ihm wichtig ist, dass Yousef mit Deutsch schnell vorankommt. Schließlich muss der Laden auch laufen, wenn der Chef nicht da ist.

Obwohl Yousef sich seinen Start in Wien mit viel Selbstständigkeit erkämpft hat und soweit alles ganz gut läuft, ist es für ihn in vielen Situationen eine große Unterstützung, eine Bezugsperson zu haben. Das fängt schon bei Kleinigkeiten wie der Post an. „Wenn ich etwas nicht verstehe, weiß ich nicht einmal, ob es wichtig ist oder nicht“, erklärt er. „Bei manchen Briefen vom Sozialamt tu ich mir selbst schwer, zu wissen, was man von ihm verlangt“, sagt Manuel. Auch zum Interview vor der Asylbehörde, wo Yousef zu seinen Fluchtgründen befragt wurde, hat Manuel ihn begleitet. „Wenn Manuel mitkommt, habe ich nicht so viel Angst“, erzählt Yousef. Nach einer Stunde war das Interview überstanden und drei Monate später kam der positive Bescheid per Post.

PATENENSCHAFT FUNKTIONIERT. Die meisten Patenschaften, die das Team von „Connecting People“ bisher vermittelt hat, betreffen unbegleitete minderjährige AsylwerberInnen. Jugendliche, die oft mehr brauchen als nur Obsorgeberechtigte vom Jugendamt und die Betreuung im Asylquartier. Sie wünschen sich oft tatsächlich eine Familie. Bei unter 18-Jährigen sind deshalb die Erwartungen Erwartungen an die PatInnen meist weit höher als bei jungen Erwachsenen. Seit 2012 vermittelt die „Asylkoordination Österreich“ in einem eigenen Projekt auch Patenschaften für junge Erwachsene.

Wer sich für eine Patenschaft interessiert, wird in sechs Seminartagen eingeschult. Es geht um Themen wie das Asylverfahren, die Unterbringung und den Alltag sowie psychische Belastungen von AsylwerberInnen. Klaus Hofstätter geht nach seinem Gefühl, wenn er aussucht, welche PatInnen er welche Jugendlichen vorstellt. Es kommt durchaus auch mal vor, dass eine Patenschaft nicht funktioniert, die Chemie nicht stimmt. Das ist aber in Ordnung. Für PatInnen sind Klaus Hofstätter und seine KollegInnen immer erreichbar und im ersten Jahr gibt es regelmäßige Treffen aller PatInnen, um sich auzutauschen und auch Rat zu bekommen, wenn es nötig sein sollte.

Über 700 Patenschaften hat „Connecting People“ seit dem Projektstart 2001 vermittelt. Die meisten davon im Jahr 2016. „Nachdem wir normalerweise 40 bis 70 Patenschaften im Jahr vermitteln, waren es 2016 stolze 170“, sagt Hofstätter und meint abschließend: „In letzter Zeit wären mehr Patenschaften aber durchaus wünschenswert.“

Johannes Pucher studiert den Master Journalismus & Neue Medien an der FH WKW in Wien.

Medienproduktion im Exil

  • 23.02.2017, 20:23
Die Plattform „Join Media“ vernetzt geflüchtete Medienschaffende mit den hiesigen Redaktionen, um so ihren Eintritt in die Arbeitswelt zu erleichtern.

Die Plattform „Join Media“ vernetzt geflüchtete Medienschaffende mit den hiesigen Redaktionen, um so ihren Eintritt in die Arbeitswelt zu erleichtern.

Schikanen und Morddrohungen vonseiten des syrischen Assad-Regimes und vonseiten des sogenannten Islamischen Staats (IS). Die Flucht in die Türkei. Der Versuch, nach dem Abzug der Assad-Truppen erneut im nördlichen Syrien zu leben. Wieder zurück in die Türkei, da der IS die Region eingenommen hatte. Nach all diesen Erfahrungen waren es schließlich Einschüchterungen und Drohungen vonseiten der Freien Syrischen Armee, die den im syrischen Aleppo lebenden Journalisten Jehad Nour Eddin Hussari nach Österreich flüchten ließen.

„Alle Journalisten, die in Syrien leben und gegen das Regime berichten, werden mit Entführungen und Mord bedroht. Alle Truppen, die du als Journalist kritisierst, versuchen dich loszuwerden“, erklärt der heute 31-jährige Hussari. Eigentlich war er in Syrien Imam. Mit Ausbruch des Krieges begann er als Journalist zu arbeiten, um über die Missstände in seinem Land zu berichten. Seit eineinhalb Jahren lebt Hussari in Österreich.

VERNETZUNG. Hier angekommen, heißt es unzählige Behördengänge erledigen, Deutsch lernen, sich in einem neuen Umfeld zurechtfinden und eben auch: Zugang zu österreichischen Medien erhalten, um die Arbeit wieder aufnehmen zu können. Unterstützung dabei bietet die Plattform „Join Media“. Anfang des Jahres 2016 luden die Initiator_innen des Netzwerkes erstmals geflüchtete Medienmacher_innen und in Österreich arbeitende Kolleg_innen ein, um sich kennen zu lernen. Im Mai folgte die erste „Vernetzungskonferenz von Journalist_innen und Medienschaffenden mit und ohne Fluchterfahrung“. Mittlerweile versammelt die Plattform rund 45 Medienmacher_innen mit Fluchthintergrund.

Das zentrale Anliegen: Vernetzung. Denn ohne Kontakte funktioniere es nicht, erklärt eine der Initiator_innen, Sonja Bettel: „Eine große Hürde für geflüchtete Journalist_innen und Medienmenschen ist, dass sie weder Kontakte noch Referenzen haben – insbesondere in einem kleinen Land wie Österreich, ist dies problematisch, denn die Arbeitsmöglichkeiten für freie Medienschaffende sind ohnehin nicht üppig. Wir helfen, indem wir Kontakte zu österreichischen Medien herstellen und Kolleg_innen für konkrete Projekte empfehlen.“

Hussari konnte bereits erste Projekte in österreichischen Medien umsetzen. Er arbeitet vor allem mit dem Fernsehsender Okto TV zusammen. Derzeit macht er den Schnitt für die Sendung „Nour Show“. In dieser wird ironisch über Flüchtlinge berichtet. Darüber, wie das Leben unter den Regimen in den Herkunftsländern die Menschen verändert und wie sich das Ankommen in Österreich gestaltet.

Die Aufarbeitung dieser Themen ist naheliegend. Die erlebten Repressionen als syrischer Journalist, die Fluchterfahrung, das Zurechtfinden in Österreich sind Erfahrungswerte, die den österreichischen Redaktionen zu Gute kommen – zumindest theoretisch.

Auch die Sprachkenntnisse und Kontakte der geflüchteten Journalist_innen sind für die Redaktionen hilfreich, um über die Herkunftsländer zu berichten, erklärt Jonas Paintner, ein weiterer „Join Media“-Initiator: „Sprachkenntnisse sind bei dieser Thematik nicht nur nice-to-have, sondern notwendig. Außerdem gibt es keine offiziellen Stellen in umkämpften Gebieten. Recherchen müssen über private Kontakte laufen. Vieles, was österreichische Journalist_innen aus zweiter oder dritter Quelle erfahren, haben die geflüchteten Kolleg_innen selbst durchlaufen.“

KEINE MEHRSPRACHIGKEIT. Bis dato werden diese wichtigen Ressourcen nur selten von den Redaktionen erkannt und mögliche Barrieren – allen voran die zu Beginn noch fehlenden Sprachkenntnisse – höher bewertet. So seien mangelnde Sprachkenntnisse für die Realisierung einzelner Artikel kein Problem, für eine feste Anstellung jedoch oftmals schon, so Paintner. Hier ist die Scheu genauso groß wie beim Gedanken, Mehrsprachigkeit in die Medien zu integrieren: „In der österreichischen Medienlandschaft findet alles auf Deutsch statt. Gäbe es mehr Medien, die mehrsprachig arbeiten, gäbe es auch mehr Möglichkeiten“, so Paintner weiter.

Auch Hussari hatte bereits die Idee, eine arabischsprachige Sendung mit deutschen Untertiteln in Österreichs Fernsehlandschaft unterzubringen: „Mit einer neuen Sprache wird jeder Sender die Zahl seiner Zuseher_innen erhöhen. Viele interessieren deutschsprachige Programme nicht, da die Deutschkenntnisse dafür noch fehlen“, ist sich Hussari sicher. Ein von ihm an Puls4 herangetragenes mehrsprachiges Konzept wurde mit den Worten, sie würden das Projekt gründlich analysieren, kommentiert. Hussari wartet noch auf eine Antwort.

EXPERT_INNEN DER FLUCHT. Trotz aller Expertise, wird innerhalb des „Join Media“-Netzwerkes die Frage, über welche Themen geflüchtete Journalist_innen berichten können, diskutiert. Ja, sie sind Expert_innen in den Bereichen Flucht, Asyl und Migration. Eine gleichberechtigte Wahrnehmung als Journalist_innen fehle jedoch. Paintner bringt das Problem auf den Punkt: „Wenn ich meine Bachelor-Arbeit über das Thema Flucht schreibe, macht es Sinn, dass ich einen Artikel darüber verfasse. Das Problem: Während ich die Möglichkeit habe, mich in weiterer Folge wieder mit anderen Themen zu beschäftigten, haben die geflüchteten Kolleg_innen riesige Schwierigkeiten, aus dieser Nische rauszukommen.“

Hussari fühlt sich wohl in dieser Nische. Trotz seinem temporären Aufenthaltsstatus als „subsidiär Schutzberechtigter“ ist ihm klar, dass die Rückkehr nach Syrien keine Option ist: „Die Drohungen verschwinden nicht. Es gibt nur die Möglichkeit, in Österreich zu bleiben und hier eine Karriere als Journalist aufzubauen. Das will ich nutzen, um über Syrien, über die Menschen dort und die Geflüchteten hier zu berichten. So wird gegenseitiges Verständnis und gegenseitiger Respekt möglich.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

 

Feiern gegen die Gesamtscheiße

  • 23.02.2017, 20:20
Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Der Winter ist vorbei und mit den ersten Sonnenstrahlen tauchen auch die ersten Gedanken an die Festival-Saison auf. Während die einen im Winter auf einen erfüllten Ferienkommunismus zurückblicken konnten, haben andere daheim weiter gearbeitet: am Refugee-Projekt, im Haushalt, haben Demos angemeldet oder ihr Zuhause verteidigt. Der Ärger über den Hedonismus ist nicht neu, auch nicht die Frage, wie links oder subversiv es sein kann, mehrere Tage unter dem Motto „Koksen, Kotzen, Kommunismus“ in einer arrangierten Parallelwelt zu feiern.

Wer ein Festival wie die „Fusion“ besuchen kann und wer nicht, wird durch die hohen Kosten für die Anreise, die Vergabe teurer Tickets im Lotterie- Verfahren und andere Barrieren, wie etwa Stacheldraht, festgelegt: ein weitestgehend junges, weißes Publikum, das unkritisch Federkopfschmuck oder Dreadlocks trägt. Das Statement der Veranstaltenden, „Vier Tage Ferienkommunismus ist das Motto der ‚Fusion‘. (…) Weil es aber keinen Ort nirgends gibt, wo die Menschen frei sind, ist es gerade die Vereinigung der FusionistInnen aller Länder und der Ferienkommunismus, der uns spüren lässt, dass wir mehr wollen, als das, was uns in diesem Leben geboten wird. Nämlich alles und zwar sofort!“, meint eben alles für alle mit bezahltem Ticket. Nun sind der Besuch von Dixie-Klos und Dauerrausch nicht unbedingt eine rühmliche oder produktive Freizeitgestaltung, aber für manche eben Erholung. Gerne werden vermeintliche „Wohlfühllinke“ kritisiert, die bloß zu Festivals und Soli-Partys gehen, nicht aber nicht bei Lesekreisen und Plena auftauchen. Kapitalistische Härte für alle zu fordern, passt gut in eine Zeit, in der die Kritik an einer kalten Ellenbogen-Gesellschaft ins Gegenteil umschwenkt. Mit Begriffen wie „Slacking“, also dem ambitionslosen Herumhängen, oder „Cocooning“, dem angeblichen Rückzug ins Private, wird Kritik geäußert: Der Rückzug in die persönliche „Comfortzone“ und das „Einbubbeln“ seien Probleme, die genauso wie Netzaktivismus überwunden werden müssten. Das glauben nicht nur Berufsberater_innen, sondern auch asketisch orientierte Linke.

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Dabei wird eine Revolution wohl auch nicht von jenen ausgelöst, die sich nicht auf Festivals schon morgens mit Pfefferminzschnaps betrinken oder „Pokémon Go“ spielen. Hedonistische und materielle Lebensweisen – als „Opium fürs Volk“ (Lenin) – abzulehnen, vergrößert die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Während das „Antifaschistische Sommercamp“ sicherlich mehr linke ECTS bringt als der Besuch des „Nova Rock“, haben beide gemeinsam, dass dort Kontakte geknüpft und gepflegt werden, Beziehungen, Freundschaften und Projektideen entstehen. Das Versinken in der Party, der Musik, in einem Pulk Menschen, die sich gegenseitig akzeptieren, kann eine einzigartige Erfahrung sein und einen Schutzraum, fern von Alltagsproblemen oder Diskriminierungen, bieten. Ein Festival kann auch sinnlose Gaudi und Besäufnis im Dreck sein, ohne Anspruch auf Verwertbarkeit. Statt dies abzulehnen, sollte ein linker Selbstanspruch lauten, solche Erfahrungen und das gute Leben allen zugänglich zu machen. Denn Burnout ist nicht nur im Job, sondern auch in der aktivistischen oder ehrenamtlichen Arbeit ein Thema.

KAPITALISTISCHE HÄRTE FÜR ALLE. Ohne Bezahlung, dafür mit Gruppendruck und nach dem Motto „Wer macht, hat Recht“, wird auch in der Linken teilweise bis zur Selbstaufgabe gearbeitet. Wer sich durch besonderes Engagement hervortut, verschafft sich Wert und Bedeutung. Das Recht der Macher_innen führt fast unweigerlich auch zu Gatekeeping, also der Macht über Informationsflüsse und Zugang zu Ressourcen. Solche Entwicklungen und Haltungen unterscheiden sich manchmal kaum von ausbeuterischen Strukturen der Arbeitswelt. So wird gegenseitige Mobilisierung zur Regulierung. Wer sich wann, mit wem, auf welcher Demo zeigt oder nicht, wird beobachtet und bewertet, ohne unterschiedliche Abilities oder Arbeitsverhältnisse einzubeziehen oder sich zu fragen, wer sich wieviel Freizeitopfer oder die Fahrkarte zur Projektbesprechung leisten kann. Wie gefährlich das ist, zeigen mehrere Fälle, in denen Polizeispitzel lokale Projekte wie etwa die „Rote Flora“ in Hamburg unterwandern konnten oder (mutmaßliche) Vergewaltiger wie Assange und Jacob Appelbaum wichtige Rollen in aktivistischen Umfeldern einnehmen konnten.

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YO, FUTURE! „Don’t smoke, don’t drink, don’t fuck, at least I can fucking think“, singt Ian MacKaye von der Band Minor Threat im Song „Out of Step“, der zentral bei der Entstehung der asketisch lebenden Straight-Edge-Bewegung (sXe) war. So daneben zugequalmte Kulturzentren, betrunkene Ausfälle und unbefriedigende One-Night-Stands auch sein mögen, der Gegenentwurf zur selbstzerstörerischen Punk-Kultur der 80er („No Future“) klingt im heutigen Kontext, in dem „bewusster“ Konsum und Verzicht im selbstoptimierenden Mainstream angekommen sind, fast wie eine Erhebung über die Rauchenden, Trinkenden und Fickenden. Denen wird, zumindest implizit, die Fähigkeit zum eigenständigen Denken abgesprochen.

Die nüchterne Subkultur argumentiert etwa, dass für die Gestaltung politischer Aktionen ein klarer Kopf von Vorteil sei. Wer vor Demos und Aktionen Alkohol trinkt oder Drogen nimmt, gefährdet sich selbst und andere, das steht in jeder „Demo 1x1“- Broschüre. Ein Handbuch für das richtige Linkssein im falschen gibt es aber glücklicherweise nicht. So ist sXe ein radikaler Versuch, politische Dimensionen des eigenen Konsums oder Verzichts aufzuzeigen. Viele Edger_innen leben zudem vegan und denken beispielsweise durch Antispeziismus oder Unterstützung von Fair-Trade-Produkten Machtverhältnisse in ihren Konsumpraxen mit.

Auch über Esskultur werden Machtverhältnisse, Rassismen und Klassen reproduziert. Wer, was und wie öffentlich essen darf oder nicht, ist nicht erst dann politisch, wenn ein „denn’s“-Biomarkt in die ehemalige „Zielpunkt“-Filiale einzieht oder auf der Straße Fat- und Bodyshaming betrieben werden. Anzunehmen, jede Küche, in der Chia-Samen verwendet werden, wäre Brutstätte für Körperkult oder moralische Überheblichkeit, ist jedoch genauso falsch, wie zu glauben, die Kaufentscheidung für die saisonalen, regionalen Bio-Zucchini, wären ein wirksames Statement. Mögen sich auch einzelne durch ihre Ernährungsform und Lifestyle-Wahl über andere erheben wollen, versuchen die meisten doch schlicht, zu essen, was sie sich leisten können, was ihnen gut tut und für sie selbst ethisch vertretbar ist. Als Verbraucher_in ist kaum zu überblicken, wie Produktions- und Beschäftigungsbedingungen oder Konzernstrukturen wirklich aussehen.

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SAUFEN, SNICKERS, SELF-CARE. Das bekannte Zitat „Mich um mich selbst zu sorgen, heißt nicht, sich gehen zu lassen. Es ist selbsterhaltend und das ist ein Mittel des politischen Kampfs“ von Audre Lorde setzt destruktiven Machtstrukturen das Konzept der „self-care“, also der Selbstfürsorge, und der radikalen „self-love“ entgegen. „Sich nicht gehen lassen“, regelmäßige Mahlzeiten und auch gesunde Ernährung können self-care sein. Für sich selbst zu sorgen, kann aber auch bedeuten, maßlos Junkfood zu essen, wochenlang mit niemandem zu reden und Videospiele zu spielen. Das Saufen auf dem Festival oder die Familienpackung Snickers sind nicht nur selbstschädigend, sie bedienen bloß andere Bedürfnisse als nur die richtige Nährstoffzufuhr. Eigentlich hedonistische Lebens- und Verhaltensweisen werden ent-individualisiert, das (gute) Überleben gilt als revolutionärer Akt: „Selbsterhalt ist Widerstand.“

Selbstfürsorge basiert auf dem Gedanken: Erst, wenn es mir selbst gut geht, kann ich anderen helfen, denen es nicht so gut geht, und habe ich das nötige Rüstzeug, um auch langfristig politisch aktiv sein zu können. Zu den Ursprüngen der „selfcare“- Idee schreibt die feministische Autorin Laurie Penny: „Weite Teile der Linken können noch eine Menge von der Queer-Community lernen, die schon lange die Haltung vertritt, dass für sich selbst und seine Freund_innen zu sorgen in einer Welt voller Vorurteile kein optionaler Bestandteil des Kampfes, sondern auf viele Arten der Kampf selbst ist.“

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Nicht umsonst kommen alternative Beziehungskonzepte wie Relationship Anarchy, die Freundschaften und anderen nicht-sexuellen Beziehungen größere Bedeutung zumessen, aus der Community. Enge Freundschaften und Netzwerke können für Queers oder von Rassismus Betroffene lebenswichtig sein. Die klassische monogame Hetero-Paar-Beziehung ist nach wie vor Quell für Unterdrückung und Gewalt: „Durch ihren (früheren) Partner wurde 13 % der Österreicherinnen körperliche/sexuelle Gewalt sowie 38 % der Frauen psychische Gewalt zugefügt – etwa durch Einschüchterung, Kontrolle, Hausarrest oder Herabwürdigung vor anderen Personen.“ Dass die Ehe aber auch eine Schutzfunktion für die Ehepart13 ner_innen und Kinder beinhalten und Absicherung bedeuten kann, wird gerne ignoriert, etwa wenn queere Paare sich dafür rechtfertigen sollen, eine „Ehe für alle“ zu fordern und damit angeblich ein Recht auf Spießbürgerlichkeit einfordern – wenn der rechtliche Status in der Praxis darüber bestimmt, wer etwa am Krankenhausbett Händchen halten darf und wer nicht.

Gegenkonzepte wie Polyamorie oder das Verzichten auf schnellen Sex von Straight Edgern können aber vor allem für Frauen Freiheiten bedeuten. Rebecca Gold fasst in einem Essay zusammen: „Wir können das Patriarchat nicht rückgängig machen ohne Monogamie zu verdrängen“ und schreibt weiter: „In einer nicht monogamen Welt werden Frauen ihr Leben nicht damit verschwenden, nach dem perfekten Mann zu suchen. Intimität wird eine immer präsente Möglichkeit sein, die biologische Uhr wird nicht mehr die Flugbahn bestimmen, die das Leben einer Frau einschlägt, da das Konzept von Familie weniger an biologische Reproduktion geknüpft ist.“ Doch auch Mehrpersonen-Beziehungen schnurren schnell auf eine klassische Familienkonstellation zusammen, sobald Windeln gewechselt werden müssen oder die Festivalsaison ansteht. Um gleiche (reproduktive) Rechte, die Auflösung klassischer Familienbilder, Eifersucht, gerecht verteilte Care-Arbeit und sexuelle Selbstbestimmung oder Kindererziehung ohne Stereotypen geht es im (Beziehungs-)Alltag oft nur am Rande, egal welches Label wir unseren Zwischenmenschlichkeiten verpassen.

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Das gute Leben für alle – es darf ruhig bei uns selbst anfangen. Ob der Bio-Apfel, ein Snickers, Polyamorie oder der Lesekreis sich gut anfühlen, bleibt dabei uns überlassen. Der persönliche Lifestyle und die Freiheit, andere Lebensweisen und -konzepte ausprobieren zu können, ist nicht einfach da, sie muss immer wieder verhandelt, behauptet und neu erkämpft werden. Und irgendjemand räumt danach den Müll vom Festivalplatz.

Anne Pohl ist freiberufliche Marketing- und Event- Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Queere Refugees erzählen ihre Geschichte

  • 29.11.2016, 13:00
„Es gibt keine Sicherheit, keinen Schutz in Syrien... nicht einmal im Libanon. Es gibt keine Hoffnung. Alle Türen wurden in mein Gesicht geschlagen... auf jeden möglichen Weg. Ich wartete lange auf einen Hoffnungsschimmer von irgendjemanden. Oder auf jemanden der mir helfen könnte und meine sexuelle Orientierung versteht.... Aber ich wurde von der Gesellschaft zurückgewiesen.. von meinen Eltern... den Menschen... der ganzen Welt.“

„Es gibt keine Sicherheit, keinen Schutz in Syrien... nicht einmal im Libanon. Es gibt keine Hoffnung. Alle Türen wurden in mein Gesicht geschlagen... auf jeden möglichen Weg. Ich wartete lange auf einen Hoffnungsschimmer von irgendjemanden. Oder auf jemanden der mir helfen könnte und meine sexuelle Orientierung versteht.... Aber ich wurde von der Gesellschaft zurückgewiesen.. von meinen Eltern... den Menschen... der ganzen Welt.“

Knallroter Lippenstift ziert den Mund, der von dieser Hoffnungslosigkeit erzählt. Make-Up wird aufgetragen. Die Kinnpartie zittert. Im Kurzfilm „My refugee story“ erzählen LGBTIQ-Personen, die von Syrien in den Libanon flüchteten, ihre Geschichte. Sie erzählen davon, wie sie von ihrer Familie gezwungen wurden, sich auszuziehen, um der Gesellschaft zu zeigen, wie ihre Körper ausschauen. Sie erzählen, wie sie aufgrund ihrer Trans*-Identitäten von der Schule geschmissen wurden. Sie erzählen von Diskriminierungen, von Gewalterfahrungen, von Todesdrohungen, von Vergewaltigungen.

„My refugee story“ ist das Ergebnis von Workshops für geflohene LGBTIQ-Personen, die gemeinsam mit der Medienorganisation „One more Cup“ und der Initiative „Mosaic Mena“ durchgeführt wurden. Beide Organisationen setzen sich für marginalisierte Gruppen im Libanon ein. In beiden Gruppen ist der ägyptische Filmemacher und Aktivist Mohamed Nour Metwally tätig. progress erzählte er die Entstehung von „My refugee story“:

UNHCR arbeitet gemeinsam mit der Initiative „Mosaic“ an Projekten für LGBTIQ Flüchtlinge. Da kam die Idee auf. einen Film zu produzieren. Als ich zu UNHCR ging, um erste Schritte zu besprechen, fand ich mich plötzlich in einem Vortrag für LGBTIQ Flüchtlinge wieder. Ich begann mit den Personen zu sprechen, fragte sie, was sie machen wollen. Die Antwort: Wir müssen einen Film machen, weil wir von Übergriffen betroffen sind, wir müssen aufzeigen, wie sehr wir im Libanon leiden. Es ist jedoch nicht möglich, mit den Personen auf die Straße zu gehen und die Belästigungen zu zeigen. Als ich das erste Mal in den Libanon kam, sagten mir alle, ich darf keine Fotos machen. Durch die verschiedensten politischen Parteien, die teilweise stark verfeindet sind, ist das sehr schwierig im Libanon. Daher hatte ich die Idee einen Medienkompetenz-Workshop zu machen. Die Leute lernten so selber die Techniken zur Entwicklung eines Dokumentarfilms – vom Drehbuchschreiben, bis hin zu Regie und dem Schneiden. Wir begannen mit dem Schreiben von Geschichten. Wir sammelten diese Geschichten, wählten manche davon gemeinsam aus und an einem Tag drehten wir den Film.

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Das Ergebnis sind sehr intime Geschichten, die von verschiedenen Formen von Gewalt und Diskriminierung gegenüber LBGTIQ Flüchtlingen erzählen. Es sind Eindrücke, die auch vom UNHCR bestätigt werden. So sind laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat LGBTIQ Flüchtlinge mit Gewalt und sexuellem Missbrauch vonseiten der „refugee community“ ebenso konfrontiert wie von der eigenen Familie. Diskriminierung und Belästigungen gehen von staatlichen als auch von nicht-staatlichen Organisationen aus. Dies zeigt eine Studie, in der UNHCR weltweit 106 Asylbehörden im Zeitraum Juli 2014 bis Mai 2015 zum Thema queere Flüchtlinge befragte. Eines der Ergebnisse: Obwohl 64 Prozent der Behörden angaben, mindestens eine Maßnahme im Aufnahme- oder Registrierungsprozess zu haben, die sich speziell an LGBTIQ Personen richtet, berichten trotz dem Wissen um Diskriminierung und Gewalt gegenüber queeren Flüchtlingen nur 14 Prozent von der Einrichtung sicherer Schutzzonen. Zudem seien die Befragungen im Asylverfahren oft unsensibel, unangebracht. Der Film ist ein kleines Puzzlestück wie der letzte Punkt – zumindest im Libanon – geändert werden könnte, erzählt Metwally:
Im Libanon wurde der Film nicht öffentlich gezeigt. Er wird als Toolkit für Schulungen zu sexueller Orientierung und Genderidentitäten verwendet. Besucht werden diese Schulungen von Vertreter*innen verschiedener NGOS, von Sozialarbeiter*innen, Sachbearbeiter*innen – von allen, die mit queeren Refugees in Berührung kommen. Der Film wurde sehr gut aufgenommen, weil vielen dieser Personen ein persönlicher Zugang zu LGBTIQ Personen fehlt. Durch das Aufzeigen verschiedener Arten von Diskriminierung mit denen LGBTIQ Personen konfrontiert sind, erhalten sie erstmals Einblick in die Probleme und beginnen zu verstehen.

So hoffnungsvoll zeigt sich der Film jedoch nicht unbedingt. „Als ich mich endlich mit meiner Identität auseinander gesetzt und alles verarbeitet habe, traf ich nach wie vor auf Ablehnung und Zurückweisung von den Menschen, sie lehnten meine gesamte Existenz ab“, erzählt eine* der Protagonist*innen des Films. Das war der Punkt an dem sie die Hoffnung verlor – sowohl in Syrien als auch im Libanon.

Laut den Erfahrungen von Metwally gibt es trotzdem Unterschiede zwischen Syrien und dem Libanon, wenn es um LGBTIQ-Personen geht. Der Libanon sei offener. Stattdessen ist dort der Rassismus, insbesondere gegenüber Menschen aus Syrien ein großes Problem. „Es gibt einen Groll zwischen den beiden Ländern, weil Syrien den Libanon vor langer Zeit besetzte. Dadurch kommt eine Ebene des Rassismus gegenüber syrischen Flüchtlingen dazu“, erzählt Metwally. Die untragbare Situation für LGBTIQ-Personen in Syrien hat sich erst mit dem Krieg zum Schlechten gewandelt. Ob der Filmemacher und Aktivist an eine erneute Änderung in der MENA-Region (Middle East & North Afrikca) glaubt?

Ich denke, dass die Bildung diesbezüglich eine große Rolle spielt. Bevor ich in den Libanon kam, wusste ich nichts über Gender Studies. Als ich herkam, besuchte ich Schulungen zu Menschenrechten, zu sexuellen Orientierungen, zu Genderidentitäten. Ich lernte verschiedene Begriffe kennen. Ich lernte, dass es einen riesigen Unterschied zwischen Geschlecht und Sexualität gibt. So ging es auch vielen meiner Freund*innen, die von Algerien, von Tunesien oder auch vom Libanon nach Ägypten kamen, um Gender Studies zu studieren. All diese Personen und auch ich können ihre Gesellschaften, ihre Familien, durch das Wissen, das sie erlangt haben, positiv beeinflussen. Wenn man mit diesem Wissen spricht, kann man zu mehr Akzeptanz und Verständnis beitragen. Denn Stigma wird vom Nicht-Wissen produziert. Die Gesellschaft lehrt uns nur bestimmte Geschlechterrollen. Sie lehrt uns nicht, dass diese geändert werden können. Durch Bildung, durch das Sprechen über diese Dinge, beginnen die Menschen verschiedene Identitäten mehr zu akzeptieren.

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Derzeit ist es eines der Probleme noch die Unterbringung in den Zielländern. Viele der vom UNHCR befragten Behörden berichteten, dass die Akzeptanz von LGBTIQ-Personen in den Unterkünften niedrig sei, insbesondere in großen Camps. Auch Metwally kennt diese Problematik vom Libanon.
Es gibt kaum Personen, die in einer geeigneten Unterkunft wohnen. Hinzu kommt das Rassismus Problem im Libanon. Es gibt verschiedene Regionen, die unterschiedlich – je nach Religion – kategorisiert sind. Christ*innen werden getrennt, Muslim*innen werden getrennt und innerhalb der jeweiligen Regionen gibt es wieder Trennungen. Das heißt, auch LGBTIQ Flüchtlinge werden nach diesen Merkmalen untergebracht.

Er ist sich jedoch bewusst, dass es auch in Europa Aufholbedarf in der Unterbringung von queeren Flüchtlingen gibt:
Du kannst geflüchtete LGBTIQ Personen nicht in eine heterosexuelle Unterkunft geben. Viele der Personen kommen nach Europa und erwarten hier ein besseres Leben, erwarten Zugehörigkeit, „gay prides“, usw. Dann kommen sie in eine Flüchtlingsunterkunft und damit in eine Gesellschaft von der sie eigentlich flüchteten. Daher braucht es unbedingt individuelle Unterbringungsmöglichkeiten.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Flüchtlinge sind wie wir. Punkt.“

  • 01.06.2016, 23:17
Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Maamun lebt im jordanischen Zaatari Camp. Eines der größten Flüchtlingscamps weltweit. Laut Angaben der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR) leben dort derzeit rund 79.000 SyrerInnen. Maamun ist einer jener Personen, die das Glück haben, ein eigenes kleines Geschäft zu besitzen. Er repariert und verkauft Smartphones. Die drei Filmemacher Jorge Fernández Mayoral, Pablo Tosco und Pablo Iraburu waren im März 2015 in Zaatari und haben Maamun begleitet. „District Zero“ gibt einen Einblick in das Zaatari Camp und zeigt dabei, was sich in Smartphones von Menschen auf der Flucht verbergen kann. Valentine Auer sprach für progress mit Jorge Fernández Mayoral über Erinnerungen, Identitäten und (fehlende) Hoffnungen.

progress: Wie seid ihr auf die Idee gekommen einen Film über eines der größten Flüchtlingscamps weltweit zu machen?
Jorge Fernández Mayoral
: Es hat so begonnen, dass die Hilfsorganisation Oxfam Geld von der Europäischen Kommission erhalten hat, um Flüchtlinge sichtbarer zu machen. Oxfam schrieb daraufhin einen Film-Wettbewerb aus. Wir haben ihn gewonnen. Unsere Idee war, uns auf das Smartphone zu konzentrieren. Wenn dein Haus zerbombt wird, wenn du deine Heimat verlassen musst, ist das Smartphone neben einer Decke eines der wenigen Sachen, die Menschen auf der Flucht mitnehmen. Daher wollten wir eine Geschichte über Identität durch das Smartphone erzählen. Wir wussten, dass es in Zaatari viele Geschäfte gibt. Auch Geschäfte, die Smartphones verkaufen und reparieren. Das war unser Ausgangspunkt für den Film. Einer der drei Regisseure, Pablo Tosco, war als Erster in Zaatari und lernte dort Maamun kennen, unseren Hauptprotagonisten.

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Der Dokumentarfilm zeigt einen Blick in das Flüchtlingscamp Zaatari. Wir sehen im Film auch eine Schule und medizinische Institutionen. Wie wird die Infrastruktur im Flüchtlingscamp organisiert, welche Rolle spielen hier jordanische Behörden?
Wenn ein Flüchtlingscamp errichtet wird, willst du dass es nicht sichtbar ist. Denn ein Flüchtlingscamp zu brauchen, bedeutet, dass es ein Problem gibt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Die jordanischen Behörden bezeichnen Zaatari daher nicht als Stadt, auch weil eine Stadt mit Stabilität einhergehen sollte. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Flüchtlingscamps erschaffen werden, um zu sterben. Aber eigentlich ist es nichts anderes als eine Stadt: Es gibt einen Bürgermeister, es gibt Bezirke – daher auch der Name „District Zero“. Gemanagt wird das Camp jedoch von UNHCR gemeinsam mit lokalen Behörden.

Am Ende des Films erscheint der Satz „der Großteil der Flüchtlinge hat nicht die Möglichkeiten wie Maamun, der jeden Tag sein Geschäft öffnen kann“. Wieso habt ihr euch trotzdem für Maamun als Hauptcharakter entschieden?
Dieser Satz ist für uns ein sehr wichtiger im Film. Maamun hat mehr Möglichkeiten, da er Geld aus Syrien mit ins Camp bringen konnte. Mit diesem Geld hat er einen kleinen Container und seine ersten Smartphones gekauft. Der Großteil der Menschen, die in dieses Flüchtlingscamp kommen, haben aber nichts. Auf den ersten Blick ist es für alle Flüchtlinge das gleiche Problem, auf der Flucht zu sein. Aber hast du ein bisschen mehr Möglichkeiten, dann kannst du leichter damit umgehen.

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In Österreich – aber auch in anderen Ländern – kommt immer wieder die Kritik auf, dass Flüchtlinge gar nicht so arm sein können, sie besitzen ja ein Smartphone …
Diese Aussage ärgert mich sehr. Wie kann man so was sagen? Mittlerweile gibt es nur noch wenige Menschen, die kein Smartphone haben. Und Syrien war vor dem Krieg kein armes Land, wieso sollen die Leute dort kein Smartphone besitzen? Wenn du flüchtest, kannst du sonst nichts mitnehmen. Du musst es ja tragen, du musst viel gehen. Sollen die Menschen ihre Sofas mitnehmen? Natürlich nehmen sie die Smartphones mit. Leute glauben, wenn du ein Flüchtling bist, darfst du gar nichts besitzen. Was soll das? Das ist furchtbar. Man sollte nicht vergessen, dass Flüchtlinge nicht anders sind als andere Menschen. Ja, es gibt MuslimInnen, es gibt ChristInnen. Es gibt diese und jene Traditionen. Aber auch innerhalb Österreichs gibt es unterschiedliche Traditionen, je nach Region. Im Endeffekt sind Flüchtlinge wie wir. Punkt.

Geht es aber um ein Smartphone, habe ich das Gefühl, dass es für Menschen, die sich auf der Flucht befinden, doch wertvoller ist als für mich, die ich in Sicherheit leben kann.
Ja. Ein Smartphone beinhaltet unsere Identität. Das sehen mittlerweile viele Leute so. In diesem Smartphone sind Fotos, Erinnerungen, Kontaktinformationen. Gerade für Flüchtlinge, die einen Teil ihrer Familie oder FreundInnen zurücklassen mussten, ist das Smartphone die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. Aber es ist noch mehr. Wir haben versucht mit dem Smartphone, mit den Erinnerungen und den Identitäten, die in diesem Smartphone sind, Fragen zu stellen: Wer bin ich? Wo will ich hin im Leben? Wo werde ich mein Leben verbringen? Für Flüchtlinge sind Antworten auf diese Fragen dramatisch: Ich bin kein Syrer, ich bin kein Jordanier. Ich bin ein Flüchtling. Das ist die neue Identität. Aber was heißt es, ein Flüchtling zu sein, kein zu Hause zu haben? Das ist ein weiterer Teil unseres Dokumentarfilms: Wir wollen über die unvorstellbare Normalität, ein Flüchtling zu sein, sprechen.

Maamun wird für einige in Zaatari lebende Menschen wichtig. Er repariert und verkauft Smartphones. Nach einiger Zeit besorgt er sich einen Photo-Drucker. Wie haben die Menschen in Zaatari auf seine Neuanschaffung reagiert?
In unserem Dokumentarfilm wollten wir Hoffnung zeigen. Aber es gab und gibt nicht wirklich Hoffnung in Zaatari. Ich sprach mit Maamun und fragte ihn, was er sich für die Zukunft seines Geschäftes wünscht. Er meinte, dass er mit einem Drucker vielleicht ein gutes Geschäft machen könne. Diesen Drucker haben wir verwendet, um die Hoffnung zu zeigen. Er ist ein Symbol für Hoffnung. Der Drucker zeigt eine Transformation – vom Digitalen zum Realen. Wenn Menschen hoffnungslos sind, ist ein Photo einer geliebten Person ein Stück weit Realität. Mittlerweile wird Maamuns Drucker zu einem großen Teil für ID-Karten verwendet. Aber zu Beginn haben die Menschen Erinnerungsfoto von der Familie, den Freunden gedruckt. Kurz: Von Erinnerungen, die ein schönes Syrien zeigen. Niemand wollte den Krieg drucken, obwohl die Smartphones der Geflüchteten voll mit Kriegsphotos sind. Aber das ist ja nicht überraschend, natürlich willst du dich an das Gute erinnern.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Traiskirchen war für mich eine Art Überlebensschule“

  • 23.10.2015, 14:45

Der Weg vom Flüchtling zum österreichischen Staatsbürger und zur Aufnahme eines Studiums war für Shirin Omar lang und steinig. progress hat ihn zu seinen Beweggründen, seinen ersten Erfahrungen nach der Ankunft im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und zur österreichischen Willkommenskultur interviewt.

progress: Warum hast du dich entschlossen, Syrien zu verlassen?
Shirin Omar: Als ich 19 Jahre alt war, wurde ich zum Militärdienst in Syrien einberufen, aber ich wollte dort keinen Wehrdienst leisten. Das war der Auslöser. Aber grundsätzlich hatte man in Syrien besonders als Kurde eigentlich Null Chancen, etwas aus seinem Leben zu machen, frei zu entscheiden und seinen eigenen Weg zu wählen. Der Druck des Regimes war groß.

Was genau meinst du mit „Druck des Regimes“?
Die ständige Angst. Syrien war immer schon ein Polizeistaat mit einem ausgeklügelten Geheimdienstsystem. Das syrische Regime hatte überall und besonders in den kurdischen Gebieten Spione. Immer hatte man Angst, irgendetwas Falsches zu sagen oder zu machen – beziehungsweise etwas, das das Regime falsch finden würde. Manche wurden einfach so angezeigt. Manche Menschen sind jahrelang verschwunden! Nicht weil sie politisch aktiv oder kriminell waren. Wenn beispielsweise Nachbarn persönliche Streitigkeiten hatten, hat eine Seite die andere beim Regime unter dem Vorwand regimekritisch zu sein gemeldet und die gemeldeten Personen sind verschwunden. Die Angst war so präsent, dass sich Eltern nicht einmal getraut haben, nach ihren verschwundenen Kindern zu fragen. Man war nie sicher in Syrien. Darüber hinaus gibt es auch einen großen gesellschaftlichen und familiären Druck. Ich wollte diesen Druck und die Angst nicht mehr aushalten und habe mich entschlossen mit einem Freund zu fliehen.

Wie war das für dich, als du in Österreich angekommen bist?
Es war alles fremd. Alles neu. Ich war nicht schockiert, sondern sehr überrascht. Wir sind im Winter 2005 angekommen und es lag unglaublich viel Schnee. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Schnee gesehen! Aber mit der Zeit habe ich mich an das Leben hier gewöhnt. Wir sind zuerst nach Traiskirchen gekommen. In dem Zimmer, in dem ich untergebracht war, waren wir zu zehnt.

Vor einiger Zeit sind Bilder aus Traiskirchen in den Medien kursiert, in denen die katastrophale Lage in diesem Erstaufnahmezentrum abgebildet war. Wie war die Situation damals?
Es waren nicht so viele Menschen wie jetzt dort – aber es war damals schon überfüllt. Oft mussten viele Menschen in einem Zimmer schlafen. Unmittelbar nach der Ankunft war ich in einem Zimmer mit 30 Menschen zusammen.
Später waren wir zu achtzehnt in einem Zimmer, dann zu zehnt. Wir hatten Bundesheer-Betten und beim Essen musste man wirklich sehr lang warten. Oft haben wir anderthalb Stunden auf eine Mahlzeit in der Schlange gewartet. Diese musste ständig von Securities und manchmal auch von der Polizei überwacht werden, da sich manche vorgedrängelt haben und dadurch ziemlich schnell Raufereien entstanden sind. Auch sonst gab es Konflikte zwischen den Flüchtlingen, die sich oftmals entlang der Nationalität ausgetragen haben. Einige hatten große Probleme miteinander und wurden sowohl beim Essen als auch bei Klogängen von der Polizei überwacht. Einmal kam es sogar zu einer Massenschlägerei. Die Securities waren in der Minderzahl und man musste warten bis die Polizei da war, um die Leute auseinanderzubringen.

Man hat viel zu viel Zeit dort und wenn man nichts tun darf oder kann und zum Warten verdammt ist, äußert sich dieser Stress auch in Form von Gewalttätigkeit .Viele Menschen haben ihre Probleme mit Schreien und Schlägen rausgelassen. Ich hab das Überleben eigentlich dort gelernt. Da in meinem Zimmer sieben Albaner und wir drei Kurden waren, dachten einige Tschetschenen, dass wir Albaner seien und waren uns deshalb feindlich gesinnt. Ich musste mit einigen Tschetschenen sogar eine Woche lang in der Früh beten gehen und mit ihnen Arabisch reden – einige von ihnen sprachen Hocharabisch –, damit sie mir glaubten, dass ich nicht aus Albanien bin und mich in Ruhe ließen.

Also auch in Traiskirchen hatte ich eine Zeit lang Angst. Deswegen bin ich auf sie zugegangen und habe mich so freundlich wie möglich verhalten und mit der Zeit hat sich die Lage beruhigt. Darüber hinaus musste man immer auf seine Habseligkeiten aufpassen, denn es wurde dort viel geklaut. Traiskirchen war für mich eine Art Überlebensschule.

Wie lange warst du insgesamt in Traiskirchen?
Sieben Monate.

Und danach?
Danach bin ich nach Traisen gekommen. Nach fünf Monaten in Traiskirchen wurde mir zum ersten Mal ein “Transfer“ verordnet. Die zuständigen Behörden bezeichnen damit, dass man in eine Pension oder woanders hin versetzt wird. Ich hab mich aber geweigert dorthin zu gehen, weil ich nach Klagenfurt versetzt hätte werden sollen. Damals hatte ich von Haider gehört und dass er ausländerfeindlich ist. Ich dachte alle KärntnerInnen seien Nazis. Daraufhin haben sie mich aus Traiskirchen rausgeschmissen, aber zum Glück nach einer Woche wieder aufgenommen. Dann war ich zirka zwei weitere Monate dort, bis zu meinem nächsten „Transfer“. Laut Gerüchten in Traiskirchen wurden nur diejenigen Flüchtlinge nach Traisen übersiedelt, die sich irgendwie etwas zu Schulden haben kommen lassen. Ich hatte meinen ersten Transfer verweigert, anderen wurde zum Beispiel Diebstahl vorgeworfen. Der Transfer dorthin sollte eine Strafmaßnahme sein, denn die Hausbesitzerin dieser Pension war wahnsinnig! Sie hat uns den ganzen Tag lang beschimpft und es gab Massenstrafen. Wenn jemand von uns nicht „brav“ war oder nach ihrer Pfeife getanzt hat, hatte man drei bis vier Stunden lang keinen Strom oder kein heißes Wasser. Wir durften nicht einmal einen Wasserkocher im Zimmer haben. Sobald sie was gerochen oder gemerkt hat, dass wir irgendwas im Zimmer haben, das uns beim Zeitvertreib hilft, hat sie es uns sofort weggenommen und auch alle anderen mitbestraft.

Konntet ihr euch an jemanden wenden?
Personen von der Caritas und der Diakonie waren oft da. Wir haben ihnen auch von unserer Situation erzählt. Entweder konnten sie nichts dagegen machen oder sie haben uns nicht ernst genommen. Jedenfalls hatte ich zum Glück in der Zwischenzeit eine sehr hilfsbereite Österreicherin kennengelernt. Sie kannte eine Besitzerin einer Pension in Baden und hat mich sozusagen dorthin vermittelt. In Baden war ich zirka sechs Monate und habe in dieser Zeit meinen positiven Asylbescheid bekommen.

Momentan ist die Lage schlimmer geworden und Flüchtlinge werden in Zelten untergebracht, obwohl es adäquatere Unterkünfte geben würde. Was denkst du, wenn du das hörst?
Ich glaube die ÖsterreicherInnen haben Angst vor dem Fremden – aber auch die Flüchtlinge haben Angst. Ich glaube auch, dass die Angst von den meisten Parteien zusätzlich geschürt wird. Die Flüchtlinge sind natürlich froh, dass sie aus dem Kriegsgebiet weg und hier sozusagen in Sicherheit sind, medizinisch versorgt werden und etwas zu Essen bekommen. Aber heißt das, dass sie hier in Österreich in Zelten untergebracht werden müssen?

Außerdem glaube ich, dass die Flüchtlinge es alleine nicht schaffen, weil sie aus der österreichischen Gesellschaft ausgeschlossen sind. Aber wenn du eine Person kennst, die dich vielleicht ab und zu begleitet, so wie diese österreichische Frau, die mir nicht nur bei der Vermittlung der Pension geholfen hat, dann hat man glaube ich wirklich eine Chance, in der österreichischen Gesellschaft anzukommen. Diese österreichische Frau hat mir auch eine Lehrstelle in Kärnten vermittelt.

Also bist du doch noch in Kärnten gelandet?
(lacht) Ja, ich habe es zuerst nicht gewusst, sondern erst nachher erfahren, denn es war ihr ehemaliges Heimatdorf und da kannte sie auch viele Leute zu denen sie wieder Kontakt aufgenommen hat. Durch ihren Einsatz waren die BewohnerInnen auch mir gegenüber offen. Und natürlich habe auch ich dazu beigetragen. Ich wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen und arbeiten. Sie hat das gesehen und erkannt. Ich denke, ohne sie hätte ich viel weniger Chancen gehabt. Und daher glaube ich, dass wenn Flüchtlinge bei ihren ersten Schritten von Privatpersonen, die schon länger in Österreich leben, begleitet werden, sie hier mehr Chancen haben. Als Flüchtling weiß man nicht, wie das System funktioniert. Viele versinken in der Ratlosigkeit und das macht auch wütend – wenn man nichts tun darf, über Jahre! Dann werden Schuldige gesucht und der Staat wird für alles schuldig gemacht, was zwar stimmt, aber eben nicht so einseitig.

Also der Staat?
Der Staat, natürlich. Es bringt nichts, die Grenzen einfach dicht zu machen oder die Menschen abzuschieben. Es werden aufgrund der vielen Krisen mehr Menschen kommen und viele sind auch schon da. Der Staat muss sich Strategien überlegen. Bei mir hat es dank einer Privatperson geklappt und weil ich auch in der Grundversorgung war. Ich habe erkannt, dass es einige Regelungen gibt, die mir helfen und deshalb habe ich mich auch der österreichischen Gesellschaft gegenüber nicht verschlossen. Ich arbeite und helfe jetzt selbst Menschen.

Du hast vor einiger Zeit an einer Hochschule ein Studium aufgenommen. Wenn du jetzt daran zurückdenkst: Vom Augenblick des positiven Asylbescheids bis zur Aufnahme des Studiums – wie war der Weg?
Er war sicher steinig und hürdenreich. Aber ich bin stärker im Leben und selbstbewusster geworden. Ich hab viel dazugelernt.
In Traiskirchen zum Beispiel, in diesen sieben Monaten konnte ich unter den dortigen Bedingungen nur wenig Deutsch lernen. Viele konnten in so einer Situation gar nicht lernen. Das war verlorene Zeit. Wenn man hier ankommt, dann sollte man gleich einen Deutschkurs bekommen. Aber nur die Sprache allein reicht nicht, um in der Gesellschaft anzukommen. Zum Beispiel wissen viele gar nicht, dass man in Österreich mit einer syrischen Matura studieren darf. Oder die Lehre: Es gibt in Syrien keine Möglichkeit einer Lehrausbildung, wie sie in Österreich möglich ist. Ich glaube, wenn man von Anfang an weiß, wie das System funktioniert, dann kann man einen anderen Weg einschlagen.

Würdest du sagen, dass es in Österreich eine „Willkommenskultur“ gibt?
Mein Eindruck momentan ist, dass sich die Situation im Vergleich zu der Zeit, als ich nach Österreich kam, wesentlich verschlimmert hat. Ich glaube daher nicht, nein. Und das obwohl man sieht, dass die Menschen vor dem Krieg flüchten, dass sie offensichtlich große Probleme haben. Ich glaube niemand gibt seine Heimat freiwillig auf.


Soma Mohammad Assad studiert Politikwissenschaften an der Universität Wien und schreibt derzeit ihre Masterarbeit zum Thema Holocaust-Wahrnehmung junger MuslimInnen in Österreich. Sie arbeitet als Sachbearbeiterin im Referat für ausländische Studierende der Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft.

Vienna calling: Refugees welcome!

  • 04.10.2015, 16:00

Am 3. Oktober 2015 gingen schätzungsweise 70.000 Menschen unter dem Motto „Flüchtlinge Willkommen“ auf die Straße. Die Demo zog sich vom Wiener Westbahnhof bis zum Heldenplatz. Dort fand anschließend das Konzert „Voices for Refugees“ statt, dem weit über 100.000 beiwohnten. Christopher Glanzl hat die Stimmung für progress eingefangen.

Gewalt an der Grenze

  • 27.10.2014, 14:03

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

progress: Wie ist die aktuelle Situation der MigrantInnen in Boukhalef bei Tanger?

Helena Maleno: Man ist vom zivilen Terror eines mit Macheten bewaffneten radikalen Mobs zu institutioneller Gewalt übergegangen. Anstatt Täter zu verfolgen, kam es zu Festnahmen von Flüchtlingen. Konkret waren es 26 Personen, die es wagten, für mehr Schutz zu demonstrieren, was in Marokko unangemeldet verboten ist. Sie wurden verurteilt und mit regulären Linienflügen von Casablanca aus in ihre Herkunftsländer deportiert. Andere wurden direkt abgeschoben, oftmals ohne Gerichtsverfahren, ohne Feststellung ihrer Identität, ihrer Herkunft oder ihres Alters, ohne gesetzliche Garantien. Daher leben Flüchtlinge hier in permanenter Angst und Panik vor Attacken und Festnahmen. Wir fordern von Marokko ein, dass es die Konvention für migrantische ArbeiterInnen, die es unterzeichnet hat, auch umsetzt und über die bilateralen Verträge mit Spanien stellt. Letztere und der Druck seitens der EU sind für die Gewalt und Rechtlosigkeit verantwortlich. Das Einzige, was Brüssel und Madrid mit der Forcierung des Grenzschutzes erreichen, sind schreckliche Menschenrechtsverletzungen an der migrantischen Bevölkerung. Wir in Europa tragen Verantwortung für die Grausamkeiten, die MigrantInnen erfahren.

Hat die NGO Walking Borders ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärft?

Natürlich. Dabei werden wir von der FrauenrechtsNGO OAKfoundation unterstützt. Sie helfen uns dabei, Migrantinnen zu schulen, was den Schutz vor sexuellen Übergriffen angeht. Das geht zwar mit einem Verlust der persönlichen Freiheit einher, ist aber absolut notwendig. Zudem sind wir nach all den rassistischen und oftmals sexuellen Gewaltakten der vergangenen Monate auch im Bereich der Traumabewältigung aktiv.

Welche Gruppen stehen hinter den Angriffen?

Es gibt drei Akteure. Die Hintermänner, die Aktionen planen, Macheten kaufen und Gruppen finanzieren. Sie richten sich an Kleinkriminelle, die Gewaltakte koordinieren und anführen. Hinzu kommen radikal-islamistische Elemente, die mit Parolen gegen MigrantInnen – zum Beispiel „Sie trinken Alkohol!“ und „Sie respektieren den Islam nicht!“ – Hass schüren und die Massen zusätzlich aufstacheln. Das spricht viele Jugendliche aus der Mittel- und Unterschicht an.

Gab es seitens der spanischen oder marokkanischen Institutionen Unterstützung für die Flüchtlinge?

Nein. Wir haben uns nicht viel erwartet. Die spanische Rechtsregierung und das Außenministerium haben nie von der marokkanischen Regierung Erklärungen zu den Übergriffen auf eine spanische Staatsbürgerin und Menschenrechtsaktivistin eingefordert. Politische und vor allem ökonomische Interessen stehen im Vordergrund. Das ist traurig, aber die Realität. Die spanische Regierung ignoriert ihrerseits das wiederholte, direkte Abschieben von Flüchtlingen an den Grenzen von Ceuta und Melilla. Hier wurde vom Gericht in Cadíz Anklage gegen den Guardia-Civil-Chef von Melilla erhoben. Ein weiteres Verfahren läuft, weil im Februar während eines Polizeieinsatzes in Ceuta 15 MigrantInnen ertrunken sind. Madrid ignoriert die Grundrechte von Flüchtlingen.

Wie steht es um die MigrantInnen an den Grenzen zu den spanischen Enklaven, die auf ihre Chance warten, den Wall zu überwinden?

Ceutas Lager sind seit 2006 weitgehend abgerissen. Hier gibt es, anders als am Monte Gurugu bei Melilla, wo große permanente Zeltlager existieren, nur temporäre Schlafplätze für jene, die den Sprung nach Spanien wagen. Es ist schwer, dort Hilfe zu leisten. Zuletzt haben wir daher unsere Kräfte gegen die Gewalt an der Grenze forciert. Am Grenzwall ist vor allem das Recht auf Leben gefährdet, weil das Gewaltpotenzial der Grenzwache enorm ist. Zudem halten wir die Augen offen, um auf Flüchtlingsschiffe, die in der Zone der Straße von Gibraltar in Seenot geraten sind, hinweisen zu können. Außerdem informieren wir die MigrantInnen über ihre Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Gesundheitsversorgung, und leisten Aufklärungsarbeit gegen sexuelle Gewalt, für den Schutz vor Schwangerschaften und vor sexuell übertragbaren Krankheiten.

Kam es in der ngeren Vergangenheit am Grenzwall zu Todesfällen?

Ja, doch ich kann nur einen bestätigen. Ein Malinese starb bei einem Polizeieinsatz. Ein zweiter ist laut seinen Freunden nach einem Schlag auf den Kopf durch die Grenzwache Stunden später im Zeltlager wahrscheinlich an einer Hirnblutung gestorben. Wie verhält sich die Zivilgesellschaft? In zwischenmenschlicher Hinsicht ist die Solidarität groß, besonders seitens der ärmsten marokkanischen Schichten. Auch in Spitälern behandeln ÄrztInnen und PflegerInnen MigrantInnen kostenlos und ohne die Polizei einzuschalten. Dennoch spielt die Geschichte des Rassismus gegenüber schwarzen Menschen, die in der arabischen Welt und in Nordafrika über Jahrhunderte in erster Linie SklavInnen waren, eine Rolle. Dazu kommt, dass es den Regierenden ausgesprochen genehm ist, wenn sich schwache, arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander richten und nicht gegen die MachthaberInnen. Sie könnten sich sonst ja gar gemeinsam wehren. Aber mit Positivem kann man gegen den Hass und den Rassismus arbeiten. Hier dienen afrikanische Läden, Cybercafés und der Sport, zum Beispiel Fußball, als Bindeglied.

Wie steht es um Demokratisierungsund Protestbewegungen in Marokko?

Man hat diese Bewegungen auseinandergenommen und ihre führenden Köpfe inhaftiert. Hinzu kommt die Angst durch die Negativbeispiele des arabischen Frühlings: Ägypten, Libyen und Tunesien geht es jetzt keineswegs besser als unter den früheren Autokraten. So denken viele: „Besser wir bleiben so, wie wir sind, als wir haben Krieg.“ So sind es vor allem junge MarokkanerInnen, die oft im Ausland studiert haben, die sich organisieren, um die Demokratisierung voranzutreiben. Die europäische Entwicklungshilfe blockiert diese Bestrebungen jedoch. Sie dient in erster Linie dazu, Europas Interessen zu festigen und soziale Bewegungen zu schwächen, statt Reformkeime zu unterstützen.

 

Das Interview führte Jan Marot.

 

Zur Person: Die spanische Flüchtlingshelferin und Migrationsoziologin Helena Maleno (44) arbeitet bei der NGO Walking Borders/Caminando Fronteras im nordmarokkanischen Tanger für MigrantInnen aus Subsahara-Afrika an Europas Südgrenze.

Helena Maleno auf Twitter: @HelenaMaleno

„Walking Borders/Caminando Fronteras“ auf Facebook.

OAK Foundation: oakfnd.org

 

Winter is coming

  • 12.01.2016, 18:59

Während sich die Medienberichterstattung auf Nickelsdorf oder Spielfeld konzentriert, hat progress sich die Situation für Flüchtlinge in Oberösterreich angesehen. Nach der Schließung der Notunterkunft im ehemaligen Postverteilerzentrum in der Nähe des Linzer Hauptbahnhofs, verschärft sich die Frage der Versorgung der Geflüchteten erneut.

Während sich die Medienberichterstattung auf Nickelsdorf oder Spielfeld konzentriert, hat progress sich die Situation für Flüchtlinge in Oberösterreich angesehen. Nach der Schließung der Notunterkunft im ehemaligen Postverteilerzentrum in der Nähe des Linzer Hauptbahnhofs, verschärft sich die Frage der Versorgung der Geflüchteten erneut.

„We don't know where we are going. Or when we are leaving“, sagt Mohammed, der mit seinem etwas schüchternen Freund_ auf einer Bierbank inmitten einer großen, schlecht beleuchteten Halle sitzt. An den Rändern der Halle sieht eins nebeneinander Feldbetten und Zelte aufgereiht. Eine_r hat am Ende seines_ihres Bettes einen kleinen Spiegel an die Wand gelehnt.

Neben Mohammed und seinem Freund_ sind in der Halle im Vergleich zu den vorherigen Tagen und Wochen nur mehr wenige Geflüchteten. Insgesamt 24.000 Geflüchtete hatten hier seit der Eröffnung der Notunterkunft, am 11. September, bis zur Schließung am 29. Oktober ein Bett. In dem Schlafsaal in dem zuvor noch 600 bis 1.000 Geflüchtete für ein Nacht bleiben konnten, klappen nun junge Bundesheerler in grünen Pullovern, Hosen und Schirmmützen Feldbetten zusammen.

FLÜCHTIGE VERSORGUNG. Die zirka 50 Geflüchteten, die noch übriggeblieben sind, sitzen auf Bänken; ein Kleinkind kickt einen schmutzigen Schaumstoffwürfel durch die Gegend; ein Jugendlicher probiert sich auf den glatten Böden des ehemaligen Postverteilerzentrums im Skateboard fahren. „Die Flüchtlinge, die heute hier sind, werden auf Quartiere in ganz Oberösterreich aufgeteilt“, versichert Rabeder, Koordinator des Postverteilerzentrums (PVZ) und Mitarbeiter des Roten Kreuz. Immer wieder hebt er sein Handy ab und telefoniert in kurzen, direkten Anweisungen. „Tut mir leid, dass es hektisch ist. Heute ist Aufbruchstimmung.“

Aufgrund der sinkenden Temperaturen muss das Postverteilerzenrum in der Waldeggstraße als Notunterkunft für Flüchtlinge geschlossen werden. Auch wenn es ausserhalb des PVZ 10°C hat, ist in der Halle in der sich Mohammed und die anderen Flüchtlinge befinden von der Kälte nicht allzu viel zu spüren. „Die Wärme in der Halle kommt nur von den Menschen. Heizung gibt es hier keine“, erklärt Wolfgang Rabeder. Er ist fast jeden Tag im PVZ und kümmert sich um die Infrastruktur und die Koordination vor Ort. Doch nicht nur die fehlende Heizung macht das PVZ als winterfestes und längerfristiges Quartier unbrauchbar. „Wenn das Wasser für die Toiletten und die Duschen in den Tanks gefriert, dann haben wir ein großes Problem. Erst wenn wir Wasser und Strom haben, können wir das PVZ wieder benutzen“, erklärt Rabeder. In der Quarantäne in der noch einige Feldbetten für frühere Patient_innen stehen, hat jemand das Fenster geöffnet. Nachdem Rabeder es schließt, fällt die Klinke ab. Doch Rabeder hält sich nicht damit auf, er hat noch viel zu erledigen.

Foto: Marlene Brüggemann

LEARNING BY DOING. Neben der Quarantäne zeigt er progress im Schnellschritt die Essens- und Kleiderausgabe, Waschbereiche in niedrigen Zelten, die Ambulanz und auch einen kleinen, engen Raum in dem eine Bierbank und einige Tücher liegen. „Die Frauen wollten ihre Kinder nicht öffentlich stillen, deswegen richteten wir ein Stillzimmer ein. Für uns ist die Situation ganz neu, wir mussten einiges, was die Bedürfnisse der Flüchtlinge und die Organisation anbelangt, dazulernen.“

Dass die Geflüchteten sich nicht als eine homogene Masse verhalten und Konflikte auf der Flucht nicht einfach verpuffen, zeigt sich in der Praxis, wenn Helfer_innen mit den Geflüchteten arbeiten. Manuel Schwarzl war Leiter der Dolmetscher_innen im PVZ und weiß von den anfänglichen Konflikten. „Wir mussten einige Dolmetscher_innen rauswerfen, da sie Informationen nur gewissen Bevölkerungsgruppen weitergaben und diese bevorzugten. Das sorgte am Anfang für Wirbel.“ Nach dem Rauswurf, blieben jedoch genug Dolmetscher_innen übrig, die von ausgrenzenden Praktiken absahen. „Ohne die Dolmetscher_innen ginge hier gar nichts“, mahnt Rabeder.

ÜBERLEBENSMITTEL KONDOM. Ruhiger als im PVZ geht es in der Drehscheibe, einem ehemaligen Lokal im Hauptbahnhof Linz, zu. Dort rastet sich eine Familie aus, einige Freiwillige plaudern bei Keksen miteinander. „In der Drehscheibe versorgen Caritasmitarbeiter_innen gemeinsam mit Freiwilligen Flüchtlinge mit Nahrung und Getränken. Vieles bekommen wir als Spenden, den Rest kauft die Caritas zu Großhandelspreisen ein“, so Gerhard Reischl, Stellvertreter des Direktors und Geschäftsführer der Caritas. Im September übernahm die Caritas die Arbeit, die bis dahin von den Freiwilligen des Bündnis Linz gegen Rechts gestemmt wurde. Als erste vor Ort schufen sie eine Infrastruktur am Hauptbahnhof Linz, bildeten Gruppen, vor allem auf der Plattform Facebook, zur Koordination von Spenden und Freiwilligen und kommunizierten über Social Media mit Helfer_innen in Städten wie Wien und Salzburg und in weiterer Folge in ganz Europa.Foto: Marlene Brüggemann

Die Caritas baut auf diesen Strukturen auf, versucht aber mehr nach System vorzugehen. „Wir haben einen fixen Lagerstand und ausgebildete Sozialarbeiter_innen. Wir sind auch mit dem Anbieten defensiver. Wenn die Flüchtlinge in Wien schon gut versorgt wurden, dann stürmen wir nicht durch den Zug.“ Als verlängerter Arm des Sozialstaates sieht sich die Caritas nicht, versucht aber dessen blinde Flecken auszuleuchten: „Die Christen haben ein Auge dafür wo Not ist, und deswegen eine Vorreiter_innenrolle inne, wenn es um die Unterstützung für Menschen in Not geht. Der Staat ist damit überfordert und justiert nur nach.“ Auf die Frage, ob bei der Versorgung der Flüchtlinge mit Verhütungsmittel die christlich-katholischen Grundsätze in die Quere kommen, antwortet Reischl: „Wir beschränken uns auf Überlebensmittel, also Wasser und Nahrung.“

FORDERN STATT NÄCHSTENLIEBEN. Rubia Salgado arbeitet für maiz, Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen_, und gibt sich mit der Rolle der Regierung nicht zufrieden. „Unsere Feststellung ist, dass Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und auch Somalia kaum Informationen haben. Da ist die Regierung gefragt.“ maiz legt den Schwerpunkt nicht auf karitative, sondern auf politische Arbeit. Gemeinsam mit Flüchtlingen und Migrantinnen_ haben die Frauen_ von maiz, die Arabisch, Somalisch und weiter Sprachen sprechen, einen Forderungskatalog formuliert. Darin fordern sie keine Rückführungen von Geflüchteten nach Bulgarien oder Ungarn oder auch menschenwürdigere Unterkünfte für Flüchtlinge. Während sie auf ihre Drängen hin eine rechtliche Beratung für Geflüchtete in Linz durchsetzen konnten, sieht es bei der Umsetzung anderer Forderungen, z.B. bei der Öffnung des Arbeitsmarktes für Geflüchtete und Asylantragsteller_innen, schlecht aus. Salgado macht der restriktive Umgang mit Flüchtlingen und Migrant_innen Sorgen und sieht Handlungsbedarf bei der Linken. „Wir verstehen uns bei maiz als radikal-demokratisch und wir haben etwas versäumt. Es ist höchste Zeit, dass die Linke sich wieder organisiert und Strategien überlegt. Es steht uns viel bevor.“

Foto: Marlene Brüggemann

KATASTROPHENKOSTEN. Düster sieht es auch bei der Suche nach einem Ersatzquartier für das Postverteilerzentrum aus. „Die Entscheidung liegt bei der Landespolizeidirektion, die für das Bundesministeriums für Inneres fungiert. Das Rote Kreuz steht hier in zweiter Reihe“, so Stefan Neubauer, Pressesprecher des Roten Kreuz OÖ. Eine weitere Frage bleibt, wer welche Kosten übernimmt und welche Kosten davon das BMI dem Roten Kreuz, der Feuerwehr, der Polizei, dem Bundesheer, dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Caritas und beteiligten NGOs, rückerstattet. Für Neubauer ist klar: „Erst wenn sich das BMI entscheidet die Kosten für eine neue Unterkunft oder eine Instandsetzung des Postverteilerzentrums zu zahlen, wird klar sein ob, wann und wo es eine neues Quartier geben wird.“

Bis dahin wurden vom Roten Kreuz drei Großraumzelte mit jeweils 1.000 Plätzen für Flüchtlinge an den Grenzübergängen bei Schärding, Braunau am Inn und Kollerschlag-Wegscheid aufgestellt. Dort verschärft sich jedoch das Problem der Kälte. „Die Flüchtlinge und mit ihnen die Rot-Kreuz-HelferInnen stehen an den Übergängen bis zu 50 Stunden. Speziell in der Nacht ist die Kälte eine große Belastung“, weiß Neubauer. Für das Rote Kreuz ist die Versorgung von Flüchtling eine Herausforderung, da es keine Richtlinien gibt, wie mit einer solchen Situation umzugehen sei. „Das Rote Kreuz ist eine humanitäre Einsatzorganisation und bei uns gibt es einen Katastrophenplan. Es klingt blöd, aber für das Rote Kreuz ist die Flüchtlingssituation eine Katastrophe und wird auch so gehandhabt. Wir müssen in kurzer Zeit eine Struktur aufbauen. Aber so einen Einsatz haben wir noch nie erlebt.“

Rabender stößt hingegen schon bei der Schließung des Postverteilerzentrums und der Unterbringung der Flüchtlinge für eine Nacht auf Probleme. „Das ist wie wenn zuhause der Strom ausfällt und du musst mit Kerzenlicht weiterarbeiten.“ Daraufhin widerspricht sein Kollege: „Nein, wir arbeiten im Dunkeln ohne Kerzenlicht. Wir haben keine Alternative.“

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Lampedusa: Endstation oder Neuanfang?

  • 07.05.2015, 22:29

Das Rauschen der Wellen, das Zwitschern der Vögel und das Ticken der Uhren – eine Geräuschkulisse, die nicht sofort erahnen lässt, auf welcher Insel das Publikum sich befindet. Das verrät nur der Filmtitel selbst: Lampedusa. Eine Insel, die von faszinierenden Landschaften und erschütternden Schicksalen gezeichnet ist. Jedoch ist „Lampedusa“, der bei der Diagonale seine Premiere feierte, kein Film über Grenzkontrollen, Kriegsflüchtlinge und Mittelmeersterben. Diese die Medien und Welt bewegenden Themen lässt Peter Schreiner, der für Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortlich ist, nur ansatzweise in den Geschichten seiner ProtagonistInnen aufflammen. Vielmehr stellt er in seinem Film essentielle Fragen des Lebens. Es geht um Angst, Sinn und Tod.

„Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Es war nass. Mir war kalt. Drinnen und draußen“, erzählt Giulia, eine ältere Frau aus Norditalien. Sie hat als wohlhabende Touristin die Insel bereist und ist in der ersten Nacht ihres Aufenthaltes ausgeraubt worden. Heute ist sie von einer schweren Krankheit gezeichnet. „Es ist Krieg. Die Stadt ist zerstört. Niemand will dort bleiben“, erzählt ein junger Mann aus Somalia, dem die Flucht vor dem Bürgerkrieg gelungen ist. Heute ist er Filmemacher und Journalist in Rom. Und dann wäre da noch ein Bootsbauer aus Lampedusa, der gemeinsam mit seiner Frau die Touristin Giulia bei sich zu Hause aufgenommen und gepflegt hat. Diese drei Menschen, deren Lebensgeschichten unterschiedlicher nicht sein könnten, begegnen einander in Schreiners Erzählung aus Lampedusa. Sie sind zurückgekehrt, um ihre Geschichte zu erzählen, sie philosophieren über das Leben. Und fragen sich letztendlich: Was kann der Mensch alles ertragen, wie lange und warum?

VOM LEBEN GEZEICHNET. Die detailreichen Nahaufnahmen und tiefgründigen Monologe vermitteln in 130 Minuten das Gefühl, als würde die Zeit auf dieser Insel stillstehen. Dabei ergeben die schwarz-weißen Bilder der Kamera und die bunten Erzählungen der ProtagonistInnen eine Symbiose. Der Schnitt spiegelt die gesamte landschaftliche Schönheit der Insel – der Stacheldrahtzaun mahnend im Hintergrund – wider. Der Film kommt gänzlich ohne Musik aus und setzt stattdessen auf authentische Umweltgeräusche. Die Präsenz des Meeres zieht sich durch den gesamten Film hindurch und steht stellvertretend für die unendlichen Weiten der Möglichkeiten und unerfüllten Wünsche des Lebens. Die schwarz-weiße Kulisse ist unaufdringlich, genauso wie die Geschichten der ProtagonistInnen, die zu keinen Helden avancieren, sondern vom Leben gezeichnete Menschen sind. Die Frage, warum Peter Schreiner ausgerechnet die Insel Lampedusa als Schauplatz für seine Erzählung wählt – ohne darauf einzugehen, wofür sie in den letzten Jahren trauriges Wahrzeichen geworden ist – bleibt unbeantwortet. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht leicht, die täglich durch die Medien kursierenden Bilder beiseite zu schieben und sich auf Schreiners Perspektivenwechsel einzulassen.

„Lampedusa“
Regie: Peter Schreiner
130 Minuten
Trailer

 

Sandra Schieder studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.