Rassismus

Ein Spiegel der Gesellschaft?

  • 04.08.2014, 15:09

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist nicht neu. Trotzdem sind Markus Subramaniam und Nancy Mensah-Offei noch immer Ausnahmefälle in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. progress hat mit den beiden Schauspieler_innen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Bei seinem ersten Vorsprechen an einer Schauspielschule wurde Markus Subramaniam gesagt, er solle sich auch nach Job-Alternativen umsehen. „Ich finde es in Ordnung, dass man den Leuten, die vorsprechen, realistisch sagt, dass ihr Talent nicht ausreicht. Aber dann haben sie mir noch ein paar Rollen vorgeschlagen, die ich beim nächsten Mal vorsprechen solle und das waren ausschließlich dunkelhäutige Paraderollen, wie zum Beispiel der ‚Mohr‘ bei Shakespeare. Da habe ich mir gedacht: Also groß ist eure Fantasie nicht.“

Subramaniam hat sich nicht nach Job-Alternativen umgesehen und wurde kurz danach am Max Reinhardt Seminar in Wien zum Schauspielstudium aufgenommen. Während seines Studiums war seine Hautfarbe kein Thema, erzählt er: „Aber ich glaube schon, dass sie trotzdem eine Rolle spielt. Allein, weil ich auffalle. Weil es im staatlichen Theaterbereich kaum andere Dunkelhäutige gibt. Und ich spüre schon immer eine besondere Aufmerksamkeit, wenn ich wo vorspreche.“ Direkt nach dem Studium ging der gebürtige Deutsche, dessen Vater aus Sri Lanka kommt, ans Landestheater Linz, wo er vier Jahre lang festes Ensemblemitglied war. „Als ich auf der Schauspielschule war, habe ich mir gedacht, dass ich bestimmte Rollen wahrscheinlich nicht bekommen werde, aber meine zweite Rolle war gleich ‚Karl Moor’ in Schillers ‚Die Räuber‘, wo ich einen weißen Bruder und einen weißen Papa hatte. Die Theaterleiter in Linz haben mich nie in eine Ecke gedrängt, dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“

Ausnahmefälle. Daraus zu schließen, dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft alles eitel Wonne sei, wäre aber zu kurz gegriffen. Immer wieder war das Theater in den letzten Jahren repräsentationspolitischen Debatten ausgesetzt. Unter anderem wird dabei die Frage verhandelt, welche Rolle Rassismus auf den deutschsprachigen Theaterbühnen spielt. Subramaniam ist als dunkelhäutiges Ensemblemitglied an einem österreichischen Theater ein Ausnahmefall. „Das ist schon ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt er. In seinem vierten und letzten Jahr am Landestheater in Linz wurde das von den Theaterleitern genutzt und Markus Subramaniam als „Othello“ besetzt. Als er den Vertrag für Linz unterschrieb, war seine Bedingung, dass er die Paraderolle, die sonst nach wie vor meist mit weißen Schauspielern besetzt wird, spielen dürfe.

Auch Nancy Mensah-Offei hat es wie Markus Subramaniam auf eine staatliche Schauspielschule geschafft. Mensah-Offei, die in Ghana geboren wurde und mit sieben Jahren nach Österreich kam, wird dieses Jahr mit dem Schauspielstudium am Konservatorium der Stadt Wien fertig. Auch ihr wurde ein Festengagement an einem Theater angeboten, das sie aber abgelehnt hat, um erst mal als freie Schauspielerin zu arbeiten. „Bis jetzt hat man mir am Theater oder in der Schauspielschule nie das Gefühl gegeben, dass meine Hautfarbe ein Problem wäre. Bei der Aufnahmeprüfung war nur mein Bein ein Thema, weil ich humple. Die Frage war, ob man darüber hinwegsehen kann oder nicht. Das heißt, es sind insgesamt drei Faktoren, die es in Österreich für mich schwieriger machen: Ich bin eine Frau, ich bin schwarz und ich habe eine körperliche Behinderung.“

Im Theater sei bisher nie ihre Hautfarbe der Grund für ihre Besetzung gewesen, so die Schauspielerin. Im Gegensatz zum Film: „Bei der ORF-Produktion ‚Schlawiner‘ war klar, dass eine dunkelhäutige Schauspielerin gesucht wird.“ Obwohl Nancy Mensah-Offei am Theater durchwegs positive Erfahrungen gemacht hat, kam es in Kritiken auch schon zu fragwürdigen Aussagen aufgrund ihrer Hautfarbe. So schrieb beispielsweise die Wiener Zeitung in einer durchaus begeisterten Kritik über die „Argonauten“ am Rabenhoftheater: „Die Entdeckung des Abends ist Nancy Mensah-Offei. Ihre Medea ist wie eine hoheitsvolle Voodoo-Priesterin.“

Reproduktion von Rassismen. Nicht nur in Theaterkritiken kommt es immer wieder zu (subtilen) Rassismen. Erst kürzlich wurde es um das Thema in der Theaterlandschaft wieder laut, als vor ein paar Monaten die Wiener Festwochen ihr diesjähriges Programm veröffentlichten. Der Verein Pamoja – The Movement of the Young African Diaspora in Austria initiierte via Facebook eine Petition zur Absetzung eines Stücks von Jean Genet, das in der deutschen Übersetzung mit „Die Neger“ betitelt wurde. Die Kritik: Durch den Titel werde eine rassistische Haltung reproduziert, der man entgegenwirken müsse. Der Regisseur Johan Simons schlug eine
Titeländerung zu „The Blacks“, in Anlehnung an die englische Übersetzung, oder zu „Die Weißen“ vor. Der Übersetzer der deutschen Fassung, Peter Stein, lehnte das jedoch ab, da der Titel für die Clownerie aus den 50er-Jahren, die auf gleichnishafte Weise mit Klischees arbeitet, bewusst provokant gewählt sei.

Für Aufregung sorgte auch ein Bild im Programmheft der Festwochen, auf dem schwarz angemalte weiße Gesichter zu sehen waren. Diese Praxis des Blackfacing wird oft mit „Minstrel-Shows“ in den USA des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, in denen weiße Schauspieler_innen schwarz und oft mit grotesken Mienen geschminkt wurden, um sich auf der Bühne mit Hilfe klischeehafter Zuschreibungen über Schwarze lustig zu machen. Blackfacing wird allerdings bereits seit dem Mittelalter auch in Europa betrieben.

Die Prämisse des Autors Jean Genet, „Les nègres“, wie der Titel des Stücks im französischen Original lautet, nur mit schwarzen Schauspieler_innen zu besetzen, wurde von Regisseur Johan Simons in seiner Festwochen-Produktion bis auf eine Ausnahme jedenfalls nicht eingehalten. „Wäre es nicht wenigstens drin gewesen, dass Simons den einzigen Witz des Stoffes nicht kaputtmacht? Genets Regieanweisung, nur schwarze Schauspieler zu besetzen, hatte immerhin verstanden, dass es beim Rassismus im Theater um konkrete Repräsentationsfragen geht. Dass Simons nun weiße Schauspieler schwarze Schauspieler spielen lässt, die weiße Kolonialisten spielen, zeigt dagegen, dass er das Stück überhaupt nicht begriffen hat“, schrieb Die Zeit. Im Endeffekt passierte dann nicht viel. Die Aufführungen von Genets Stück gingen nach den Protesten im Vorfeld still über die Bühne. Beim Salongespräch zur Inszenierung, das ebenfalls im Rahmen der Festwochen unter dem Titel „Political Correctness auf der Bühne. Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit“ stattfand, saßen auf dem Podium ausschließlich Weiße. Im Falter hieß es dazu: „Intendant Hinterhäuser sagt, man habe vergeblich versucht schwarze Diskutanten zu finden.“

Weiße Norm und schwarze Schminke. In den letzten Jahren war es in Zusammenhang mit Blackfacing immer wieder zu heftigen Diskussionen gekommen: In der Inszenierung von „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ 2010 am Schauspielhaus Wien, in dem es um das Schicksal afrikanischer Boat People ging, malten sich die Schauspieler_innen in der Inszenierung von Felicitas Brucker schwarz an und machten sich dann mit Mehl wieder weiß. Die Blackfacing-Debatte wurde damals noch nicht aufgegriffen, die Kritik hob den dadurch verursachten Verfremdungseffekt hervor. Wiederbelebt wurde die Blackfacing-Debatte dann 2011, als in Deutschland gleich zwei Theaterhäuser Premieren mit weißen Schauspielern, die schwarz angemalt werden sollten, ankündigten. Eine hitzige Diskussion entbrannte, die Inszenierung am Deutschen Theater wurde schließlich abgesagt, weil der Autor des Stücks, der Pulitzer-Preisträger Bruce Norris, dem Theater, das die Figuren nicht werkgetreu besetzte, die Aufführungsrechte entzog. Das Deutsche Theater, eines der vier subventionierten Sprechtheater Berlins, scheiterte daran, Schwarze
als Schwarze zu besetzen.

Am Linzer Landestheater wurde 2012 „Lulu“ von Frank Wedekind inszeniert. „Da kommt am Ende eine als ‚Neger‘ bezeichnete Figur mit dicken Lippen und singt Gospels. Genau so ist die Rolle angelegt. Als Reaktion auf die damalige Blackfacing-Debatte hat der Linzer Schauspieldirektor Gerhard Willert einen Kollegen von mir schwarz angemalt und ihn diese Rolle spielen lassen, während ich weiß angemalt wurde und den Weißen gespielt habe“, erzählt Markus Subramaniam.

Nancy Mensah-Offei sagt zu Blackfacing: „Ich finde es schon störend, dass ein ‚Othello‘ fast immer schwarz angemalt wird. Es gibt genug dunkelhäutige Schauspieler hier in Österreich, die das könnten, aber nicht die Chance bekommen.“ Dass es an den deutschsprachigen Theatern nach wie vor kaum Schauspieler_innen gibt, die nicht einer herrschenden Norm entsprechen, die sich nach wie vor als „weiß“ definiert, ist eine Tatsache.

Migrant-Mainstreaming. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum die Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus und Migration bisher fast ausschließlich in einer Nische geschieht. Die Forderung, Schauspieler_innen mit migrantischem Hintergrund auf die Bühne zu bringen, ist keineswegs neu. Obwohl in Wien mehr als 50 Prozent der Einwohner_innen migrantischen Hintergrund haben, hat die Realität der Einwanderungsgesellschaft noch nicht wirklich auf die großen Bühnen gefunden. Die rot-grünen Kulturpolitiker_innen fordern seit 2010 zwar von den geförderten Kulturbetrieben, dass sie aktiv „Migrant-Mainstreaming“ betreiben, trotzdem sind große gesellschaftliche Gruppen im Sprechtheater noch immer unterrepräsentiert. Postmigrantisches Theater findet nicht an den großen Häusern, sondern vor allem im Off-Bereich und auf den Wiener Mittelbühnen statt. Dass Wien eine Stadt der Eingewanderten ist, spiegle sich auf den Bühnen viel zu wenig wider, meint auch der Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ).

So meint auch Nancy Mensah-Offei, dass sie manche Rollen und an manchen Häusern wahrscheinlich nie spielen werde: „Ich habe mich nicht unbedingt am Burgtheater oder an der Josefstadt beworben. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich im deutschsprachigen Raum als Gretchen besetzt werde, ist gering. Ebenso hält sich die Chance, die Julia zu spielen, in Grenzen. Ich werde wahrscheinlich auch nie in Salzburg im ‚Jedermann’ spielen. Und ich glaube schon, dass meine Hautfarbe der Grund dafür ist. Wenn man mir eine Rolle in einem dieser großen Klassiker anbieten würde, würde ich aber natürlich sofort ja sagen.“

Anne Wiederhold, die künstlerische Leiterin des Kunst- und Sozialraums Brunnenpassage, hält es angesichts dieser Situation für nötig, dass sich die großen Häuser umorientieren: „Die Idee von öffentlicher Kulturförderung ist ja im Prinzip, dass Kunst ein Spiegel für die Gesellschaft sein soll. Wenn sich die Gesellschaft komplett verändert hat, dann muss da was passieren. Alle zahlen Steuern, aber nur ein Bruchteil rezipiert. Im Off-Theater-Bereich zu bleiben, ist aus meiner Perspektive absolut zu wenig.“

Postmigrantisches Theater. Die deutsche Theaterszene ist da vielleicht schon einen Schritt weiter. Seit der Saison 2013/14 wird das staatlich geförderte Maxim Gorki Theater in Berlin als Theater, das sich der kulturellen Vielfalt nicht verschließt, geführt. Man geht davon aus, dass das Leben längst transkulturell ist und bringt das auch auf die Bühne. Das Ensemble ist vielfältig, gespielt wird Neues und Klassisches. Geleitet wird das Maxim Gorki Theater von Jens Hillje und Shermin Langhoff, die den Begriff des postmigrantischen Theaters nach Deutschland gebracht hat. Ihr ehemaliges Theater Ballhaus Naunynstraße wurde unter ihrer Leitung zum Inbegriff eines Theaters für Menschen, die vielleicht nicht selbst migriert sind, aber in diesem Kontext leben, und zum „Kristallisationspunkt für Künstlerinnen und Künstler migrantischer und postmigrantischer Verortung“. Dass die dort uraufgeführte Inszenierung „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje als erstes postmigrantisches Stück zum prestigereichen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, war ein bedeutender Schritt.

Seit ein paar Jahren findet durchaus auch in Wien eine Auseinandersetzung mit postmigrantischem Theater statt. So vergibt etwa das interkulturelle Autorentheaterprojekt der Wiener Wortstätten seit 2007 jährlich einen Preis an Stücke, die sich mit Identität und Interkulturalität auseinandersetzen. Ibrahim Amir wurde 2013 für seine Ehrenmord-Komödie „Habe die Ehre“ mit dem Nestroypreis für die beste Off-Produktion ausgezeichnet und die Theatergruppe daskunst arbeitet seit Jahren unter der Leitung von Asli Kislal zur Hybridisierung der Gesellschaft. Das Wiener Mittelbühnen-Theater Garage X, das sich auf zeitgenössische Dramatik spezialisiert hat, startete 2011 zusammen mit Kislals Theatergruppe eine Schwerpunktreihe zum Thema „Pimp my Integration“. Mit exemplarischen Theateraufführungen und Podiumsdiskussionen wurde der Frage nachgegangen, welche kulturpolitischen Maßnahmen es braucht, damit postmigrantische Positionen und Themen zunehmend auf die Wiener Theaterbühnen finden. Als Fortsetzung der Reihe wurde 2012 das Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ in der Garage X in einer eigenen Wiener Version von Volker Schmidt inszeniert. In dem Stück geht es darum, sich nicht darauf reduzieren zu lassen, Migrant_in oder Postmigrant_in zu sein. Nancy Mensah-Offei hat mitgespielt: „Obwohl es im Stück viel um Herkunftsfragen geht, hat meine Hautfarbe in der Inszenierung keine Rolle gespielt. Es ging hauptsächlich um das Kopftuch, das ich getragen habe“, erzählt sie.

Große Pläne, wenig Geld. Die Garage X, das Kabelwerk und die Theatergruppe daskunst haben sich nun auch zusammengetan und das Werk X gegründet. Dort soll inhaltlich progressives Theater mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auf internationalem Niveau und unter Einbezug der Diversität der Wiener Bevölkerung geboten werden. Teil des neuen Programms ist das DiverCITYLAB von Asli Kislal, das sich der Heranführung migrantischer Publikumsgruppen an das Theater widmet. Es will „dem Gegenwartstheater ein neues, unserer postmigrantischen Gesellschaft angemessenes Gesicht geben, mit neuen Akteur_innen und neuen Theatermacher_innen“ und beinhaltet auch eine eigene Schauspielschule für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Die Budgets von Werk X und DiverCITYLAB werden übrigens separat verwaltet: Während das Werk X mit über 1,5 Millionen Euro von der Stadt Wien gefördert wird, gehen an Asli Kislal und ihr DiverCITYLAB gerade einmal 100.000 Euro jährlich.

Sara Schausberger ist freie Journalistin und hat in Wien Germanistik studiert.

„Wer nicht hüpft, der ist ein …“

  • 16.07.2014, 10:26

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In der medialen Rezeption von Fußball steht oft die nostalgische Verklärung von Fußballlegenden, Vereinen oder einzelnen Spielen im Vordergrund. Eine kritische Hinterfragung der antisemitischen Auswüchse dieser Sportart wird dabei meist verunmöglicht. Zwar verweisen manche Stimmen neben der Kommerzialisierung des Fußballs auch auf Problematiken wie Antisemitismus und Rassismus auf den Tribünen. Aber selbst ihnen fehlt die theoretische Einbettung von einzelnen Tatsachenberichten. Das Wesen des Antisemitismus bleibt somit meist unerkannt und seine Ursprünge bleiben unhinterfragt.

Antisemitismus wird in der Fußballliteratur oft als eine mögliche Form des Rassismus abgetan und nicht eigenständig behandelt. Dieser Zugang spiegelt sich leider auch häufig in der antidiskriminatorischen Fanarbeit oder in Fairplay-Kampagnen wider. So wird Antisemitismus oft nur nach entsprechenden Vorfällen von Seiten der Spieler oder Fans explizit zum Thema gemacht und eigenständige Projekte zur Sensibilisierung und Prävention stehen bis heute aus.

Rassismus und Antisemitismus sind jedoch in ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen grundverschieden: Der Hass auf Juden und Jüdinnen richtet sich gegen ihre imaginierte Allmacht, wohingegen sich der Rassismus gegen die jeweilige Ohnmacht der rassistisch markierten „Anderen“ wendet. Gerade auch weil Antisemitismus im Fußball nicht immer so deutlich auftritt, aber dennoch latent vorhanden und tief verankert ist, wäre die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von besonderer Wichtigkeit.

Wir-Identitäten. Im Fußball entsteht durch gemeinsam erlebte Siegund Niederlageszenarien ein regional bis national verortetes Gruppenbewusstsein. Unter Fans stehen meist Werte wie Zugehörigkeit, die Treue gegenüber einer Mannschaft sowie die KameradInnenschaft untereinander im Mittelpunkt. Der Historiker Michael John beschreibt Fußball als „ritualisiertes Kampfspiel mit stark hierarchischem Charakter“. Die dabei verstärkte Gruppenidentität kann dazu führen, dass der sportliche Gegner als realexistierender Feind wahrgenommen wird. Dabei entsteht ein kollektives Wir, das der Volksgemeinschaft nicht unähnlich ist und zur starken Identifizierung, auch durch Symbole wie zum Beispiel Fahnen, Kappen und Schals, einlädt. Fußballspiele können durch ihre Funktion als Ventil zur Freilassung von Aggressionen „potentielle Krisenherde“ darstellen, die ein gewisses Machtinteresse transportieren. Auf diese Weise vermischen sich soziale mit sportlichen Werten, die ausgehend von bestimmten Ideologien vorbestimmt sind. So ist auch die Affinität rechtsextremer Gruppierungen zum Fußball nicht neu und gründet auf den angesprochenen Wertvorstellungen bestimmter Fanszenen, wie der Betonung von KameradInnenschaft sowie nationalistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Orientierungen.

Antisemitismus ohne Juden. Antisemitische Sprüche wie „Scheiß Juden“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Jude!“ gehören bei Spielen gegen israelische Mannschaften zum rechtsextremen Fußballalltag. Rechtsextremes Gedankengut wird zudem über Symboliken wie Reichkriegsfahnen und Keltenkreuze oder über NS-verharmlosende Botschaften wie Hitler-Grüße zum Ausdruck gebracht. Dass Antisemitismus aber nicht auf real existierende Juden und Jüdinnen angewiesen ist, zeigt sich in Österreich beispielsweise in den Auseinandersetzungen der beiden Wiener Fußballklubs Austria (FAK) und SK Rapid. Da sich ersterer historisch gesehen aus bürgerlichen und jüdischen Gesellschaftsschichten zusammensetzte, sehen sich Rapid-Fans trotz der Tatsache, dass es in Österreich kaum bis keine SpitzensportlerInnen jüdischer Herkunft gibt, noch heute veranlasst, mit antisemitischen Parolen gegen die Austria anzutreten. Im August 2004 war auf einer Tribüne des Heimstadions der Austria der antisemitische Schriftzug „Franz Strohsack-Synagoge“ zu lesen, in Anspielung auf den Besitzer des Magna-Konzerns und ehemaligen Präsidenten der Austria, Frank Stronach. Bis heute finden sich rund um das Rapid-Stadion in Hütteldorf Davidstern-Sprayereien, verziert mit den Buchstaben FAK. Auch in den Reihen der Fans des Linzer Athletik- Sport-Klub (LASK) war 2007 ein Transparent mit der Aufschrift „Schalom“ zu sehen und Sprechchöre wie „Ihr seid nur ein – Judenverein“ waren zu hören. Bei einem Bundesligaauswärtsspiel 2009 gegen die Austria im Horr-Stadion wurden Parolen wie „Juden Wien, Juden Wien“ skandiert.

Judenfeindliche, antisemitische Ausdrucksformen zielen durch die mit antisemitischen Stereotypen verbundenen Konnotationen auf die prinzipielle Abwertung der gegnerischen Mannschaft oder der Schiedsrichter ab. Der Antisemitismus ist also auch als ein System von Welterklärungsmustern zu verstehen, in welchem Juden und Jüdinnen als Projektionsfläche für die eigene Paranoia dienen. Auch im Fußball zeigt sich die tiefgehende gesellschaftliche Verankerung der Ablehnung und Abwertung von allem, was als „jüdisch“ gilt.

Neonazis im Stadion. Fußballfans sind auch immer wieder Anwerbeversuchen durch Neonazis ausgesetzt, die Fußballstadien dazu nutzen, ihre Parolen zu platzieren. Antisemitisch motivierte Aktionen waren beispielsweise bei den Fans des Wiener Klubs Rapid insbesondere ab den 1980ern wieder verstärkt anzutreffen, unter anderem weil der international bekannte Holocaustleugner Gottfried Küssel begonnen hatte, im Rapid-Stadion Nachwuchs zu rekrutieren.

Aber auch die Austria hat seit einiger Zeit selbst ein massives „Neonaziproblem“. Insbesondere der rechtsextreme, inzwischen ausgeschlossene Fanclub Unsterblich fungiert seit einigen Jahren als Sammelbecken für Neonazis. Nicht nur Sprüche wie „Rassist, Faschist, Hooligan“ oder „Zick-zack Zigeunerpack“ sollen zu ihrem Standardrepertoire gehören, bei einem Europa League-Spiel gegen die baskische Mannschaft Athletic Bilbao waren neben einer Reichskriegsfahne auch Transparente mit dem Spruch „Viva Franco“ zu sehen. Bereits zuvor war der Austria-Fanclub Bull Dogs, der selbst das Keltenkreuz in seinem Logo hat, durch einschlägige Fanartikel in den Farben der Reichskriegsflagge aufgefallen.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (www.fipu.at).

Literaturtipps:
Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/ Stocker, Kurt (Hg.): Ein Spiel dauert länger als 90 Minuten, Junius, Hamburg 1988.
Michael John: Kriege im Stadion. Bemerkungen zu Fußball und Nationalismus; in: Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports; Göttingen 1992.

Raus aus der Indie-Blase

  • 29.06.2014, 19:38

Böser Hip Hop vs. idealisierter Indie-Rock: Solche Dichotomien bieten die Bühne für internalisierte Kackscheisze. Das Verlernen dieser Vorurteile ist mühsam und dauert – ein Erfahrungsbericht.

Böser Hip Hop vs. idealisierter Indie-Rock: Solche Dichotomien bieten die Bühne für internalisierte Kackscheisze. Das Verlernen dieser Vorurteile ist mühsam und dauert – ein Erfahrungsbericht.

Mit 15 wusste ich das Übel aller Musikgenres genau zu benennen. Eigentlich waren es mehrere Übel. Unter dem Eindruck von trashigem Billigtechno aus den Handys halbstarker Typen an der Bushaltestelle und dem zu sehr nach Plastik klingenden Versuch David Guettas, House zu produzieren, kam es mir wie eine Beschimpfung vor, diese beiden Genres als Musik zu bezeichnen. Die Zeit und der Berliner Clubkosmos lehrten mich, dass sowohl Techno als auch House tatsächlich sehr magische Genres sind. Und Gitarrenrocktypen, die mir erzählen, dass komplett digital produzierte Musik keine „echte Musik“ sei, denken vermutlich auch, lesbischer Sex sei kein „richtiger Sex“. Just saying.

Problematische Genres? Vorurteile hegte ich allerdings auch gegenüber dem Hip Hop. Deutschsprachiger Hip Hop – mit oder ohne Migrationshintergrund – war explizit gewaltverherrlichend, materialistisch, rassistisch, antisemitisch, heterosexistisch und misogyn besetzt. Die Kollegen aus den USA hinterließen bei mir keinen besseren Eindruck, zumal sie in ihren Musikvideos mit Waffen, Geld, Autos und auf Objekte männlichheterosexuellen Begehrens reduzierten Frauen um sich warfen. Hip Hop war nicht mein Genre. Hip Hop war das Genre des Pöbels. Klassismus-Alarm hoch zwanzig.

Wenn Hip Hop gut war, dann war er in der Regel von weißen Interpreten wie Fettes Brot, Deichkind oder den Beastie Boys. Ein Paradebeispiel erfolgreicher Kulturaneignung: Erst klauen sie People of Color ihr Genre, eigentlich für von Rassismus Unterdrückte als Empowerment erdacht, dann werden sie auch noch als diejenigen vermarktet, die es endlich richtig machen. Genannt werden muss an dieser Stelle auch Casper, der keinen sonderlich nennenswerten Flow zu bieten hat und es textlich nicht über Kalendersprüche und Zitat-Collagen hinausschafft.

Die Annahme, dass ein Genre pauschal problematisch sei, macht all die ohnehin schon marginalisierten Subgenres wie Queer Rap oder Conscious Rap sowie Rapperinnen* unsichtbar. Die Annahme, dass People of Color grundsätzlich nicht in der Lage seien, politisch korrekte Musik zu machen, ist dazu noch rassistisch. Die Entstehungsgeschichte und Subversion des Hip Hops werden durch solche Vorurteile gänzlich ausradiert.

R’n’B warf ich seinerzeit in den gleichen Topf und dachte, er sei Hip Hop mit einem Hauch Kitsch. Auf Partys waren wir Indiekids uns darüber einig, dass Hip-Hop und R’n’B schon allein aus politischen Gründen uncool seien. Dass ich mit 13 eine sehr intensive Hip Hop- und R’n’B-Phase hatte, verschwieg ich und machte dies zu einem weiteren Anlass für pubertären Selbsthass. Dass ich manchmal heimlich die Pussycat Dolls hörte, erzählte ich natürlich auch nicht.

Ignorante Indiekids. Und das war nicht mal der Gipfel meiner Ignoranz als Indiekid. Das Nonplusultra stellte für mich das scheinbar perfekte Genre Indie-Rock dar. Die Videos waren artsy, ironisch und gaben einem_r beim Rezipieren die Illusion des Intellekts. Ich bildete mir ein, dass Indie-Rock ein Safe Space sei. Gar nicht so überraschend platzte auch diese Blase. Konstruierte Dichotomien, wie sie zwischen Indie-Rock und Hip Hop vorherrschen, blockierten jahrelang meinen eignen Spaß. Nach und nach grub ich die Kackscheisze der Indiewelt aus oder wurde Zeugin des Grabens anderer Leute.

Misogyne Texte zum Beispiel gibt es in der Rockmusik eine Menge. Einen kleinen Einblick verschaffen Blogs wie MisogynicLyricsThatArentRap.tumblr.com. Mit dabei sind zum Beispiel Alt-J, Pink Floyd, Interpol, The Kooks und The Offspring. Viele sind Indie-Darlings, darunter auch weibliche. Kate Nash ist zwar als Feministin sehr populär, hat aber auf bisher allen ihrer drei Alben sexistische Songs vorzuweisen. Ihr Problem heißt Girl Hate und ist auch als internalisierte Misogynie bekannt. In „We Get On“ („Made of bricks“, 2007) betreibt sie Slut Shaming und feindet eine Frau an, weil die sich ihren Schwarm schnappt. Von ihrer sonst so angepriesenen Sisterhood bleibt nicht viel übrig.

Mittlerweile habe ich meine Musiksammlung um viele tolle Female Artists unterschiedlicher Genres erweitert. Dazu musste ich in erster Linie feststellen, dass meine alte Musik sehr typendominiert war. Dann bewies ich mir selbst, dass es unglaublich viele Künstlerinnen gibt, die mir entgangen waren. Auch in diesem Punkt könnte ich noch viel weiter graben, soviel ist gewiss.

Immer nur Typenmusik. Auf einer Indie-Party rief ich neulich zum Beispiel nach dem fünften Song über The Killers hinweg einer Freundin zu: „Ey, die spielen ja nur Typenmusik hier!“ Zwischendurch schallten zwar auch weibliche Gesänge durch den Raum – wäre auch ziemlich peinlich für die DJDudes, wenn sie die Größen The Knife oder M.I.A. geleugnet hätten – aber nicht-weiße, nicht-männliche Künstler_innen machten insgesamt nur einen Bruchteil der Playlist aus. Je mehr ich mich mit Problematiken des Indie-Rocks beschäftige, desto mehr frage ich mich, woher ich als Jugendliche Anhaltspunkte nahm, mich als nicht-weiße, dicke Frau in dieser Szene repräsentiert zu fühlen.

All das hätte ich gerne schon mit 15 gewusst. Das tat ich aber nicht, weil Musikzeitschriften nicht gerade die richtigen Vermittler sind. Wie wenig (sichtbaren) Raum für Frauen* es im Rock gab und gibt, ist großteils in Vergessenheit geraten. Schaue ich mir die Popkulturzeitschrift Spex an, so sind in der Regel Typen auf dem Cover – und sind es doch mal Frauen (ohne Sternchen, sic!), dann nur normierte Schönheiten wie eine weiße Lana del Rey. Coole Blätter wie das Missy Magazine gab es damals noch nicht. Damals, damals.

Dem Irrglauben, dass weiße Typen die Pioniere für alles – Musik, Kunst, Literatur, alles eben – waren, folgte ich lange. Und mit der Erkenntnis, dass dies nicht so ist, bin ich, so traurig es ist, immer noch in der Unterzahl. Die Cover-Landschaft der Kulturzeitschriften hat sich nicht geändert. Musik bekommt erst dann den Stempel „gute Musik“, wenn sie viele Typen in der Fangemeinde hat – „Mädchenmusik“ ist nach wie vor ein sehr stark negativ konnotierter Begriff. Und mit dem Begriff Riot Grrrl können immer noch zu wenige etwas anfangen.

 

Hengameh Yaghoobifarah studiert Medienkulturwissenschaft an der Universität Freiburg. Sie bloggt unter teariffic.de und twittert als @sassyheng.
Foto: Serge Melki

„Ein Monster namens Europa“

  • 27.05.2014, 12:55

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Seit Ende letzten Jahres wird in der Berichterstattung über die kommenden EU-Wahlen immer wieder die Befürchtung eines beträchtlichen Stimmenzuwachses für rechtsextreme Parteien geäußert. Das Potential der rechten und rechtsextremen Parteien, Wähler_innenstimmen für sich zu gewinnen, wird dabei oft überschätzt. Allerdings wurden deren Programmatiken und Forderungen mittlerweile von Parteien der Mitte teilweise übernommen und umgesetzt.

Geeinte Untergangsphantasien. Rund 380 Millionen Stimmberechtigte können von 22. bis 25. Mai über die neue Zusammensetzung des Europaparlaments entscheiden. Aktuellen Umfragen zufolge werden rechte und rechtsextreme Parteien aus 13 Mitgliedstaaten (wieder) ins Parlament ein- ziehen. Diese eint vor allem ihre EU- und eurokritische beziehungsweise -feindliche Haltung sowie ihr/ ein antimuslimischer Rassismus. Zentrale Themen dieser Parteien sind demnach nicht nur die EU samt ihrer Bürokratie, „Bonzen“ und Rettungspakete für „die faulen Südländer“, sondern vor allem auch die Mobilisierung gegen das Feindbild „Islam“, die Forderung nach einem „Einwanderungsstopp“ sowie Hetze gegen andere Minderheiten wie Roma oder homosexuelle Menschen. Insbesondere der in den Parteien propagierte Nationalismus mitsamt Phantasien vom Untergang des „christlichen Abendlands“ verfestigen sich in einer Ausgrenzungsideologie gegenüber allen vermeintlich „Anderen“ oder „Fremden“.

Der große Widerspruch: Diese Parteien, die aktuell mit 55 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sind, geben sich europakritisch oder gar EU-feindlich, trotzdem wollen sie ins EU-Parlament. Zu verlockend scheint die Möglichkeit, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen sowie bei der Geldvergabe berücksichtigt zu werden. Kaum verwunderlich also, dass VertreterInnen europäischer rechtsextremer Parteien erneut einen Versuch starteten, ein Bündnis der Gleichgesinnten, die Europäische Allianz für Freiheit (EAF) zu gründen. Um eine Fraktion zu bilden, die finanzielle Zuwendungen bekommt, benötigt ein solches Bündnis nämlich mindestens 25 Abgeordnete aus sieben Ländern.

Rechtsextreme Allianzen. Bereits im November 2013 trafen sich die FPÖ, der französische Front National (FN), die italienische Lega Nord (LN), der belgische Vlaams Belang (VB), die Schwedendemokraten (SD) sowie die slowakische Nationalpartei (SNS) in Wien um ein rechtes beziehungsweise rechtsextremes Wahlbündnis zu beschließen. In einem gemeinsamen Kommuniqué wird als Ziel „die Bewahrung der kulturellen Identitäten der europäischen Völker“ genannt, „Masseneinwanderung und eine Islamisierung Europas“ gelte es zu verhindern. Wenngleich Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV), bei der Zusammenkunft in Wien nicht vertreten war, soll auch seine Partei mit an Bord sein. Bisherige Bündnisversuche der Europa-Rechten waren aufgrund von internen politischen Differenzen gescheitert. So führte beispielsweise der Austritt der Abgeordneten der Groß-Rumänien-Partei nach antiziganistischen Äußerungen von Alessandra Mussolini 2007 zum Ende der rechten Fraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) im EU-Parlament. Auch nach den jüngsten rassistischen Aussagen von Andreas Mölzer, der inzwischen als Spitzenkandidat der FPÖ zurück- getreten ist, scheint das Bündnis erneut zu wackeln. Nicht nur Marine Le Pen, Vorsitzende des FN, auch die SD haben angedroht aus dem Bündnis auszusteigen, sollte Mölzer im Vorstand bleiben. Weitere Differenzen ergeben sich darüber hinausmit Parteien wie der PVV. Geert Wilders sticht nicht nur als „Islamkritiker“ hervor, weil er den Koran als „faschistisches Buch“ bezeichnet hat und gegen den „Tsunami der Islamisierung“ vorgehen möchte. Er hat sich in der Vergangenheit öfters pro-israelisch und offen gegenüber der Ausweitung von Homosexuellen-Rechten gezeigt – ein Widerspruch zum Antisemitismus und der Homophobie der meisten anderen Parteien. Die Heterogenität der involvierten Parteien sowie ihr nationalistischer Charakter dürften das geplante Bündnis zusätzlich destabilisieren.

KrisengewInnerinnen? Mitte März 2014 widmete sich die Konferenz Europa auf der Kippe? der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln dem „Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Vorfeld der Europawahlen“. Im Rahmen des Eröffnungsvortrags analysierte der Politikwissenschaftler Cas Mudde die zwei Hauptbotschaften der Berichterstattung über die Europa-Wahlen: „Die Wirtschaftskrise hat zum Aufstieg von Rechtsaußen geführt, und die Rechtsaußenparteien werden bei den Europawahlen im Mai 2014 große Stimmenzuwächse erzielen.“ Trotz des breiten diesbezüglichen Medienkonsenses hält er den ersten Punkt für faktisch falsch und den zweiten für höchst unwahrscheinlich. Wirtschaftskrisen hätten in den seltensten Fällen zu Wahlerfolgen für rechtsextreme Parteien geführt; dies sei auch aktuell nur in Griechenland der Fall. In anderen europäischen Krisenländern seien keine vergleichbaren Tendenzen zu erkennen. Stattdessen würden Rechtsextreme gerade in Ländern, die wenig von der Krise betroffen sind, Erfolge feiern. Zudem prognostiziert Mudde der extremen Rechten im Europaparlament lediglich sechs Prozent der Sitze. Da eine Zusammenarbeit mit linken EU-KritikerInnen unwahrscheinlich bleibt, bleibe die Mehrheit nach wie vor bei pro-europäischen Kräften.

Damit versucht Mudde Übertreibungen in Bezug auf die Gefahr rechtsextremer Parteien entgegenzuwirken, verharmlost diese jedoch auch, da rechtsextremes Gedankengut keineswegs ein gesellschaftliches Randphänomen darstellt. Der gesellschaftliche Rechtsruck, der sich beispielsweise in weit verbreitetem Rassismus und Antiziganismus äußert, findet in seinen Ausführungen keine Erwähnung. Dieser lässt sich nicht ausschließlich an Wahlerfolgen messen, schließlich sind es in den wenigsten Ländern rechtsextreme Parteien gewesen, die Asylgesetze verschärft haben oder gegen Roma vorgehen. Parteien der Mitte haben die Forderungen rechtsextremer Parteien längst in ihre Politiken aufgenommen. Auch dafür, welche Gewalt von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie ausgeht, herrscht kaum Bewusstsein. Gerade die tiefe Verankerung dieser Ideologien in der Mitte der Gesellschaft sollte endlich im öffentlichen Diskurs thematisiert werden – ohne dabei die Gefahr, die rechtsextreme Parteien darstellen, zu verkennen.

 

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at) und studiert Politikwissenschaft im Doktorat an der Uni Wien.

Foto: Front National cc-by Blandine Le Cain

Identitäre: Connections zu Rechtsaußen

  • 17.05.2014, 19:04

Neue Rechte hin oder her, der politische und persönliche Hintergrund der österreichischen Identitären ist geprägt von Nazi-Kadern à la Gottfried Küssel. Eine politische Analyse von Joseph Maria Sedlacek* für progress online.

Neue Rechte hin oder her, der politische und persönliche Hintergrund der österreichischen Identitären ist geprägt von Nazi-Kadern à la Gottfried Küssel. Eine politische Analyse von Joseph Maria Sedlacek* für progress online.

Spätestens mit ihrer „Gegenbesetzung“ der Votivkirche im Februar 2013 haben die Identitären in Wien, zumindest in linken Kreisen, auf sich aufmerksam gemacht. Die Aktion sollte dazu dienen den wochenlangen Protest und Hungerstreik von Refugees, der sich vom Sigmund-Freud-Park in die Votivkirche verlagert hatte, möglichst medienwirksam zu stören und zu delegitimieren. „Das wäre doch gar nicht nötig gewesen.“, werden sich an dieser Stelle einige denken, sind doch die Anliegen von Geflüchteten der xenophoben Mehrheitsgesellschaft in Österreich sowieso wurscht - es ist ja nicht so als wären Krone, Österreich und Heute den Identitären nicht schon zuvorgekommen. Ein wichtiger erster Schritt in Richtung „konservativer Revolution“ wurde gesetzt.

Die nächsten Schritte folgten: Der 25-Jährige Martin S., der sich bis dahin um Zurückhaltung bemühte, trat mehr und mehr in Erscheinung. Er hielt sich im Hintergrund bis der erste mediale Gegenwind verflogen war und die identitäre Bewegung in den rechten und konservativen Kreisen Österreichs Eingang gefunden hatte. Doch wieso diese anfängliche Zurückhaltung von einer Person die seit circa einem Jahr die identitäre Bewegung im Wesentlichen nach außen repräsentiert und bei dem Versuch, die vertretenen Inhalte zu theoretisieren, federführend ist?

Neonazi-Vergangenheit verwischen

Der ausschlaggebende Grund wird sein, dass sich Martin S. über mehrere Jahre hinweg sehr aktiv in der österreichischen Neonazi-Szene betätigt hat. Er selbst gibt an, im „nationalen Lager“ politisiert worden zu sein. Aus dieser Zeit stammen unter anderem Anzeigen wegen Sachbeschädigung, Verstoß gegen das Waffengesetz und gegen das NS-Verbotsgesetz. Auch die bekannten „Kampfsportkurse“, veranstaltet aus dem Umfeld von Gottfried Küssel, dürfen in seiner Laufbahn als anständiger Neonazi natürlich nicht fehlen.

Es folgen Teilnahmen an Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen, wie zum Beispiel 2009 für den Nazihelden Walter Nowotny oder 2010 am Naziaufmarsch in Dresden. In beiden Fällen gemeinsam mit bekannten Gestalten der österreichischen Szene, wie beispielsweise Wolfgang L., der in Internet-Foren gerne mal über den Bau von Autobomben philosophiert oder Benjamin F., Sohn eines ehemaligen BVT-Ermittlers, der dadurch auffiel, dass er auf einem Truppenübungsplatz des Bundesheeres in der Steiermark mehrfach die Hand zum Hitlergruß gehoben hatte und Lieder der Wehrmacht anstimmte. Ein Verfahren gegen ihn wurde nicht eingeleitet. Auch Küssel selbst zählt zu seinen Kameraden und die Liste von Martin S. Weggefährten aus der österreichischen Neonazi-“Prominenz“ lässt sich noch lange weiterführen.

alpen-donau.info, Siegfriedskopf und Funke

Ermittlungen zu den Verantwortlichen der Neonazi-Seite alpen-donau.info, zu denen auch S. zählen soll, zogen im Jahr 2011 einige Repressionschläge gegen die rechte Szene nach sich. Mehrere Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in ganz Österreich folgten, und es wurde ein wenig still um den damals 22-Jährigen. In der Folgezeit versuchte er mit der Gruppe Siegfriedskopf und der rechten Homepage derfunke.info mit dem stumpfen Neonazi-Image zu brechen und sich einen „intellektuellen“ Anstrich zu verpassen. Eine breite Rezeption erfuhren Martin S. „Zwischenprojekte“ allerdings nicht, etwas Neues musste her. Auf der Homepage der Identitären schreibt der Jus- und Philosopiestudent über seine Gedanken zu deren Entstehung, dass „an ein praktisches Weitermachen nach Schema F nicht zu denken war“, weil „die klassische NS-Propaganda aus der NW[Anm.: Nationaler Widerstand]-Szene am Bewusstsein des Volkes folgenlos abprallte“.

Vorbild für den vermeintlich neuen und innovativen Kurs ist der französische bloc identitaire. Selbst eine Nachfolgeorganisation der neonazistischen unité radicale, welche 2002 verboten wurde, nachdem eins ihrer Mitglieder, der damals 25-Jährige Maxime Brunerie, aus einem Karabinergewehr auf den früheren Staatspräsidenten Jacques Chirac geschossen hatte. Die Identitären in Frankreich, Deutschland und Österreich waren von Beginn an um Abgrenzung zum organisierten Neonazi-Spektrum bemüht.

Die Identitäre Bewegung ist international vernetzt. Ihr Logo ist der griechische Buchstabe Lambda, ihre Farben sind Schwarz und Gelb. Foto: Christopher Glanzl

Kalkulierte Zurückhaltung

Ohne Martin S. Dasein als Neonazi, und seine guten Kontakte in die Szene, von Anfang an als Zielscheibe zu präsentieren, versuchen die Identitären eine Schnittstelle zu finden. Eine Schnittstelle zwischen einer Mehrheit von Österreicherinnen und Österreichern, die ihre Stimmen für ÖVP und FPÖ abgeben und dem widerlichen Sumpf an Neonazis und Burschenschaftern. Dass S. sich anfänglich so zurückhielt, war also weniger dem Zufall geschuldet als ein berechneter Zug. Denn hätte er von Anfang an die führende Rolle eingenommen, die er jetzt inne hat, hätten sich die Identitären hierzulande vermutlich sang- und klanglos in die Riege der üblichen Neonazi-Kader eingereiht. Doch auch andere Mitglieder der Identitären haben entsprechende Kontakte.

Alexander M. beispielsweise, Obmann der Wiener Identitären, ist aktives Mitglied der schlagenden, deutschnationalen Burschenschaft Olympia und unter anderem regelmäßig am sogenannten „Burschibummel“ beteiligt, der jeden Mittwoch vor der Universität Wien stattfindet. Patrick L. aus Graz ist ebenfalls Burschenschafter und Obmann der Identitären in der Steiermark. Thomas S., Martins jüngerer Bruder, und Fabian R. haben einen Weg gefunden ihren „gesunden“ Patriotismus auf institutioneller Ebene auszuleben – mit der Waffe in der Hand beim Bundesheer.

Hipper Scheiss: Internet und Theorie

Im Kampf gegen das Nazi-Image scheuen die Identitären keine Mühen, um sich im Stil einer hippen Jugendbewegung, die als „weder links – noch rechts“ verstanden werden will, zu etablieren. Mittels Facebook-Accounts werden Termine zu Veranstaltungen und Treffen bekannt gegeben; auf der von L. eingesetzten Homepage www.identitaere-generation.info, versucht Martin S., zunächst unter dem Pseudonym „Julian Fosfer“, Anstöße zur Auseinandersetzung mit Theorien der neuen Rechten zu geben.

Am meisten Präsenz zeigen die  Identitären also im Internet. Direkte Aktionen gab es bis jetzt kaum und wenn, dann ohne breite Mobilisierung. Die oben erwähnte „Gegenbesetzung“ und eine schlecht besuchte Kundgebung am Wiener Ballhausplatz stehen im Kontrast zur ständigen Selbstüberhöhung der „Bewegung“. Einzig regelmäßig stattfindende „Stammtische“ und Flyeraktionen vor Schulen sollen zu breiterer Popularität verhelfen und das „Bewusstsein des Volkes“ wecken.

Für den 17. Mai ist in Wien die erste Demo angekündigt. Die neonazistische Seite freies-oesterreich.net teilt den Aufruf mit folgenden Worten: „Eine Möglichkeit für Identitäre und den Nationalen Widerstand öffentlich klar zu stellen: Der Widerstand lebt! Wir wollen in der Stadt Wien, der Bastion Europas, ein starkes Zeichen setzen und auf die Straße gehen.“

Die Abgrenzungsversuche der sich als harmlose „neurechte Bewegung“ inszenierenden Identitären laufen ins Leere, wenn gleichzeitig Neonazis zu ihren Demos aufrufen, die auffälligste Person der „Bewegung“ selbst ein, zumindest ehemaliger, Neonazi ist und ihre Antwort auf die Verschlechterung der Lebensrealitäten vieler Menschen in Europa eine nationale Abschottung ist. Auch wenn ihre Konsolidierungsbemühungen bis jetzt an Grenzen stoßen, ist es weiterhin wichtig diese Bemühungen ernst zu nehmen, weil sie Denkweisen und Stimmungen aufgreifen, die im Großteil der Gesellschaft oft etabliert sind. Als Gegenstrategie könnte es sinnvoll sein, sich aus linksradikaler Perspektive an gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen, um politische Alternativen jenseits reaktionärer Krisenlösungen aufzuzeigen und sich mit dem Gedankengut auseinanderzusetzen, das sich als „neurechts“, hipp und unverbraucht zur Schau stellt.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls in der aktuellen Malmoe Ausgabe 67

Die Nachnamen wurden in dem Artikel aus medienrechtlichen Gründen abgekürzt.

*Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt.

 

Siehe auch: Hintergrundgespräch: Wer sind die Identitären?" mit Andreas Peham (DÖW)

 

Sich dem Glück in den Weg stellen

  • 10.03.2014, 23:50

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich ein steigendes Interesse an den Themen Emotion und Affekt innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften beobachten. Während Emotionen zuvor primär der Privatsphäre zugeordnet wurden, rückte nun die Wechselwirkung mit sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren in den Vordergrund. Aber der sogenannte affective turn übersieht oft ein wichtiges Vermächtnis: die Arbeiten von queeren, feministischen, postkolonialen und Schwarzen Theoretiker_innen und Aktivist_innen. Sara Ahmed schließt diese Lücken und leistet gleichzeitig durch ihre eigenen Forschungen einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Themenbereichs. Zurzeit unterrichtet sie an der Goldsmith University (UK) und ist dort Direktorin des Centre for Feminist Research.

progress traf Ahmed während ihres Besuchs in Wien, wo sie im Rahmen des Workshops „Emotionen als Regierungstechnik“ und der „Gender Talks“-Reihe einen Vortrag zu „Diversity Work as Emotional Work“ hielt.

progress: Beschäftigt man sich mit Emotionen, zählen Ihre Publikationen zum Standardrepertoire. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Ahmed: Als ich angefangen habe über die Figur des Fremden – „the body out of place“ – nachzudenken, wollte ich auch meine eigenen Erfahrungen verarbeiten. Ich bin als Person of Colour in einer sehr weißen Nachbar_innenschaft in Australien aufgewachsen. Diese Umstände haben mich zu der Frage geführt, wie Emotionen in sozialen Interaktionen wirken und welche Rolle sie für die Konstruktion von einem „Wir“ spielen. Ein „Wir“, das begrenzt wird durch die Vorstellung, dass bestimmte Körper Quellen der Gefahr oder schlechter Gefühle seien. Meine Arbeit beschäftigt sich also mit der Frage, wie Emotionen auf bestimmte Objekte gerichtet werden. In meinen Untersuchungen zu Rassismus hat mich besonders die Beziehung zwischen der Figur des_der Asylwerber_ in und des_der potentiellen Terrorist_in interessiert. Und die Frage, wie diese Figuren „zusammengeklebt“ werden.

Sie verwenden den Begriff „affektive Ökonomien“, um diese Beziehungen und ihre Zirkulation in Gemeinschaften zu beschreiben.

Ja. Das ökonomische Vokabular erleichtert es, diese Bewegungen zu verstehen. Man kann sehen, wie verschiedene Emotionen als Technologien angewendet werden, um Menschen zu regieren. Im australischen Kontext ist das Gefühl der Scham sehr interessant, denn sich gegenüber der indigenen Bevölkerung für die Vergangenheit zu schämen, erzeugt ein neues nationales „Wir“. Diese Emotion wird so „performed“, als sei die Geschichte schon überwunden. Sie verdeckt eine Wunde, die aber bis heute präsent ist.

Eine von Europas Figuren des Fremden ist der Flüchtling. Wie beurteilen Sie die Diskussionen rund um den Tod so vieler Refugees im Mittelmeer, zum Beispiel im Kontext des tragischen Bootsunglücks vor Lampedusa im Oktober 2013?

Ich finde Judith Butlers Arbeiten hier sehr hilfreich. In ihrem Buch „Gefährdetes Leben“ fragt sie danach, was ein Leben „grievable“ – also betrauerbar – macht, welche menschlichen Verluste betrauert werden und welche vom politischen Horizont verschwinden. Das bleibt eine der dringendsten politischen Fragen. Aktivismus spielt hiereine wichtige Rolle, denn er macht diese Verluste sichtbar und stellt gleichzeitig die Art und Weise in Frage, wie der nationale Körper imaginiert wird. Im britischen Kontext steht das Thema Anti-Immigration momentan in engem Zusammenhang mit David Camerons „muscular liberalism“. Dieser Begriff geht von der Notwendigkeit körperlicher Stärke aus, um sich der Bedrohung durch die „Anderen“ entgegenstellen zu können. Und das hängt eindeutig mit der vermehrten Praxis der Inhaftierung von Flüchtlingen und der Ablehnung von Trauer zusammen.

Manche Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen argumentieren, es habe in Bezug auf Themen wie Armut und Flucht eine Verschiebung von einem Menschenrechtsdiskurs hin zu einem emotionaleren Diskurs gegeben, der von Konzepten der Wohltätigkeit und des Humanitarismus geprägt ist. Würden Sie dem zustimmen?

Es lässt sich sicher argumentieren, dass es eine solche Verschiebung gibt. Wir brauchen dringend postkoloniale Kritiken von Wohltätigkeit und Humanitarismus. Die Idee der Wohltätigkeit ist sehr komplex. Sie kann bestehende soziale und ökonomische Beziehungen reproduzieren, weil der Akt des Gebens auf Großzügigkeit beruht. Das verschleiert oft die Geschichte des Diebstahls, der es manchen Personen überhaupt erst ermöglicht zu geben. Aber es gibt auch sehr viele Probleme in Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs. Man müsste sich die Geschichte der Gewalt anschauen, die seine spezifischen Konzepte der Freiheit und des Individuums geschaffen hat. Das müssen wir im Rahmen einer Kritik des globalen Kapitalismus denken. Wenn wir also eine Verschiebung zu einem humanitären oder wohltätigen Modell identifizieren, sollten wir den Menschenrechtsdiskurs nicht nostalgisch glorifizieren.

Seit August 2013 betreiben Sie den Blog „Feminist Killjoys – Killing joy as a world making project“. Wie lässt sich dieser Titel verstehen?

Als ich anfing mein Buch über Glück zu schreiben, fiel mir auf, dass Glück immer als etwas Gutes imaginiert wird. Wenn man aber auf die Geschich te des Feminismus zurückblickt, zum Beispiel auf die Arbeiten von Simone de Beauvoir, Shulamith Firestone oder Audre Lorde, findet sich oft eine sehr starke Kritik an dieser Idee. Das habe ich als die „unglücklichen Archive des Feminismus“ bezeichnet. Die Figur des feminist killjoy sehe ich als Teil davon. Ich trage sie schon mein Leben lang mit mir herum. Ich bin häufig mit meiner Familie um den Esstisch gesessen und war dabei immer diejenige, die auf problematische Aussagen hingewiesen hat und dadurch selbst zum Problem wurde. Das war sehr anstrengend. Aber ich habe verstanden, dass es in solchen Situationen darum geht, dass sich jemand scheinbar dem Glück in den Weg stellt, in diesem Fall in Bezug auf die Familie, die sich als glücklich imaginiert. Und diese Zuschreibung der Rolle als killjoy ist eine klare Zurückweisung. Es ist also meist eine recht schmerzvolle Erfahrung. Aber viele Personen haben sich zu dieser Figur hingezogen gefühlt. Alle schienen eine killjoy-Geschichte zu haben. Das hat mir gezeigt, wie eine Figur, in der sich so viel Verletzung verdichtet, auch ein Ort des Potentials sein kann.

Sie sprechen von einer allgemeinen Hinwendung zum Glück auf gesellschaftlicher Ebene – Therapien und der Selbsthilfediskurs sind im Aufstieg begriffen, die Feel-good-Industrie wächst und wächst. Nichtsdestotrotz treten Sie für das Recht ein, unglücklich zu sein. Was meinen Sie mit dieser provokanten Forderung?
Ich folge hier einer langen feministischen Tradition. Meine Lieblingskritik am Glück sind Audre Lordes autobiografische „Cancer Journals“, das ist ein sehr starkes Buch. Lorde kritisiert die Betonung des positiven Denkens, quasi die Pflicht des_der Kranken, auf die heitere Seite zu schauen. Sie sieht das als Technik, die Ungleichheiten verdeckt, weil die Menschen für ihre Lebensumstände selbst verantwortlich gemacht werden. Das ist ein sehr moralisierender Diskurs, der bestimmte soziale Normen als Voraussetzung für ein gutes Leben definiert. Ein Sprechakt, der mich immer sehr interessiert hat, war der Ausspruch: „Ich will ja nur, dass du glücklich bist.“ Früher hörte ich das oft, meist wenn ich etwas gemacht hatte, was meinen Eltern nicht gefallen hat. Diese Idee, dass man den Weg verlässt, der einen zum Glück führen würde, findet sich überall in der queeren Literatur. Die Figur der unglücklichen queeren Person wurde daher sehr wichtig für mich. Wenn ich also von der Freiheit zum Unglücklichsein spreche, meine ich die Freiheit, nicht den vorgeschrieben Weg zu gehen.

Allen Warnungen zum Trotz haben Sie den queerfeministischen Weg gewählt. Von einer emotionalen Perspektive aus betrachtet, welche Gefühle haben Sie zum Feminismus bewogen?

Was mich bewegt hat, war sicher ein Gefühl der Ungerechtigkeit und der Wut, aber eine Wut, die auch eine Richtung hatte – denn wenn Wut keine Richtung hat, wird sie oft zu Frustration und das kann sehr entmächtigend sein. Auch das habe ich vor allem aus Audre Lordes Arbeiten gelernt; sie ist meine größte Inspiration. Aber es gab auch ein Wundern, eine Neugier sowie die Hoffnung, dass es Alternativen gibt. Einen großen Teil meiner positiven feministischen Energie habe ich von der pakistanischen Seite meiner Familie. Meine Tanten, die während der Teilung Indiens aufwuchsen, haben mein Verständnis von Feminismus als Selbstbestimmung sehr geprägt. Damit verbinde ich sehr viele positive Gefühle.

Nächstes Jahr erscheinen einige Monographien von Ihnen. Welche Themen beschäftigen Sie in letzter Zeit?

Jedes Buch ist eine Art Sprungbrett zum nächsten. „Willful Subjects“, das gerade in Druck ist, ist aus „The Promise of Happiness“ entstanden. Mich hat hier die Frage beschäftigt, wie Weiblichkeit mit dem Aufgeben von Willen verbunden wird. Mich interessiert daran auch die Vorstellung von Eigensinn als Problem, als Ursache dafür unglücklich zu sein. Außerdem arbeite ich an einem weiteren Projekt über die Geschichte des Konzepts des Nutzens. Was bedeutet es, wenn Nutzen eine Anforderung wird, zum Beispiel im Kontext von citizenship? Vor allem in der britischen Geschichte von citizenship gibt es einen sehr starken Diskurs über Arbeitsfähigkeit. Bürger_innen sollen eine angemessene Beschäftigung haben. Mein drittes Projekt – „Living a feminist life“ – wird auf ein größeres Publikum ausgerichtet sein. Ich möchte dafür einige Texte zu Sexismus, lesbischem Feminismus, killjoys und Eigensinn überarbeiten und in diesem Buch primär auf Alltagssituationen und Erfahrungen aufbauen. Obwohl ich die Philosophie liebe, erkenne ich an, dass sich nicht alle in ihr zuhause fühlen. Es sind also einige Projekte im Entstehen, das Schreiben belebt mich – es gibt mir Kraft gegen die Reproduktion von Machtstrukturen anzukämpfen.

Veronika Siegl hat in Wien Kultur- und Sozialanthropologie sowie Internationale Entwicklung studiert und ist Redakteurin von „PARADIGMATA. Zeitschrift fürMenschen und Diskurse“.

Bewegte Zugehörigkeiten

  • 07.03.2014, 12:21

Warum sie Goethe die Worte im Mund umdreht und neue Perspektiven auf Migration sowohl in Europa als auch in den USA dringend nötig sind, erklärt die Dokumentarfilmerin und Gründerin von „with wings and roots“, Christina Antonakos-Wallace, im Interview.

Zwei Kurzfilme wurden im Rahmen des kollaborativen Multimediaprojekts „with wings and roots“ bereits veröffentlicht, noch heuer folgen eine abendfüllende Doku und eine interaktive Website. Dabei entsteht eine umfassende transnationale Sammlung von Geschichten, die sichtbar macht, wie die sogenannte „zweite Generation von Migrant_innen“ in Berlin und New York auf vielfältige Weise Zugehörigkeit neu denkt und lebt – allen Herausforderungen zum Trotz.

progress: Goethe schrieb: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Du hast für den Titel eures Projekts „with wings and roots“ die Reihenfolge der Wurzeln und der Flügel geändert. Warum?

Christina Antonakos-Wallace: Für mich war es wichtig, die Visionen und die Kreativität, die viele Kinder von Migrant_innen aus ihren multiplen Lebenswelten schöpfen, in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht werden diese nämlich kaum thematisiert, wenn über Migration gesprochen und geschrieben wird. Deshalb stehen die Flügel für mich an erster Stelle. Ich sehe auch die Gefahr, dass der Begriff „Wurzeln“ leicht in Zusammenhang mit fixen Ideen von Kultur und Identitäten instrumentalisiert werden kann. Angesichts des Drucks sich zu assimilieren, müssen viele Menschen in der Diaspora zugleich aber auch hart dafür kämpfen, mit ihrem kulturellen Erbe verbunden zu bleiben. Auch die Verbindung der Menschen zu ihren Communities und Familien, oder was auch immer den Menschen Kraft und ein gewisses Fundament gibt, soll deshalb honoriert werden.

Einer der Kurzfilme, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, trägt den Titel „Where are you FROM from?“ Was steckt hinter diesem Titel?

Diese Frage, woher man „wirklich“ kommt, ist so gängig, so alltäglich und spiegelt dabei besonders, wie eng Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft noch immer definiert wird. Daran, dass viele Kinder von Migrant_innen diese Frage täglich mehrmals beantworten müssen, kristallisiert sich ihr Dilemma, wenn es um das Gefühl geht, willkommen zu sein. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung und jener vieler Freund_innen sagen, dass diese Frage gnadenlos ist, auch wenn sie an der Oberfläche so einfach erscheint und sehr ehrlich gemeint sein kann. Aber wenn diese Frage, woher du „wirklich“ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, „hier“ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein dritte Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst. Außerdem mag ich die Ironie, die gewissermaßen in der Frage steckt, weil „Where are you from from“ im Grunde ja ein grammatikalisch inkorrekter Satz ist.

Davon, dass diese Frage ständig widerkehrt, erzählen sowohl ProtagonistInnen in Berlin als auch in New York. Gleichzeitig werden im Rahmen des Projekts auch Unterschiede zwischen der Situation in den beiden Ländern greifbar.

Alleine dass in Deutschland über alle Generationen von Migrant_innen nach wie vor als Migrant_innen gesprochen wird, ist ein großer Unterschied. In den USA beobachtet man meist innerhalb von einer Generation den Übergang von der Bezeichnung als Migrant_in zur Bezeichnung als Amerikaner_in, wenn auch in Zusammenhang mit einer rassifizierten Kategorisierung, zum Beispiel als „Asian-American“. Das ist auch keine großartige Situation, weil du zwar Amerikaner_in wirst, in vielen Fällen aber eine spezielle, nämlich diskriminierte Art von Amerikaner_in. Trotzdem ist der Unterschied von Bedeutung. Es wird in Deutschland auch oft auf sehr generalisierende Weise über Migrant_innen gesprochen, als würden sie alle die gleichen Erfahrungen machen und mit den gleichen Problemen kämpfen. Das ist irreführend: Während manche Migrant_innen sehr gebildet und wohlhabend sind, gehören andere zur Arbeiter_innenklasse, sie decken das gesamte soziale Spektrum ab.

In Deutschland gibt es auch diesen starken Fokus auf Integration. Dazu denke ich mir: Diese jungen Leute sind hier aufgewachsen. Was heißt, sie sind nicht integriert? Diese Leute sind Teil der Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft! Und wenn Integration mit wirtschaftlichen oder bildungsbezogenen Errungenschaften gleichgesetzt wird, müssen wir fragen, welche strukturellen Barrieren es hier gibt. Viele Menschen, die seit Langem hier leben, werden systematisch ausgeschlossen – vor allem durch ein Schulsystem, das Machtverhältnisse stark reproduziert. Darüber wird aber kaum gesprochen. Und schließlich wird auch darüber, dass sich Deutschland selbst in einem Wandlungsprozess befindet, so wie sich alle Länder ständig verändern, nicht nachgedacht. Stattdessen hält man an einer essenzialisierenden Version der Geschichte fest und denkt, dass Deutschland vor 200 Jahren tatsächlich „deutsch“ war.

Welche Rolle spielt das Bild von den USA als Nation der MigrantInnen in diesem Zusammenhang?

Natürlich macht es einen Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen in den USA schon deutlich länger im Gange sind und aus meiner Sicht haben sich Migrant_innen dort über die Generationen mehr institutionelle Macht angeeignet. Dennoch halte ich das Bild von den USA als Nation der Migrant_innen für irreführend. Es blendet eine gewaltsame Geschichte aus, in der immer umstritten war, wer hier leben und bleiben darf und wer nicht, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat und wer nicht. Wir wollen auch keinesfalls die USA als Modell oder Vorbild präsentieren. Heute leben in den USA mindestens 11 Millionen undokumentierte Migrant_innen, viele von ihnen seit Jahrzehnten. Im Fall von Tania, die in unserem Film vorkommt, seit 26 Jahren. Erst heuer hat sie erstmals eine temporäre Arbeitserlaubnis bekommen.

In Deutschland und Österreich ist der Diskurs über Migration stark problemzentriert. Gerade die zweite Generation wird häufig mit Begriffen wie Bildungsdefizit und Identitätskrise assoziiert. Inwiefern geht „with wings and roots“ einen anderen Weg?

Ich starte von einem völlig anderen Punkt, wenn ich den Menschen Fragen stelle, weil sie Einsichten und Wissen haben, und nicht, weil ich denke, dass sie ein Problem haben. Es wird dann möglich über ihre Erfahrungen als gesellschaftliche Problematiken statt als persönliche Probleme zu sprechen. Als ich angefangen habe, an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich W.E.B. Du Bois „The Soul of Black Folk“ gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er darüber, dass das „negro problem“ in den USA in aller Munde war. Und mir ist klar geworden, dass ich heute genau die gleiche Sprache höre, wenn es um das „Integrationsproblem“ und das „Migrationsproblem“ geht – als wären sich alle einig, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Das Problem scheinen dann nicht Diskriminierung oder die Ungleichheit von Bildungschancen zu sein, Migration an sich wird zum Problem erklärt.

Ich denke, es ist knifflig, was wir mit diesem Projekt versuchen, weil wir versuchen über die Stärke und das Wissen von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte zu sprechen.  Zugleich wollen wir auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, thematisieren. Wie kann man denn auch über ihre Stärke sprechen, ohne ihre Kämpfe zu thematisieren? Wir haben aber auch das Feedback bekommen, dass der Kurzfilm „Where are you FROM from“ zu negativ sei. Das gibt mir zu denken, weil es unser Ziel ist, nicht nur über die Tragödien und die Kämpfe zu sprechen, sondern auch die Handlungsmacht der Leute zu zeigen, wie sie Lösungen finden, neue Begriffe eines Zuhause und der Zugehörigkeit schaffen. Der abendfüllende Film, den wir gerade fertigstellen, wird auch die Kreativität der ProtagonistInnen stärker hervorstreichen, weil er mehr von ihrem Alltagsleben zeigt und nicht nur aus Interviews besteht. Dennoch, einen Mittelweg zwischen einem kritischen und einem optimistischen Blick zu finden, ist eine der größten Herausforderungen dieses Projekts.

Inwiefern ist „with wings and roots“ auch eine Sammlung von Familiengeschichten? Wenn es um Zugehörigkeit geht, können schließlich auch Familien- oder Generationenkonflikte eine wichtige Rolle spielen.

Manche Leute teilen mehr von ihrer Familiengeschichte, andere weniger – zum Beispiel, weil ihre Familie keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Auch Traumata können eine Rolle spielen. Mir ist es wichtig, die ProtagonistInnen selbst bestimmen zu lassen, wo sie eine Grenze ziehen. Außerdem denke ich, dass Generationskonflikte in Zusammenhang mit Migration sehr oft im Mainstream-Kino behandelt und teils auch missbraucht werden. Ich wollte etwas Neues machen, weshalb mich die Beziehung der jungen Menschen zur Gesellschaft mehr interessiert hat. Aber Familien können durchaus eine große Rolle spielen und es geht mir nicht darum, das zu ignorieren oder zu verschweigen – auch nicht, dass es Konflikte gibt. Manche erzählen sehr offen davon. Ich möchte auch keinesfalls Communities glorifizieren, weil es durchaus auch oft interne Konflikte rund um bestimmte Traditionen gibt, die eine gewaltsame und bedrückende Dynamik haben können. Jede Kultur hat solche Traditionen.

Warum hast du dich entschieden, einen Film über junge Menschen zu machen?

Das hat viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich wollte einen Film über meine AltersgenossInnen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle. Und natürlich betrifft einen die Frage nach einem neuen und kreativen Verständnis von Zugehörigkeit auf andere Weise, wenn man jung ist, als wenn man 50 ist.

 

Das Interview führte Anna Ellmer.

Zu ihrem Artikel über "with wings and roots": http://www.progress-online.at/artikel/%E2%80%9Ewarum-reden-sie-%C3%BCber...

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“:

http://withwingsandrootsfilm.com/

Der Kurzfilm „Where are you From from?“ / „Wo kommst du ‚wirklich’ her?“ wird vom FWU – Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht vertrieben: http://www.fwu-shop.de/politische-bildung/wo-kommst-du-wirklich-her-wher...

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh – ist hier verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=BWic5hPZfS4

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder eine Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen über Facebook und oder die Website mit dem Team in Kontakt treten.

 

 

 

Kollegial kolonial

  • 08.12.2013, 14:04

Jedes Jahr gibt es sie, die Kritiken um Zwarte Piet des niederländischen Sinterklaasfests. Dieses Jahr gab es sie besonders durch internationale Aufmerksamkeit. Damit einher ging eine große Bewegung von VerteidigerInnen der „Tradition“. Lisa Zeller kommentiert die Gegenstimmen des Protests.

Alle Jahre wieder gibt es sie, die Kritik um den Zwarte Piet (dt. schwarzer Peter) des niederländischen Sinterklaasfests. Dieses Jahr erregte die internationale Kritik an der Figur bei den VerteidigerInnen der kolonialgeschichtlichen "Tradition" die Gemüter. Lisa Zeller kommentiert die Gegenstimmen des Protests.

Tradition ist schon eine komische Sache. Man wächst mit ihr auf und weiß oft nicht, woher die Dinge kommen, die man als normal empfindet. Wenn diese dann kritisiert werden, versteht man es nicht. So müssen sich die zahlreichen NiederländerInnen fühlen, die sich jedes Jahr gegen immer größer werdende Kritik gegenüber einer ihrer wichtigsten  – wenn nicht sogar der wichtigsten – Weihnachtstraditionen zur Wehr setzen.

Zunächst hieß es an mehreren Stellen, die Vereinten Nationen hätten ein Untersuchungskomitee gegründet um zu prüfen, ob es sich hierbei um eine rassistische Tradition handele. Dann ließ ein Sprecher der UNESCO verkünden, dass es sich bei den Kritikpunkten um keine offiziellen UN-Kritiken handelte, sondern dass diese von einem - von den Mitgliedstaaten gewählten - unabhängigen Kommissariat für Menschenrechte kamen.

Einen Riesenaufruhr gab es jedenfalls unter den HolländerInnen, die ihre Lieblingstradition in Gefahr sahen. Dies ging so weit, dass besagte UN-InvestigatorInnen während ihrer Arbeit Todesdrohungen erhielten.
Repressionen gegen jede Form der Kritik gegenüber der Festlichkeit seitens der Bevölkerung gab es auch zuvor schon zur Genüge.

Im Jahr 2008 organisierten Petra Bauer und Annette Krauss eine Demonstration im Rahmen einer Ausstellung, die die Bedeutung von Zwarte Piet erläuterte. Auch diese Aktivistinnen erhielten Todesdrohungen, sodass das ausstellende Museum den Demonstrationszug absagte. Als „Ausländerinnen“ hätten sie zudem kein Recht gehabt, sich von der Zwarte Piet-Figur beleidigt zu fühlen.
Quincy Gario, ein niederländischer Aktivist, wurde während der Festlichkeiten im Jahr 2011 in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Zwarte Piet ist Rassismus“ verhaftet und erlebte massive Polizeirepressionen. Er beschreibt an mehreren Stellen, dass er aufgrund seiner Hautfarbe nicht als Niederländer gesehen wird und seine Kritik somit „weniger wert“ sei als die vieler anderer NiederländerInnen.

Das Rassistische an der Figur ist zum Einen die Praxis des Blackface, bei der sich weiße DarstellerInnen schwarz anmalen und im gleichen Atemzug meist überholte Klischees und Stereotype schwarzer Menschen nachahmen. So trägt der Zwarte Piet eine Afroperücke und oft auch Kreol-Ohrringe. In einem Interview mit Al Jazeera von 2012 sagte der Aktivist Gario zum Beispiel, dass Holland ein Land sei, in dem schwarze Kinder auf dem Spielplatz als „Zwarte Piet“ bezeichnet werden.

Es stellt sich die Frage, wie Gegenwartsgesellschaften mit Traditionen umgehen und wie inklusiv oder exklusiv diese sind. Umso wichtiger ist es, sich mit gewissen „Traditionen“ auseinanderzusetzen und vor allem kritische Stimmen anzuhören, ohne sie gleich anzugreifen.

Zwarte Piet war nämlich nicht immer „Tradition“. Die Festlichkeit wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Zwarte Piet gefeiert.

Die Figur kam erstmals 1845 in der Geschichte eines Lehrers aus Amsterdam vor, Jan Schenkman „St. Nikolaas en zijn knecht“ („Nikolaus und sein Knecht“). In der Geschichte kommt Sinterklaas in einem Dampfschiff aus Spanien mit einem „schwarzen Helfer“, der einen afrikanischen Hintergrund hatte. Piet steckte unartige Kinder in einen Sack und nahm sie mit nach Spanien, angelehnt an die in mehreren europäischen Ländern verbreitete Idee eines Gegenstücks zum Weihnachtsmann (wie etwa dem Krampus). Das Buch war sehr beliebt und mit ihm begann der Einschluss der Zwarte Piet-Figur in der niederländischen Weihnachtsfestivität.
Wohlgemerkt erstreckte sich zu dieser Zeit das niederländische Imperium auf drei Kontinente. Teil dieses Imperiums waren Kolonien in Surinam und Indonesien, in denen auch der Sklavenhandel florierte. In der Vergangenheit hatte Zwarte Piet sogar einen surinamischen Akzent und spielte die Rolle eines Narrs.
Einige Argumentationen beziehen sich darauf, dass die Figur nicht auf den Sklavenhandel zurückzuführen sei, sondern auf Muslime aus der Nordafrikaregion, die wegen ihrer Religion gefürchtet waren.
Beide Zugänge enthalten jedenfalls rassistische Elemente, die sich eher gegenseitig bedingen, als sich auszuschließen.
Inzwischen sind die Rollen der jeweiligen „Helfer“ zwar diverser als in der einfachen Rolle des Narrs zuvor, doch die Unreflektiertheit der NiederländerInnen ist angesichts der Geschichte sehr beunruhigend.
Warum halten sie so klammerhaft an einer „Tradition” fest, die während des Höhepunkts der niederländischen Kolonialära entstanden ist?

Man könnte wie viele aus heutiger Sicht sagen, es ginge nicht darum, irgendwen zu beleidigen und es wäre ja nur für die Freude der Kinder.

Doch die HolländerInnen lieben ihren Zwarte Piet. So sehr, dass sie die Sicherheit anderer Menschen bedrohen. Die Facebook-Seite Pietitie (ein Wortspiel aus Piet und dem niederländischen Wort für Petition), die als Reaktion auf die Kritiken gegründet wurde, hat derzeit 2,1 Millionen Fans. Diese Reaktionenen kann man angesichts der Geschichte der Figur auch als kollegial kolonial bezeichnen.

Rassistische Übergriffe und Todesdrohungen an GegnerInnen sind allerdings Zeichen dafür, dass das Land bei der Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte noch einiges zu tun hat. Dabei sollten auch alle niederländischen Stimmen in die Diskussion miteinbezogen werden.

KritikerInnen betonen, dass Unabsichtlichkeit und Rassismus nah beieinander liegen. Doch genau in dieser Unabsichtlichkeit manifestieren sich rassistische Praktiken und das Problem wird auf andere - meistens politisch rechts stehende - Menschen, geschoben. Eine Reflexion über die eigenen und persönlichen Rassismen erfolgt viel zu selten.

Leider wirkt da das Argument, Zwarte Piet sei schwarz, weil er sich in den Kaminen schmutzig mache, wie eine faule Ausrede – zumal weder seine knallroten Lippen (übrigens auch ein Element rassistischer Darstellungen durch Blackface) noch seine Klamotten vom „Schmutz“ betroffen sind.

Auch die unreflektierte Aussage des niederländischen Premierministers Mark Rutte: „Der Name sagt es schon. Er ist schwarz. Ich kann da nicht viel tun“, zeugt von dem Unwillen, sich mit dem Thema und der geschichtlichen Vorbelastung auseinanderzusetzen.

Erfreulicherweise gibt es jedoch auch modernere Versionen des Zwarte Piet, die manchmal nicht mehr “schwarze” Helfer sind, sondern bunte. Wenn es also wirklich um die Kinder geht, ist eine bunte Welt doch auch viel schöner.

 

Die Autorin studiert Internationale Entwicklung und Transkulturelle Kommunikation an der Uni Wien.

 

Der geheime Lehrplan

  • 11.08.2014, 15:23

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Diskriminierende Darstellungen, einseitige Definitionen, stereotype Repräsentationen – Schulbücher reproduzieren oft Klischees. Anleitungen zum kritischen Umgang mit Begriffen und Konzepten werden selten geboten. Engagierte ForscherInnen und LehrerInnen wollen das ändern.

Wenn es um Schule ging, war die Zentralmatura in den letzten Monaten das meistdiskutierte Thema. Unfaire Bewertungssysteme, mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse individueller SchülerInnen und der jüngste Skandal um einen Text bei der Deutschmatura, der den Holocaust verharmlost – die Zentralmatura sorgt für heftige Diskussionen. Aber nicht nur sie gibt Anlass zur Kritik. Als elementarer Bestandteil des Unterrichts haben Schulbücher einen großen Einfluss auf SchülerInnen. Die meisten Schulbücher regen aber keineswegs zum kritischen Denken an, wie eine Studie des Historikers Christoph Kühberger zeigt. Im Gegenteil: Sie stellen ihre Inhalte meist so dar, als wären sie objektiv und allgemein gültig. Dass dahinter die subjektiven Perspektiven einer/s oder mehrerer AutorInnen stehen und Begriffsdefinitionen häufig einseitig sind, wird selten deutlich. „Die wenigsten Schulbücher beinhalten eine Anleitung, wie man kritisch mit ihnen umgehen kann“, sagt auch Christa Markom, Ethnologin und Sozialpädagogin. Wenn sich die vermittelten Ansichten mit jenen des/r Lehrers/in decken, akzeptieren die SchülerInnen sie als Wahrheit. „Was LehrerIn und Schulbuch sagen, stimmt für die SchülerInnen und wird meist nicht hinterfragt“, so Markom.

In dem Projekt „Migration(en) im Schulbuch“ hat Christa Markom zusammen mit Heidemarie Weinhäupl und Christiane Hintermann analysiert, wie Migration in Schulbüchern verschiedener Fächer repräsentiert wird. Ziel war auch, SchülerInnen Wissenschaft näherzubringen. Im Rahmen von Workshops wurde deshalb gemeinsam mit Schulklassen erarbeitet, wie man im Unterricht kritischer mit Themen und Begriffen umgehen kann. „Das war ein völlig neuer Zugang für die SchülerInnen“, berichtet Herbert Pichler, Lehrer und selbst Schulbuchautor, der mit einer seiner Klassen am Projekt teilnahm. „Die Schulbücher zerpflücken und kritisieren zu dürfen, das kannten sie vorher nicht“, erzählt er. Dabei sei das von enormer Bedeutung.

Undurchsichtig. Bevor ein Schulbuch tatsächlich in die Hände eines Schülers oder einer Schülerin gelangt, durchläuft es einen Prozess, der zwei bis drei Jahre dauert – weshalb jedes Schulbuch zwangsläufig veraltet ist. Zunächst erhalten AutorInnen (meistens in Teams) den Auftrag, ein Schulbuch zu schreiben. Ist das getan, wird es von GutachterInnen des Ministeriums auf Basis bestimmter Richtlinien überprüft. „Dabei spielen durchaus auch Anti-Diskriminierungsrichtlinien oder zum Beispiel Gender-Richtlinien eine Rolle“, erklärt Christa Markom. Trotz dieser Approbation gelangen aber viele Bücher auf die Schulbuchliste, die diskriminierende Inhalte haben. Zwar sind viele GutachterInnen sehr bemüht, dies zu vermeiden, allerdings fehlt teilweise auch Hintergrundwissen zu verschiedenen Diskriminierungsformen. Laut Herbert Pichler sind die MitarbeiterInnen des Ministeriums auch manchmal selbst Teil jener Teams, die Schulbücher verfassen. Außerdem haben einige der Verlage großes Interesse daran, dass ihre Bücher approbiert werden. „Sie üben einen enormen Druck auf das Ministerium aus“, erklärt Herbert Pichler.

LehrerInnen können sich zwar theoretisch aussuchen, welches Schulbuch sie verwenden wollen. In der Realität sieht das aber oft anders aus. „Der Griff zu einem altbekannten Buch ist häufig naheliegend“, sagt Christa Markom. Es kommt also durchaus vor, dass Schulbücher, die einseitige Darstellungen oder diskriminierende Repräsentationen und Stereotype beinhalten, als Unterrichtsmaterial fungieren. Laut einer Umfrage des Projekts „Migration(en) im Schulbuch“ verwenden 80 Prozent der LehrerInnen Schulbücher, um ihren Unterricht zu strukturieren. Dieser wird durch die oft einseitige Aufbereitung von Themen in den Schulbüchern entsprechend beeinflusst.

Repräsentation von Migration. Am Beispiel der Darstellung von Migration beziehungsweise von MigrantInnen in Schulbüchern zeigt sich, wie Stereotype und Vorurteile reproduziert werden. „Eines unserer wichtigsten Ergebnisse war, dass Migrationsthemen in Schulbüchern noch immer hauptsächlich in einem Problemdiskurs abgehandelt werden“, sagt Christa Markom. Einerseits betrifft das die Positionierung des Themas, das in einem Schulbuch zum Beispiel in der Nähe des Themenkomplexes „Terrorismus“ angesiedelt war. Andererseits spielen Überschriften wie „Migration – eines der zentralen Probleme Europas“ hier eine Rolle. Auch darüber hinaus wird Migration meist in einem negativen Kontext dargestellt. „Dadurch entstehen keine positiven Identifikationsmöglichkeiten für SchülerInnen mit Migrationsbiographien“, erklärt Markom. Wird Migration ausnahmsweise nicht als Problem dargestellt, dann wird sie meist in einem Nützlichkeitsdiskurs behandelt, in dem wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Fragen im Mittelpunkt stehen. Dass Migrationsgeschichten aus der Perspektive von MigrantInnen erzählt werden, kommt hingegen kaum vor.

Auch Begriffe werden im Kontext von Migration in Schulbüchern kaum umfassend erklärt. So fehlt beispielsweise eine Auseinandersetzung damit, welche Bedeutungen hinter dem Begriff „Integration“ stecken können, oder damit, warum eine Bezeichnung wie „ZigeunerIn“ beleidigend und abwertend ist. Und das, obwohl SchülerInnen großes Interesse daran haben, wie Begriffe verwendet werden und wie sie Diskriminierungen in ihrer Sprache vermeiden können: „Natürlich interessiert mich das, ich brauch’ das ja täglich“, meint ein Schüler einer BHS: „Wenn ich die Erklärungen dazu nicht in Schulbüchern finde, wo dann?“ Laut Christa Markom würden sich die SchülerInnen auch historische Ableitungen der Begriffe erwarten. Sie wollen wissen, aus welchem historischen Kontext ein Begriff kommt, um seine Verwendung in der Gegenwart zu verstehen. Als Teil der österreichischen Geschichte wird Migration aber ohnehin kaum dargestellt. Im Gegenteil: Schulbücher behandeln Migration meist als neueres Phänomen, das von der österreichischen Geschichte abzugrenzen ist. „Das führt dazu, dass SchülerInnen Migration nicht in die österreichische Wir-Konstruktion miteinbeziehen“, erklärt Christa Markom.

Die Macht der Bilder. Diese Tendenzen spiegeln sich nicht nur in Texten wider. Auch in Bildern wird stark mit Klischees gearbeitet. Ein Aspekt, dem laut Herbert Pichler besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Wenn es um Migration geht, sind in Schulbüchern häufig Bilder von Frauen mit Kopftüchern, mit denen meist die Türkei assoziiert wird, abgedruckt. „Warum ist es eigentlich so, dass wir mit ‚Ausländer’ nur die Türken meinen?“, fragte deshalb eine Schülerin im Projekt „Migration(en) im Schulbuch“. Dass Deutsche die größte Migrationsgruppe in Österreich sind, wird durch diesen Fokus verschleiert.

Wenn es um Flucht und Asyl geht, werden wiederum meist AfrikanerInnen dargestellt, die in die „Festung Europa“ wollen. Sowohl auf Bildern, die AfrikanerInnen in überfüllten Booten zeigen, als auch in Texten. In einem Geographiebuch der Sekundarstufe 2 ist dazu Folgendes zu lesen: „Täglich stehen z.B. in Nordafrika tausende Menschen vor den Toren Europas, um in eine bessere Welt zu gelangen. Bilder von Flüchtlingstragödien, z.B. von überfüllten Flüchtlingsschiffen, gelangen in unsere Medien. Auch wenn das überalterte Europa langfristig Einwanderer benötigt, kann es den globalen Migrationsdruck nicht entschärfen. Wird das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt nicht eingeschränkt und werden Arbeitslosigkeit und Hunger und Umweltprobleme nicht nachhaltig bekämpft, wird der Migrationsdruck weiter steigen.“ Problematisch ist das einerseits, weil Afrika durch derartige Darstellungen pauschal mit negativen Bildern verbunden wird. Andererseits wird innerafrikanische Migration nicht thematisiert. „Es wird so dargestellt, als würden alle Flüchtenden und Migrierenden nach Europa kommen, was ja überhaupt nicht der Fall ist“, erklärt Markom: „Wie Migrationsströme tatsächlich verlaufen, wird verschleiert.“

Handlungsoptionen. Selbst das schlechteste Schulbuch kann aber im Unterricht das beste Schulbuch werden, wenn die LehrerInnen gut damit umgehen, ergänzt Markom. Ob entsprechende Kompetenzen in der pädagogischen Ausbildung vermittelt werden, ist jedoch fraglich. Das kritische Hinterfragen der Schulbücher werde in der LehrerInnenausbildung kaum thematisiert. Es sei aber wichtig, einen machtkritischen Blick zu entwickeln, Begriffe zu kritisieren und Lehrmedien nicht als objektiv zu betrachten. Auch die Schulbücher selbst sollten laut Markom stärker dazu anregen, sich kritisch mit Begrifflichkeiten und Inhalten auseinanderzusetzen.

Für den Unterricht wäre es wichtig, mehr Diskussionsräume zu schaffen. Sinnvoll sei deshalb auch, verstärkt Vorträge, Ausstellungen oder Workshops und damit auch Leute von außerhalb der Schule in den Unterricht zu integrieren. Dadurch bringe man neue Dynamiken in eine Klasse und schaffe ein Bewusstsein für verschiedene Themen wie Diskriminierung und Rassismus. Dabei können SchülerInnen abseits von Notendruck und Prüfungsangst lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. „Durch das Projekt‚ Migration(en) im Schulbuch‘ sind die SchülerInnen jetzt viel kritischer als zuvor“, berichtet auch Herbert Pichler.

Was die Schulbücher betrifft, sieht Christa Markom in der Multiperspektivität großes Potential. „Man sollte möglichst viele Sichtweisen auf ein Thema zeigen. Auch mit lebensgeschichtlichen Zugängen kann man da sehr gut arbeiten.“ Wenn es um Migration geht, hätten sie das Potential, die negativen Konnotationen in Frage zu stellen. Interviews wären zum Beispiel eine Möglichkeit, auch Raum für positive Migrationsgeschichten zu schaffen. Für Herbert Pichler ist vor allem die Positionierung des Schulbuchs im Unterricht wichtig: „Ich selbst verwende Schulbücher als Steinbruch, als eine Sammlung von Materialien, die man in bestimmten Unterrichtssequenzen gezielt verwenden kann.“

Zum Schluss betont Christa Markom auch, dass durchaus eine positive Entwicklung der Schulbücher zu beobachten ist. „Da hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr viel getan. Es gibt noch immer Probleme, das ist keine Frage. Aber das ist keineswegs
eine statische Sache.“

Patricia Urban studiert Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.
 

„Rassismus ist gut integriert“

  • 24.06.2014, 19:22

Die Sozialwissenschafterin und Aktivistin Araba Evelyn Johnston-Arthur forscht über institutionellen Rassismus und Widerstand in Österreich. Im Interview erklärt sie, warum Hochschulen und Bildung dabei eine wichtige Rolle spielen.

Die Sozialwissenschafterin und Aktivistin Araba Evelyn Johnston-Arthur forscht über institutionellen Rassismus und Widerstand in Österreich. Im Interview erklärt sie, warum Hochschulen und Bildung dabei eine wichtige Rolle spielen.

Als die Aktivisten Kwame Toure (vormals Stokely Carmichael) und Charles Hamilton in den 1960ern in den USA das Konzept des institutionellen Rassismus prägten, benannten sie jene Dimensionen von Rassismus, die Kameras nicht einfangen können. Sie zeigten auf, dass sich Rassismus nicht in isolierten Gewalttaten des Ku-Klux-Klans erschöpfte, sondern rassistische Strukturen fest in der Mitte der Gesellschaft verankert sind. Araba Johnston-Arthur zeigt, dass das Konzept bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat.  

progress: Im Jahr 2000 hast du geschrieben, dass ein Bewusstsein für die Realität von Rassismus in Österreich erst am Anfang steht. Hat diese Aussage noch immer Gültigkeit?

Araba Johnston-Arthur: Gerade im österreichischen Kontext wird nach wie vor oft hartnäckig verleugnet, dass es Rassismus überhaupt gibt. Wenn man dann doch von Rassismus spricht, dann herrscht meist eine individualisierte Auffassung davon vor: Rassismus wird auf einzelne Ereignisse und individualisierte Gewaltakte reduziert. Dabei wird auch häufig klassistisch argumentiert: Rassismus sei ein Problem der ModernisierungsverliererInnen und der ungebildeten ArbeiterInnen. Er wird damit auf die „Anderen“ projiziert und nicht als gut in der Mitte der Gesellschaft verankerte, alle Institutionen – Justiz, Polizei, Schule etc. – durchwirkende Realität verstanden.

Gleichzeitig müssen sich Schwarze Menschen und People of Color täglich angesichts der vielschichtigen Realität von Rassismus behaupten. Hier gibt es sehr wohl diesbezügliches Wissen. Die Frage ist also, von wessen Bewusstsein wir sprechen, es gibt hier nämlich einen krassen Kontrast. Vor diesem Hintergrund ist das Benennen von institutionellem Rassismus an sich schon ein zentraler Akt des Widerstands, weil damit ein sehr mächtiges Schweigen gebrochen wird. Audre Lorde (Anm. d. R.: Schwarze US-amerikanische Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin) betonte, dass wir unsere Unterdrückung nicht bekämpfen können, solange wir sie nicht benennen.  

Welche Dimensionen hat institutioneller Rassismus an österreichischen Hochschulen?

Zunächst stellt sich die Frage, wer überhaupt Zugang zu den österreichischen Hochschulen hat. Wenn wir an die frühe Trennung in Gymnasium und Hauptschule denken, oder daran, wer in die Sonderschule geschickt wird, werden eine Reihe historisch gewachsener klassistischer und rassistischer Ausschlussmechanismen sichtbar. Darüber hinaus kommt den Universitäten als umkämpftes Repräsentationssystem eine wichtige Rolle zu. Welche Art von Wissen wird an den Universitäten vermittelt und institutionalisiert? In Frankreich beispielsweise wollte man 2005 gesetzlich festschreiben, dass Universitäten und Schulen die positive Rolle des französischen Kolonialismus zu vermitteln haben. Dagegen gab es heftige Proteste.

Es geht nicht nur um Fragen des Zugangs, sondern auch um interne Hierarchien.

Generell sind wir rassifizierten „Anderen“ nach wie vor häufig nur als Forschungsobjekte sichtbar, als politische Subjekte und Forschende hingegen viel zu unsichtbar. Es gibt in dieser Hinsicht Veränderungen, aber das sind noch zarte Pflänzlein. May Ayim (Anm. d. Red.: afro-deutsche Schriftstellerin) hatte 1986 große Schwierigkeiten, eineN ProfessorIn für die Betreuung einer Magisterarbeit in Pädagogik über Rassismus in Deutschland zu finden. Dahingehend hat sich bis heute nicht viel verändert, auch im österreichischen Kontext nicht. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang auch die Kritik der Historikerin Fatima El-Tayeb bezüglich der dominanten Rezeption von postkolonialer Theorie: Auch im deutschsprachigen Raum wird mittlerweile einiges aus dieser Perspektive dekonstruiert, aber die unbequemen, vor der eigenen Nase liegenden Machtverhältnisse, die auch in unseren Universitäten herrschen, werden selten thematisiert.

An den Universitäten scheint institutioneller Rassismus in der eigenen Institution kaum Thema zu sein. Woran liegt das?

Natürlich wacht die Universität nicht eines Tages auf und beschließt sich mit ihrem eigenen strukturellen Rassismus zu beschäftigen. Die Frage ist, aus welcher Perspektive wir das betrachten. Rassismus ist in den Hörsälen durchaus ein Thema für all jene, die sich angesichts des rassistischen Status quo behaupten müssen. In der Wahrnehmung der Mehrheit existiert dieser Status quo aber einfach nicht. Es gab und gibt aber durchaus oft diesbezügliche individuelle und kollektive Interventionen. Beispielsweise haben sich Studierende of Color organisiert, um gegen Ausschlüsse auf struktureller Ebene und für politische Mitbestimmung an österreichischen Universitäten zu kämpfen.

Du selbst hast dein Studium in Ghana, England und Österreich absolviert, jetzt forschst du in den USA. Inwiefern unterscheiden sich die Situationen an den unterschiedlichen Hochschulen?

Gleich nach der Matura war ich ein Jahr an der Universität in Legon in Ghana. Das war für mich sehr wichtig. Dort habe ich unter anderem gelernt, dass auch die Frage der Ressourcen und Infrastruktur eine strukturelle ist und mit neokolonialen Verhältnissen in Zusammenhang steht. Wir mussten dort zum Beispiel Bücher von ghanesischen Autor Innen aus London bestellen. An der Uni in London habe ich gelernt, wie aktuell die Glorifizierung des eigenen britischen Kolonialismus und die Tabuierung von Rassismus in diesem Zusammenhang noch immer sind. Mein Entschluss, meine Dissertation nicht in Wien, sondern an der Howard University, einer historisch Schwarzen Universität in Washington DC, zu schreiben, hat wiederum viel damit zu tun, dass ich in Howard nicht immer wieder argumentieren muss, dass Rassismus überhaupt existiert, sondern mich auf die Analyse seiner Mechanismen und die damit zusammenhängenden Schwarzen Widerstände konzentrieren kann.

Welche konkreten Maßnahmen wären aus deiner Sicht im Kampf gegen institutionellen Rassismus an den Hochschulen zu setzen?

Zentral ist hier zunächst das Wissen über den Status quo von Rassismus an den Hochschulen selbst. KollegInnen und ich haben in Zusammenarbeit mit den Gleichstellungsarbeitskreisen eine Zeit lang Workshops zu institutionellem Rassismus an verschiedenen Unis gemacht. Leider werden die verschiedenen Diskriminierungsmechanismen aber oft in Konkurrenz zueinander gesehen: also (Hetero-)Sexismus vs. Rassismus vs. Klassismus. Tatsächlich verstärken sie sich jedoch gegenseitig. Wir müssen verschiedene Diskriminierungssysteme in ihrer Gleichzeitigkeit verstehen, weil man sonst die Lebensrealität der Menschen, die in den Hochschulen arbeiten und studieren, verkennt. Wie Audre Lorde sagt: „There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.”

An der Akademie der bildenden Künste in Wien versucht man derzeit eine antidiskriminatorische Betriebsvereinbarung umzusetzen. Dabei geht es auch darum, Diskriminierung als strukturelles Problem zu bekämpfen und Mehrfachdiskriminierung sichtbar zu machen. Gleichzeitig frage ich mich, inwieweit der Kampf gegen institutionellen Rassismus nicht einer ist, der die Ebene von Maßnahmen sprengt.

Rassismus wird wie Migration in Österreich oft als neues Phänomen gesehen. Du zeigst auf, dass Rassismus in Österreich aber eine lange Geschichte hat.

Nehmen wir zum Beispiel den Mainstream-Diskurs über Migration und Flüchtlinge. Als immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten kamen, gab es zunächst Sympathie. Das änderte sich, als zunehmend rumänische Flüchtlinge kamen und viele davon Roma waren. Nun wurden uralte Rassismen bemüht, die weit zurückgehen. So war zum Beispiel Maria Theresia in Europa federführend in Sachen repressiver Gesetzgebung gegen Roma und Sinti. Diese Geschichte wird aber unsichtbar gemacht. Das Gleiche gilt für das gegenderte rassistische Wissen, das über Schwarze Menschen vorherrscht: die angebliche Aggressivität Schwarzer Männer, die pathologisierte Sexualität Schwarzer Frauen – damit wird etwas aufgewärmt, was eine lange Geschichte hat. In Österreich tut man so, als wäre das alles ganz neu, weil man keine Kolonien in Afrika hatte. Österreich ist aber Teil eines gesamteuropäischen kolonialen Denksystems und diese Bilder sind tief im populären Bewusstsein verankert. Wir finden sie in der Oper, in der Literatur, in den Mehlspeisen, in unseren Redewendungen und so weiter. Und das bleibt nicht auf der Ebene der Sprache, sondern ist Teil einer sozialen Praxis. Diese Stereotype spiegeln sich in vielen Amtshandlungen der Polizei wider: Schwarzes Objekt, besonders gefährlich, mehr Polizei verlangt. Rassistische Gewalt wird so gerechtfertigt. Und das ist nicht auf Österreich beschränkt. Diese zum Teil tödlichen Mechanismen sind global wirksam.

Wie siehst du die aktuellen Auseinandersetzungen in Österreich rund um die Verwendung des N-Wortes?

Man sieht hier wieder einmal, dass Rassismus meist als etwas verstanden wird, was hauptberufliche RassistInnen aus dem rechten Eck betreiben. Damit wird verwischt, wie tief Rassismus in der Gesellschaft verankert ist.

Faszinierend ist, dass Rassismus und die Kritik daran, zu solchen Anlässen columbusartig immer wieder neu entdeckt werden. Kritik an Rassismus wird von verschiedenen MigrantInnencommunities, Schwarzen Menschen und People of Color aber schon seit Jahrzehnten formuliert und gelebt. Meist wird das aber schlicht ignoriert. Wenn Kritik dann doch Gehör findet, ist interessant, wie reagiert wird. In Österreich ist dann immer sofort von einer Political-Correctness-Hysterie die Rede. Damit werden Rassismus und die Kritik daran auf eine sprachliche Ebene reduziert. Es geht aber um einen strukturellen Gesamtzusammenhang. Aktuell hat Pamoja, die Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora in Österreich, die Verwendung des N-Worts und die Praxis des Blackfacing bei den Wiener Festwochen kritisiert. In dem Statement von Pamoja geht es überhaupt nicht um Political-Correctness. Vielmehr wird die Kritik im Kontext einer größeren Realität von strukturellem Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen geübt. Bei dieser Auseinandersetzung geht es auch um Definitionsmacht: Wer darf definieren, was rassistisch ist und was nicht? Und wer ist überhaupt in der Position zu sprechen?

Außerdem ist es in einem Land wie Österreich, wo so viel Antisemitisches und Rassistisches sagbar ist, absurd von einer Political Correctness-Hysterie zu sprechen. Rassismus ist in Österreich gut integriert.

 

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